Wasser thuts freilich

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Titel: Wasser thuts freilich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 112-116
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Prießnitz und Rausse, Exponenten der Wasserheilkunde
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„Wasser thuts freilich.“

Vom Bodensee. 

Vinzenz Prießnitz.

Es war ein rauher kalter Tag des regnerischen Augustmonats anno 1851, als ich mit meinem Freund S. auf dem Dampfboot „Leopold“ die Wogen des Bodensees von Horn nach Constanz durchschiffte. S. war wie ich aus Hamburg, hatte sich nach vollendeter Lehrzeit einige Jahre in London, dann in Rio de Janeiro aufgehalten und sich zuletzt in Galacz häuslich niedergelassen. Hier war er seit vorigem Herbst von dem dort alle Jahre herrschenden Wechselfieber ergriffen; bis zum Skelet abgemagert, hatte er auf Anrathen der Galaczer Aerzte Oberitalien besucht, war aber hier, wohl in Folge der unerträglichen Hitze, abzehrenden Schweißen verfallen und glaubte sich bereits in Folge desselben eine sichere Beute des Todes, als er von einem Gasthofsgefährten in Venedig in die Berge der Schweiz, in die Heilanstalt des bekannten Wasserarztes Hahn, d. h. nach Horn am Bodensee verwiesen und hier binnen kurzer Zeit Besserung und Genesung fand. Dort hatten wir uns zufällig getroffen und waren bald einig, unser unerwartetes Zusammentreffen mit einem kleinen Abstecher den Rhein hinunter, bis an den Rheinfall, zu feiern.

Natürlich war er noch ganz voll von seiner brillanten Kur, von Lobeserhebungen über den Lebensretter, den er gefunden, von Lobpreisungen über die so einfache Behandlungsweise, [113] durch die er genaß. Wenn schon Freund und warmer Fürsprecher einer naturgemäßeren, vernünftigeren, enthaltsamen Lebensweise, und Feind, so lange es geht, des directen Einschreitens mit den Mitteln unseres so reichhaltigen Heilapparats, konnte ich dennoch nicht so ganz in den Enthusiasmus meines Freundes einstimmen; fehlte mir doch dazu bis jetzt noch die Ueberzeugung und besonders die directe Veranlassung einer gemachten Erfahrung; nichts desto weniger wußte ich aber letztere bei ihm zu würdigen, und zollte auch meinerseits gerne meinen stillen Dank dem Arzt und seiner Heilweise, die beide im Verein mir meinen Freund erhalten hatten.

„Schauen wir uns einmal die Schiffsgesellschaft da unten an,“ sagte ich, nachdem wir unsere Fahrbillets gelöst hatten, und zog ihn am Arm die enge Kajütentreppe hinunter. Ein buntes Gemisch von Reisenden saß da; die einen schwatzten oder aßen ein warmes Frühstück, eine Wurst oder eine Cotelette, die andern spielten Domino oder Karten; den größten und buntesten Haufen aber bildete ein halbes Dutzend junger Männer in Studenten- oder Turnertracht, die alle, ein Bierglas in der Hand und eine lange Pfeife im Mund, noch voll von den Erlebnissen der Turnerfahrt an das eidgenössische Turnfest waren, darüber hin und her debattirten. Es waren Alle noch blutjunge Söhne, Würtemberger, aus Tübingen, Ulm und Stuttgart, meist kräftige, stämmige Bursche; vor Allen aber erregte einer besondere Aufmerksamkeit; er schien der Matador unter ihnen zu sein. Von kräftiger gedrungener Statur, mit etwas bierrauschgeröthetem aufgedunsenen Gesicht, kleinen trüben Augen, hatte er überdies eine tüchtige Schmarre überm Mund, die ihn nicht allein äußerlich ziemlich entstellte, sondern auch seine Aussprache für immer undeutlich gemacht hatte.

J. H. Rausse.

„Hier ist meines Bleibens nicht,“ sagte mein Freund, nachdem er sich umgeschaut, „hinauf wieder auf’s Deck, in’s Freie; wollen uns lieber Nasen und Ohren droben vom Wind und Regen anpeitschen lassen, als hier unten pestilenzialische Luft athmen und dies ekelhafte Treiben mit ansehn zu müssen.“ „Seit mich,“ fuhr er fort, als wir wieder droben waren, und uns, einigermaßen geschützt auf eine Bank hinter dem Radkasten gesetzt hatten, „seit mich das Wasser in die Kur genommen, bin ich nicht allein physisch, nein, sondern auch moralisch ein ganz anderer, weit gesünderer und entschiednerer Mensch geworden, ich habe so zu sagen einen ganz neuen Menschen angezogen, habe an Willenskraft und Willensfestigkeit ganz enorm gewonnen. Ich kann diese eigenthümliche Wirkung wohl nichts Anderem, als der gebrauchten Kur und der durch sie erlangten Heilung zuschreiben, der seither befolgten Diät und Lebensweise, und vor Allem den Grundsätzen, die ich mit der Kur, durch Lesung der Rausse’schen Schriften und durch den persönlichen Umgang mit den Kurgenossen einsog. Denn es sind kaum ein Paar Monate, als auch ich noch gleich denen da unter uns das Lebensglück [114] und den Lebensgenuß nicht anders, als in sogenanntem freundschaftlichen Umgang bei Bier und Wein und Gesang und unsinnigen Streichen zu finden wähnte, und meinen leidenden Zustand fast nur hauptsächlich deshalb verwünschte, weil er mich eben zur Entsagung jener vermeinten Lebensfreuden verurtheilte. Ja! welchen Heroismus wähnte ich es noch, mich zum Gebrauch der Wasserkur entschlossen zu haben, einer Kur, die ja, wie es allgemein heißt, die diätetische Entsagung in jeder Beziehung auf die Spitze trieb, Dies und Das zu genießen verweigerte, zu fasten vorschrieb, und was dergleichen ungeheure Forderungen mehr waren. Aber jetzt, jetzt – lieber Freund – und bei diesen Worten ergriff mich mein Wasserenthusiast bei der Hand und drückte sie fast krampfhaft innig – jetzt erst bin ich zu der rechten, wahren Erkenntniß der Worte gekommen, die einst ein großer, so oft verkannter und mißbrauchter Mensch predigte: die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. Entsagung predigte er, ein Postulat noch heute, wie damals an die Menschheit, die Christenheit. Predige heute Entsagung und Mäßigkeit, lehre Einfachheit der Natur und Lebensweise, empfehle Erhaltung und Stählung der Gesundheit – was wird Dir zur Antwort? ein schnödes, spöttisches Lächeln, vielleicht eine höhnische Abfertigung, und Du darfst zufrieden sein, wenn man Dich nicht als Narren verschreit. Wohl mögen daher noch Jahrhunderte, Jahrtausende vergehen, ehe nur dies eine Postulat der christlichen Lehre erfüllt wird, und nur schwer und langsam wird es immer mehr und mehr um sich greifen und allgemeineren Eingang verschaffen.“

Ein Gejauchze von unten herauf unterbrach hier meinen Freund, der bereits ganz warm in seinem Redefluß geworden war. Die Turner kamen die Treppe herauf, in ihrer Mitte ihren Helden mit der Schmarre, taumelnd mit glotzenden Augen. Man legte ihn auf die äußerste Spitze des Vorderdecks, an’s Bugspriet auf ein Paar aufgerollte Taue, und überließ ihn dort seinem schnarchenden Schlafe, um wieder in die Kajüte zu gehen, und auf’s Neue den Gläsern zuzusprechen.

Wir waren aufgestanden, um dem trunkenen Trupp zu rechter Zeit ausweichen zu können; als er wieder hinunter war, zog mich mein Freund, nachdem er vorher noch auf Constanz gedeutet hatte, von dem so eben die Domkuppel, in hellem Sonnenschein glänzend, sichtbar wurde, und damit uns einen herrlichen Abend am Rheinfall versprach, auf’s Neue auf die Bank, fortzufahren in dem, deß sein Herz jetzt so voll war.

„Ich glaube Dich gewiß,“ sagte er, „vertrauter als mich mit den Vorgängen auf den Feldern der verschiedenen Wissenschaften; ich will daher hier nur hinweisen auf die reformatorischen Bestrebungen der französischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts. Du weißt, daß man ihnen und ihrem schriftstellerischen Wirken ein gut Theil des ihnen folgenden Umschwungs in den körperlichen und geistigen Erziehungsgrundsätzen zuschreibt. Vor Allem war es ja Rousseau, der in seinem „Emil“ die trefflichsten diätetischen und pädagogischen Grundsätze niederlegte. Mit ihnen war auch zugleich der Anstoß zum Umschwung vieler andern Wissenschaftszweige gegeben; so auch zu denen der Heilwissenschaft. Und in diesem wirst ja Du selber am Besten Bescheid wissen. Zwar wollt Ihr Mediciner es meist nicht haben, nichts desto weniger laß ich es mir nicht nehmen: Hahnemann nimmt einen der ersten, wenn auch nicht der würdigsten Plätze unter den Reformatoren der Arzneiwissenschaft ein. Hahnemann, dieser große und kleine Mann zugleich, groß als Denker, klein und niedrig als Charakter, räumte er nicht gehörig unter Euern veralteten empirischen Heilgrundsätzen auf, war nicht er es vor Vielen, der so kräftig und entschieden auf Vereinfachung der Diät hinwirkte, auf Verringerung Eurer oft entsetzlich gewagten Dosen heroischer Mittel hindrang, die Blutentziehungen als verwerflich hinstellte? Daß er kleinlich und erbärmlich genug dachte und handelte, seine Geistesgröße für seinen Geldbeutel auszubeuten, eine neue Heilmittel- und Heillehre aufzustellen, um damit die Wissenschaft zu bestechen und das Publikum zu betrügen – daran kann für die Geschichte wenig liegen; er hat seine Mission, die eine große und wichtige war, erfüllt, er hat dem großen Haufen die Augen geöffnet, dessen bisher unbedingten, bigotten Glauben an die Allmacht der Mediciner und die Allheilkraft der Medicamente tief erschüttert, an die Stelle des Genommenen etwas vernunft- und naturgemäßeres geboten – eben die Befolgung der uns offensichtigen Naturgesetze, – und mit allem Diesem seinen Nachfolgern in der gleichen Mission die Bahn geebnet.

Prießnitz, einem jungen Bauerssohn im österreichisch-schlesischen Gebirge, blieb es vorbehalten, eine Verhaltungsnorm für gesunde und kranke Tage nach allen Seiten hin, in jeder Beziehung und mit allen ihren Consequenzen aufzustellen. Auf dem Lande bei vorkommenden Schäden und Verwundungen, selbst bei innern Erkrankungsfällen auf seine einfachen Hausmittel (Diät und Wasser) angewiesen, hatte er bald einen ziemlichen Ruf in der Umgegend erworben. Aufgemuntert durch die selbsteigene Heilung eines gefährlichen Rippenbruchs an sich selber, und mehr noch durch die Zurufe des zu gleicher Zeit auftretenden Wasserapostels Oertel in Ansbach wuchs sein Ruf von Jahr zu Jahr, so daß nach kaum einem Decennium, in den letzten Dreißiger-Jahren er bereits alljährlich mehr denn tausend Gäste bei sich zählte. Was Prießnitz so groß hinstellte, waren vor Allem seine natürliche Begabung, sein Natur- und Scharfsinn in der Auffassung der ihm unter die Hände kommenden Krankheitsfälle, seine wenigen und von jedem Laien leicht faß- und begreifbaren natürlichen Heilmittel – die frische, freie Bergesluft, die sprudelnden klaren Bergesquellen, eine thätige Beschäftigung (theils ländliche Arbeit, theils Gehen, Bergsteigen, Turnen), und endlich eine kräftige einfache Diät, eine nüchterne Hausmannskost. Es waren hiermit alle Momente geboten, die eine sich durchaus an die Natur und ihre Gesetze lehnende Lebens- und Heilweise erfordert, daß Prießnitz sie auch zur letzteren, und zwar ausschließlich benutzte, ist sein größtes Verdienst, das wir aber wohl nicht allein auf Rechnung seiner Person, als besonders auch mehrerer ihn begünstigender glücklicher Nebenumstände schreiben müssen. Blieb ihm ja doch als Bauer, ohne wissenschaftliche Studien und Kenntnisse und ohne gesetzliche Befugniß von vornherein schon fast keine andere Wahl; dann auch wurde er durch den einmal erlangten Ruf als Wasser- und Naturarzt und durch den Enthusiasmus und vielleicht entschiedenen Eigensinn [115] seiner Patienten, keine Medikamente mehr brauchen zu wollen, förmlich gezwungen, consequent und ausschließlich seiner Naturheilweise die Heilung seiner Patienten anzuvertrauen. Auf diese beschränkt, sah er sich natürlich genöthigt, sie für alle möglichen vorkommenden Fälle zu combiniren, zu modificiren; und auf diese Weise hat er einen Heilapparat zusammengestellt, mit dem er Wunder verrichtete, an’s Unglaubliche grenzende Heilungen zu Wege gebracht, hat er einen Heilapparat aufgestellt, der kaum noch der Erweiterung und Vervollkommnung fähig wäre, wenn wir für jetzt etwa uns noch unbekannte oder wenigstens noch nicht genügend bekannte Naturkräfte (Electricität, Magnetismus?) ausschließen.

Prießnitz hat sich so einen Platz in der Geschichte errungen, der ihm nicht streitig gemacht werden kann. Daß er auf dem Gipfel seiner heilkünstlerischen Höhe, seines Rufs und Glücks angelangt, sich nicht zu behaupten wußte, sondern, geschmeichelt von den ihm gemachten Huldigungen, geblendet von den Reichthümern, mit denen ihn seine geheilten und nicht geheilten reichen Patienten freiwillig überhäuften, – ausartete, sich einem fast unbegrenzten Stolz und Eigennutz ergab, wer will ihn ungehört verdammen? Wer von uns wollte von sich behaupten, daß er sich niemals eher, fester auf solcher Höhe zu behaupten gewußt hätte? De mortuis nil nisi bene – den Todten soll man nur das Gute nachreden, – und so möge denn auch Prießnitz ruhen. Wir, vor Allem wir schon jetzt durch seine Heilart Gesundeten und dann die ganze Menschheit wird ihm ewig, ewig Dank wissen müssen für die endliche allseitigpractische Handhabung der Naturgesetze für die allein allgültige Lebens- und Heilweise.

Prießnitz erfand den Heilapparat der Wasserheilkunde; es galt, um seine Entdeckung vollkommen und für alle Zeiten erhaltbar zu machen, jetzt nur noch, seine Praxis theoretisch, wissenschaftlich festzustellen; und dieses eben so erhabene Verdienst gebührt einem nicht minder großen Manne, einem seiner Schüler, dem gleich Jenem über die ganze Erde bekannten J. H. Rausse oder um ihn bei seinem rechten Namen zu nennen, H. F. Francke, „einem der größten Denker unserer Zeit,“ wie ihn sein Biograph, der bekannte Philosoph Prof. F. Kapp nennt, „einem Mann der Wahrheit, einem Mann ohne Menschenfurcht und Menschenhaß, der sich nur in soweit wahrhaft Mensch fühlt und weiß, als er wahre Menschen um und vor sich hat, dem „Einzigen,“ welcher bis jetzt mit dem Begriff die Sache sich unterworfen, und den „Geist der Gräfenberger Wasserkur“ richtig aufgefaßt und dargestellt hat, dem Ersten, welchem aus dem Begriff der Sache die unumstößliche Gewißheit hervorgegangen ist, daß die physische Wiedergeburt der Menschheit die alleinige und unerläßliche Bedingung zu ihrer geistigen Wiedergeburt ist.

„Für Rausse schwärme ich,“ unterbrach sich mein Freund in seinem Redeflusse, „und Du mußt schon entschuldigen, wenn ich Dir auch vielleicht zu enthusiastisch für ihn erscheine. Was wäre die Wasserheilkunde ohne Rausse? Hätte sie jetzt nicht wieder ein gleiches Schicksal vor sich, wie schon vor Jahrhunderten, wo sie, trotz mancher beredter Fürsprecher und Vorkämpfer, dennoch wieder in Vergessenheit gerieth? Rausse hat sie davor bewahrt, er hat ihr die ihrer würdige Vertretung in der Literatur und Wissenschaft angewiesen. Nur als einzelner Beleg hierfür mag Dir dienen, daß das Journal für Wasserheilkunde in Nordamerika (the watercure journal and herald of reforms by Dr. Nichols, Newyork) jetzt bereits 20,000 Abonnenten zählt. Rausse mußte erst den Kelch menschlichen Krankheitsleidens bis auf den letzten Tropfen leeren, mußte erst sich selbst und seine gesammte Mitmenschheit physisch für verloren geben, mußte erst zu Prießnitz auf den Gräfenberg gehen, und dort gesunden, um zu dem begeistertsten der Apostel seiner Sache zu werden. Als wissenschaftlich Gebildeter war er auch glücklicherweise der Befähigteste. Rausse war praktisch kaum 4 Jahre thätig und erstaunen muß man, was er in diesem kurzen Zeitraum Großes und für alle Zeiten Werthvolles gestiftet hat. Er hat zwei bedeutende Anstalten gegründet, 5 der tüchtigsten Schüler herausgebildet; seine Schriften, theoretische wie praktische, sind in Tausend und aber Tausend Exemplaren und in fast allen gebildeten Sprachen in fast Allen Händen, und zu seinen Heilgrundsätzen bekennen sich bereits Unzählige und segnen sie aus Erfahrung, aus Ueberzeugung.

„Du darfst Rausse nicht zu den gewöhnlichen Wasserärzten zählen, die da meinen, mit einer einfachen empirisch-methodischen Anwendung des Wassers sei es gethan, das sei eine Wasserkur und damit müsse Alles kurirt und Alles gesund werden. Nein, so Unsinniges und so Unmögliches wollte Rausse nicht. Rausse hat der Wasserheilung Grenzen vorbehalten, die Grenzen der Naturheilung; er hat in allen seinen Schriften immer und immer wieder auf den einen Moment seiner Wasserheillehre hingewiesen, daß sie, von ihm consequent Naturheillehre bezeichnet, sich überhaupt aller sogenannten Heilmittel zu enthalten habe, sowohl der Medikamente als Heilmittel, wie auch des Wassers als besonderen Heilmittels. Er will, daß ausschließlich nur diejenigen Natureinflüsse benutzt werden sollen, kranke Körper gesund zu machen, die auch nur den gesunden gesund sein und bleiben lassen; er will, daß sie auch nur und ausschließlich nur in der Form benutzt werden sollen, wie sie auf den gesunden Körper in gesunderhaltender Form einwirken – mit einem Wort: er will den Instinkt, an der Hand der Erfahrung und der Vernunft den einzigen maß- und rathgebenden Arzt sein lassen. Rausse will den kranken Organismus nicht zwangs- oder kurweise, sondern naturgemäß allein aus, mit und durch sich selber gesunden lassen.

„Solches sind Rausse’s Heilgrundsätze; zu ihren Bekennern darfst Du auch mich zählen, und es sollte mich unendlich freuen, wenn ich auch Dich gewinnen, ganz und unbedingt gewinnen könnte.“

„Lieber Freund, entgegnete ich, dies wird Dir vielleicht nicht so schwer werden wie Du meinst. Zwar muß ich gestehen, daß ich gegen das Treiben der meisten Wasserärzte in ihren Anstalten einige Antipathie habe, nicht aus Vorurtheil, sondern aus Ueberzeugung. Grundsätzen aber, wie die von Dir erwähnten Rausse’schen kann ich, wenn sie sich in Wirklichkeit so herausstellen, durchaus nur meine Billigung geben. Du weißt ja, daß ich mich lange zu den Anhängern und Förderern einer einfacheren Natur- und Lebensweise bekenne, schon seit Jahren an mir ausübe, daß ich ihr vor Allem meinen seit der Zeit erträglichen Gesundheitszustand zu danken habe, und darum ihr auch, soweit mir in meinem praktischen Wirkungskreise Gelegenheit [116] geboten wird, warm das Wort rede. Ich verfolge mit Aufmerksamkeit die reformatorischen Bestrebungen auf allen wissenschaftlichen Gebieten, und begrüße jeden Fortschritt zum Besseren und zu einer vernünftigeren und nüchterneren Natur- und Weltanschauung mit lebhafter Freude. So sind es die Institute der Mäßigkeitsvereine, die Turn- und Schwimmanstalten, mehr aber noch und in weit wichtigerem Grade die Erfahrungen und Resultate der neueren Naturforscher, der Geologen und Physiker, der Chemiker, der Physiologen, der Pathologen, der Anatomen, die alle meine ungetheilte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; und ich bin der festen Ueberzeugung und glaube auch Dich damit einverstanden, daß sie alle für sich, gleich wie Dein Prießnitz und Rausse nur die einzelnen Glieder in der großen Kette der Menschheit und Weltreformer sind, der Menschen- und Weltbefreier aus den Banden der Befangenheit, des Aber- und Unglaubens, der Unmoral, der Genußsucht und Verweichlichung, des Siechtums, der leiblichen und geistigen Unmündigkeit. Da sind die Humboldt und Buch, die Burmeister und Roßmäßler, die Müller und Liebig, die Oppolzer und Rokitansky, die Bock und Richter, Moleschott und Wunderlich und viele andere Zeitgenossen und Koryphäen der verschiedenen Wissenschaftszweige allein in unserm Vaterlande; und wer zählt erst die andern Nationen, die alle, alle emsig und unermüdet sind, das Unbekannte zu ergründen, das Bessere zu erforschen, und das Erworbene dem Volke bekannt und verständlich, und nutz- und anwendbar zu machen.

„Du siehst, ich kann Dich und Deinen neuen und lebhaften Enthusiasmus für eine gute Sache wohl begreifen und weiß ihn wohl zu würdigen. Laß uns aber drum auch noch nicht verzweifeln an der heutigen Welt, hoffen wir ein allgemeines Hell- und Lichtwerden in den Köpfen, ein allgemeines Ernüchtern und Gesunden der Leiber und ein allergreifendes Besserwerden.“

Bei diesen Worten ertönte die Schiffsglocke, wir liefen in den Hafen von Constanz ein, um nach einstündigem Aufenthalte weiter rheinabwärts zu schwimmen.