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Nach einigen Tagen sprach der Schwiegervater zu ihm: „Am Felshang vor der Höhle, da wächst ein großer Baum. Dort ist ein Phönixnest. Du bist noch jung und kannst klettern. Geh rasch dorthin und hole mir die Eier!“

Der Eidam ging nach Hause und sagte es seiner Frau.

„Nimm lange Bambusstangen“, sprach sie, „und binde sie zusammen, und oben dran mußt du ein Sichelschwert befestigen. Ich gebe dir hier neun Brote und sieben mal sieben Hühnereier. Die nimmst du in einem Korbe mit. Wenn du an jene Stelle kommst, so wirst du oben in den Zweigen ein großes Nest erblicken. Klettere nicht auf den Baum, sondern schlage es mit dem Sichelschwert herunter! Dann wirf die Stange weg und laufe, was du kannst! Wenn dann ein Ungetüm herankommt und dir folgt, so wirf die Brote nach ihm, drei jedesmal, zum Schlusse wirf die Eier auf die Erde und komm, so rasch du kannst, nach Hause! So magst du der Gefahr entgehen.“

Der Mann merkte sich alles genau und ging hin. Und richtig sah er da ein Vogelnest – groß wie ein runder Pavillon. Da band er sein Sichelschwert an die Stange und schlugs mit aller Kraft herunter. Dann legte er die Stange auf die Erde, sah sich nicht um und lief. Plötzlich hörte er das Brüllen eines Donnersturms, das sich über seinem Haupte erhob. Als er aufblickte, da sah er einen großen Lindwurm, der war wohl viele Klafter lang und hatte an zehn Fuß im Umfang. Die Augen blitzten wie zwei Lampen und aus dem Rachen spie er Feuer und Flammen. Er streckte zwei Fühler tastend nach unten. Da warf der Mann rasch die Brote in die Luft. Der Lindwurm fing sie auf, und es dauerte eine Weile, bis er sie gefressen hatte. Aber kaum war er ein paar Schritte von ihm weg, da kam der Lindwurm wieder hinter ihm hergeflogen. Da warf er wieder nach ihm mit den Broten, und als die Brote dann zu Ende waren, da leerte er den Korb um, daß die Eier auf die Erde rollten. Der Lindwurm hatte noch nicht satt gefressen und sperrte weit den hungrigen Rachen auf. Als

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_233.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)