Hero und Leander
[156] Hero und Leander. (Zu dem Bilde auf S. 145.) Ein tüchtiger Münchener Künstler hat das Schwierige gewagt, den Ausgang jener rührenden Liebesgeschichte im Bilde darzustellen, welche unsern Schiller zu einer seiner schönsten Balladen begeisterte. Ein alter Stoff - denn schon Musäos sang im Alterthum von der Aphroditepriesterin zu Sestos, welche den in Schönheit blühenden Leander von Abydos, am jenseitigen Ufer des Hellespontos, liebte und ihm allnächtlich die Leuchte am Thurm aushing, damit er, durch die dunklen Fluthen zu ihr schwimmend, die Richtung nicht verfehlen sollte, bis der Sturm eines Nachts die Leuchte löschte und die Wogen am Morgen die Leiche des Ertrunkenen an’s Ufer spülten, der verzweifelten Geliebten vor die Füße. Das ist der tragische Höhepunkt der Geschichte, den unser heutiges Bild in erschütternder Wahrheit zeichnet: die Klippen der Küste von Sestos im ersten Morgengrauen die Wogen noch unruhig, in der ausklingenden Bewegung der Sturmnacht mit leichten Schaumkämmen gegen das Gestein brandend und den Körper des unglücklichen Schwimmers schaukelnd, wenige Schritte weiter neben der verloschenen Fackel die Aermste, mit verwirrten Sinnen vom Ufer her auf das Opfer treuer Liebe niederstarrend. Die Dialektik der Verzweiflung kommt schnell beim Entschlusse des Selbstmordes an. Die Schiller'sche Hero spricht:
„Ich erkenn’ euch, finstre Mächte!
Strenge treibt ihr eure Rechte,
Furchtbar, unerbittlich ein.
Früh schon ist mein Lauf beschlossen,
Doch das Glück hab’ ich genossen,
Und das schönste Loos war mein.
Lebend hab ich deinem Tempel
Mich geweiht als Priesterin,
Dir ein freudig Opfer sterb’ ich,
Venus, große Königin.“
Und die Wasser des Hellesponts nehmen das freiwillige Opfer zu dem erzwungenen. Die Geschichte ist, wie bemerkt, alt; wer weiß, wo die Wurzel ihres Ursprungs liegt. Ein verwandter Klang tönt in unserem rührend schönen Volksliede von den „zwei Königskindern, die einander so lieb hatten“. Beide Fassungen sind wohl Kinder derselben Sage, nur aus verschiedenem Boden erwachsen, und es gewährt einen eigenen Reiz, die Eigenart des einen und des andern Volksgeistes an ihnen zu studiren.