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Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.

„Doch genug jetzt! Zur Kapelle
     ruft mich meine heil’ge Pflicht.
Gießt indeß die Rübenbeete,
     auch versäumt das Jäten nicht!“

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Rasch, als ob er Eile habe,

griff der Greis zu seinem Stabe,
     eilte in den Wald hinein,
Boleslav ging mit den Kannen
an den Quell. Die Wässer rannen

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     lustig über Stock und Stein.


„Gutes Brünnlein, bist der Reinheit
     und der Freiheit treues Bild,
ein Crystall ist jeder Tropfen,
     der aus deiner Tiefe quillt!

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Ob dich Steine rings umdrängen,

und dein Kieselbett verengen,
     suchst dich friedlich zu befrei’n;
rächst dich nicht an diesen Steinen,
ja du wäschst sie noch mit deinen

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     klaren Wellen hell und rein!“


Tiefbewegt in inn’rer Seele
     schöpft er seine Kannen voll,
und begießt die Rübenbeete,
     hackt und jätet, was er soll;

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und wie Alles ist vollendet,

tritt er an den Zaun, und wendet
     seine Blicke auf den Quell.
Lange schaut er in die Wässer –
seines Zweifels Nacht wird blässer

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     und Erkenntniß dämmert hell.


Empfohlene Zitierweise:
Widar Ziehnert: Sachsen’s Volkssagen: Balladen, Romanzen und Legenden. II. Band.. Rudolph & Dieterici, Annaberg 1838, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ziehnert_Sachsens_Volkssagen_II_193.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)