Die Schule auf dem Wald
Wie ich in jungen Jahren oft gethan, so lenkte ich auch heuer, als das schöne Pfingstfest vor der Thür stand, meine Schritte nach dem Thüringer Walde. Ich fand, wie sonst, ja, da das Jahr schon weit vorgerückt war, mehr als sonst, die Hauptzugänge, welche ich berührt, bunt und fröhlich belebt. Aber ich folgte nicht, wie sonst, dem großen Troß fröhlicher Pfingstwanderer; es zog mich nicht nach dem schönsten, duftigsten Waldthale, nicht nach dem freiesten und genußreichsten Aussichtspunkte; ich wollte und sollte dieses Mal im Thüringer Walde ein Pfingsten ganz anderer Art als sonst wohl feiern, ich wandte mich nach einem der stillsten und heimlichsten Thäler, das von dem gewöhnlichen Touristen nur selten betreten wird. Aber in dem Thale, welches ich betrat, ging es doch dieses Mal so laut und fröhlich, ja fröhlicher her, als in den andern, und ich fand ein Haus, welches vielen Hunderten schon Heimath und Herberge gewesen ist, besser als irgend eines in ganz Thüringen.
Diese traute Herberge, es ist die Schule auf dem Walde, die von Männern gegründet wurde, um Männer zu erziehen, jene Erziehungsanstalt zu Keilhau, und darum ein Name, der viele Herzen erhebt, so oft er genannt wird. Zu dieser hohen Dorfschule wandern wir, um heute das Fest ihres fünfzigjährigen Bestehens mitzufeiern.
An einem heißen Junitage des Jahres 1817 betrat nämlich dieses Thal zum ersten Male eine kleine Schaar von müden Wanderern, aber mit ganz anderen Empfindungen, als die uns heute bewegen. Voran der damals fünfunddreißigjährige, nachmals auf [581] dem Gebiete der Pädagogik berühmte Friedrich Fröbel, dann dessen Freund vom Hörsäle Schleiermacher’s und vom Lützower Freicorps her, der dreiundzwanzigjährige Wilhelm Middendorf, ihnen folgend ihre drei Zöglinge, zwei Neffen Fröbel’s aus Osterode und der jüngere Bruder eines Freundes der beiden Erzieher, Chr. Ed. Langethal aus Erfurt. Sie kamen von Griesheim bei Stadtilm, wo Fröbel im Hause seines verstorbenen Bruders, der dort Pfarrer gewesen, eine Erziehungsanstalt zu begründen gedachte, und wohin ihm Middendorf, zugleich als Gehülfe und als Schüler, gefolgt war. Griesheim war für nicht in jeder Beziehung passend befunden worden, und, als die Schwägerin Fröbel’s ein in Keilhau, dem hintersten Dorfe des Schaalthales bei Rudolstadt, zum Verkaufe gekommenes Bauerngut käuflich erwarb, um dahin ihren Wittwensitz zu verlegen, ward beschlossen, das in Griesheim begonnene Unternehmen in Keilhau fortzusetzen. Die neuen Ankömmlinge übernahmen das gedachte Gut und es wurde nun zuerst mit der nothdürftigsten baulichen Einrichtung der theils in Verfall gerathenen, theils nicht ausgebauten Gutsgebäude begonnen. Im Herbst kam dann die Schwägerin Fröbel’s von Griesheim nach und führte der jungen Anstalt ihre drei Söhne als Zöglinge zu. Etwas später traf auch der gemeinschaftliche Freund Fröbel’s und Middendorf’s, der fünfundzwanzigjährige Langethal aus Berlin, in Keilhau ein, um, mächtig ergriffen von den pädagogischen Ideen und Bestrebungen Fröbel’s und freudig Verzicht leistend auf glänzendere Aussichten, die sich ihm darboten, seine ausgezeichneten Kräfte den Freunden und dem von ihnen begonnenen Werke zu widmen.
So ward also vor fünfzig Jahren in dem Dörflein Keilhau diese deutsche Erziehungsanstalt begründet. Die Geschichte der ersten fünf Jahre derselben hat uns der schon erwähnte Chr. Ed. Langethal, jetzt Professor an der Universität Jena, der berühmte Botaniker und Agriculturhistoriker, in einer dem derzeitigen Director der Anstalt gewidmeten kleinen Schrift[1] so treu und plastisch geschildert, daß es nicht möglich sein würde, selbst mit Hülfe der sämmtlichen etwa vorhandenen Urkunden und zugänglichen sonstigen Hülfsmittel ein klareres Bild dieser Anfangsperiode zu entwerfen. Und die Schrift gehört zur Classe derer, deren Inhalt man auszugsweise nicht wohl wiedergeben kann, jede Zeile ist wie der Pinselstrich an einem Meisterwerke der Kunst, dem Ganzen unerläßlich.
Wir sehen die Anstalt als eine Schöpfung der durch die große Zeit, in der sie entstand, geweckten Ideen. Die Gründer waren mitwirkende Zeugen des großen deutschen Krieges gewesen, in dem nicht die Ueberlegenheit der Zahl oder der Waffenführung, sondern der mächtig erregte Wille, ernste sittliche Kraft und Zucht, heilige Begeisterung nicht nur Deutschland, sondern Europa aus den Banden einer schmählichen Knechtschaft befreit hatten. Diese befreienden Kräfte zu Schutzengeln des deutschen Volksthums zu machen, die Güter, welche zur Befreiung verholfen hatten, auch dem befreiten Vaterlande zu erhalten und in ihm weiter zu pflegen, so der Wiederkehr neuer Versumpfung und Schmach zu steuern – dies waren die Strebeziele jener drei edlen Jünglinge, die, wie sie im Lützower Freicorps Seite an Seite gekämpft hatten, nun auch gemeinschaftlich an ein herrliches Friedenswerk herantraten. Der älteste unter ihnen, Friedrich Fröbel, hatte richtig erkannt, daß, wenn das deutsche Volk in der mit den Befreiungskriegen anhebenden Epoche seiner Geschichte seinem hohen [582] Culturberufe entsprechen solle, an die Jugenderziehung die bessernde Hand gelegt, an die Stelle des herrschenden scholastischen Schematismus eine die sämmtlichen Lebenskräfte des Menschen gleichmäßig, harmonisch entwickelnde und auf die Eigenthümlichkeiten des Individuums eingehende Erziehungsmethode gesetzt, daß die Jugend in der Schule nicht geschult, sondern erzogen werden müsse. In den wichtigsten Grundsätzen seiner Erziehungsmethode stimmte er mit Pestalozzi überein, dessen Schöpfungen er selbst während längeren Aufenthaltes in Yverdon aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte und dessen Ideen er fortzubilden, mit dem Geist der Zeit in Einklang zu bringen, zu generalisiren bestrebt war. In Keilhau sollten diese geläuterten Ideen zur Anschauung gebracht, die hier errichtete Anstalt sollte eine Musteranstalt werden; erprobte sich hier die neue Methode der Erziehung – und mit der dem Reformator eigenen Zuversicht sah er im Voraus sie sich erproben – so mußte sie auch anderwärts, so mußte sie auch in der Elementar- und Gelehrtenschule sich geltend machen, jedenfalls konnten ihr in den Zöglingen selbst wirksame und beredte Apostel gewonnen werden. Daß diese Erwartungen sich erfüllt haben, dafür legte bei Gelegenheit des Festes, auf welches wir dann zu sprechen kommen, ein als Schulmann gefeierter Professor des Rudolstädter Gymnasiums Zeugniß ab, indem er offen bekannte, die deutschen Gymnasien, von denen aus diese „Familien-Erziehungsanstalten“ anfänglich mit Hochmuth und Mißtrauen betrachtet worden seien, seien dann bei ihnen in die Schule gegangen, und es bleibe den ersteren noch heute Vieles von den letzteren zu lernen übrig.
Fröbel nun – einen so unvergänglichen Namen er sich auch in der Geschichte der Pädagogik erworben hat – war nicht der Mann, die Fülle seiner Ideen zu einem gemeinverständlichen, philosophisch geordneten System zu verarbeiten und mit ruhiger Klarheit und praktischem Geschick ihnen die Werkstätte zu bereiten. Da kam ihm denn der gründlich gebildete, besonnene und praktische Freund, Langethal der Aeltere, trefflich zu Statten, und wenn diese Beiden ihre sich ergänzenden Kräfte der inneren und äußeren Grundlegung des neuen Werkes widmeten, so wirkte der dritte Genosse, Middendorf, ein Jüngling von seltener Reinheit und Tiefe des Gemüthes, von außergewöhnlicher Selbstständigkeit und Aufopferungsfähigkeit, in der jungen Anstalt mächtig durch das Beispiel seiner Persönlichkeit, mild gegen seine Umgebung, streng allein gegen sich selbst, lernend und lehrend zugleich, der hier sich bildenden Gemeinde von vornherein das Gepräge des familienhaften Friedens verleihend.
Ergänzten sich so auch die Kräfte der ersten Gründer dieser Anstalt in vortheilhafter Weise und gelang es auch binnen wenigen Jahren den Freunden, in dem Maße ihren Bestrebungen zur Anerkennung zu verhelfen, daß die Anstalt schon zu Anfang der zwanziger Jahre gegen fünfzig Zöglinge zählte, so kann man doch nicht sagen, weder daß der Geist der letzteren bis dahin schon ein völlig bestimmtes Gepräge und ihre Wirksamkeit eine große Bedeutung erlangt, noch daß ihre ökonomische Lage sich so befestigt gehabt hätte, daß sie allen Wechselfällen zu trotzen fähig gewesen wäre. Es stellte sich die Anstalt in den ersten Jahren, ja vielleicht im ganzen ersten Jahrzehnt eben nicht als ein fertiges und geordnetes, sondern in jeder Beziehung als ein im Bau begriffenes Gebäude dar, und zwar als ein solches, an dessen Plan noch während des Baues Manches geändert, Manches nicht mit klarer Rechenschaft über die vorhandenen Mittel ausgeführt wird. Klar ausgeprägt war an dieser Schöpfung nur erst Eines, nämlich, daß es sich hier um etwas vollkommen Neues und Eigenartiges, um die Durchführung einer großen und einflußreichen, von ihren Trägern mit ganzer Hingabe und Widmung erfaßten Idee handelte. Unverkennbar waltete in der Anstalt ein frischer, kräftiger, selbstständiger Gemeingeist. Was hier zusammenwirkte und lebte, war keine Schule oder Pension im bisher landläufigen Sinne, sondern eine familienhafte Gemeinde, deren Gliedern nicht nur das äußere Leben, sondern das Streben nach harmonischer Entwickelung aller Kräfte gemeinsam war. Wenn wir jetzt mit dankbaren Gefühlen und mit inniger Verehrung auf die Keilhauer Erziehungsanstalt blicken, so müssen wir uns gestehen, daß, um sie zu dem zu machen, was sie geworden ist, sich zu der Begeisterung und dem Gestaltungsdrange der ersten Begründer noch eine ruhig gestaltende, die Ziele und Mittel gleich sicher beherrschende Kraft hinzugesellen mußte. Und diese Kraft ward den Freunden zum Glück für das Unternehmen schon frühzeitig in der Person des jetzigen Directors, Johannes Barop, zugeführt.
„Im Herbst des Jahres 1822“ – so erzählt Prof. Dr. Chr. Ed. Langethal in dem erwähnten Schriftchen – „kam ein Student aus Halle, Namens Barop, nach Keilhau, um seinen nahen Verwandten Middendorf zu besuchen und sich gelegentlich auch die Anstalt zu betrachten. Langethal (der Aeltere) war ihm ebenfalls nicht ganz unbekannt; denn er hatte ihn schon im Anfange des Jahres 1814 bei seinem Vater, dem Justizrathe Barop in Dortmund, gesehen, als er auf seinem Kriegszuge in Dortmund Rasttag machte und Grüße von Middendorf brachte, den eine Krankheit in Münster zurückhielt. Barop fand das Haus der Anstalt leer; er mußte Lehrer und Schüler auf der Spitze des höchsten Berges aufsuchen, denn da oben wurde gespielt. Der Schein eines lustigen Feuers zeigte ihm den Weg zu uns und im Abenddunkel kehrten wir mit ihm zurück.… Das war der jetzige Director Dr. Barop, der damals zum ersten Male Keilhau betrat. Er sah es in seiner ersten Blüthe und ihm erging’s wie vielen Anderen, welche das Keilhauer Leben mächtig ergriff.“
Wir sehen Barop in Keilhau sich niederlassen und wenige Jahre später die Leitung der Anstalt in seine Hand nehmen, während Fröbel nach und nach immer mehr seinen anderen bekannten pädagogischen Bestrebungen sich zuwandte und Langethal auf eine lange Reihe von Jahren Keilhau verließ, wohin er erst im späteren Alter dauernd zurückkehrte.
Was Keilhau auf dem von den drei ersten Begründern bereiteten Boden unter Barop’s Leitung geworden, darüber werden die Leser gern das Zeugniß des Verfassers dieser Zeilen, eines ehemaligen Zöglinges der Anstalt, vernehmen, welcher der letzteren zwar unendlich viel verdankt, aber sich ein unbefangenes Urtheil über dieselbe zutrauen darf und sich überzeugt hat, daß der zu seiner Zeit, in den vierziger Jahren, dort waltende Geist im Wesentlichen auch heute noch dort heimisch ist.
In der Erziehungsanstalt zu Keilhau sieht man Knaben aus den verschiedensten Ständen und aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands, vorzugsweise jedoch aus Mittel- und Norddeutschland. Das gleiche Gesetz gilt für alle, für das verwöhnte Muttersöhnchen aus hocharistokratischer Familie so gut wie für den derberen Bauernsohn. Es gilt kein Ansehen der Person; von den Erziehern werden Alle mit gleicher Liebe und Sorgfalt behandelt; im Kreise der Zöglinge selbst ist der Tüchtigste der Geachtetste.
Das verschiedene Lebensalter der Zöglinge – es sind oft gleichzeitig Knaben von acht und Jünglinge von siebzehn Jahren in der Anstalt – begründet ebenfalls keinen Rangunterschied; die älteren sind durch Herkommen verpflichtet, die Sorge für das physische und sittliche Gedeihen der jüngeren mit den Lehrern zu theilen.
Wenn überhaupt die Eigenart des Familienlebens auf eine solche zahlreiche und nicht durch natürliche Bande verknüpfte Genossenschaft übertragen werden kann, so ist es hier geschehen, wo beobachtende Dritte stets den Eindruck empfangen haben, als belebe das Ganze ein patriarchalisch familienhafter Geist. Unsere Lehrer standen nicht über uns, sondern wie unseres Gleichen mitten unter uns, nur ausgezeichnet durch Achtung und Liebe und durch das selbstverständlich ihnen zustehende Recht, Gehorsam zu fordern; wer der Achtung und Liebe nicht werth gewesen wäre, wer Gehorsam gefordert hätte, nur um von dem Rechte dazu Gebrauch zu machen, der hätte nicht als Lehrer nach Keilhau getaugt. Nicht wenig trug der Umstand, daß die weiblichen Haushaltsgeschäfte im Wesentlichen und mit bewunderungswürdiger Hingabe und Pflichttreue, statt von Fremden, von den Frauen und erwachsenen Töchtern der Erzieher besorgt wurden, dazu bei, unserem Leben das Gepräge des Familienhaften zu verleihen. Wie Mütter und Schwestern walteten die „Frauen“ unter uns.
Wir wurden erzogen, ohne daß wir’s merkten; es herrschte unter uns eine gute Disciplin; aber sie hielt sich von selbst aufrecht; wir hatten, wie es die örtlichen Verhältnisse wohl gestatteten, in unseren Freistunden viel Freiheit, doch ein Mißbrauch dieser Freiheit Seitens Einzelner gehörte zu den großen Seltenheiten; der forterbende gute Geist der Anstalt war eine bessere Schutzwehr gegen Ausschreitungen, als es eine streng dem Buchstaben nach gehandhabte Schulordnung jemals hätte sein können. Es versteht sich von selbst, daß hin und wieder trotzdem solche Ausschreitungen vorkamen. Waren dieselben derart, daß auf einen wirklichen sittlichen [583] Makel oder auf sittliche Rohheit geschlossen werden mußte, so war natürlich ernste Rüge, in schlimmeren Fällen strenge Züchtigung die Folge. Solche Züchtigung war ein feierlicher Act, durch den uns, da er vor versammelter Gemeinde vorgenommen wurde, stets klar vor Augen geführt ward, wie durch das Vergehen unsere sittliche Gemeinschaft gestört worden sei. Bei solchen Strafhandlungen trat uns die ganze sittliche Würde und der väterliche Ernst des Directors ehrfurchteinflößend entgegen; je seltener sie vollzogen wurden, einen desto tieferen Eindruck hinterließen sie. Hin und wieder schritten wir in Fällen, die uns Strafe zu verdienen schienen, obwohl nicht ein eigentliches Vergehen vorlag, auch selbst strafend ein. Vor versammelter Gemeinde ward der Fall vorgetragen und das Urtheil gesprochen. Andere Strafen, als mehrtägige Ausschließung aus unserer Gemeinschaft, verhängten wir nicht, aber das Urtheil ward in aller Form und Strenge vollzogen und die Strafe verfehlte nie ihre Wirkung.
Wir wurden körperlich hart gewöhnt, nicht mit künstlichen Zwangsmitteln, sondern ganz naturgemäß in Folge der großen Einfachheit, in der wir erzogen wurden, und da der Grundsatz Geltung hatte, daß wir uns von früh an selbst bedienen, selbst helfen lernen mußten. Auch half zu unserer physischen Kräftigung der Umstand wesentlich mit, daß wir völlig auf dem Lande und in einer sehr glücklich gewählten räumlichen Umgebung lebten. Nur wenige Schritte aus dem Hofe der Anstalt kostete es, so waren wir am Fuße unserer lieben Berge, an und auf denen wir, bauend und pflanzend, kletternd und spielend, Sommer und Winter den größten Theil unserer Freistunden verbrachten. Das Bildchen des Dorfes und der Erziehungsanstalt Keilhau und der nächsten Umgebung, welches die Leser auf Seite 581 dieser Nummer finden, bestätigt wohl zur Genüge den Ausspruch, daß eine glücklichere Lage für eine Erziehungsanstalt, als die unsere, kaum gewählt werden konnte. Wie hier an der Nord- und Westseite, so erheben sich auch südlich vom Dorfe herrliche Berge; nach Osten hin öffnet sich das Thal in das Saalgebiet. Alle Höhen bieten liebliche Nah- und Fernsichten, bald in das Saalthal, bald in die Kalkvorberge des Thüringer Waldes. Die schönsten Punkte der letzteren, Blankenburg, das Schwarzathal, Schwarzburg, Paulinzella, der Singerberg, sind alle in wenigen Stunden bequem zu erreichen und häufige Wanderungen dahin weckten unsere Wanderlust, bildeten unseren Sinn für Naturschönheiten, waren eine treffliche Vorbereitung für die größeren Fußreisen, welche alljährlich im Herbst, gewöhnlich in drei Abtheilungen, jede geführt von einigen unserer Lehrer, unternommen wurden.
Turnen und Spiel im Freien, in den Sommermonaten täglich kaltes Bad und Schwimmübungen in einem eigens dazu angelegten Bassin – dies zusammen mit einer durchaus geregelten und geordneten, einfachen und nüchternen Lebensweise, stählte die Kräfte auch des Schwächlichsten in kurzer Zeit, so daß ernstliche Krankheiten die Anstalt nur äußerst selten heimsuchten, überhaupt aber das Krankenzimmer in der Regel leer stand.
Was den Unterricht anbelangt so galt es stets auch hier als feststehende Regel, die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen gewissenhaft zu berücksichtigen, die verschiedenen geistigen Kräfte möglichst gleichmäßig auszubilden, insbesondere das Schlußvermögen nicht über dem Gedächtniß zu vernachlässigen und im Betreff der Quantität des gleichzeitig Dargebotenen verständiges Maß zu halten. Daß die Classeneintheilung nicht in dem Maße durchgeführt war, daß jeder Schüler in allen Unterrichtsfächern ein und derselben Classe angehören mußte, mochte zwar hin und wieder beim Uebergang der Zöglinge in andere Bildungsanstalten hinderlich sein, kam aber jedenfalls der gründlichen Durchbildung der Zöglinge während ihres Aufenthaltes in Keilhau wesentlich zu Gute und war, wenn überhaupt, doch nur störend für die, welche die Anstalt nur kürzere Zeit besucht hatten; denn in den höheren Classen glichen sich die Unterschiede fast völlig wieder aus, die in den niederen gemacht werden mußten. Die Leistungen der Anstalt auf dem Gebiete des Unterrichts waren selbstverständlich zu verschiedenen Zeiten je nach der Befähigung und Zusammensetzung des Lehrerpersonals verschieden. Im Ganzen haben wir immer auch in dieser Beziehung nur Erfreuliches vernommen; namentlich ist stets den in Keilhau Gebildeten eine besondere Reife des Urtheils und geistige Gewandtheit nachgerühmt worden.
In Keilhau wurde eine lautere und gesunde Religiosität gepflegt. Die religiöse Bildung beschränkte sich nicht auf den eigentlichen Religionsunterricht, sondern das ganze Leben ward getragen und erhoben von einer gewissen religiösen Weihe, die frei war von jeder Scheinheiligkeit und Frömmelei, aber auch jede Spur von Frivolität vollständig ausschloß.
Besonders erbaulich wurden neben den eigentlichen Familienfesten die großen kirchlichen Feste begangen, vor allen das Weihnachtsfest, dessen Feier einen heiteren und gemüthlich tief anregenden Glanzpunkt in unserem Winterleben bildete – dergestalt, daß keiner von uns jemals das heimische Weihnachten vermißte, so viel reicher und glänzender da auch die Bescheerung ausgefallen sein mochte.
Ich könnte so noch Seiten lang von dem Leben, dem Geiste und der Eigenart der Anstalt, die mir mit vielen Hunderten eine so liebe Gedankenheimath geworden, erzählen, aber das Bild würde doch nicht so treu und klar werden, wie es in meiner Seele verzeichnet ist, und selbst nicht so treu und klar, wie es Dem vor die Seele treten wird, der etwa auf einer Reise durch den vielbereisten Thüringer Wald es nicht versäumt, von Rudolstadt oder Schwarzburg ab einen Abstecher in das liebliche, stille Keilhauer Thal zu machen und dort einen Tag in der Anstalt zu verleben, wo ich ihm gastfreundlichste Aufnahme versprechen kann und wo er, wenn sein Gemüth empfänglich ist für Genüsse solcher Art, unvergeßlich wohlthuende Eindrücke empfangen wird.
Das schönste Zeugniß für Keilhau scheint mir die unwandelbare Liebe und Anhänglichkeit Derer, welche einst dort ihre Jugendbildung genossen, und diese Liebe war es auch, welche jenes Fest so erbaulich machte, zu dessen Begehung wir am vorigen Pfingsttage, wie erwähnt, nach Keilhau wallfahrteten.
Von nah und fern waren die alten Keilhauer herbeigeeilt, – Männer jeden Lebensalters und aus den verschiedenartigsten Berufskreisen – Alle getrieben von dem Verlangen, bei diesem festlichen Anlaß die Stätte wieder zu begrüßen, an der sie so glückliche Jahre verlebt, den theueren, lieben Menschen wieder in’s treue Angesicht zu blicken, die einst ihres Leibes und ihrer Seele Hüter gewesen waren.
Für uns Aeltere war das Fest freilich ein Fest nicht nur dankbarer, sondern auch wehmüthiger Rückerinnerung. Denn es fehlte manches theure Haupt unter den Festgenossen. Fröbel war heimgegangen, der treffliche Middendorf und Barop’s herrliche Gattin; so ferner Fröbel’s Bruder aus Osterode, der lange Jahre hindurch die Oekonomie der Anstalt geleitet hatte, und dessen Gattin, die als liebenswürdige Matrone uns so treu vor Augen stand. Dafür hatten wir aber auch manche besondere Freude. Wir fanden den Dritten der Gründer der Anstalt, Langethal, noch in rüstigster Lebenskraft, zwar des Augenlichtes beraubt, aber noch heiter und klar und wohlgemuth wie sonst; wir fanden dessen jüngeren Bruder, den Prof. Langethal, den ersten Zögling der Anstalt; wir fanden Barop, fast noch so rüstig, wie er vor zwanzig Jahren war; wir fanden viele theure Glieder der Familien unserer Erzieher, wir fanden viele unserer Jugendfreunde, denen wir seit langen, langen Jahren nicht wieder begegnet und denen wir uns doch brüderlich nahe fühlten, als die meist rührenden, oft komischen Scenen des Wiedererkennens überwunden waren; unsere lieben Berge standen ja noch wie sonst, nur durch die fleißige Hand des Directors der Anstalt vielfach trefflich angebaut; wir konnten uns versenken in unsere glückliche Jugendzeit und jenen verjüngenden Traum träumen, von dem so mancher Sänger singt.
Unseren Rückblick auf dieses schöne Jubelfest einer im wahren und vollen Sinne deutschen Erziehungsanstalt wissen wir nicht besser zu schließen, als mit Langethal’s warmen Worten auf dieselbe: „Ein halbes Jahrhundert hindurch,“ so sagt er, „hat die Anstalt dem Wechsel der Dinge getrotzt, sie hat Glück und Unglück erfahren, gute und böse Tage gesehen, doch war kein Geschick im Stande, ihre Grundsätze zu beugen. Darum darf sie mit Freuden auf die Vergangenheit schauen und mit Zuversicht auf die Zukunft blicken… Der frische Geist, welcher die Anstalt zu Keilhau geboren und sie getragen hat ein halbes Jahrhundert hindurch, der wird auch niemals entweichen und sie ferner noch führen durch alle Wechsel der Zeiten hindurch. Wenn dann wiederum nach fünfzig Jahren ein anderes Geschlecht die große Feier des hundertjährigen Jubiläums begeht, dann sollen sich unsere Nachkommen sagen: daß das Irdische vergänglich, das Geistige aber göttlichen Ursprunges ist, welches auf Erden in Formen zwar wechselt, im Wesen aber ewig besteht.“
- ↑ Keilhau in seinen Anfängen. Erinnerungen des ältesten Zöglings der Anstalt. Jena, 1867. Friedr. Frommann.