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war auf der Suche nach Nahrung hineingekrochen und im Weine ertrunken.

Das Mädchen sprach bei sich: „Ich habe gehört, daß Schlangengift den Menschen tötet. Besser als an der Krankheit zugrunde gehen, ist es, ich trinke Gift und sterbe.“

Sie schöpfte Wein mit einem Becher und trank, soviel sie konnte. Bewußtlos fiel sie auf das Lager, hüllte sich in ihre Decken und schlief ein.

Um Mitternacht brach ihr der Schweiß aus, der in Tropfen an ihr herabrann. In allen Gliedern fühlte sie ein seltsames Jucken. Und wie sie sich auch rieb, sie konnte es fast nicht aushalten. Aber die Aussatzpusteln verschwanden allmählich, es bildeten sich Borken, und als die abfielen, kam die gesunde Haut darunter hervor. Kopfhaar und Augenbrauen wuchsen wieder nach, und ehe eine Woche vorüber war, war aus dem Scheusal wieder eine Schönheit geworden, ganz das hübsche Mädchen, wie sie es vor der Krankheit war.

Auf die Kunde davon kam das ganze Haus herbei, ihr Glück zu wünschen. Der Sohn des Hauses wußte sich nicht zu lassen vor Freude. Es wurde ein zweiter Hochzeitstag gewählt, und aufs neue schloß er mit dem Mädchen ehelichen Bund. Auch seine erste Frau schätzte das Mädchen gar sehr. Sie liebten einander wie Schwestern, und von Anfang bis zum Ende gab es weder Neid noch Streit zwischen ihnen. Die fremde Frau gebar ihrem Mann nach und nach drei Söhne, die alle hohe Ehrenämter errangen, so daß um ihrer Söhne willen auch die Mutter vom Kaiser ausgezeichnet wurde. In der ganzen Nachbarschaft ward ihr Ruhm verbreitet, und jedermann sprach: „Das ist der Lohn der Tugend.“

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_240.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)