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78. Giftmischen

Die wilden Miau- und Man-Stämme im Süden züchten häufig Giftschlangen, Skorpione und Tausendfüßler und verstehen es, aus diesen Tieren ein Gift zu bereiten. Von Geschlecht zu Geschlecht vererben sie die Kunst, um Leuten aus andern Ländern Verderben zu bringen. Diese Kunst ist unter dem Namen Giftschießen bekannt. Sie bergen das Gift unter dem Fingernagel, und wenn sie andern Wein oder Tee einschenken, so schnellen sie mit dem Finger etwas davon ins Glas, ganz wenig nur wie ein Stäubchen. Ehe der andere sichs versieht, hat er so das Gift im Leibe. Schnelles Gift wirkt nach ein paar Tagen, langsames nach Monaten oder Jahren. Wirkt das Gift, so stirbt der Mensch, oder in leichteren Fällen trägt er zum mindesten einen dauernden Schaden davon. Die langsame oder schnelle Wirkung des Giftes haben sie ganz in ihrer Hand, und niemand entgeht ihnen, der ihnen einmal verfallen ist.

Diese Wilden sind untüchtig im Feldbau und ungeschickt im Handel. Darum locken sie häufig Chinesen an, die für sie diese Arbeiten besorgen. Sie geben ihnen wohl auch ihre Töchter zu Frauen, damit sie die Gedanken an ihre Heimat vergessen.

So war einmal ein Mann aus Canton, der trieb Handel in jenen Gegenden. Er fand Wohlgefallen an einem Miau-Mädchen und nahm sie zur Frau. Da er aber großen Besitz zu Hause hatte, sehnte er sich mit der Zeit doch heim. Er wollte mit dem Mädchen zusammen gehen; aber die war nicht einverstanden. Doch ließ sie ihn schwören, daß er wiederkommen wolle, und sie machten eine Zeit aus.

„In drei Jahren soll es sein“, sagte er.

Da gab sie ihm zum Abschied Wein zu trinken und ermahnte ihn dann noch zum Schluß: „Du darfst dein Wort ja nicht brechen! Ich habe dir Gift gegeben, und wenn du

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_228.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)