Die Sturmfluth von der Elbmündung bis Hamburg am 1. Januar 1855
Von den Verwüstungen, welche in jüngster Zeit die Ueberschwemmungen anrichteten, laufen aus allen Gegenden die traurigsten Berichte ein. Die Noth der von diesem Schicksale betroffenen Städte und Dörfer nimmt die allgemeine Theilnahme in Anspruch und fordert zu wohlthätigen Spenden auf. Diese schreckenerregenden Ereignisse erinnern uns an die furchtbaren Neujahrsnächte Hamburgs und Umgegend, von denen wir nach den Mittheilungen eines bekannten Landschaftsmalers, dem wir auch die beiden nach der Natur aufgenommenen Ansichten verdanken, nachträglich noch eine Schilderung geben.
Schon am letzten Tage des alten Jahres steigerte ein heftiger Sturm die eintretende Fluth der Elbe zu einer solchen Höhe, daß die niedrig gelegenen Stadttheile Hamburgs unter Wasser gesetzt wurden. Ein großer Theil der Bewohner mußte ein anderes Unterkommen suchen. Man gab sich der Hoffnung hin, daß mit dem Eintritte der Ebbe die Wassermasse in das gewöhnliche Bett zurücktreten würde; diese Hoffnung war umsonst, denn in der Nacht vom 1. bis 2. Januar tobte ein gewaltiger Orkan vom Meere her, der den Strom der Elbe zur Umkehr, und da er neue, riesenhafte Wassermassen mit sich führte, auch zur weitern Ueberschreitung der Ufer zwang. Der Strom schwoll zu einem Meere an, und der Wasserstand erreichte eine Höhe von mehr als 21 Fuß. Traurige Berichte liefen von den Küsten der Nord- und Ostsee ein. Ganze Schiffe, die dem heimatlichen Strande nicht mehr fern, verschwanden mit Mann und Maus. Der Georg Canning, das größte und schönste Packetschiff des Rheders Slomann, kam von New-York zurück. Schon hatte es die Mündung der Elbe erreicht, als es von Sturm und Wellen ergriffen und vernichtet ward. Fünfundzwanzig Mann Besatzung und fünfundsiebzig Passagiere gingen mit ihm zu Grunde. Später warfen die Wellen die Schiffspapiere, die Büchse des Steuerrades und die auf ein Brett gebundene Leiche eines Kindes bei Kuxhafen an das Ufer.
Im Schleswig’schen richtete die Eider große Verheerungen an, doch beklagt man in dem unteren Stromgebiete, da sich hier die Fluth widerstandslos ausbreiten konnte, nicht so viele Verluste; mehr Schaden richtete der Sturm an, der, um ein Beispiel anzuführen, einen neuen Flügel des Schlosses Gottorf von 107 Fuß Länge einstürzte. Ein furchtbares Gewitter, aus den gewaltigen Schwingen des Orkans herbeigeführt, vermehrte die Schrecken durch zuckende Feuer und Erde und Himmel erschütternde Donnerschläge. Zu Hohn bei Rendsburg fuhr ein Blitz in die Kirche, ohne zwar zu zünden, aber er verletzte mehre Personen.
Am Schwersten wurde jedoch das schmale Stromgebiet oberhalb Hamburg heimgesucht. Hier, wo man jeden Fuß Landes mühsam dem Strome abgerungen, und durch Deiche, (hohe, starke Erddämme) schützt, war der Wasserstand um 1 Fuß höher als am Ausflusse der Elbe. (Kuxhafen 20′ 7″ Hamburg 21′ 4″.) Die fruchtbare Inselgruppe Vierlanden, die im Sommer einem reizenden Gemüse- und Obstgarten gleicht und das Auge durch einen prachtvollen Blumenflor entzückt, bot in den ersten Tagen des Januar [168] den Anblick eines großen See‘s, auf dem Segelfahrzeuge kreuzten, um Menschen und Vieh zu retten.
Gegen Abend am Neujahrstage hatte die Fluth eine solche Höhe erreicht, daß die Häuser an der Außenseite des Deichs, der das Kirchspiel Kirchwärder (Vierlanden) im Norden begrenzt, drei bis vier Fuß hoch unter Wasser standen. Und stets trieb der unausgesetzt tosende Sturm neue Wassermassen heran. Mit übermenschlicher Anstrengung suchten die armen Landleute dem brausenden Strome den Weg zu ihren Feldern und Wohnungen zu versperren, als aber die Fluth in einer Ausdehnung von drei Stunden zwei Fuß hoch über den Damm drang und von der innern Seite große Stücke losriß, mußten sie von der mühseligen Arbeit abstehen und ruhig zusehen, wie das Element fessellos sich über die Felder ergoß und in die Häuser drang. Angst und Besorgnis um Familie, Habe und Gut erfaßt nun die armen Landleute, die vergebens Stunden lang im eiskalten Wasser gearbeitet hatten. Immer weiter dehnt sich die blinkende Fläche aus, und ein Strauch verschwindet nach dem andern. Da endlich blitzt ein Hoffnungsstrahl durch die Nacht der Noth und die angsterfüllten Herzen der Landleute schlagen ruhiger. Die Ebbe ist eingetreten, der Strom wälzt sich abwärts dem Sturme entgegen, der wüthend den Wellen die weißen Schaumkämme abreißt und sie als Gischtwolken mit Hagel gemischt gegen die Deiche und ihre Vertheidiger treibt. Sturm und Strom beginnen einen heftigen Kampf, aus dem der Letztere siegreich hervorgeht. Die Wasserfläche sinkt, und bald wird die Kappe des Deichs wieder sichtbar. Die ermüdeten Arbeiter kehren in ihre Häuser zurück, um auszuruhen.
Es sollte diese Ruhe nicht von langer Dauer sein. Die Ebbe, die hier gewöhnlich acht Stunden anhält, wurde schon nach kurzer Zeit von der wiederkehrenden Fluth unterbrochen. Neue Wassermassen wälzten sich gegen die Dämme und überschütteten sie mit gewaltigen Sturzwogen, die unaufhaltsam über die Wehr hinwegdonnerten und die Grundvesten derselben erschütterten. An der Nordseite, bei Seefelde, wankte der Damm an zwei Stellen. Tief an dem Fuße desselben entstanden kleine Quellen, welche, die Erde aufreißend, schnell zu Bächen wurden. Die armen Bewohner suchten sich nun durch die Flucht zu retten. Und es war die höchste Zeit, denn plötzlich ward ein Stück des Deichs, 150 Fuß lang und 16 Fuß hoch, emporgehoben, und im nächsten Augenblicke hatte sich ein heulender und donnernder Wasserfall gebildet, der mit einer so furchtbaren Gewalt in das niedere Land stürzte, daß er ein neu errichtetes Bautenhaus, dessen Bewohner nur das nackte Leben retten konnten, buchstäblich in Stücke zerriß und mit sich fortwälzte. Bald folgte ein zweiter Durchbruch des Deichs, und das ganze Binnenland von Kirchwärder ward unter Wasser gesetzt. Die Einwohner konnten nur noch auf den Böden ihrer Häuser Zuflucht finden, denn in den untern Räumen herrschte die Fluth, Geräth und Vorrath zerstörend.
Als ob ein Arm der Elbe den andern bei seinem Zerstörungswerke unterstützen wollte, so durchbrach er den südlichen Deich, der sich in der Ausdehnung von einer halben Stunde von dem hamburger Gebiete bis zur worwischen Bucht erstreckt, an neun Stellen. Durch den äußersten Bruch von ungefähr 200 Fuß Länge ward ein großes Bauerhaus umgestürzt. Der Insasse, Landmann Grell, fand mit seinen drei Kindern den Tod. Seiner Gattin gelang es, mit dem jüngsten Kinde den Damm zu erreichen. Da stand nun die arme Frau auf einem trockenen Plätzchen, umtost von der kalten, schäumenden Fluth, und sah bei dem falben Scheine des Mondes, der wie höhnend die Schreckenscene beleuchtete, ihren Gatten, ihre Kinder, Haus und Hof im Wogenschwall versinken.
In einem andern Hause, das die Fluth zerstörte, ward der kranke Sohn und sein kleines Schwesterchen im Bette begraben. Die Mutter und die ältere Tochter flüchteten sich auf einen Baum, von wo aus sie den Hülferuf durch die Nacht erschallen ließen. Man hörte sie und bemerkte den Ort der Gefahr; aber die herbeieilenden Rettungsboote vermochten den Strudel nicht zu durchschneiden, und die Armen sanken erstarrt in das kalte Wassergrab.
An einer anderen Stelle des Deichs riß das Wasser die Kappe desselben, d. h. den obern Theil, zu beiden Seiten des Hauses hinweg, das oben darauf stand. Wie auf einer kleinen Insel fußend, ragte das Gebäude unversehrt aus dem See empor.
Auf dem Dachfirste eines zertrümmerten Hauses barg sich die Tochter des Besitzers drei und eine halbe Stunde lang, stets in Gefahr schwebend, von dem gewaltigen Sturme in das rauschende [169] Wasser geschleudert zu werden. Es gelang, die halb Erstarrte zu retten.
Ein Strom, der durch einen andern Kappensturz von 110 Fuß Länge entstanden war, wühlte sich in die Mitte eines Bauernhauses hinein und schuf einen Abgrund, der nach und nach die eine Seite des Gebäudes verschlang. Auf dem Boden, wohin sie sich geflüchtet, drohete den Bewohnern zweifache Todesgefahr: während die das Wanken des Hauses an das gähnende Grab mahnte, entwurzelte der Sturm draußen alte riesige Pappeln und schleuderte die Stämme auf das schwankende und seufzende Dach. Acht Häuser wurden auf diese Weile völlig zerstört, und 37 dergestalt verlezt, daß sie dem Einsturze drohen.
Auch die Insel Wilhelmsburg, die Hamburg zunächst liegt, ward völlig überschwemmt, und sind auch hier leider, außer den Verwüstungen an Wohnungen und Ländereien, Menschenleben zu beklagen.
In Hamburg selbst theilten sich die Elemente. Der niedere, von der Fluth überschwemmte Stadtteil hatte von dem Sturme wenig zu leiden; aber in dem höher gelegenen raste er mit einer wahren Beserkerwuth. Während dort das strömende Wasser in Waarenlagern großen Schaden anrichtete, die Leute aus den hier eigenthümlichen Kellerwohnungen und selbst aus solchen trieb, in denen man das Erscheinen des kalten Elements für unmöglich hielt, so daß die sich sicher wähnenden Bewohner plötzlich aus den warmen Betten gescheucht wurden – ließ hier der Orkan seine verheerende Gewalt aus. Am Grasbrook stürzte er den Telegraphenmast und trug die hohen Schornsteine der Lauenstein’schen Wagenfabrik und der Schmilinksy’schen Eisengießerei mit sich fort. In den nach der Windseite gelegenen Häusern drückte er die Fensterscheiben ein, fuhr in die Zimmer, und warf das Geräth durcheinander. Standen die Hausthüren offen, so fuhr er hinein, die Treppen hinauf und sprengte die Dachfenster, die zur Beleuchtung der Treppenhäuser dienen. Aus den Oefen trieb er Flammen und Ruß in die Zimmer. In Hamm riß der ungestüme Gast während des Gottesdienstes das Dach von der Kirche, so daß die Andacht sich in Schrecken verwandelte, und Pfarrer und Gemeinde schleunigst die Flucht ergriffen. Am Billwärderdeich geriet zur gleichen Zeit eine Mühle in Brand; sie ward bis auf den Grund in Asche gelegt.
Auf der Insel Neuwerk, am Ausflusse der Elbe, waren alle Bewohner aus ihren Häusern getrieben. Sie hatten sich mit ihren wertvollsten Sachen auf den alten Leuchtthurm geflüchtet, der allein noch ein sicheres Plätzchen bot. Jahrhunderte lang hatte er Wogen und Sturm getrotzt, und auch in dieser Schreckensnacht hob sich sein glühendes Haupt stolz und fest aus der Fluth empor, hinblickend über das wild empörte Meer, das sich schäumend an seinem ehernen Fuße brach. Während die entfesselten Elemente Schrecken und Verwüstung anrichteten, schützte der Thurmkoloß mit seinen achtzehn Fuß dicken Mauern, an denen die Gewalt der Wogen sich brach, die geängstigten Menschen der Insel, die oben bei den Feuerwächtern saßen. Schreiend umkreisten die Möven die glühende Kuppel, und rannten mit den Köpfen an die zolldicken Glasscheiben, als ob auch sie Schutz suchten.
„Es war eine furchtbare Zeit, die wir dort erlebten,“ erzählte einer der Männer. „Während unten die Wogen krachten und heulten, umraste der Orkan mit Donnergebrüll die Kuppel, so daß es schien, als ob auch unser wohlthätiger Riese endlich erliegen müsse. Heulen, Zischen und Krachen wechselten mit einander ab, und nicht selten erfolgte unter gräßlichem Getöse ein so furchtbarer Stoß, daß wir schaudernd zusammenfuhren, wähnend, unser letztes Stündlein sei gekommen. Aber siegreich ging der eherne Thurmkoloß aus dem grausen Kampfe hervor. Nach einer qualvollen Nacht brach endlich der Morgen an. Aber welch ein Anblick bot sich [170] unsern Augen dar! Rings eine weite, dumpfgrollende Wasserwüste! Wir suchten unsere Wohnstätten – sie waren verschwunden! Nur hier und da ragte das Dach eines Hauses aus der trüben Fluth empor, wie der Wrack eines versunkenen Schiffes. Wir hatten zwar das Leben gerettet, aber wir waren arme, obdachlose Menschen. Weinend drückte der Vater seine Gattin, seine Kinder an das Herz, und sandte einen Blick des Dankes zu dem Himmel empor, der ihm gnädig seine Lieben gelassen hatte.“ –