Seite:Zerstreute Blaetter Band I 361.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

uns in einem andern Wesen, das doch nie wir selbst sind, wieder zu finden. Selbst wenn ich mich, wie es der Mysticismus will, in Gott verlöhre, und ich verlöhre mich in ihm, ohne weiteres Gefühl und Bewußtseyn meiner: so genösse Ich nicht mehr; die Gottheit hätte mich verschlungen, und genösse statt meiner. Wie gut hat es also die Vorsehung gemacht, daß sie das Saitenspiel unsrer Empfindungen nur nach und nach, in sehr verschiedenen Klängen und Arten wecket: daß sie unsere Sehnsucht jetzt auffodert, jetzt einschränkt, unser Verlangen hier thätig dort leidend übet, überall aber, auch nach dem süßesten Genuß, uns auf unser armes Ich zurückstößet, sagend gleichsam: „Du bist doch ein eingeschränktes, einzelnes Geschöpf! Du dürstest nach Vollkommenheit, aber du hast sie nicht! Verschmachte nicht am Brunnen dieses einzelnen Genusses, sondern raffe dich auf und strebe weiter.“ Lasset uns dieses in einigen auffallenden Proben und Beyspielen sehen.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_361.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2021)