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79. Schwarze Künste

Die Wilden im Südwesten üben viele schwarze Künste. Häufig locken sie mit ihren Töchtern Leute aus dem Mittelreiche an, indem sie diese ihnen zur Ehe versprechen. Die armen Leute müssen dann Arbeit für sie tun, und die Ehe kommt schließlich doch nicht zustande. So war einmal ein Sohn aus armer Familie, der versprach sich als Schwiegersohn bei einem Wilden. Drei Jahre mußte er Arbeit tun, dann ward ihm die Tochter zur Ehe versprochen. Die Hochzeit wurde gefeiert und ihnen ein besonderes Häuschen als Hochzeitsgemach hergerichtet. Die Braut war über alle Maßen schön und mochte etwa achtzehn oder neunzehn Jahre zählen. Sie ging der Sitte gemäß mit brennender Laterne ins Gemach voran. Als aber der Bräutigam die Bettvorhänge aufhob und das Lager besteigen wollte, da war das Mädchen verschwunden und nirgends zu finden. Tür und Fenster waren wohlverschlossen wie zuvor, und er wußte nicht, wo sie hingekommen war. So ging es über einen Monat lang. Tags war sie da, nachts war sie weg. Aber auch unter Tags sprach sie kein einziges Wort mit ihm. Da stieg dem Bräutigam der Argwohn auf.

Nun war noch ein kleines Schwesterchen im Hause. Das kam beständig in den Hof zum Spielen. Als sich Gelegenheit ergab, da fragte er sie einmal über die Geschichte aus. Erst wollte sie nichts verraten. Doch mit der Zeit wußte er sie an sich zu gewöhnen durch manche Süßigkeit, die er ihr gab. Da gestand sie ihm, es sei ein Zauberkunststück. Wenn er aber in die vier Ecken des Hauses Blut von Hühnern und Hunden sprenge und rasch die Braut beim Kleid ergreife, so könne sie ihm nicht entwischen. Er tat, wie ihm das Schwesterchen gesagt, und als zur Dämmerungszeit die junge Frau herbeikam, die Tür schloß und ins Bett stieg, da trat er rasch herzu und griff

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_230.jpg&oldid=- (Version vom 30.5.2018)