Seite:Zerstreute Blaetter Band I 351.jpg

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in ihm genießen wir vorempfindend alle Freuden der Zukunft, nicht ahndend, sondern habend, ja wenn man so sagen darf, mehr als habend. Die Zukunft kann immer nur entwickeln, selten hinzuthun; und oft thut sie ab, sie vermindert den Wahn des Genusses bey jedem Genusse. Jener Augenblick ist der, da Psyche den Gott der Liebe erblickt, den sie so lang verschleiert liebte; ach warum, Unglückliche, ließest du die Fackel fallen? und endetest damit auf so lange alle deine Freuden! –

     Es ist gewiß, daß die Seelen, die zur treusten, reinsten, edelsten Liebe geschaffen sind, sich für diesem Augenblick des Verraths, als für ihrem ärgsten Feinde fürchten, und mit ihm aufs blödeste zögern. Das weibliche Geschlecht, das die Liebe überhaupt zarter, als das unsre, behandelt, fühlt, wie viel die Flamme derselben mit jedem Genuß verliehre, wie sie, der Natur aller andern Flammen zuwider, erstickt, wenn sie ausbricht, und durch jede Aeußerung ihre innere Kraft und Süßigkeit schwächet. Keusch und heilig

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_351.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)