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traf er ihn endlich auf dem Feld. Er warf sich vor ihm nieder und flehte ihn um Rettung an.

Der Priester sprach: „Wir wollen sie vertreiben. Dieses Wesen ist auch in rechter Not. Eben ist sie im Begriff, einen Stellvertreter zu finden, und ich bringe es nicht über mich, ihr Leben zu verletzen.“

Damit gab er ihm seinen Zauberwedel und befahl, ihn an der Tür des Zimmers aufzuhängen. Beim Abschied bestimmte er ein Wiedersehen im Tempel des grünen Herrn.

Der junge Mann kam heim. Er wagte sich nicht in das Studierzimmer, sondern schlief im innern Zimmer. Den Zauberwedel hängte er auf.

Es mochte wohl um die erste Nachtwache sein, da hörte man vor der Tür ein klirrendes Geräusch. Er selbst getraute sich nicht nachzusehen, sondern schickte seine Frau. Die sah das Mädchen kommen. Als es aber den Wedel erblickte, wagte es nicht einzutreten, sondern blieb stehen und knirschte mit den Zähnen. Es dauerte lang, dann ging es.

Nach einer kleinen Zeit kam es wieder und schalt: „Der Priester will mir bange machen, aber ich laß mir’s nicht gefallen. Lieber will ich ihn erst mal fressen und ihn nachher wieder ausspucken.“

Es nahm den Wedel und zerbrach ihn. Dann schlug es die Tür ein und kam. Geradewegs ging es nach dem Bett des Mannes, riß ihm den Leib auf, packte sein Herz und verschwand.

Die Frau rief der Dienerin. Man machte Licht; aber der Mann war schon tot. Das Blut quoll ihm wild aus der Brust. Die Frau war entsetzt und schluchzte leise. Am andern Morgen schickte sie den Bruder ihres Mannes, um den Priester zu benachrichtigen.

Der Priester war ergrimmt. „Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und nun ist der Teufel von solch einer Frechheit!“ Mit diesen Worten folgte er dem Bruder in das Haus. Das Mädchen war verschwunden. Der Priester hob den Kopf und blickte sich nach allen Seiten um.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_243.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)