ADB:Brachvogel, Albert Emil

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Artikel „Brachvogel, Albert Emil“ von Ludwig Julius Fränkel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 159–171, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Brachvogel,_Albert_Emil&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 18:12 Uhr UTC)
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Brachvogel: Albert (nicht Adalbert) Emil B. (dies Rufname) B., Dramatiker und Romanschriftsteller, rettete durch seine Geburt, 29. April 1824, seine Mutter von einer für unheilbar gehaltenen Geisteskrankheit, kränkelte aber bis ins 18. Jahr und blieb die Knabenzeit körperlich wie geistig etwas zurück. Der Vater, ein wohlhabender Kaufmann, der aus Ostpreußen (B. mit Udo Brachvogel aus Herren-Grebin bei Danzig, dem bekannten deutsch-amerikanischen Litteraten, verwandt?) nach Breslau gekommen war und da ein rentables Kurzwaarengeschäft betrieb, starb 1830 an der Cholera. Die Mutter verfiel infolge dessen in die alte Schwermuth, die bis zu ihrem Tode, 1845, in wirkliches Gemüthsleiden ausartete. So gestaltete sich Brachvogel’s Jugend trüb genug. Theils blieb er sich selbst überlassen, theils genoß er eine ungleichmäßige Erziehung, die ungünstige Einflüsse und Einseitigkeiten bestimmten. Von der ziemlich begüterten Mutter, mit der B. oft den Aufenthalt gemeinsam wechselte, infolge angeblich väterlichen Wunsches zum Theologen gepreßt, besuchte er die Dr. Kletke’sche Realschule und das Marien-Magdalenen-Gymnasium seiner Vaterstadt Breslau; unter seinen Lehrern auf letzterem erkannte [160] und förderte besonders Dr. Stein, der nachmalige Abgeordnete von 1848, des jungen B. poetisches Talent. Jedoch legte B. so starke Abneigung wider jenes Studium an den Tag, andrerseits ein solch träumerisches grüblerisches Wesen, das sich sicher noch an der Melancholie der Mutter nährte, dann derart schwärmerische Lust zur Schauspielkunst, daß seine Familie, gleichsam einen Mittelweg einschlagend, ihn 1838 zu einem Graveur oder Kupferstecher in die Lehre gab, nach kurzem, weil er da nicht warm wurde, ins Atelier eines Bildhauers. Nebenher beschäftigten ihn aber eifrig dramatische Versuche, und Universitätsvorlesungen in der philosophischen Facultät bei den Professoren Jacoby, Rich. Röpell, Aug. Kahlert, Braniß versahen ihn mit Denk- und Dichtstoff. Nach dem Tode der Mutter bändigte er, damals bei einem Meister zu Wien thätig, den Drang zur Bühne nicht länger, fiel aber mit dem Debüt als Kosinsky in Schiller’s „Räubern“ in Hietzing bei Wien – nach Anderen auf dortigem Hofburgtheater – durch. Rasch entschloß er sich zum Abschiede von der praktischen Kunst des Mimen für immer und entschied sich innerlich endgültig für litterarische und zwar freie dichterische Thätigkeit. Zunächst nahm er nochmals in Breslau äußerlich die Fertigkeit des Grabstichels, mit Ernst aber nur, freilich ohne auf ein sogenanntes Brotstudium hinzuzielen, die akademischen Studien wieder auf, indem er 1846–48 an der Universität Vorlesungen über Geschichte, Litteratur, Philosophie und Aesthetik hörte. Auch durch Selbststudium ergänzte er die Lücken seiner Bildung, die unabgeschlossen und disharmonisch blieb wie früher; so hat er sich völlige Herrschaft über den deutschen Ausdruck niemals erworben, ja, einzelne orthographische Schnitzer sind ihm bis zuletzt noch untergelaufen, so daß der unvollendete Gymnasialcurs, den ihm seltsamer Weise zwei so aufgeklärte Kritiker und gewiegte Dramaturgen wie Gottschall und Sierke als Hinderniß glücklichen Aufstiegs zur echten Höhe der Poesie nachrechnen, nicht allein die Schuld an der Unmöglichkeit für den Schwankenden trägt, in einem festen, durch übliches Examen begründeten Berufe den mangelnden Halt zu finden.

Sowol über den Einfluß dieser Breslauer Periode des Suchens und Sammelns als über den des folgenden Berliner Aufenthalts auf seine poetische Entwicklung fehlen genaue Nachrichten. Seit 1848 weilte er in der Hauptstadt, beim Medailleur Fischer, in Wirklichkeit aber, um durch akademische Studien und Theilnahme an dem gährenden öffentlichen und geistigen Treiben sich fortzubilden. Hier wurde 1850 sein Drama „Jean Favard, oder die Liebe der Reichen“ ohne Anklang auf dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater aufgeführt. Das Verbot dieses politischen Tendenzstücks und die kurz danach eingegangene Ehe mit einem Fräulein Julie Hardt veranlaßten die Heimkehr Brachvogel’s. Sein Antheil an dem durch einen beträchtlich älteren Bruder geführten väterlichen Geschäft ermöglichte es B., leidlich auszukommen und auf einer angekauften kleinen Besitzung im Riesengebirgsdorfe Görbersdorf ruhige Jahre des Familienglücks und der Erholung von ernster Krankheit zu verbringen. Da verlor er 1853 plötzlich durch Bankerott der Breslauer Firma das ganze ererbte väterliche Vermögen: der eben noch die Dramen „Aham, der Arzt von Granada“ – in diesem fünfactigen Problemstücke 1852 reißt Mangel an Vertrauen zum Bruder den Helden nebst seinem ganzen Hause ins Verderben – „Der Sohn des Wucherers“, das Lustspiel „Ali und Sirrah“, die indeß nie vor die Rampen kamen, beendigt hatte und schon an „Narciß“ arbeitete, mußte infolge der prekären Verhältnisse sein idyllisches Dasein abbrechen, sein Häuschen losschlagen und nach einem Unterbau zu dauerndem Geldverdienst ausblicken. Durch Vermittlung befreundeter Schriftsteller, heißt es, nahm er die Stelle des Secretärs am Kroll’schen Theater zu Berlin mit [161] zwanzig Thalern Gage an; er blieb darin bis zum Fallissement der damaligen Engel’schen Direction, wobei er zum ersten Male reelle Bühnenerfahrungen erwarb. Darauf nahm ihn Dr. Bernh. Wolff, der Besitzer der „Nationalzeitung“, als expedirenden Secretär in sein, für nichthauptstädtische Blätter errichtetes telegraphisches Bureau auf, wo er bis Winter 1855/56 aushielt und ohne Muße dichterische Arbeiten förderte, die er freilich erst nach Aufgabe der Stelle mit ganzem Nachdruck betrieb. „Im Zwang und Druck einer Beschäftigung, für die Niemand weniger geeignet sein konnte, als Brachvogel, ist sein Meisterwerk – ‚Narciß‘ – entstanden. Der Genius spottet jeglicher Ketten. Ehe das Trauerspiel das Licht der Lampen erblickte, erfuhr es noch manche Aenderung, hier und da modelte die Hand Dessoir’s daran. Für den Dichter gab es noch manche angstvolle Stunde, da die Meinungen der Schauspieler wie der wenigen Freunde, die das Werk kannten, über Werth und Unwerth desselben weit aus einander gingen: endlich aber erschien es vor dem Publicum; nach dem ersten Acte schon war sein Erfolg entschieden.“ So berichtet Karl Frenzel’s Nekrolog auf den Dichter.

Der außerordentliche Beifall des „Narciß“ behob auf einmal die drückenden Existenzzweifel Brachvogel’s, sicherte ihn finanziell und hielt ihn, die Bedenken und Seelenkämpfe bei Seite schiebend, bei der dramatischen Muse vorerst fest. Doch führte ihn bald Mißbehagen mit den äußeren Theaterverhältnissen, im wesentlichen das Versagen seiner weiteren Geschenke Thalias auf der Bühne, schon vom nächsten Jahre ab und allmählich ganz und gar dem Romane in die Arme. Die frühere Unruhe und Unstetigkeit, was Wohnsitz und Thätigkeit anbelangt, hat er nie ganz abgeschüttelt. Bezüglich der letzteren, so hat er nun die längste Zeit davon als freier Litterat, hie und da mancherlei Belletristisches für Zeitschriften liefernd, zugebracht: bis zum 1. Januar 1864 in Berlin als Redacteur des Johanniterordens-Blattes, aus welcher Stellung ihn die directe Kündigung des Prinzen Karl, durch eines selbst auf den Posten speculirenden Unterbeamten Denunciation wegen des „Schubart“-Romans, angeblich durch Verwaltungs- und Finanzgründe veranlaßt, verdrängte. Eine „Berufung“ nach auswärts, wie er sie ersehnte, scheint nie an ihn ergangen zu sein, obwol er, sei es aus wirklicher Ueberzeugung, sei es theilweise um des lieben Brotes willen, den jugendlichen weltbürgerlichen Radicalismus abgestreift und gleichsam patriotisch umgesattelt hatte. Für letztere Schwenkung bezeichnend ist es, daß er Ende 1863 gelegentlich der brieflichen Mittheilung obgenannter Dienstentlassung einfließen ließ: „Von sonstigen mir während der Zeit gemachten conservativen Insinuationen schweige ich, sie gehören als ‚Zeitbild‘ eher in meine Memoiren, falls ich solche zu schreiben einst das Recht erhalten sollte“, dagegen im October 1871, als er Staatsrath Aug. v. Eisenhart in München um Mitarbeit an seinem nationalen Sammelwerke „Die Männer der neuen deutschen Zeit“ bittet, seine „ernste und innige Loyalität und einen redlichen treuen Sinn für geschichtliche Schilderung geltend machen“ und sich mit seinem „ehrlichen Namen als deutscher Mann und Christ“ für die idealste Absicht dieses Denkmals verbürgen möchte. Im ganzen scheint B. bis zuletzt wie vom Ruhme des „Narciß“, so auch von dessen Ertrag gezehrt zu haben. Der alte Wandertrieb stachelte ihn bis nach dem Siebziger Kriege wiederholt zu Versuchen, da oder dort in Mittel- oder Süddeutschland festen Fuß zu fassen: in Karlsruhe, Stuttgart, Eisenach, Weißenfels – in welch beiden Städten er vorübergehend sich niederließ – und dem heimathlicheren Görlitz. Von hier übersiedelte er Spätherbst 1871 nach Lichterfelde bei Berlin auf eigenen Grund und Boden. Unter [162] rastlosem Schaffen wahrte er sich Frische, Jugendlichkeit, Freiheit, plante und begann unausgesetzt neue Werke und Arbeiten: sogar der ihm arg nahegehende Tod der geliebten Gattin (1870) und der langwierige, von ihm verlorene Proceß mit seinem Hauptverleger Hermann Costenoble in (Leipzig-)Jena waren keine Hemmnisse in der Unermüdlichkeit, mit seinem Pfunde als Litterat zu wuchern. „Trost suchte und fand er“ – damit nehmen wir K. Frenzel’s originale deutliche Schilderung von Brachvogel’s Ausgang herüber – „in der Erziehung seiner Tochter, in der Freundschaft und Vereinsthätigkeit – er war ein eifriges Mitglied des Freimaurerbundes – und in unablässiger Arbeit. So unerschöpflich wie seine Phantasie, so unzerbrechlich erschien seine Feder; es war etwas Stählernes in ihm. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in [bez. bei] Berlin, öfters besuchte er während des Sommers Freienwalde, sich in der lieblichen erfrischenden Waldumgebung des freundlichen Städtchens, im Verkehr mit seinen Freunden zu erholen: ein Mann, von Statur eher klein als groß zu nennen, mit einem eigenthümlichen Gesicht, das einen gewissen grotesken Zug hatte, von beweglichstem Mienenspiel, ein Redner, der gern und gut sprach, weichen Herzens, mehr in seinen Phantasien als in der Wirklichkeit lebend, das Auge zuweilen genialisch aufblitzend. Mitten unter Arbeiten und Entwürfen ist er gestorben. Im Herbst des Jahres 1878 begann er einen neuen Roman „Der Sklave“ und war mit den ersten Capiteln beschäftigt, als er das Unglück hatte, bei einem Ausgang einen Knöchelbruch zu erleiden. Dennoch fuhr er, nach den ersten Schmerzenstagen, in der gewohnten, ihm lieben Arbeit fort. Dienstag den 27. November hatte er, wie mir einer seiner vertrautesten Freunde, Carl Gerold, mittheilt, das fünfte Capitel seiner Erzählung beendet und wollte es voller Befriedigung am Abend seiner Tochter vorlesen. Da aber die Zeit schon zu weit vorgerückt war, verschob er die Lektüre bis zum nächsten Tage. Er sollte nicht dazu kommen; schmerzlos nahm ihn in der ersten Nachtstunde ein plötzlicher Herzschlag aus diesem Leben hinweg. Weit draußen im Norden der Stadt, auf dem Friedhof der Domgemeinde, ist ihm das Grab bereitet worden: er hatte das Alter von vierundfünfzig Jahren und sieben Monaten erreicht und war mit noch ungebrochener Kraft, den Kopf voll Gedanken, die Phantasie voll Gestalten, geschieden“.

Von Haus aus besaß B. unleugbar mannichfache starke Talente für dichterisches Schaffen, und seine Anfänge ließen große Erfolge hoffen, jedenfalls weit gelungenere Proben urwüchsiger Anlage und Kraft als später hervortraten. Den zerhackten Gang seiner Bildung hat er ebensowenig je zu überwinden vermocht wie den verschiedenen Jammer seiner Gesundheits-, Familien- und Vermögenszustände. So blieb ihm ein zerrissenes Herz, und mit vagem Ausblicke in die Zukunft setzte er wieder und wieder alles auf eine Karte, ohne Art, Umfang und Richtung seiner litterarischen Natur annähernd richtig ermessen zu können. Das zeigt sich am deutlichsten, aber auch am verhängnißvollsten an demjenigen seiner Werke, das ihn nach langem Probiren und Harren zum momentan gefeiertsten Theaterdichter, sogar zum berühmten Manne machte und bis dato, so auch fernerhin seinen Namen allein festhält: „Narciß. Ein Trauerspiel“. Am 7. März 1856 ging dieses merkwürdige Stück zum ersten Mal über die Bühne, und zwar, was die Sache noch merkwürdiger und gewichtiger zugleich machte, über die des Berliner kgl. Schauspielhauses, der damals unbedingt für ganz Nord- und Mitteldeutschland maßgebenden. Wie Brachvogel’s erster Schritt auf die weltbedeutenden Bretter, das polizeilich unterdrückte fünfactige Drama „Jean Favard“ nach dem Vorbilde französischer Romanschilderungen die Schäden und Gebresten der Zeit herb [163] vergegenwärtigte und dabei das ihm sichtlich angeborene revolutionäre Pathos anschlug, so griff er in seinem Hange zum Ungewöhnlichen und Excentrischen in ein nah verwandtes Milieu mit der Fabel des „Narciß“, wo er sich an Diderot’s, von Goethe auf Schiller’s Vorschlag übersetzten Dialog “Le neveu de Rameau“ rein stofflich anlehnte. Botho v. Hülsen, der bekannte Generalintendant der königlichen Schauspiele zu Berlin, brach mit dieser Première Bahn für ein Effectstück, das sofort in raschem Siegeslaufe die Runde über die deutschen Bühnen machte und sich mehrere Jahrzehnte lang nicht bloß auf diesen als stets willkommener Cassenmagnet für volle Häuser erhielt, sondern auch in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und in seiner deutschen, nur französisch gekleideten Stimmung germanischen wie romanischen, auch slavischen Ohren adaptirt wurde. Daß der 1857 gedruckte, 1860 in 2. Auflage erschienene Text bis 1882 nur 6 Auflagen nothwendig machte, nimmt nicht wunder: es ist wahrlich kein Lesedrama und vermag stumm nicht den zehnten Theil zu elektrisiren wie im prasselnden Dialog, im leidenschaftlichen Monolog auf der Bühne selbst, die für ein Menschenalter ihren Paraderequisiten reisende Virtuosen eingefügt haben. Ludwig Dessoir, damals mit Hendrichs, Döring u. A. die Stützen einer durchgebildeten mimischen Kunst am Berliner kgl. Schauspielhause, trug den gloriosen Ersterfolg des „Narciß“ wesentlich auf seinen Schultern, so zwar, daß dieser Triumph Dessoir’s ruhmvolle theatralische Laufbahn krönte und deren ältere Siege auslöschte: sein Name ist also mit diesem Drama, „einem der merkwürdigsten unserer Litteratur, unzertrennlich verbunden. Ludwig Dessoir war der geborene Narziß. Brachvogel’s Dichtung hat auf keiner anderen deutschen Bühne so tiefe Wurzeln geschlagen, … weil kein Schauspieler auch nur annähernd das Gebild des Dichters zu verkörpern vermochte, hier jedoch verschmolzen sich der Künstler und die poetische Gestalt zu einer so wunderbar harmonischen Einheit, daß keinem Zuschauer je der Gedanke kam, ihre Realität zu bezweifeln. Das Lumpen- und das Virtuosenthum, die schneidige Ironie, die hinschmelzende elegische Klage, durch die Verwahrlosung der äußeren Erscheinung und die Verbitterung des Herzens hindurchklingend der Ton der Sehnsucht nach den Idealen, wie von ferner Aeolsharfe; aufblitzend der Adel des Geistes, wie ein Stern durch Wolken: Niemand hat das Alles so zu treffen, so auszudrücken verstanden wie Ludwig Dessoir. Dabei kein Hervordrängen der Persönlichkeit, kein Versuch, den Pariser Bummler und verunglückten Musiker auf den Kothurn zu erheben, kein Durchbrechen des Rococo-Rahmens, in den die Dichtung hineingestellt ist, – sondern jeder einzelne Zug lebenswahr, historisch treu, das Ganze von einem Zauber – soll ich ihn den der Kunst oder der Natur nennen? – umflossen, der, wie er in sich unbeschreiblich war, auch eine unbeschreibliche Wirkung erzielte. Wenn Diderot diesen Neffen Rameau’s hätte sehen können, welche Studie über die Schauspielkunst würden wir dann besitzen! Diese Leistung war Dessoir’s höchste – aus ihr sprach ein Genius … Gewisse Bilder, gewisse Illusionen der Bühne verlöschen nicht in unserer Erinnerung – zu diesen wenigen gehört Narziß“. Höchst absichtlich haben wir hier das Wort einem der erfahrensten und gemessensten deutschen Theaterkritiker, Karl Frenzel, geliehen, wie er es nach Dessoir’s Tode am Wechsel 1874/75 aussprach,; denn er konnte bei dessen Niederschrift Brachvogel’s künstlerisches Facit ebenso gut ziehen wie das Dessoir’s und steht im Tenor des eigenen poetischen Schaffens von demjenigen des „Narciß“-Dramas weit ab, wie er andererseits dessen Stoffsphäre genau beherrscht und wiederholt selbst dargestellt hat. Und eben diese Dinge braucht’s, um den phänomenalen, bis zu Herm. Sudermann’s „Ehre“ 1890 kaum wiederholten Bühnenerfolg zu verstehen. Die ausgeprägtesten [164] Charakteristiker der neueren deutschen Bühne, Friedrich Haase, E. Possart, L. Barnay, u. A. ernteten immer wieder in diesem Zeichen unbestrittene Lorbeeren, und Frühling 1899 trat vor die Augen der schier unverändert „Narciß“-freudigen Berliner in dieser siegessichern Rolle die Virtuosin in Hosenpartien Frau de Garda, zugleich einen starken Beweis für die unveränderliche Werthschätzung der Figur im Auslande liefernd.

Denn in der Titelfigur selbst steckt zweifellos das Geheimniß des durchschlagenden Erfolges und seiner Dauer. Der Held des Trauerspiels „Narciß“ unterscheidet sich von den allermeisten tragischen Mittelpunktsgestalten dramatischer Dichtungen dadurch, daß er eigentlich gar nicht agirt, ja, nicht einmal der im Vordergrunde stehenden Intrigue Arm oder Kopf leiht. Vielmehr ist er ein willenloses Werkzeug am Faden derjenigen, die ihn für ihre, ihn selbst lediglich hülfsweise benutzenden Zwecke ins Feuer schieben. Nicht nur in dieser Schwäche des handelnsunfähigen „Helden“, sondern auch in dessen zerrissener, mit der Welt zerfallener Gemüthsart mit ihrem unablässigen Spintisiren und der entschlußlosen halb pessimistischen, halb cynischen Sentimentalität und in dem Entscheide über die Richtung, die die Katastrophe nimmt, durch ein Schauspiel, erinnert das Werk Brachvogel’s, obzwar im ganzen zur Sippe K. Gutzkow’s gehörig (dessen strotzende „Unnatur“, mit E. Geibel übereinstimmend, Berthold Auerbach [s. u. S. 170] in „Narciß“ gipfeln läßt) an Shakespeare’s „Hamlet“, wobei die Seelenstimmung des Rath- und Thatlosen auch Anklänge an „Werther’s Leiden“ enthält, in der eben umschriebenen disharmonischen Mischung von Thränenseligkeit und Selbstcarikirung selbständig Heinrich Heine’s Weltschmerz zur Seite tretend. Diese nirgends langathmigen, jedes Mal den Vorgängen gemäß eingelegten Ergüsse des Narciß spiegeln eigene seelische Zweifel und Kämpfe des Dichters, aber ebenso offen die philosophische Gedrückt- und Verworrenheit des Decenniums nach dem Jahre 1848 wieder; so beleuchtet er, dem tiefer spürenden Zuschauer leicht erkennbar, in der Unklarheit der Ziele und materiellen Abkehr von tieferem Denken, von geistigen Interessen, wie sie beide für das Frankreich vor der Großen Revolution charakteristisch sind, die Reactionsperiode, in der der „Narciß“ geboren, aufgeführt und gedruckt und das Vorwärtsstreben so vieler Tausende Grübler gleichsam vor die Revolution von 1848 zurückgeworfen wurde. Daß dies zumeist sehr geistreich, durchgängig eindrucksvoll geschieht, daß sich stellenweise sogar in dem schwächlichen Körper des Narciß die ganze gefesselte, enttäuschte, vom Thun ins Reden verbannte zeitgenössische Kritik der politisch-socialen Zustände verdichtet, räumen auch absprechende Beurtheiler ein. Wollte somit Narciß auch der Typus eines Geschlechts der unmännlichen, schönrednerischen Resignation sein, so darf er sich freilich nicht etwa zum Wortführer der öffentlichen Meinung aufwerfen. Dieser haltlose Träumer sucht aus den ihn umgebenden, ästhetisch wie moralisch entarteten Verhältnissen keinen Ausweg, weiß auch jedenfalls gar keinen, und wenn sie momentan ihn anekeln mögen, so erwartet er mit der Gleichgültigkeit und Genugthuung des Vagabunden, der nichts zu verlieren hat, die drohende „Sündflut“ für die Laster der höher Gestellten; so kann man auf ihn selbst das anwenden, womit Hebbel den Verfasser des „Narciß“ unter Grabbe mit seinem verwandten „Herzog von Gothland“ rückt, nämlich daß er „mit Behagen in seiner Welt der Fäulniß und Verwesung herumzuspazieren scheint“. Vom dramatischen und rein poetischen Standpunkte haben nun die verschiedenartigsten Litterarhistoriker eine Fülle von Tadel und Makel gegen dies Effect- und Tendenzstück zusammengeballt. Aber sie konnten die Thatsache des Sieg auf der ganzen Linie bei der ersten wie den stärksten spontanen Beifall bei jeder seitherigen, nur einigermaßen [165] gepflegten Wiedergabe nicht entkräften, und dem peinlichsten Austiftler der Bühnenwirkungen, Otto Ludwig, imponirt das schlechte Drama – so schelten es besserwisserische Kritikaster gern – als theatralische Leistung beinahe. Wundersam berührt uns Menschen einer Aera, die Polizeicensur fürs Theater und gerichtliche Confiscation für das Buchdrama wieder aufleben sieht, die Energie der demokratischen Tendenz mit offenbefriedigter Prophezeiung der nahen Racherevolution auf deutschen Hofbühnen; doch das ließ man damals unter der strengen Staatsaufsicht gerade an königlichen Theatern als unschädlich passiren, die bejubelte Aufführung auf der Scene unter dem Hohenzollernwappen wirkte wie ein Blitzableiter. Als weiteres Moment für das Ungefährliche, sozusagen Theoretische in der zügellosen Rhetorik des seltsamen Stückes veranschlage man das Unfeste, Abstoßende im Wesen des Namensträgers, der kaum Sympathie erweckt oder für seine schwankenden Ideale begeistert und billig auf Zukunftssconflicte, die wir als längst erledigte Ereignisse abgethan haben, mit anmaßender Sehermiene hindeutet. Die Begebenheiten, insbesondere die tragischen Momente der dramatischen Handlung selbst, hat B. kühn und unleugbar geschickt erfunden, indem er mit souveräner Verachtung der historischen Tradition die Gesammtfabel an lauter urkundlich greifbare Persönlichkeiten anlehnte und den Gang der Geschehnisse danach zurechtzimmerte. B. escamotirt Narciß Rameau, den „Repräsentanten aller Schmeichler und Abhänglinge“, als der er in Diderot’s Dialog erscheint, zum längst verlassenen Gatten der allmächtigen Marquise de Pompadour, Ludwig’s XV. berüchtigter Maitresse, welch letztere er, der Parteigänger der revolutionären Aufklärungsphilosophie, grimmig als Personification von Frankreichs Elend haßt; die der Pompadour feindliche Hofpartei der Königin führt, um die das Diadem anstrebende Buhlerin aufs empfindlichste zu treffen, durch eine Theateraufführung eine völlig überraschende Erkennung des Ehepaares herbei, deren Erschütterung die Beiden tödtet. Sieht man von diesen, nach der Manier der Scribe’schen Schule völlig frei erfundenen Voraussetzungen ab, so blendet gerade die Wucht der Katastrophe, wie sie ohne Druck aus der Verwicklung erwächst, zumal Costüm und Colorit der Zeit verblüffend nachgebildet und so dem Realismus conform sind, der nicht in der zerflossenen centralen Gestalt zur Geltung gelangt, wol aber in den packenden Situationen und der kecken, hie und da unmittelbar zündenden Sprache. Otto Ludwig hat innerhalb seiner scharfsinnigen dramaturgischen Selbstbeichten, die der Mehrzahl ihrer Ausgangspunkte nach meist „Shakespeare-Studien“ heißen, das „Narciß“-Drama einer einschneidenden Inquisition unterworfen. Es kommt freilich dabei schlecht genug weg und erduldet härteste Nackenschläge wie: Traumgespinst, Bewegung ohne Existenz, keine Entwicklung nach inneren Gesetzen, oberflächlichste Behandlung der Figuren in der Situation, entsetzliche Beifallsbuhlerei, Speculation auf alle Schwächen des Publicums, widerliche Sentimentalität des Dichters, Erbärmlichkeit des Helden, letzterer von völliger Hülflosigkeit, eine ekelhafte Gallerte, ohne Witz, nicht einmal ein Bösewicht, seine Ehrlosigkeit erregt moralischen Ekel, u. s. w. Dabei aber widmet dieser catonisch strenge Richter dem herb durchleuchteten Drama technische Anerkennung mit den Sätzen: das Combinationsstalent des Autors ist bedeutend, das Stück ist ein Beweis, was Geschlossenheit vermag; das Ganze ist ein großer schauspielerischer Effect und dessen Vorbereitung, die Charaktere steigen in leidenschaftlicher Erregung nach dem Ende des Stückes hin. Allerdings gipfelt die Kritik Ludwig’s in dem Gegensatze: „wir wünschen alles, und darum glauben wir alles, d. h. die subjektive Natur im Zuschauer ist zufriedengestellt“ gegenüber: „Personen, Verhältnisse, Motive, alles ist an sich abstrakt oder wenigstens [166] nicht konkret dargestellt, von psychologischer Entwicklung, von innerer Nothwendigkeit keine Spur“. Gerechter, dabei aber ohne die Anstände der Poetik und Dramaturgie im geringsten zu verschleiern, nahm Eugen Sierke in einem ausführlichen Essay über Brachvogel das Stück unter die Lupe, woran er eine noch vertieftere Zerfaserung von Brachvogel’s zweitbedeutendstem, außer in des Dichters Geburtsort vielfach von sensationellem Eindruck begleitetem Drama, „Die Harfenschule“, schließt, nach Inhalt, Anlage und Geist dem Pendant zu dem „Glückspasch“ 13 Jahre vorher. Sierke will B. ein freundlicheres Loos auf dem modernen Theater zubilligen, als ihm zu Theil geworden; nennt er ihn doch ein Talent von so kräftiger dramatischer Imaginationsgabe und so scharfsinnigem Verstande, wie sie selten sind.

Auf dem Fundamente des Erfolges, der Bekanntschaft, der Erfahrung, das ihm „Narciß“ gebracht hatte, wollte B. weiterbauen; aber keins der danach geschriebenen Dramen erfreute sich auch nur einer annähernden Durchschlagskraft. Die geschichtliche Anekdote hielt ihm als stoffliches Substrat her, und er hat unstreitig packende Exemplare dieser sirenenhaften Mären als Helferinnen eingefangen, hat auch klug berechnete scenische Effecte in den Lampenschein packender Reflexionen zu rücken gewußt. In den meisten dieser Dramen, die äußerlich ganz bestimmt localisirt und zeitgetreu ausstaffirt sind, „herrscht durch die Gebundenheit der dramatischen Form eine strengere Entwickelung und Folgerichtigkeit der Handlung vor, allein ihre Wirkung beruht nicht in der Kraft der Charakteristik, in der Tiefe der Gedanken, der Durchführung der Erfindung, sondern in der frischen Unmittelbarkeit und dem bunten Leben einzelner Scenen“. So summirte bei der Berliner Première des Schauspiels „Prinzessin Montpensier“ 1865 der obengenannte Karl Frenzel, ein feinsinniger Kenner Brachvogel’s und noch 1874 bei Gelegenheit der „Alten Schweden“, als Brachvogel’s Wirksamkeit längst abgeschlossen zu überblicken war: „B.s originelles und volksthümliches Talent liebt es, mehr seinen Eingebungen als den Gesetzen zu gehorchen, von der Kunst hat er nur ein natürlichees Empfinden, keine positive Kenntniß. Statt den geraden Weg durch den Wald zu gehen, schlägt er Seitenpfade ein, die ihn dann mehr als einmal in Sumpf und Moor führen. Er hat den Instinkt für das theatralisch Wirksame, aber nicht die Fähigkeit, eine geschlossene dramatische Komposition zu erfinden und auszurunden. Nur ein einziges Mal ist ihm dies Schwierigste in der Kunst in seinem „Narciß“ gelungen. Seine übrigen Dramen setzen sich aus einzelnen Scenen zusammen, die novellistisch an einander gereiht sind, sich aber nicht harmonisch gliedern und steigern. Diese Zerfahrenheit der Geschichte, die uns auf der Bühne vorgeführt wird – es ist eben das Gegentheil einer dramatischen Handlung – äußert sich am stärksten in diesem neuen Werke.“ Man sieht da freilich Frenzel’s gute Meinung schon beträchtlich herabgestimmt. Schon in den ersten Geschwistern des „Narciß“ büßte B. es bitter, mit „Narciß“ urplötzlich die Ruhmesleiter erklommen und, um sich oben zu erhalten, fieberhaft seine keineswegs genialen Anlagen ausgeschlachtet zu haben. Unbefangener und ohne gewaltsame Affecte wie im „Narciß“ war B. einem Stoffe altersgrauer Verbrämung genaht, als er „Adalbert vom Babanberge“ (1858), poetisch genommen seine gelungenste Gabe, aus Ingredienzien des Ritterstücks, der „Sturm- und Drang“-Kraftdramen, der hoffnungsslosen Vaterlands-Symbolik, combinirte. „Mon de Caus“ (1859) führte den wahnsinnig gewordenen Erfinder der Dampfkraft vor, die Tragödie des ringenden Genius, den die am Hergebrachten klebenden Zeitgenossen zu Grunde richten. Wie bislang immer gestaltete B. auch in dem Cromwell-Drama „Der Usurpator“ (1860) ein Intriguenstück, das der geschichtlichen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit ebenso [167] Zwang anthat wie dann in „Fräulein von Montpensier“ u. a., am wenigsten in „Alte Schweden“ (1874), das mit volksthümlichem Stile und preußischem Militärjargon im Zeichen von „Hie gut Brandenburg alleweg!“ dem Berliner staatstreuen Auditorium seinen laut begrüßten Kriegsmann Derfflinger ausgrub. Durch historische Einzelheiten die zugespitzten Situationen seiner erregten, meist bizarren Handlung auszuputzen hat B. stets unternommen, wo das Sujet es nur irgend ermöglichte, doch schon von „Narciß“ an in gewissem Grade, in allen „seinen späteren Dramen blieb er noch mehr in der Chronik oder dem Memoire stecken“ (Lindemann, G. d. d. L.7, S. 1021). So blieb für alle Stücke, deren sachliche Quelle im bürgerlichen Leben lag, nur die nackte Speculation auf Dialog-Schlager und fortreißende starke Momentzüge übrig: „Der Sohn des Wucherers“ (1864) ist ein grelles Tendenzstück Pariser Farbe wie „Die Harfenschule“ (1869) eine erneute Verhimmelung des pseudogenialen Lumpen und zwar dies Mal in der Figur des völlig auf den Kopf gestellten Beaumarchais, wie wiederum Frenzel in einem kenntniß- und geistreichen Referat der Erstaufführung auseinandersetzte. Uebrigens war letzteres Werk, dem die originelle Wendung des litterarisch versirten Helden zu etlichen Aufführungen verhalf, die Dramatisirung einer Episode in Brachvogel’s vierbändigem Romane „Beaumarchais“ (1865), und so hob er 1870 auch aus den drei Bänden seines Romans „William Hogarth“ (1866) ihm theatralisch dünkende Auftritte heraus, ohne hiermit zwischen den Coulissen Fuß zu fassen; wir lesen z. B. in „Meyer’s Dtsch. Jahrbuch“ I (1872), 369 von dessen Durchfall am Thalia-Theater zu Hamburg.

Damit kehrte B., indem er endgültig den Kothurn abschnallte, zum Romane zurück, dessen Feld er schon vorher, aus Verdruß und Unlust am dramatischen, wiederholt angebaut hatte. Seinem ersten, noch mit gewissen künstlerischen Intentionen gearbeiteten Romane „Friedemann Bach“ (1858), der aber in der wüsten, öfters buntschillernden Musikerexistenz nicht die verheißene Charakterentfaltung bringt, folgten „Benoni“ (1860), „Der Trödler. Ein Roman aus dem Alltagsleben“ (1862; 1865 dramatisirt), „Ein neuer Falstaff“ (1863), eine fast idyllisch anmuthende wundernette, echt deutsche Kleinstadt-Geschichte, aber verdorben wie immer bei B. durch Aufschwellen vermittelst unangebrachter Reflexionen, unnöthiger Schilderungen, störenden Personenballastes, „Schubart und seine Zeitgenossen“ (1864), wo der unselige schwäbische Poet aus der Ueberlieferung bloß seine allbekannte Zügellosigkeit als Ferment des Untergangs rettet (Gosche in seinem „Jahrbuch für Litteraturgeschichte“ – 1865 – S. 353 läßt B. hier Schubart den „nach dichterischen Fälschungen Begehrenden“ vorstellen!), „Hamlet“ (1867), ein formell aus Rand und Band gegangener Versuch, in Essex Hamlet’s Urbild und in anderen Leuten des Elisabethanischen Hofes weitere Vorlagen für den darin gleichsam rastlos photographisch oder spiritistisch die Charaktere festbannenden Shakespeare – zur 1864er Shakespeare-Jubelfeier des „Vereins Berliner Presse“ fand ein kleines Gelegenheitsdrama Brachvogel’s vor einem rein journalistischen Parterre viel Beifall – direct anschaulich zu machen, u. s. w., sämmtlich mehrbändig bis zu zwei noch 1880 nach dem Tode gedruckten. In den historischen überwuchert die Phrase die aufgerafften und aneinandergeklebten Geschichtsdetails, während die sonstigen meist durch äußere Spannung die Mangelhaftigkeit der Technik und das Fehlen eines ordnungsgemäß erledigten anziehenden Problems zu ersetzen sich abmühen. So zeigen Brachvogel’s Romane, nebst den „Historischen Novellen“ (4 Bde., 1863–64) und „Neuen Novellen“ (2 Bde., 1867) über fünfzig Bände und theilweise mehrfach aufgelegt, anfangs reiche, wenn auch wilde Phantasie, selten Ansätze zu künstlerischer Abrundung, [168] und brachten seinem Talente den Ruin. Aeußerlich streifte die Mehrzahl der spätern an den Durchschnitt besserer Leihbibliothekslectüre, mit welcher Classification z. B. „Das Räthsel von Hildburghausen“ durch Ad. Stern („Meyer’s Dtschs. Jhrb.“ II, 761) bewillkommnet wurde.

B. dichtete ferner „Lieder und lyrische Dichtungen“ (1861; neue Ausgabe als „Dichtungen“ 1869; 3. Aufl. o. J.), und wie er schon 1862 zwei Bände „Aus dem Mittelalter. Historische Erinnerungen“ veröffentlicht hatte, so gab er nach dem Deutsch-französischen Kriege, wol aus demselben Motive nochmals einen Anlauf zur längst verscherzten Beliebtheit zu wagen wie 1874 im Schauspiel „Alte Schweden“, eine Sammlung „Die Männer der neuen deutschen Zeit. Biographien deutscher Fürsten, Staatsmänner und Helden“ (4 Bde., 1872–75) heraus. Das Werk enthält die Biographien von Wilhelm I., Kronprinz Friedrich Wilhelm, König Johann und Kronprinz Albert von Sachsen, Prinz Friedrich Karl, Ludwig II. von Baiern, Bismarck, Moltke und Roon. Ueber den Plan schrieb er vorher an Eisenhart (s. o. S. 161): „Die Form des Werkes soll möglichst treu der des Plutarch nachgeahmt sein. Ein sogenanntes „historisches Urtheil“, bei Lebenden überhaupt unstatthaft, soll in der Arbeit ausgeschlossen sein, mindestens die Form warmer, eingehender Schilderung nicht überschreiten. Das deutsche Volk soll seine Heroen durch dies Werk menschlich verstehen und sie nun um so inniger, bewußter lieben lernen“. Auf kritisches Gebiet hat sich der unkritische Theatraliker zwei Mal verirrt: die in jedem Sinne unvollendete „Geschichte des königl. Theaters zu Berlin“ (Bd. 1 u. 2, 1877–78), die den wissenschaftlicher Arbeitsweise völlig Ungewohntem mühselige archivalische Vorarbeiten kostete und wol den Dankeszoll an dies Institut entrichten sollte, weil es ihm zum glanzvollen „Narciß“-Debüt und allem späteren Anklopfen um der Thalia Gunst bereitwillig die Pforten geöffnet hatte, ist schlechthin werthlos, ihre Benutzung als Quellenwerk durch Rob. Prölß „Gesch. d. neuer. Dramas“ III 2, 374, also nicht zu billigen; das Bändchen „Theatralische Studien“ (1863) – R. Gosche, „Jahrb. f. Littgesch.“, 1865, S. 208: „allerlei bunte Einfälle über theatralische Dinge“ –, vereinigte aus Bühnenzeitschriften acht Abhandlungen (Was mangelt der dramatischen Dichtkunst?; Wodurch erreichen Tragödie und Comödie ihren Zweck?; Die alte und die neue Schule der Schauspielkunst; Was ist Idee, was ist Tendenz im Drama?; Ist die Ueberraschung im Drama verwerflich?; Bemerkungen über das Lustspiel; Die heutigen Rechtsverhältnisse der deutschen Bühnen; Ueber schlechte Repertoire und den theatralischen Kunsthaushalt), die ihn, den in der Praxis radicalen Naturalisten, eingestandenermaßen als Dramaturgen im Fahrwasser stockclassicistischer Gewährsmänner (Aristoteles, Lessing, Solger, H. T. Rötscher, sein Breslauer Lehrer A. Kahlert), in Bühnentagesfragen am Gängelbande des Philisterthums, beiderseits überhaupt arg hilflos, offenbaren. Die kurze, wahrlich bescheidene Vorrede dieser „Theatralischen Studien“ hätte autobiographisch berücksichtigt werden sollen; doch nur zwei Stellen mögen hier Platz finden: „Was ich bei Veröffentlichung dieses Buches wohl von mir ohne Eitelkeit sagen darf, ist: ein treuer, wenn auch geringer Kämpfer für die gekränkte Sache der dramatischen Kunst zu sein. … Wohl mag es Leute geben, die in ihrer Gelahrtheit ein wenig hoch herab fragen möchten, welche wissenschaftliche Berechtigung ich zu meinem Buche nachzuweisen vermöchte. Gottschede und Ben Johnsons hat es immer gegeben! Denen gegenüber erkläre ich einfach: In allen Dingen der Welt bin ich Autodidact, und Niemand ist behindert, mich in ihnen so kenntnißlos zu halten, als ihm irgend seine Selbstzufriedenheit erlaubt, in den Angelegenheiten der dramatischen Dichtkunst und der theatralischen Wissenschaft indeß, für die es bekanntlich keine akademischen Approbationen giebt, habe ich [169] die besten Lehrer aller Zeiten gehört und hoffe mit einigem Verständniß, habe ferner in der Praxis der Kunst und des Theaters die Haltbarkeit dessen oft genug erfahren, was ich gelernt und niederschrieb.“ Dies unumwundene Geständniß erschwert die Charakteristik Brachvogel’s etwas insofern, als man ihm daraufhin Ungestüm seines Standpunkts und bewußte bezw. selbstbewußte Originalitätssucht nicht gut zuschieben darf. Aber mag man von seiten der dichterischen Composition und der Mißgestaltung der Fabel seinen Erzeugnissen, voran den epischen, noch so scharf zu Leibe gehen, mag man seinen Geschmack ungeläutert und ungemäßigt, die Diction ungleich und vielfach trivial, auch wüst tadeln, Phantasie in der Darstellung geschickt gewählter Themen und warme, überaus lebendige, im Ausdruck oft prächtig frische Veranschaulichung der Geschehnisse, die nur durch Gedankenketten, bisweilen absonderlichsten Inhalts, zu häufig belastet oder unterbrochen werden, besitzt er zweifellos. Wer ihn also vom hohen Roß modernster Poetik in Bausch und Bogen durch Schlagworte wie: oberflächlich, stillos, nur auf den Effect arbeitend u. dergl. einfach abschütteln will, der unterschlage doch die ungemeine Fruchtbarkeit der zwei Schaffensdecennien dieses Dichters auf dramatischem wie auf erzählendem Reviere nicht, überzeuge sich gefälligst von der Fülle urwüchsiger Scenen beider Art, die manchem stoffarmen Ehrenpoeten unseres decadenten Zeitalters bequem auf die Beine helfen könnten, und vergesse vor allem nicht den einzigartigen Erfolg des „Narciß“, der, wofern wirklich ohne jeden innern Grund, doch nur der dauernden Unreife des neueren Theaterpublicums (eine solche behauptet für unsern Fall freilich der Zeitgenosse Prutz) und der völligen Ohnmacht einer wohlweisen Kritik aufs Kerbholz zu schreiben wäre. Wägt man Brachvogel’s unentschuldbare Schwächen gegen seine guten Seiten ab, so bleibt in all der Unnatur, die uns bei der Ausführung seiner litterarischen Werke entgegentritt, bezüglich der Erfindung und vielfacher Einzelheiten so reichliche und urechte Natur übrig, daß man aufs lebhafteste bedauern muß, wie wenig es seiner Muße gelang, einen glatten Weg zu finden und sich von den Schlacken der Anfänge loszulösen, um so gegenüber den gezierten Jambendramen einer-, der langweiligen Romanschablone der Biedermeierperiode andrerseits ein volles Pfund sachlicher Originalität und abgeklärten Gedankenreichthums in die Wagschale zu werfen.

Ein Bildniß Brachvogel’s aus jüngeren Jahren bei Hnr. Kurz, G. d. d. L. IV, 614, ein späteres bei O. v. Leixner, G. d. d. L.² S. 989, dieses nach einem Stich von A. Weger wie die beiden im „Fachkatalog d. Abthlg. f. dtsch. Drama u. Theater“ der Wiener Internat. Ausstellung f. Musik u. Theaterwesen 1892, Nr. 470 u. 1237. – Eine Sammlung „Ausgewählter Werke“ veranstaltete B. 1873 selbst in 4 Bänden; die seit 1860 gedichteten und aufgeführten Bühnenstücke – nur „Bianca Cenci“ war für den Buchhandel 1868, die andern nur als Bühnenmanuscript gedruckt worden – wurden Lesern zum ersten Male 1874 in dem Bande „Die Harfenschule und andere dramatische Werke“ zugänglich. Eine gute Volks- und Familienauswahl der „Gesammelten Romane, Novellen und Dramen“, mit Einleitung und eingehender Biographie des Dichters von einem engeren Landsmanne, dem Romanschriftsteller Max Ring, erschien 1879–83 in 10 Bänden bei Costenoble in Jena. Vollständig aufgezählt findet man Brachvogel’s Dramen und Romane in des Unterzeichneten B.-Artikel in Brockhaus’ Konversationslexikon 14. Aufl., und in Brümmer’s Lex. dtsch. Dicht. u. Pros. d. 19. Jhs.4 u. 5 I, 165 f., an beiden Stellen auch verläßlichen Lebensabriß, einen solchen nebst knapper Charakteristik in Bornmüller’s Biogr. Schriftstellerlex. S. 90 f. sowie in Ad. Stern’s Lex. d. dtsch. Nationallit. S. 39; ein paar besondere Einzelheiten in den beiden [170] B.-Artikeln des 1867 revidirten Abdrucks der 2. Aufl. von Meyer’s Conversationslex. (III, 860 f. u. Reg. ebd.). Ausführlichste Würdigung der einzelnen Werke in den litteraturgeschichtlichen Handbüchern von H. Kurz (s. o.) Bd. IV (mit Lebensskizze) und von R. Gottschall Bd.(II u.) IV; s. auch Gottschall in „Unsere Zeit“ Bd. XV, 2. Thl. Wichtig die verständnißvollen unparteiischen Betrachtungen K. Frenzel’s in s. „Berliner Dramaturgie“ anläßlich Brachvogelscher Dramenpremièren (I, 72 „Prinzessin Montpensier“, 161 „Die Harfenschule“, 389 „Alte Schweden“) und Dessoir’s Tod (II, 290 f.), sowie umfänglich „Der Dichter des Narziß“, „Nationalzeitung“, Frühjahr 1879, der alle Seiten von Brachvogel’s menschlichem und litterarischem Dasein authentisch vorführt. Benutzt hat diesen, aber völlig selbständig und seine Urtheile nach wohlerwogenem Ermessen fällend, Eugen Sierke in einer Abhandlung über A. E. Brachvoqel mit besonderer Berücksichtigung von „Narciß“ und „Harfenschule“, die um 1870 zum Theil in den dramaturg. Blättern Dr. Adf. Silberstein’s in Leipzig, dann in Sierke’s „Kritischen Streifzügen. Lose Studienblätter über das moderne Theater“ (1881), S. 206–235, erschien. Sonst verfahren litterarhistorische Gesammtdarstellungen – außer etwa L. Salomon² S. 465 f., wogegen der Hebbel-Enthusiast Ad. Bartels, Dtsch. Dchtg. d. Ggnw.², 1889, S. 122 u. 126 f. ebenso arg abfällig spricht wie z. B. Lindemann-Salzer (s. o.), 1889, S. 1021, 1037, 1034, Leixner a. a. O., M. Koch in Vogt u. Koch, G. d. d. L., 1897, S. 692 – meistens kurz angebunden und von oben herab, halten auch in der Regel bloß eine flüchtige landläufige Glosse über „Narciß“ nothwendig. Zu letzterem vergleiche man noch: R. Prutz, D. dtsch. Lit. d. Gegenw. 1848–1858, II, 281 f.; A. Klaar, Gesch. d. mod. Dramas in Umrissen, S. 228 f.; R. M. Meyer, D. dtsch. Lit. d. 19. Jhs., S. 589 f. (auch 612); zu den Dramen überhaupt R. Prölß, Gesch. d. neuer. Dramas III 2, 348 f. Porträt der Frau de Garda (s. o. S. 164) als Narciß: „Die Woche“ I (1899), H. 3, S. 86. Drei für Lebensweise und Charakter interessante „Briefe von A. E. B.“ (der 2. an K. O. Beaulieu-Marconnay [s. A. D. B. XLVI. Bd.], der 3. an Staatsrath Aug. v. Eisenhart in München) im Literar. Centralbl. 1900, Nr. 50, Beil., Sp. 2140–2144). – Zum Capitel „Narciß“ im Munde der litterarischen Zeitgenossen verzeichnen wir die Urtheile Hebbel’s (der sich mit Ekel davon abwandte, s. bei Bartels a. a. O.), H. Laube („Das Burgtheater“, S. 421; abgedruckt bei K. J. Schröer, D. dtsch. Lit. d. 19. Jhs., S. 223: „dreister, mitunter wüster Naturalismus, aber starke Athemzüge für den Brustkasten des Theaters“), B. Auerbach („Dramatische Eindrücke“, hsg. von Neumann-Hofer, 1893, S. 49, wo er unter den „Theatermachern“ voll Unnatur gegen B. wegen „Narciß“ am heftigsten loszieht), Geibel (erklärte, angeblich wohl zufolge W. Jensen [vgl. R. M. Meyer a. a. O. S. 360; s. u.] Gutzkow, Brachvogel und Richard Wagner für die böse Trias, die unsere Zeit verderbe), Otto Ludwig (in einer Kritik, die erst 1891 in Ad. Stern’s Neuausgabe der „[Shakespeare-]Studien“, „Gesammelte Schriften“ V, 367–373, eingefügt wurde und den dramatischen Effect geistvoll ergründet; vgl. Bartels a. a. O. S. 127, R. M. Meyer a. a. O. S. 589).

Zu Brachvogel’s „Narciß“ vergleiche man betreffs der interessanten Verkörperung der Pompadour durch Charlotte Wolter und der Titelperson durch Ernst Possart des letzteren Erinnerungen an die Münchener Separatvorstellungen vor König Ludwig II. in Nr. 38 und 40 der „Allgem. Zeitung“ 1901, Morgenbl.; betreffs der mageren stofflichen Grundlage Rud. Schlösser, „Rameaus Neffe. Studien und Untersuchungen zur Einführung in Goethes Uebersetzung des Diderotschen Dialogs“ (1900), sowie ebendesselben Abdruck des Goethe’schen Werks in der Ausgabe d. Goethe-Gesellsch. (1900), auch R. L. [171] „Jean Philippe Rameau und seine Oper Platea“, i. d. Münchn. N. Nachr. 1901, Nr. 37, S. 2. – Die beiden Theile von Brachvogel’s „Geschichte des Berliner Theaters“ kommen im Buchhandel auch öfters unter den Sondertiteln „Das alte Berliner Theater-Wesen“ (I) und „Die königliche Oper unter Freiherrn B. v. d. Reck und das National-Theater bis zu Iffland, nach Original-Quellen bearbeitet“ (II) vor, was, um Verwechslungen vorzubeugen, bemerkt sei; des ersten Bandes Titel, Inhalt und Vorrede eigenhändig und „Berlin 1. VII. 1873“ datirt als Nr. 31 in Katalog 181 von J. A. Stargardt, Berlin 1891. – Fünfzig Briefe Brachvogel’s an Herm. Kletke (1813–86; s. d.) meistens als den Redacteur der „Vos. Ztg.“ aus den Jahren 1856–74 brachte März 1901 L. Liepmannssohn’s XXVII. Autographen-Versteigerung (Berlin) unter Nr. 401, woraus sie in den Besitz des Unterzeichneten übergingen. – Den oben S. 170, im Anschlusse an Rich. Meyer, Wilh. Jensen in den Mund gelegten Bericht über eine B. betreffende Auslassung Geibel’s stellt Jensen brieflich (Jan. 1901) völlig in Abrede. – Einige frdl. Nachweise durch die Herren kgl. Gymnasiallehrer Heinrich Kühnlein (Münnerstadt), den dichterisch nachempfindenden Otto Ludwig-Forscher, Prof. Dr. K. Frenzel (Berlin), Chefredacteur Dr. E. Sierke (Braunschweig), B.’s Verleger H. Costenoble und O. Janke. – Ueber B. 1902 im obigen Sinne Bartels, G. d. d. L. II, 438 (399, 432, 602). G. Witkowski i. Spemann’s Goldn. Buch d. Weltlit. (1901), 242 ‚Narciß‘ „ein leeres und unwahres Product“.