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weniger Vorsicht und Decenz vorführt, als der Abbé Prévost, Dumas, Huysmans, de Goncourt oder Zola es thun.

Von mehr Gewicht ist der Vorwurf, dass Huysmans seinen Gegenstand in einer gewählten, künstlerischen Sprache behandelt, von der die Wirklichkeit, das schmutziggraue Kolorit seines Stoffes, sehr auffällig absticht. Warum er in schillernder Künstlerlaune das gefährliche Wagstück unternahm, beschreibt er selbst, wenn er die Grübeleien Leo’s schildert, des Schreibers bei einem Journalisten, der Marthe im Théâtre de Воbino hat singen hören, und ihr nun mit gutgemeinten, schlechten Sonetten huldigt.

Da Huysmans jedem seiner jungen Helden einen Teil seiner eigenen Individualität verleiht, findet man ihn auch an Leo (in Marthe) teilweise wieder. Leo ist sehr früh selbständig geworden, hat seine Freiheit missbraucht und ist das Opfer seiner Leidenschaften geworden. Sein schriftstellerisches Talent, das die Künstler zwar sehr hoch stellen, das aber alle ehrbaren Philister mit Entsetzen erfüllt, hatte ihn verleitet, von seiner Feder, d. h. in Hunger und Entbehrung zu leben. Es gab Augenblicke, in denen er seine Künstlerträume in geniale Prosa zu kleiden verstand, in eine Form verwandt mit den fremdartigen Schemen, die das wilde Talent Goya’s ins Leben gerufen hatte. Auf die Tage des Schaffens folgten dann Tage tiefster Niedergeschlagenheit, in denen er keine vier Zeilen schreiben konnte.

Seit einem halben Jahrhundert beherrscht die französischen Kunstkreise eine ganz wunderbar erscheinende Verehrung für den Spanier Goya. Wie der Maler Goya, wie der Romanschreiber Hoffmann, so hiess es schon zu Zeiten Théophile Gautier’s und Gérard de Nerval’s. Und einmal in die Mode gekommen, verschwanden beide Ausländer nicht wieder von der litterarischen Bühne. Später kommen noch Shelley, Edgar Allan Poe und de Sénancourt dazu, und was die allgemeine Meinung einmal als genial gestempelt hatte, das blieb lange, ja bis zum heutigen Tage ein Gegenstand tiefster Verehrung.

Wir kehren zu Huysmans’ Helden Leo zurück. Um den Gemütszustand des Verfassers noch deutlicher hervortreten zu lassen, berichten wir noch, dass dieser in seinen Träumereien, die aus einer zu starken Überreizung seiner Nerven geboren sind, beständig das Bild einer idealen Geliebten vor sich schweben sieht, einer von Rembrandt gemalten Frau, einer Frau von wunderbarer Pracht der Schönheit, deren Augen in der unbeschreiblichen Glut, in der melancholischen Lebenslust du chef-d’œuvre du Van Rhin, la femme du salon carré au Louvre leuchten.

Die letzten Worte, die wir hier unübersetzt wiedergeben, zeigen mit ihrem dreimaligen du, mit dem wunderlichen Namen Van Rhin allein schon das Unfertige, Unreife in diesem ersten Buch, und der Verfasser war selbst der erste, der die Mängel seiner Arbeit einsah. Marthe erschien 1876 in Brüssel und wurde von der französischen Regierung in den Index aufgenommen. Es ging damit, wie mit dem Prozess über Flaubert’s Madame Bovary, es ist die alte Geschichte vom Splitter und Balken. Das Verbot stellte sich übrigens als ganz überflüssig heraus. Erst im Jahre 1879 erschien eine zweite Auflage der Marthe in Paris bei Derveaux mit einer impressionistischen Radirung von Forain, die ich, mit Erlaubnis gesagt, abscheulich finde.

Huysmans gesteht es in einem Avant-propos zur zweiten Auflage selbst ein, dass seine Marthe ein roman naturaliste und sein Stil tourmenté ist. Er gibt das Buch jedoch auch zum zweiten Male, wie es eben ist, avec ses défauts et ses audaces de jeunesse.

Empfohlene Zitierweise:
diverse: Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur. Oppeln und Leipzig: , 1889, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:ZfSL_-_47.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)