Seite:Zerstreute Blaetter Band I 277.jpg

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gesucht, Schönheit unter einer Hülle, die zu ihr die fremdste schien, Weisheit und Tugend meistens in rauhen, verachteten und unkenntlichen Gestalten. Gerade wo Schminke und Putz anfängt, hört Wahrheit, Rechtschaffenheit, Glückseligkeit auf; und nach diesen vergoldeten Pagoden wollten wir unsre armen Reisenden wandern lassen, um das Wahre zu verliehren, das sie haben, und für innern Werth und Reichthum schlechten äußern Tand zu erbeuten? Jemehr ich die Menschheit anders als nach dem Mantel kennen lerne, desto mehr finde ich Ursache, die Vorsehung auch auf diesem Schauplatz knieend zu verehren. Wo wir das meiste Unglück vermuthen, wohnt oft das größte Glück. Einfalt ist nicht Dummheit, und Schlauigkeit weder Glückseligkeit noch Weisheit. Ich halte es also immer mit dem Dichter[1]:

Das Schicksal theilt die Gaben weislich aus:
Für jeden giebt es Brod und Deck’ und Haus,
Den Armen Kraft, den Schwachen Ehrenplätze.




Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_277.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)