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ADB:Nicolai, Otto

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Artikel „Nicolai, Otto“ von Hans Michael Schletterer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 598–607, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nicolai,_Otto&oldid=- (Version vom 27. November 2024, 20:21 Uhr UTC)
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Nicolai: Karl Otto Ehrenfried N. (geb. am 9. Juni 1810 zu Königsberg, † am 11. Mai 1849 zu Berlin) gehört, wie sein späterer College Neithardt, jener Ehrfurcht erweckenden Reihe bedeutender Tonmeister an, welche sich unter einem fast vernichtenden Druck äußerer Verhältnisse und widerlicher Constellationen, im nie ermüdenden, rastlosen Kampfe mit sich ihnen entgegenstellenden Hindernissen, endlich zu den ersten und wichtigsten Bedienstungen emporgerungen haben. Die Zustände, unter denen der Knabe aufwuchs, waren in der That die denkbar trostlosesten. Ein von seiner Frau, der Mutter Nicolai’s, geschiedener Musiker, C. E. D. N., ein tyrannischer, gefühlloser, bis zur Grausamkeit harter Mann, war sein Vater und erster Lehrer. Durch seinen Beruf während des größten Theils des Tages vom Hause ferngehalten, konnte er für die moralische und künstlerische Erziehung seines Sohnes, dem gegenüber er zudem stets sichtbare Abneigung bekundete, so viel wie nichts thun. Die ungerechte Strenge unter der der arme Knabe fortwährend zu leiden hatte, mußte bei diesem vom übelsten Einflusse auf körperliche und geistige Entwicklung und Charaktereigenschaften sein. Kein freundliches Mutterwort tröstete den Vereinsamten, keine zärtliche Sorge behütete ihn vor Irrwegen und pflanzte Keime edler Tugenden in sein Herz, kein entschlossenes Dazwischentreten schützte ihn vor unbilligen Züchtigungen. Ganz sich selbst überlassen, bildete sich sein Wesen eigenartig und der Ernst, der schon frühe auf dem blassen Gesichte des verwahrlosten Kindes lagerte, ließ Entschlossenheit, Trotz, Widerstandsfähigkeit, die in seinem Innern wohnten und ihn gegen äußere Unbilden stählten, ahnen. Seine Reizbarkeit beschleunigte denn auch den Bruch zwischen Vater und Sohn, der nach vielen Kämpfen endlich plötzlich und völlig erfolgte. In der Nothlage, in der er sich bisher befunden, boten ihm nur seine musikalischen Studien Trost und Beruhigung. Sein Talent offenbarte sich [599] schon sehr bald; ein feines Gehör, eine geschickte Hand, eine glückliche Fassungsgabe, ein merkwürdiges musikalisches Gedächtniß erregten allmählich die Aufmerksamkeit und die Speculationsideen seines habgierigen Papas, der in der Absicht, mit seinem Wunderkinde einst Geld und Ruhm zu verdienen, den sonst von ihm gar nicht Beachteten, nun mit unbarmherziger Strenge zu weiteren, allerdings reißend zu nennenden Fortschritten drängte. Dieser in seiner Niedergeschlagenheit und Abspannung suchte sich für diese Behandlung, so oft er seinen Peiniger ferne wußte, dadurch zu entschädigen, daß er weite einsame Spaziergänge unternahm, die ihn stunden- und halbe Tage lang seinen Studien entzogen. Wenn ihn für solche Versäumnisse der harte Vater dann grausam züchtigte, scheute er sich nicht mehrere Tage und Nächte hindurch dem elterlichen Hause ferne zu bleiben. Unter solchen Verhältnissen mußte sein Schulbesuch ein sehr mangelhafter, konnte sein Wissen nur ein sehr beschränktes bleiben. Doch holte er später mit eisernem Fleiße und überraschender Schnelligkeit alles Versäumte nach, so daß er in kurzer Zeit einen respectablen Grad von humanistischer Bildung und wissenschaftlicher Intelligenz sich aneignete.

Die Sehnsucht, die ihn die freie Natur aufsuchen ließ, gründete nicht auf der Lust an einem vagen, gedankenlosen Herumtreiben. Draußen in Wald und Feld schärfte sich die Beobachtungsgabe des Einsamen, entwickelte sich sein Sinn zur Beschaulichkeit, ward er dahin geführt, frühe ein Urtheil über sich selbst zu gewinnen. Die so empfangenen Eindrücke wirkten in seinen musikalischen Studien fort. Es war seine Lieblingsbeschäftigung, sinnend und träumerisch die Finger über die Tastatur seines Claviers gleiten zu lassen und für die Tonwelt, die in seinem Innern wach wurde, entsprechenden Ausdruck zu suchen. Als ihn an einem Winterabende der Vater über dieser Beschäftigung eingeschlummert fand, während die Hände noch mechanisch fortspielten, sperrte er, nach vorheriger empfindlicher Züchtignng, ungerührt durch die flehentlichsten Bitten des Knaben, den vor Furcht Zitternden in eine Bodenkammer, wo man ihn am nächsten Morgen halberstarrt vorfand. Von nun an begannen oft auf Wochen ausgedehnte Fluchtversuche des Armen; aber Noth und Entbehrung oder fremde Leute lieferten ihn immer wieder in die Gewalt seines Quälers zurück. So hart ihn der Vater, der übrigens ein sehr guter Clavierlehrer gewesen zu sein scheint, auch behandelte, unter seiner, wenn auch unregelmäßigen Anleitung entwickelten sich des Knaben Talente in überraschender Weise. Der 12jährige Otto beherrschte bereits sein Instrument mit großer Sicherheit und war namentlich ein vortrefflicher prima-vista-spieler. Künstlerischen Ausdruck und durchdachte Nüancirung konnte allerdings erst eine spätere Zeit seinem Vortrage geben. Die Unerträglichkeit seiner Lage kam ihm aber nun, je mehr er sich musikalisch entwickelte, täglich lebhafter zum Bewußtsein. Tiefen Eindruck auf das verzweifelnde Kind übte der leider auch unregelmäßig besuchte Confirmandenunterricht. Er litt schwer unter Gewissensbissen; der sonst im Leben und Wandel Tadellose fühlte sich tief gebeugt unter einer vermeintlichen Sündenlast und glaubte sich wirklich so verworfen, als man ihn zu Hause immer schalt. Ward aber dann jede demüthige Zuneigung, mit der er sich dem Vater stets wieder zu nähern versuchte, von diesem mit gehässiger Strenge und verächtlichem Hohne zurückgewiesen, dann bäumte sich sein Herz in krampfhaftem Stolze und er dachte nur daran, sich Freiheit und Selbständigkeit zu gewinnen. Anfangs Juni 1826, nach einem Act furchtbarster Mißhandlung, entfloh er, ohne Legitimationspapiere, ohne Geld, Nahrungsmittel und andere Bekleidung, als die er gerade auf dem Leibe trug, für immer dem elterlichen Hause. Er lenkte zunächst seine Schritte nach dem westpreußischen Städtchen, in dem seine Mutter momentan wohnte. Bis zum Tode erschöpft, hungernd, unterwegs das Mitleid der Cantoren und [600] Pfarrer beanspruchend, manche Nacht im Waldesdunkel oder auf üppigem Wiesengrunde zubringend, feierte er, einsam und mit seinen Empfindungen allein, von keiner Seite beglückwünscht, auf dieser Fahrt seinen 16. Geburtstag. Die erschreckte Mutter empfing den bei ihr unverhofft Eintretenden mit Herzlichkeit; aber sie war zu arm, um ihn bei sich behalten zu können. Hatte sie doch noch eine Tochter und eine dritte Person zu ernähren. Der Plan, auf den Otto so fest gebaut, hier ein Concert geben zu können, erwies sich als ganz aussichtslos. So mußte er denn seine Wanderung fortsetzen. In einem Zustand äußerster Ermüdung langte er endlich eines Abends in einem Dorfe bei Stargard an. Der Ortspfarrer nahm sich des Niedergesunkenen an, brachte ihn durch Erquickungen zum Leben zurück, hörte theilnehmend seine Erzählung und beförderte ihn, mit Empfehlungen an den Auditeur Adler in Stargard, auf einem gerade des Weges kommenden Wagen nach der Stadt.

Adler hatte sich durch thatwillige und uneigennützige Kunstliebe einen hochgeachteten Namen in der ganzen Gegend erworben. Da ihn der junge Virtuose nicht daheim traf, suchte er ihn in der Ressource auf und trug ihm hier seine Bitte, ihm beim Arrangement eines Concerts behilflich zu sein, vor. Der ernste Mann musterte erstaunt die bleichen, aber kecken Züge und den dürftigen Anzug des Supplicanten und lud ihn dann zum Abend zu sich. N. sollte nun etwas vorspielen; er hatte aber keine Noten bei sich (und auswendig konnte er nichts) und keine Papiere und keine Effecetn, las aber mit bewundernswürdiger Technik ein Hummel’sches Concert vom Blatte. Adler, der von nun an sein Schutzgeist, sein Förderer, sein zweiter Vater wurde, improvisirte auf diese Leistung hin eine Abendunterhaltung, die einen nicht unbedeutenden Gewinn ergab, miethete für seinen Schützling bei einer benachbarten Wittwe eine kleine Stube, führte ihn in das angesehene Haus des Regierungsrathes Kretzschmer ein, dessen Sohn, der nachmalige berühmte Maler, nun sein Freund und Genosse wurde, und bot fortan alles auf, um die in der Erziehung des Knaben allenthalben gebliebenen Lücken auszufüllen. Im eigenen Wagen und mit den gewichtigsten Empfehlungen versehen, schickte er ihn in umliegende Städte, um in den Cirkeln kunstsinniger Freunde zu spielen und so kleine Einnahmen zu erzielen. N. war noch nicht confirmirt; er nahm daher jetzt an dem betreffenden Unterrichte Theil. Seine Moral gewann dadurch festen Anhalt, sein Sinn für edle Geselligkeit und feine Sitten erhielt im Umgange mit den besten Familien der Stadt treffliche Ausbildung. Mit größtem Eifer betrieb er seine wissenschaftlichen und musikalischen Studien. Mittlerweile waren auch von Königsberg die Legitimationspapiere und der völlige Verzicht des Vaters auf seinen Sohn eingetroffen.

Nach Jahresfrist sandte Adler seinen Pflegling, dessen Ersparnisse er auf 200 Thaler gebracht, zu weiterer Vervollkommnung nach Berlin, das damals im musikalischen Leben hohen Rufes genoß. Spontini dirigirte die Oper, Zelter die Singakademie, Möser die Sinfonieconcerte. B. Klein, F. Mendelssohn-Bartholdy, G. Meyerbeer, L. Berger, A. B. Marx und viele andere bildeten die künstlerischen Zierden der Residenz. An einem heitern Octobertage des Jahres 1827 fuhr N. klopfenden Herzens durch das Königsthor dort ein. Mit den schönsten Hoffnungen durfte er der Zukunft entgegensehen; alle edlen Anlagen und Triebe sollten hier zur völligen Entfaltung gelangen. Die Empfehlungen Adler’s öffneten ihm die besten Häuser; Klein, Berger und Zelter wurden seine Lehrer. Es begann sich nun auch seine Stimme zu entwickeln und bald erwarb er sich durch den Vortrag der für Baß geschriebenen Zelter’schen Balladen, sowie der Solopartieen in den Aufführungen der Singakademie Ruf und Beliebtheit. Er ward als Clavier- und Gesanglehrer gesucht und gewann sich auch als Componist rasche Anerkennung. Clavierstücke, Lieder, Duette und Vocalquartette [601] Nicolai’s erschienen seit 1830 in schneller Aufeinanderfolge. Aber nicht allein Werke leichterer Gattung, auch solche ernsterer Richtung (Psalmen, Messen u. dgl.) beschäftigten ihn. Vor die Oeffentlichkeit trat er als Componist, Sänger und Clavierspieler in einem eigenen, im Saale des Englischen Hauses gegebenen Concerte erstmalig im April 1833. Der Erfolg war so ermuthigend, daß er im folgenden Monat schon eine größere Aufführung in der Garnisonskirche wagen durfte, die ebenfalls für sein Geschick glänzendes Zeugniß gab.

Neben seinen in diesen Zeitraum fallenden Gesangscompositionen: op. 2–6, 9–11, 13–19 schrieb er eine Hymne zum Dürerfeste, ein Te Deum „Dankmusik beim Erlöschen der Cholera“, eine viersätzige Sinfonie (D-dur) und eine Weihnachtsouverture über den Choral: Vom Himmel hoch, da komm ich her. Diese Arbeiten, welche seinen Ruf begründeten, zogen sogar die Aufmerksamkeit des Königs auf sich, der ihm als Zeichen seiner Huld und Anerkennung einen Brillantring verehrte. Doch nicht ungetrübt sollten ihm die schönen in Berlin verlebten Tage dahinschwinden. Die rasch auf einander folgenden Todesfälle seines väterlichen Freundes Zelter (15. Mai 1832) und seines treuen Lehrers B. Klein (9. September 1832) schlugen seinem Herzen tiefe Wunden.

Wiederum drängt seine Lebensbahn zu einem Wendepunkte. Im Hause Schleiermacher’s, in dem er als Musiklehrer thätig war, lernte N. den hochgebildeten und begeisterten Beförderer protestantischen Kirchenthums, Ritter Karl v. Bunsen, kennen, damals preußischer Gesandter und Ministerresident am Päpstlichen Hofe. Dieser würdigte sofort das bedeutende Talent des jungen Künstlers und beschloß es für seine kirchenmusikalischen Pläne zu benutzen. N. war leicht zu überreden, die Stelle als Organist bei der Gesandtschaftscapelle in Rom anzunehmen. Begleitet von den Segenswünschen zahlreicher Freunde und einem ehrenvollen Nachrufe Rellstab’s trat er seine Reise dahin, 8. September 1833, an. Was ihm persönlich den Abschied von Berlin noch erleichtert haben mochte, mag in der Ursache zu suchen sein, daß ein mit seinen dortigen Erfolgen und seiner zunehmenden Thätigkeit sich progressiv steigerndes Selbstbewußtsein und krankhafte leicht zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führende Empfindlichkeit den sonst herzensguten Menschen in vielfache Collisionen mit seinen Collegen gebracht hatten.

Man kann denken, welche reichen Eindrücke dem empfänglichen, phantasievollen Künstler schon die Reise nach Rom und dann der längere Aufenthalt in der ewigen Stadt brachten; wie die Aufwallungen seines Gefühls der Masse des Großen und Herrlichen gegenüber, das sich dem Beneidenswerthen hier bot, sich bis zum Enthusiasmus steigern mußten. Vor allem interessirten ihn die Aufführungen bei St. Peter und in der Sixtina, die unschätzbaren Manuscripte aus der Glanzzeit strengen Stiles, welche diese Kirchen bewahrten, und der berühmte Abbate Giuseppe Baini, Director der päpstlichen Capelle, der ihn mit Wohlwollen aufnahm und seinen Genius auf die erhabensten Bahnen zu lenken strebte. Leider aber besaß der junge N. noch nicht die nöthige Energie, um seine künstlerischen Grundsätze und seine Eigenthümlichkeit den auf ihn eindringenden fremden Einflüssen gegenüber behaupten zu können. Der am 10. Mai 1844 verstorbene Baini mußte noch den ihn tiefschmerzenden Umschwung im Entwickelungsgange seines hoffnungsvollen Schülers erleben. – Die mit einem Monatsgehalte von 13 Scudi verbundene Organistenstelle ließ ihrem Inhaber viele freie Zeit. Bunsen, uermüdlich für seine auf eine Verbesserung der preußischen Liturgie und Agende abzielenden Pläne thätig, fand in N. den erwünschten Mitarbeiter, der bald eine fruchtbare Wirksamkeit auf kirchenmusikalischem Gebiete entfaltete, Motetten und Psalmen componirte, die Liturgie feststellen half und sich nach jeder Richtung hin einsichtsvoll und anstellig erwies. In seinen späteren Stellungen in Wien und [602] Berlin hat er meist aus dem Borne dieser Periode geschöpft und sich fast nur auf Umarbeitung älterer Werke beschränkt.

Der strebsame, durch höchste Protection unterstützte, in seinem Aeußeren wie in seiner ganzen Haltung stets die peinlichste Sorgfalt bethätigende Deutsche, fand allmählich Eingang in die besten Kreise. Obwol scheinbar der strengsten Richtung zugethan, vermochte er die allgemeine Musikströmung, die gerade jetzt durch Rossini, Bellini und Donizetti in Italien ihren Höhepunkt erreicht hatte, doch nicht zu ignoriren; möglich, daß auch der hier in einem viel intensiveren Blau glänzende Himmel und das rascher pulsirende Leben Einfluß auf sein Naturell und seine Kunstüberzeugungen gewann. Der bisher nur für Mozart begeisterte, das italienische Opernwesen geringschätzend beurtheilende Künstler, wendete sich plötzlich, das Vorbild welscher Meister adoptirend, vollständig der modernen welschen Opernbühne zu.

Man hat für diese überraschende Wandlung, für dies Umschlagen von einem Extrem ins andere, für diesen plötzlichen Uebergang von Palestrina zu Bellini lange nach Entschuldigungsgründen gesucht. Die Zeitgenossen waren durch dieses Vorkommniß im höchsten Grade frappirt. Die Erklärung dürfte jedoch nahe liegen. N. war ebenso eitel als ehrgeizig. Sein Verstand und seine Erfahrung mußten ihm sagen, daß er auf dem Gebiete kirchlicher Tonkunst besondere Erfolge, namentlich lohnende, nicht zu erwarten habe. Ja selbst dann, wenn er mehr religiöse Vertiefung besessen, wenn seine geistlichen Compositionen überwiegenderen religiösen Inhalt gehabt hätten, würde ihm die von seinem Ehrgeiz erstrebte äußere Genugthuung kaum je geworden sein. Der Componist von Motetten und Psalmen macht nur in den seltensten Fällen Carriere. Andererseits besaß N. das, was den meisten Tonsetzern abgeht, in seltenem Grade: melodisches Talent. Seine Lieder und Duette, wenn auch nicht gerade besonders gehaltvoll, stehen doch hoch über seinen Kirchensachen. In Italien, in einer Atmosphäre süßen und bezaubernden Gesanges, mußte gerade diese ihm besonders eigene Begabung Anregung und Belebung finden; Ruhm, Ehren, Vergötterung, Geld wird dort nur dem Operncomponisten zu Theil. N. besann sich nicht lange. Ueber alle engherzigen Vorurtheile sich ohne Gewissensscrupel rasch hinwegsetzend, schlug er den Weg ein, der ihm den meisten Succeß versprach, und es ihm, wie den italienischen Maestri, gestattete, auf leichte Weise Lorbeeren und Bewunderung zu ernten. Seine ersten italienischen Arietten und Canzonetten fanden aufmunternden Beifall. Damit war die Lebensfrage, vor der er stand, entschieden. Ebensowenig wie der ehrwürdige Baini war sein Chef Bunsen mit seiner Wandlung einverstanden. Sein Amt und sein Verhältniß zu diesem erschienen ihm nun als Hemmniß; er erwirkte am 1. April 1837 seinen Abschied. Nun ganz frei, reiste er, überall ehrenvoll aufgenommen, über Bologna, wo er die persönliche Bekanntschaft Rossini’s machte, und Mailand nach Wien, um sich hier als Gesanglehrer niederzulassen; er erhielt auch den Titel eines Gesangsprofessors am k. k. Hoftheater, ja er wurde sogar unmittelbar darauf neben C. Kreutzer und Reuling als Capellmeister angestellt. Doch behagte ihm dieser Wirkungskreis nicht. Schon im October 1838 finden wir ihn wieder in Rom. Unterwegs hatte er mit den Theaterdirectoren in Triest, Mailand und Turin erfolgreiche Unterhandlungen bezüglich zu liefernder Opern angeknüpft. In Rom trat er mit Liszt, mit dem Grafen M. Wielhorsky und mit seinem Stargarder Jugendfreunde H. Kretzschmer zusammen; er verkehrte außerdem viel in den Häusern des Malers Catel (Sohn des französischen Operncomponisten), und der Signora Caggiotti (Mutter der späteren Hofmalerin Emma Caggiotti-Richards in Berlin) und anderer angesehener Familien.

[603] Bereits in Wien hatte er die Arbeit an seiner ersten Oper „Enrico secondo“ begonnen. Er vollendete sie jetzt und schrieb zugleich eine zweite: „Rosmonda d’Inghilterra“. Beide Werke wurden 1839 in Triest mit nur theilweisem Erfolge aufgeführt. Glücklicher war er mit einer dritten Oper, dem Lieblingsstück des Carnevals von 1840: „Il Templario“ (Libretto von Marini), welche im Teatro Regio in Turin aufgeführt, unbeschreiblichen Enthusiasmus hervorrief und plötzlich des Tonsetzers Namen zu den Sternen hob. N. konnte nun in vollen Zügen aus dem Becher des Ruhmes sich berauschen. Die genannte Oper zeichnete sich durch eine gutgearbeitete Ouvertüre, geschickte Instrumentation, manche wohlgelungene, stark mit Blech versetzte Effecte und eine fließende, wenn auch oft banale Melodik aus. Die Handlung ist dem W. Scott’schen Romane „Ivanhoe“ entnommen und ziemlich dieselbe, wie die der Marschner’schen Oper: „Templer und Jüdin“. Alle bedeutenden Bühnen Italiens traten nun mit N. in Verbindung, zunächst Mailand, das noch im gleichen Jahre im Scalatheater den „Templario“ brachte und in Ausbrüchen der Beistimmung über dieses Werk Turin noch überbot. Mit gleichem Erfolge ward dann die Novität im St. Carlotheater in Neapel aufgeführt. Nicolai’s italienisch klingender Name ward, eine seltene Ehre, als neunter der Reihe der acht größten italienischen Operncomponisten hinzugefügt: Rossini, Bellini, Donizetti, Mercadante, Ricci, Pacini, Coccia und Coppolo.

Ein folgendes Drama: „Odoardo e Gildippe“, 1840 in Genua gegeben, fand wiederum nur getheilten Beifall. Höher an innerm Werthe und vielleicht deshalb nur die Anerkennung des gebildeten Publicums gewinnend, stand die für Mailand geschriebene Oper: „Il Proscritto“. Man wollte erkennen, daß der jugendlich frische und edle Genius des Tonsetzers hier die tiefste poetische Auffassung mit reichem Talent und gediegener Bildung vereinte und dadurch in den Stand gesetzt war, der Begründer einer schöneren Musikaera zu werden. Die Massen wandten sich kalt von dem Werke, das durch Einheit des Stiles, zartinnige und großartige Auffassung der Dichtung und treffende Charakteristik der Personen fast mustergiltig unter den Werken gleicher Gattung dasteht. „Il Proscritto“ erschien nach einer durchgreifenden Ueberarbeitung (die Uebersetzung von Kapper) unter dem Titel: „Die Rückkehr des Verbannten“, später auch auf der deutschen Bühne.

N. hatte soeben die Arbeit an einer neuen Oper: „Proserpina“, begonnen, als er einen Ruf nach Wien an die Stelle des abgegangenen C. Kreutzer als erster Capellmeister der k. k. Hofoper erhielt. Dieses Amt, eines der wichtigsten in Deutschland, erforderte einen gewiegten Dirigenten und Kenner der Vocal- und Instrumentalmusik und einen Musiker, der das Gute und Schöne der deutschen, wie der italienischen Musik ohne Parteilichkeit zu würdigen wußte. Im April 1841 in Wien eingetroffen, setzte er zunächst seinen „Templario“ in Scene, sogleich durch diese Meisteraufführung verdienten stürmischen Beifall erntend. – Auf einer Reise nach Krakau und Warschau sah er dann seine, von ihm von jetzt ab durch eine monatliche Pension unterstützte Mutter wieder.

Sein begeisterter und begeisternder Eifer und rastloser Fleiß, seine Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Geduld erzielten in Wien staunenswerthe Erfolge. Die Aufführungen der Hofoper erreichten einen ungeahnten Grad der Vollkommenheit. N. dirigirte zuerst den „Don Juan“, dann den „Fidelio“ und Donizetti’s „Märtyrer“ und „Favoritin“. Leider stammt von ihm die unglückselige, die Wirkung des zweiten Actes aufs schwerste schädigende, allerwärts gedankenlos nachgeäffte Einrichtung her, als Zwischenactsmusik im „Fidelio“ die große Leonorenouvertüre einzufügen.

Unvergängliches ehrendes Andenken hat sich N. in Wien durch die Gründung [604] der philharmonischen Concerte errungen. Das erste derselben fand am Osterfesttage 1842 statt. Sein seltenes Directionstalent trat hier in eclatantester Weise hervor und ermöglichte künstlerische Leistungen von einer Vollkommenheit, wie man sie selbst in dem musikalischen Wien bisher nicht gekannt und geahnt hatte.

N. schrieb in dieser Zeit einige Clavierstücke, darunter die große Sonate in d-moll, op. 27, zahlreiche Lieder, von denen viele rasch populär wurden, ein achtstimmiges Paternoster für Solostimmen und Chor op. 33, ein Offertorium, op. 38, ein Salve Regina op. 39, eine Sinfonie (c-moll) u. a. Aber diese Arbeiten gingen eigentlich nur nebenher. Sein ganzes Sinnen und Denken war auf eine neue Oper gerichtet. Er scheute weder Mühe noch Kosten ein geeignetes Textbuch zu erhalten und brachte auch wirklich eine ganze Sammlung solcher zusammen, ohne jedoch das Gewünschte zu finden. Endlich brachte ihn sein Freund S. Kapper auf die Idee, einen Shakespeare’schen Stoff zu wählen. Er entschied sich nach langer Ueberlegung für „Die lustigen Weiber von Windsor“, dessen Text nach dem sorgfältig vom Componisten entworfenen Scenarium H. S. Mosenthal zu seiner Befriedigung fertig stellte.

Während dieser Zeit wurden dem Componisten N. mancherlei Ehren zutheil. König Friedrich Wilhelm IV. sandte ihm für die Dedication einer in Italien componirten, jetzt neu überarbeiteten Missa op. 40 (D-dur), die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft mit schmeichelhaftem Handschreiben. Seine Geburtsstadt Königsberg, welche vom 27.–31. August 1844 das 300jährige Bestehen ihrer Universität feierte, lud ihren verdienstvollen Sohn als Ehrengast. Er schrieb für diese Gelegenheit seine große Ouverture über den Choral: „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ im breitest, pomphaft-feierlichen Stile für Orchester, Orgel und Chor, op. 32.

Die Reise nach Königsberg gestaltete sich zu einer sehr genuß- und ehrenreichen. Sie ging zunächst über Prag und Breslau nach Berlin. Kaum hatte König Friedrich Wilhelm IV. von der Anwesenheit Nicolai’s Kunde erhalten, als er die Veranstaltung eines Hofconcertes geistlichen Charakters befahl und ihm die Direction übertrug. N. führte daraufhin mit dem Domchor am 25. Juli zu des Königs vollkommenster Zufriedenheit u. a. auch einige seiner eigenen Compositionen auf; zuletzt bot ihm derselbe, nachdem er ihn mit Complimenten überhäuft und ein langes Gespräch über altitalienische Kirchenmusik und die Sixtinische Capelle, aus dem er Nicolai’s gründliche Kenntnisse in diesem Fache erkannte, mit ihm beendet, die Stellung eines Dirigenten des Domchors an. Vorläufig wußte N. den Monarchen zu überzeugen, daß dies momentan doch nicht mehr das Feld sei, das er ausschließlich bebauen wolle; aber jener beschloß die erste Gelegenheit zu ergreifen, den talentvollen Mann seinem Vaterlande zurückzugewinnen. Nach Stargard, wo ihm die Freude wurde, seinen edlen Beschützer, den Justizrath Adler, wiederzusehen, sandte ihm der gütige Fürst die Insignien und die Ernennung zum Ritter des rothen Adlerordens nach. In Danzig besuchte er seine Schwester, in Marienwerder seinen Vater; am 20. August traf er mit dem Dampfboote in Königsberg ein, wo man sich überbot, ihn mit Gunstbezeugungen und Ehren zu überhäufen. Welcher Contrast zwischen dem armen Knaben, der hilflos seinem Vaterhause entlief und dem gefeierten Meister, welchen Deputationen der angesehensten Corporationen bei seiner Rückkehr begrüßten! Seine am 28. August in dem von Ehrengästen und dicht geschaarten Volksmassen überfüllten Dome aufgeführte Ouverture fand so allgemeinen Beifall, daß der König, der wegen Unwohlseins dem Acte im Dome nicht hatte beiwohnen können, sich dieselbe am nächsten Tage in der Schloßcapelle wiederholen ließ. Seine Vaterstadt ließ ihm als Erinnerung an das schöne Fest im Juni 1845 nebst einem ehrenvollen Schreiben einen prächtigen silbernen Tactstock überreichen; die [605] Universität, nach seiner Rückkehr nach Wien, eine goldene Dose und zwei Denkmünzen. Dagegen zog ihm der Theaterpächter wegen verspäteten Eintreffens 60 fl. von seiner Monatsgage ab. – Schon in Italien hatte N. angefangen zu kränkeln; jetzt verhinderte hartnäckiges Unwohlsein die Fortsetzung seiner Arbeit an der neuen Oper; seine rastlose Thätigkeit verschlimmerte sein Befinden, das auch ein Besuch der Bäder von Mehadia, 1845, nicht zu bessern vermochte. Trotz angestrengter Mühen, welche er auf die Hebung der musikalischen Verhältnisse der Kaiserstadt, namentlich auf dem Gebiete des Theaters, verwandte, blieb er von Mißhelligkeiten und kränkenden Anfeindungen nicht verschont, vermochte er den Verfall der Oper nicht aufzuhalten. Schon 1845 wollte er seine Stelle niederlegen, ward aber von seinen Freunden wieder umgestimmt. Jetzt aber, auf seinen leidenden Zustand fußend, reichte er Ende 1846 sein Abschiedsgesuch ein. An seiner Statt wurde am 1. Juli 1847 H. Esser Hofcapellmeister.

N. glaubte durch die ungestörte Ruhe eines Landaufenthaltes seine Gesundheit wieder kräftigen zu können. Leider sah er sich in seinen Hoffnungen getäuscht. Nach vorübergehendem Aufenthalte im Salzkammergut, in Salzburg, Baden bei Wien und Raab riethen ihm die Aerzte, die Kaltwasserheilanstalt in Gräfenberg zu benutzen. Er verließ zu diesem Zwecke im September 1847 Wien, um es nie wieder zu sehen. Gräfenberg entsprach seinen Erwartungen nicht. Im October reiste er über Breslau nach Berlin. Wiederum bot ihm der König die nach Mendelssohn’s Tode erledigte Stelle des Dirigenten des Domchors an, mit der Aussicht auf die Capellmeisterstelle an der königlichen Oper. Diesmal ließ sich N. zur Annahme bewegen. Er trat sein neues Amt mit der Direction einer gelegentlich der neuerbauten Friedenskirche bei Sanssouci veranstalteten Aufführung an, welche seinen königlichen Gönner wieder so sehr befriedigte, daß er ihn zur Tafel zog und ihm in den schmeichelhaftesten Worten seine Anerkennung ausdrückte. Schon im December 1847 übernahm er die Leitung der Oper. Seine ersten Capellmeisterfunctionen waren die Direction einer Hofsoiree, am 27. Januar 1848, und die Aufführung von Spontini’s Vestalin, am 12. März. Wie in Wien errang er sich auch jetzt in Berlin vollste Anerkennung durch seine Dirigentenleistungen; wie dort, durch die von ihm ins Leben gerufenen philharmonischen Concerte, gewann er auch hier wichtigen Einfluß durch seine Wirksamkeit im Tonkünstlerverein. Ein von ihm am 14. December 1848 geleitetes, höchst gelungenes Festconcert warf einen letzten verklärenden Schimmer auf die nun schon gezählten Tage des Componisten; dieser Erfolg wurde jedoch weit überboten durch den jubelnden Beifall, mit welchem sein letztes und wol auch bestes Werk, „Die lustigen Weiber“, am 9. März 1849, bei der ersten Darstellung aufgenommen wurde. Der Enthusiasmus dafür steigerte sich von Aufführung zu Aufführung. (9., 11., 20. und 25. März). Die letzte derselben dirigirte der, den Todeskeim bereits im Herzen tragende persönlich. Am 11. Mai abends 5 Uhr machte ein Schlaganfall seinem kurzen, aber thatenreichen Leben ein plötzliches Ende. Sein stilles Grab auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhofe schmückt seit dem 11. Mai 1851 ein vom Tonkünstlerverein errichtetes Denkmal. Zu seinen Nachfolgern in der Operndirection wurde Dorn, am Domchor Neithardt ernannt.

Das bedeutendste Werk Nicolai’s ist seine letzte Oper; überhaupt zählen „Die lustigen Weiber“ zu den besten komischen Opern, welche wir besitzen. Obwol ihre Melodien nicht durchweg edel und gewählt erscheinen, ja vielfach bedenklich ans Triviale streifen, bietet sie doch eine ungeahnte Fülle frischer und liebenswürdiger Tonweisen, glänzender und pikanter Effecte, eine reizvolle Instrumentation und auch in ihrer Handlung ungewöhnliches Interesse. Seine Lieder und Duette, worunter des Trefflichen sehr vieles ist, sind sehr mit Unrecht vergessen. Als Instrumentalcomponist für Orchester und Clavier leistete er nicht gerade Hervorragendes. [606] Seine geistlichen Compositionen, mehr durch Klangreiz als inneren Gehalt und religiöse Begeisterung wirkend, entsprechen der ernsten Richtung, welche sich heute gerade auf diesem Gebiete geltend macht, nicht mehr. Die beiden besten unter seinen früheren Opern, „Der Tempelritter“ und „Der Verbannte“, sind gänzlich vom Repertoire verschwunden. Gewiß würde N. noch sehr viel Schönes und Bedeutendes, vielleicht auch lange Fortwirkendes geschaffen haben, wäre ihm längeres Leben beschieden gewesen. Er starb im Alter von 39 Jahren, gerade im Moment, da er seine dritte Compositionsperiode begonnen hatte, da sich ihm Aussicht bot, Position zu gewinnen, und zu hoffen war, daß er sich aus dem Zwitterthum, in das er durch seinen italienischen Aufenthalt verfallen war, lösen würde. Dagegen hatten allerdings Pergolese mit 26 Jahren, Mozart mit 35, Mendelssohn mit 38, C. M. v. Weber mit 40 Jahren u. a. den Gipfel der Unsterblichkeit bereits erklommen und alle ihre herrlichen und unsterblichen Werke geschrieben.

Wie seine Mutter, hatte N. in den letzten Jahren auch seinen ganz herabgekommenen Vater durch eine Monatspension namhaft unterstützt. Letzterer wurde der Erbe eines nachgelassenen Vermögens von 1800 Thalern und des sonstigen Eigenthums des Componisten. Die Baarsumme hatte er nach einem Jahre bereits durchgebracht, den bedeutenden Manuscriptennachlaß veräußerte er an die Bote & Bock’sche Musikalienhandlung, alle vom früheren Besitzer so hochgehaltenen Andenken und sonstigen Gegenstände suchte er so rasch wie möglich in Geld umzusetzen. Der Elende wurde, nachdem er alles verschwendet hatte, von der königlichen Capelle unterstützt, dann mit einem jährlichen königlichen Gnadengehalte von 100 Thalern bedacht; er starb in äußerster Dürftigkeit, 1857, in der Charité. Es muß sehr überraschen, daß die genannte Verlagshandlung den Nachlaß Nicolai’s fast gar nicht verwerthete, obwol sich darunter sehr bedeutende Werke aller Gattungen finden, Opernpartituren, Messen, Psalmen, Cantaten, ein- und mehrstimmige Gesänge, Orchesterwerke, ein Streichquartett und zahlreiche Claviercompositionen. Da alle diese mannigfachen Aeußerungen eines sonst glänzenden Talentes der Welt entzogen blieben, muß man fragen, ob sich darunter denn gar nichts der Veröffentlichung würdiges fand, oder ob der glückliche Käufer eines so wichtigen Nachlasses, auf den die Allgemeinheit doch Anspruch hat, überhaupt das Recht besitzt, ihn auf immer unter Verschluß zu halten.

Nicolai’s sehr werthvolle und mühsam gesammelte musikalische Bibliothek gelangte durch Vermächtniß in den Besitz der königlichen Bibliothek in Berlin.

Nicolai’s äußere Erscheinung war eine freundlich-angenehme, weniger interessant und imponirend, als nach und nach für sich gewinnend. Er war, wenn auch gutem Verhältniß entsprechend, nur mittelgroß, von nicht sehr starkem Bau, in seinen Bewegungen leicht und lebhaft. Sein blasses Gesicht hatte einen stets heiteren, durch hellblaue, in Momenten innerer Erregung funkelnde Augen gehobenen Ausdruck; immer liebenswürdig und zuvorkommend, schien er zu Scherz und Frohsinn stets aufgelegt. Sein von einem blonden Schnurrbart überschatteter Mund zeigte gewöhnlich einen zu Herzen sprechenden Zug wohlwollender Freundlichkeit. Sein Organ, etwas hochliegend und unter Umständen schrill, war dennoch klangvoll, stark und biegsam, und ganz zum Commandoruf des Dirigenten geeignet. In seiner amtlichen Thätigkeit wurde er durch ein außerordentlich feines Gehör und einen gewählten Geschmack unterstützt. Obwol ihm Eigensinn und Launenhaftigkeit nicht fremd waren, erschien er doch im Freundeskreise stets herzlich, gutmüthig und anregend. Er lebte genügsam, bescheiden und einfach; sein einziger Luxus war Feinheit und Tadellosigkeit des Anzugs, sein Stolz seine kostbare Bibliothek und die in seinem Besitze befindlichen Kunstgegenstände. Trotz seines scharfen, oft verletzenden Urtheils über Kunstgenossen waren ihm doch Kunstneid [607] und Kunstdünkel fremd. Seine glücklichsten Stunden verlebte er vor den Partituren großer Meister oder im Genusse der freien Natur. Eingehende biographische Arbeiten über ihn boten Siegfried Kapper im ersten Bande der Westermann’schen Monatshefte (1857, Märzheft) und Hermann Mendel in einer vom Tonkünstlerverein in Berlin 1868 herausgegebenen Broschüre.