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Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London

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Textdaten
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Autor: Karl Blind
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Titel: Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 309–311
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Dr. Mary Edwards Walker in London
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[309]
Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London.
Von Karl Blind.

„England ist das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Dienstboten, die Hölle der Pferde!“ so lautet ein altes Sprüchwort, das sich schon, wenn ich mich recht entsinne, im Tagebuch eines deutschen Prinzen, der im sechzehnten Jahrhundert England bereiste, erwähnt findet.

Die edlen Renner genießen zwar hier einer Pflege, die jenes Sprüchwort Lügen zu strafen scheint. Allein wahr bleibt es doch, daß das englische Volk mit den Rossen und mit den Thieren überhaupt keineswegs so gutmüthig umgeht, wie es im Ganzen z. B. in Deutschland der Fall ist. Die Dienstboten in England erfreuen

Dr. Marie Walker.[WS 1]

sich heutzutage einer großen Unabhängigkeit, und im Vergleich zu ihrer Stellung erscheint die der betreffenden Classe in unserem Vaterlande wie eine wahre Sclaverei. Allein die Härte der englischen Zustände liegt darin, daß bei der Freiheit des Vertragsrechtes jeder Rest von wohlmeinender Sorglichkeit für das „Gesinde“ auf Seiten der Familien geschwunden ist, und daß sich „Herrschaft“ und „Dienstboten“ vielfach wie Feinde gegenüberstehen.

Für die Frauen endlich ist dies Land allerdings in gewissem Sinne ein Paradies. Hier sieht man nicht Weiber auf dem Felde ackern und hacken, während der Mann mit dem Pfeifenstummel im Munde nebenher lungert. Hier sieht man nicht Frauen unter schweren Hotzen keuchen oder mit über die Brust gespanntem Seile am Schiff ziehen. In nur wenigen Geschäften, und zwar in solchen blos, für die das Geschlecht sich eignet, sind Frauen thätig. Die Familie aber, die sich gesellschaftlich irgendwie über die untere Mittelclasse erhebt, betrachtet es als selbstverständlich, daß die weiblichen Angehörigen, von aller drückenden Arbeit frei, der größten Bequemlichkeit genießen und überall mit der äußersten Zuvorkommenheit behandelt werden. In Wahrheit darf man sagen, daß, von dieser Bevölkerungsschicht an bis zu der sogenannten höchsten hinauf, sich für die Frauen eine stets neue „Reihe von Himmeln“ aufthut – vorausgesetzt allerdings, daß man von der thatsächlichen Rechtlosigkeit absieht, in welcher das weibliche Geschlecht in England gehalten wird.

Die Errungenschaften der französischen Revolution für das bürgerliche Leben der Frauen sind auf britischem Boden noch unbekannt. Der Mann ist überall ihr nothwendiger, unvermeidlicher Vertreter. Nur durch ihn erscheint sie vor dem Gesetz als ein rechtsfähiges Wesen. Das ist der düstere Punkt in dem „Paradies“; das die Ursache, warum sich in der englischen Frauenwelt, die bisher so still die bürgerliche Rechtlosigkeit getragen, eine Bewegung für politische Emancipation herausbildet, wie sie bisher nur in Amerika betrieben worden ist. Die Ansätze dazu sind bis jetzt freilich nur schwach. Auch wird die Bewegung vorerst noch nicht rein principiell geführt, denn für die verheiratheten Damen will man das Wahlrecht nicht verlangen. Unter denen, die als Fürsprecherinnen des so modificirten Vorschlages hervorgetreten sind, nenne ich die geistvolle Schriftstellerin Frances Power Cobbe, das auch in Deutschland wohl bekannte Fräulein Martineau, ferner die Gattin des Parlamentsmitgliedes P. A. Taylor, u. A. Ihre Bestrebungen hat Englands bedeutendster Nationalökonom und philosophischer Denker, John Stuart Mill, durch einen im Parlament gestellten Antrag befürwortet. Als Bundesgenosse ist ihnen der greise General Perronet Thompson, der Veteran der Anti-Korngesetz-Liga, zur Seite getreten.

Die dem Unterhause vorgelegte Petition trägt nur die Unterschriften von eintausend sechshundert und fünf Wittwen und Mädchen. Eine gleichzeitig eingereichte Petition, die dreitausend fünfhundert neunundfünfzig Unterschriften zählt, weist die Namen von verheiratheten Frauen und Männern auf, die der Ertheilung des Stimmrechtes an unverehelichte Damen und Wittwen günstig sind. Unter den Namen der Männer findet sich eine unverhältnißmäßig große Anzahl geistlicher Würdenträger. In der That glaubt man, daß nach den jetzigen Zuständen in England das Frauenstimmrecht dem – kirchlichen Interesse zu Gute käme!

Ich habe die Frage der politischen Gleichstellung der Frauen mit einigen der obengenannten entschiedensten Wortführerinnen persönlich besprochen. Scheint es mir auch, daß nicht blos das ganze Erziehungssystem, sondern – was kaum wünschenswerth wäre – sogar der Charakter des Geschlechtes erst geändert sein müßte, ehe eine solche völlige Gleichstellung erfolgen könnte, so bedarf es doch andererseits kaum eines Beweises, daß die Stellung der Frauen einer gründlichen Verbesserung fähig ist. Wenn man die Frauen, vermittels eines edleren Erziehungssystems, zur Theilnahme an den höchsten Idealen des Mannes, zum tieferen Verständniß seines Ringens für große und allgemeine Zwecke heranbildet; wenn sie dadurch in noch erhöhterem Maße, als sie es jetzt schon sind, selbst zu Bildnerinnen einer Nation werden, so kann sich die Freiheit und der menschliche Fortschritt nur Glück dazu wünschen. Michelet hat glänzend nachgewiesen, daß die gewaltige Volksbewegung des vorigen Jahrhunderts sicherlich einen günstigeren Verlauf genommen hätte, wäre die Frau nicht vorzugsweise unter dem geistigen Druck altererbter Vorurtheile und unter dem Einflusse einer volksfeindlichen Priesterschaft gestanden. „Durch die Frauen die Männer und dadurch den Staat zu beherrschen,“ ist ein alter Grundsatz der jesuitischen Finsterlinge. Unleugbar hat daher die Partei, welche Menschenrecht und Menschenwürde auf ihre Fahne schreibt, ein gebotenes Interesse, die Frauenwelt, die mit tausend zarten Banden das Leben umflicht, hereinzuführen in die große geistige Bewegung, sie zu erfüllen mit erhabeneren Begriffen von Volks- und Staatswohl, sie fähig zu machen für Leidenschaften, die man mit Unrecht als dem Wesen des Weibes widersprechend bezeichnet hat.

In England selbst, wie oben bemerkt, beschränkt sich die Propaganda [310] für das Frauenstimmrecht einstweilen darauf, dasselbe für diejenigen erwachsenen Mädchen und Wittwen zu beanspruchen, die mit eigenem Vermögen ausgestattet sind und die bestehenden Bedingungen des Wahlrechtes nach dieser Seite hin erfüllen. Man kann scherzend dagegen einwenden, daß dies einer Prämie für Altjungferschaft oder Nichtwiederverheirathung gleichkommt. Die Damen, welche den Stimmrechts-Vorschlag in dieser beschränkten Form aufstellten, haben allerdings, wie ich wohl weiß, ein weiteres Ziel im Auge. Sie bedienen sich nur einer politischen Kriegskunst. Sie wollen vorerst einmal Stellung nehmen: das Uebrige soll sich dann später finden. Daß es den Frauen nicht an taktischem Instinct fehlt, ist bekannt genug.

Die Frage vom politischen Stimmrechte der Frauen ist zu trennen von der Frage der Berufszweige, die zu erfassen ihnen möglich sein soll. Bei der Heftigkeit jedoch, mit welcher die meisten Männer sich gegen jede Aenderung in der Stellung des weiblichen Geschlechtes aussprechen, werden die beiden Fragen gewöhnlich durcheinander geworfen und in Bausch und Bogen, meist mit bloßem, nichtssagendem Spott, abgethan. So geschieht es wenigstens hier; und kommt das Gespräch einmal auf dies Thema, so stellen sich die Männer sofort mit flammendem Zungenschwert vor das „Paradies“, in welchem sie das andere Geschlecht gern für immer eingeschlossen haben möchten.

Bei dem Geräusch, welches die öffentliche Fürsprache zu Gunsten des Frauen-Stimmrechtes und das daran sich knüpfende Gespräch über Frauen-Emancipation in den Londoner Gesellschaftskreisen neuerdings gemacht hatte, mußte das öffentliche Erscheinen eines weiblichen Arztes, und noch dazu einer Amerikanerin aus dem Norden, die Neugier stark reizen. Dr. Marie Walker hatte eine Vorlesung in der großen St. James-Halle angekündigt, in welcher gewöhnlich musikalische Vorträge vor einer dichtgedrängten Zuhörerschaft gegeben werden. Sie wollte über die Befähigung der Frau zum ärztlichen Beruf und über ihre eigenen Erlebnisse während des welterschütternden Unionskrieges sprechen.

Die verschiedenen Schichten der Londoner Gesellschaft werden nicht leicht durch ein und dieselbe Strömung bewegt. Nur ausnahmsweise geschieht dies alle Jahre ein oder zwei Mal: nämlich beim Derby-Wettrennen oder beim Schifferstechen, das die Ruder-Clubs der Universitäten Oxford und Cambridge auf der Themse abhalten. Bei diesen Anlässen allein löst sich das Eis der englischen Frostigkeit. An dem Tage, wo die amerikanische Dame auftreten sollte, geschah ein ähnliches Wunder. Ueberall hörte man den Namen: „Dr. Mary Walker“, und Leute, die sich ganz fremd waren, fingen, der Londoner Gewohnheit zuwider, Gespräche miteinander über das bevorstehende Ereigniß an. Die Bemerkungen trugen freilich meist das Gepräge des Sarkasmus. Indessen war die Halle am Abend trotz der hohen Eintrittspreise (die ersten Plätze kosteten sieben, sechs und fünf Schilling) dicht gefüllt, so daß kaum mehr ein Sitz zur Verfügung stand. An Hörern schien es der Vorlesenden somit nicht fehlen zu sollen.

Die Engländer selbst besitzen bis jetzt nur eine einzige geprüfte Aerztin, Fräulein Garrett, die ihren Weg stark durchzukämpfen hatte. Uebrigens wurde sie blos zum sogenannten Apotheker-Examen zugelassen. Eine weitere Prüfung ihr zu gewähren, erklärte die edle äsculapische Zunft nicht berechtigt zu sein! Man stützte sich dabei, wie mir einer der Betheiligten lachend gestand, auf ein altes, verrottetes Statut, dessen Titel ich vergessen habe.

Fräulein Garrett, deren Schwester sich unlängst mit dem blinden Parlamentsmitglied für Brighton, Professor Fawcett, ehelich verband, habe ich in Gesellschaft getroffen. Ihr anspruchsloses, echt weibliches Wesen, das fern von aller blaustrümpfigen Eckigkeit ist, nichts Schrilles oder Männisches an sich hat, gewann ihr rasch die Sympathieen. Eine öffentliche Vorlesung zu halten, hat sie bis jetzt nicht gewagt, oder es nicht gewollt. Ein Wagestück wäre es in London allerdings gewesen; das sieht man jetzt an dem Ausgange des betreffenden Versuches der amerikanischen Dame.

„Ich glaube, unsere jungen Mediciner,“ sagte mir ein Freund, selbst Arzt, bei der Hinfahrt nach der St. James-Halle, „werden heute Abend großen Unfug machen!“ Ich hielt es für eine übertriebene Befürchtung und zuckte die Achseln ungläubig. In der Nähe der Halle, ein paar Minuten vor Beginn der Vorlesung, angekommen, hörte ich indessen bereits in den Gängen einen Heidenlärm aus dem Saale herausschallen. Ich trat ein und nahm Platz neben einem bekannten englischen Fürsprecher der Frauenrechte, auf dessen Zügen sich bereits Unruhe über den vermuthlichen Ausgang der Vorlesung malte.

Dr. Marie Walker trat auf die Rednerbühne in einer Art Bloomer-Anzug. Sie war mit einem oben geöffneten Rock bekleidet, aus welchem eine Weste und eine nach Männerart getragene Uhrkette heraussah. Hosen – von ihr „Pantaletten genannt – vollendeten den männlichen Anzug. Im gescheitelten Haar trug sie einen kleinen Kranz. Die Brust war mit einem von der amerikanischen Regierung ihr verliehenen Verdienstzeichen geschmückt. Bei ihrem Erscheinen, ehe sie noch ein Wort gesprochen, brachen die Unruhestifter – allerdings größtentheils Studenten der Medicin, die sich auf der obersten Galerie, im Himmelreich der Schillingplätze, geschaart hatten – in die scandalösesten Unziemlichkeiten aus.

Man sang – zum Hohn – das amerikanische Freiheitslied auf den Märtyrer der Sclaven-Emancipation, John Brown, –

„Deß Leichnam in der Erde modert,
Doch seine Seele zieht siegreich dahin!“

Dann stimmten die bübischen Gesellen den Gassenhauer: „Wir kreuzfidelen Hunde“ (Three jolly dogs are we) an. Dazwischendrein wurde gejohlt, gepfiffen und gegröhlzt. Man ahmte das Schmerzensgeschrei von Verwundeten nach, die operirt werden. Andere stellten sich seekrank. Erst nach längerer Zeit konnte sich die Rednerin Gehör verschaffen. Das zahlreiche feine Auditorium that kaum etwas, um dem Unfug zu steuern. Es bestand übrigens gewiß die Hälfte der Zuhörer, wenigstens auf den theueren Plätzen, aus Damen. Fast während des ganzen Abends dauerten die Unterbrechungen fort. Bald wurde gemiaut; bald erscholl ein wieherndes Gelächter, wenn die Vorleserin auf delicate Gegenstände überging; bald wurden ihr Anzüglichkeiten zugerufen, wie: „Liebchen!“ „Schätzchen!“ Manchmal mußte sie auf längere Zeit aussetzen. Zu verwundern war nur, daß sie bei solcher Behandlung überhaupt im Vortrage fortfuhr. Kurz, es war eine Scene, wie ich sie noch nie gesehen und nie wieder zu sehen hoffe.

Der Vortrag selbst wurde dadurch vielfach unverständlich, und es ist nicht möglich, ein ganz sicheres Urtheil über die Befähigung der Sprechenden darnach festzustellen, obwohl sie Alles aus einer auf einem Pulte vor ihr liegenden Handschrift ablas. Zu rhetorischen Bewegungen erhob sie sich kaum, auch nachdem eine Zeitlang, in Folge des energischen Auftretens einiger Herren, Stille geboten und erlangt war. Betonung und Geberde der Vortragenden ermangelten des Ausdruckes. Ausführlich behandelte Dr. Marie Walker ihren eigenen Lebenslauf als Studirende der Arzneikunde, sodann ihre Praxis während des amerikanischen Krieges. Auf die Kleiderfrage ging sie, wenn auch theilweise vom gesundheitlichen Standpunkte, mit einer Genauigkeit ein, die beständig Anlaß zu Sticheleien für die Lärmmacher gab. Ein Fehler war es, daß sie gerade bei Punkten, bei denen sie von vornherein auf die eingewurzeltsten Vorurtheile gefaßt sein mußte, humoristisch zu sein versuchte. Ein Fehler war es auch, daß sie eine ihr persönlich passirte Kußscene am Sterbebette eines tödtlich verwundeten Unionssoldaten mit allen Einzelheiten wiedergab und dabei unwillkürlich Ausdrücke gebrauchte, die sofort in England spaßhafte Gedankenverbindungen erwecken mußten. Das Miauen, das Turteltauben-Girren, das hänselnde Nachäffen der Stimme der Vortragenden wurde bei diesen Gelegenheiten jedes Mal am lautesten. Vom Parterre aus erhoben sich dann freilich Gegenrufe: „Hinaus mit den Unruhstiftern!“ – aber man merkte es dem Tone der Rufenden an, daß sie selbst nur scherzen und scandaliren wollten.

Bei der Schilderung des Kampfes der Republik gegen die Sclavenhalter-Liga verweilte Dr. Marie Walker in freiheitlich-patriotischer Darstellung. Die südstaatliche Gesinnung der Mehrheit der Zuhörer brach hier durch; Viele verließen geräuschvoll den Saal. Es war peinlich und empörend, sehen zu müssen, wie eine mit schwachem Stimmorgan begabte, zartgebaute Frau, die auf Schlachtfeldern ihre Aufopferungsfähigkeit bewiesen, sich gegen diesen zum Theil vornehmen Pöbel abkämpfte. Sie verlor indessen nie die Fassung. Ein oder zwei Mal suchte sie die Unterbrechenden durch eine Bemerkung zu beschämen. Im Uebrigen las sie ruhig aus ihrem Texte vor, der indessen, schon was äußere Anordnung betraf, nicht gut durchgearbeitet schien. Obwohl die Vorlesung ziemlich lang dauerte und bei dem Mangel an Stimmmodulation [311] der Redenden noch länger erschien, so überging sie doch, wie mir dünkte, einige Abschnitte ihrer Handschrift, da gegen den Schluß, von der Galerie aus, das Girren wieder ärger wurde.

Als sie geendet, stand Niemand auf, um den üblichen Dank vorzuschlagen. Dagegen sangen die jungen Helden im „Juchhe“ wieder die „Kreuzfidelen Hunde“ und „Frei und lustig“ (Free and easy) im Chorus ab. – Am anderen Tage wurde eine Anzahl derselben, die nach der Vorlesung in eine Musikhalle gegangen waren und dort unter dem Rufe: „Dr. Mary Walker!“ Polsterstühle und Glasscheiben zertrümmert hatten, vor den Polizeirichter gebracht, aber mit geringer Strafe gnädig genug entlassen. Die Rohheit der hiesigen Studenten der Medicin ist leider wohlbekannt. So kam es unlängst vor, daß in St. Mary’s Hospital mehrere derselben den Leichnam eines Mannes in Gegenwart der bekümmerten Wittwe mit Stöcken herumstießen und ekelhafte Witze über den Todten rissen. Der Obmann der Todtenschau sagte ihnen in’s Gesicht, daß sie Ohrfeigen dafür verdienten.

Es wäre ungerecht, gegen eine so schmählich mißhandelte Dame, wie Dr. Mary Walker, eine eingehende Kritik zu richten; doch kann ich nicht verhehlen, daß der neben mir sitzende Freund der Frauenrechte die Bemerkung machte: „Die Dame vergißt zu sehr, was sie einem englischen Publicum sagen kann.“ Es giebt auch hier – die Verhandlungen im Congreß des social-wissenschaftlichen Vereins haben es bewiesen – nicht Wenige, die eine Reform in der Stellung der Frau wünschen und weiblichen Rednern, die in dieser Frage sehr entschieden auftreten, das willigste Gehör leihen. In der Provinz wenigstens ist es Dr. Mary Walker seitdem gelungen, einmal ohne Störung ihren Vortrag zu halten. Gegen die Vermischung der Kleidertrachten aber – und darüber verbreitete sich die Vorlesung in der St. James-Halle nur allzu sehr – sind Alle, die ich noch gehört, und zwar aus guten Gründen. Die Ueberzeugung, daß für Frauen- und Kinderkrankheiten weibliche Aerzte unbedingt erforderlich seien, bricht sich in England immer mehr Bahn. Andererseits bringt es die Natur der Dinge mit sich, daß diejenigen Frauen, die sich zur Laufbahn der Dr. Mary Walker gedrängt fühlen, stets mehr oder weniger auch auf der Grenzlinie der männlichen Charaktere stehen und daher eine numerisch geringe Ausnahme bilden werden.

Im wohlgeordneten Staate muß aber für die Entwickelung Solcher ebenfalls Platz sein; und wenn die „Times“ sagt: „Dr. Mary Walker habe, da sie einmal in die Stellung des Mannes getreten, auch die Folgen über sich nehmen müssen,“ so ist dies eine ganz unlogische Darstellung und zugleich eine Aeußerung, die einen traurigen Einblick in die Macht der herrschenden Vorurtheile thun läßt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Walter