Seite:Zerstreute Blaetter Band I 151.jpg

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als zum Genuß beyder ist jene Ruhe, jenes stille Mitgefühl, kurz eine sanftumschriebene heitere Existenz nöthig: denn es ist der unerreichte Vorzug der griechischen Kunst und Dichtkunst, daß beyde gleichsam nur für sich dastehn, und wie die Werke der Natur sich in ihrem Innern genießen. Die Sprache der Kunst, das Epigramm, konnte von keiner andern Art seyn: in seinen schönsten Stücken stehet es eben so bescheiden da, in sich vollendet und glücklich.

     Auch bey der Wahl der Gegenstände zeigt sich dieß sanfte Gefühl der Menschlichkeit, das ein gleiches Mitgefühl fordert. Wie schöne Epigramme hat die Kindes- und Mutterliebe gedichtet! wie zart empfunden ist das Schicksal des Menschen in seinem kurzen und wandelbaren Leben, endlich in seinem Abschiede von allem, was ihn liebte! Selbst wo diese einzelnen Stimmen nur Sentenzen sind, rühren sie durch ihre traurige Wahrheit, wie die Stimme der Nachtigal auf einem Grabe. Allem theilt sich dieß Gefühl der Humanität mit, allem, was den Menschen

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_151.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)