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Landstreicher zu sein. Ich habe eine Tochter, die wartet gerade auf einen Mann, die würd ich gern zur Frau Euch geben.“

Der junge Mann bedachte zwar bei sich, daß er zu Hause eine Braut schon habe. Doch in seiner Not dem Hunger und der Kälte gegenüber sprach er zu allem ja. Der Alte rief nun das ganze Haus zusammen. Ein Brautgemach ward hergerichtet und der junge Mann hineingeführt. Die Braut war auch schon drin. Sie war ausnehmend schön und schien ein gutes Mädchen.

Die Nacht war still und alles schon zur Ruhe. Die beiden saßen verlegen beieinander und wußten nicht, was sagen. Das Mädchen saß abseits, den Kopf auf die Hände gestützt, und seufzte unaufhörlich schwer und tief. Der junge Mann war müde von der Reise und schlief bald ein. Beim ersten Hahnenrufe wachte er wieder auf und sah das Mädchen noch immer abseits sitzen.

„Es ist schon spät, die Nacht ist kalt“, sagte er. „Willst du dich nicht zur Ruhe legen?“

Das Mädchen errötete beschämt und sagte unter Tränen: „Das ist eine schlimme Ehe. Ihr müßt kein Mitleid mit mir haben.“

Dann erzählte sie ihm alles, wie es sich verhielt, und fügte noch hinzu: „Wie ich Euch sah, so jung und schön, da könnt ichs nicht ertragen, Euch den Tod zu bringen. Lieber will ich selber sterben.“

Sie fragte noch nach seinem Namen und Wohnort, alles ganz genau. Als der Tag zu dämmern anfing, gab sie ihm Geld und drängte ihn zu gehen. Und so kehrte er wieder heim.

Nach ungefähr zwei Jahren ward das Mädchen krank an Aussatz. Die Eltern wurden böse und stießen sie zur Tür hinaus.

Das Mädchen dachte: „Ich will den jungen Mann noch einmal sehen, dann will ich sterben.“

So trug sie ihre Krankheit und trat die Wanderung an. Bei Tage erbettelte sie Nahrung in Dörfern und Weilern,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_237.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)