ADB:Culmann, Karl

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Artikel „Culmann, Karl“ von Wilhelm Ritter in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 47 (1903), S. 571–574, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Culmann,_Karl&oldid=- (Version vom 26. April 2024, 19:30 Uhr UTC)
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Culmann: Karl C., Dr. phil., Professor der Ingenieurwissenschaften am eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, wurde am 10. Juli 1821 zu Bergzabern in der bairischen Pfalz geboren. Sein Vater, Pfarrer der Gemeinde, leitete den ersten Unterricht des aufgeweckten, arbeitslustigen Knaben, der schon frühzeitig eine besondere Begabung für Mathematik an den Tag legte. Seine Vorliebe für Mathematik und Naturwissenschaften, der beständige Drang, Menschen, Dinge und Verhältnisse aus eigener Anschauung kennen zu lernen, und der Wunsch nach einer seiner Individualität entsprechenden Berufsthätigkeit wurden für Culmann’s Laufbahn entscheidend. In seinem 15. Lebensjahre bezog er das Collegium zu Weißenburg im Elsaß, wo er hauptsächlich mathematischen Studien oblag. Zwei Jahre später bestand er das Absolutorialexamen an der Gewerbeschule zu Kaiserslautern und trat hierauf nach glänzend bestandener Aufnahmeprüfung in die Ingenieurschule des Karlsruher Polytechnikums.

Im J. 1841, nach Vollendung seiner Fachstudien, nahm C. Dienste als Ingenieur beim bairischen Staate. Der Beginn seiner praktischen Laufbahn fällt somit in eine Periode, die nicht nur für die Eisenbahnen Baierns große Wichtigkeit, sondern auch für die Entwicklung des Eisenbahnwesens überhaupt hohe Bedeutung erlangte. Der Schauplatz seiner Thätigkeit war Hof, die Bahn durch das Fichtelgebirge, deren mit mannichfachen Schwierigkeiten verbundener Bau dem jungen strebsamen Ingenieur Gelegenheit zu höchst lehrreichen und für seine späteren Arbeiten wichtigen Studien bot. Acht Jahre [572] später gelang es C., einen längst gehegten Wunsch zur Ausführung zu bringen: im Auftrage der bairischen Regierung unternahm er 1849–1850 eine Studienreise nach England, Irland und den Vereinigten Staaten. Sein Reisebericht „Darstellung der neuesten Fortschritte im Brücken-, Eisenbahn- und Flußdampfschiffbau in England und den Vereinigten Staaten Nordamerikas“ ist die erste hervorragende schriftstellerische Arbeit Culmann’s geworden. Mit außergewöhnlichem Scharfsinn beleuchtet C. in dieser Schrift den Werth allgemeiner Anordnungen wie besonderer Einzelconstructionen im Brückenbau und verweist auf jene Trägerarten, welchen dank ihrer richtigen Bauart die nächste Zukunft gehört.

Dieser Bericht machte C. in weiten Kreisen bekannt und hatte, nachdem er sich noch einige Jahre dem praktischen Ingenieurdienst gewidmet, im Jahre 1855 seine Berufung als Professor der Ingenieurwissenschaften an das neugegründete schweizerische Polytechnikum zur Folge, an dem er bis zu seinem Ende ununterbrochen eine höchst erfolgreiche Thätigkeit entwickelte. Durch die in genanntem Berichte sowie in einigen weiteren Schriften niedergelegten Theorien wurde C. einer der Begründer derjenigen Wissenschaft, die man jetzt allgemein die Statik der Bauwerke nennt. Während jedoch zur Lösung der Aufgaben, die uns diese Wissenschaft stellt, vor und nach ihm meistens die Methoden der Algebra und der analytischen Geometrie verwendet wurden, schlug C. einen neuen, wesentlich verschiedenen Weg ein. Angeregt durch Poncelet[WS 1] und andere französische Schriftsteller, baute er die Statik auf rein geometrischem, zeichnerischem Wege auf und schuf damit das Werk, das ihn in der ganzen technischen Welt unvergeßlich gemacht hat, die „Graphische Statik“. „Nur einem Geiste von so reicher universeller Bildung wie Culmann“, sagt Guido Hauck, „bei dem sich technisches und mathematisches Denken und Wissen so innig durchdrangen, konnte es gelingen, mit Benutzung der vorhandenen Samenkörner einen so prächtigen Garten zu pflanzen, wie er uns in seiner Graphischen Statik erblüht ist“.

„Das Zeichnen ist die Sprache des Ingenieurs“ ist die Devise, die sich C. von da an zur Richtschnur machte, und offen bekannte er sich zu der Ansicht Möbius’, der den synthetischen Methoden den Vorzug gab, „weil die geometrische Betrachtung eine Betrachtung der Sache an sich selbst und daher die natürlichste ist, während bei einer analytischen Behandlung, so elegant sie auch sein mag, der Gegenstand sich hinter fremdartigen Zeichen birgt“.

Die ersten Bausteine zu dem großen Werke, das von da an Culmann’s Lebensaufgabe wurde, stammten schon aus der Zeit seiner amerikanischen Reise; verschiedene Aufgaben, so namentlich über die Statik der Stützmauern, folgten. Von 1860 an wurden am Zürcher Polytechnikum zeichnerische Methoden vorgetragen, und im J. 1865 erschien Culmann’s epochemachendes Werk „Die graphische Statik“. Ausgehend vom Kräfte- und Seilpolygon, deren Eigenschaften C. theils selbständig, theils im Anschluß an seine Vorgänger ableitete, zeigte er in diesem Buche wie Brücken und Dachstühle, Gewölbe und Stützmauern mittelst des Zeichnens eben so gut, ja meist rascher und allgemeiner berechnet werden können, als dies mittelst algebraischer Formeln möglich ist. Mit Begierde griff die technische Welt diese Errungenschaft auf, und an den meisten technischen Lehranstalten wurden die Culmann’schen Methoden in größerem oder geringerem Umfange eingeführt. Mag auch die Begeisterung seitdem einer ruhigeren, abwägenden Stimmung Platz gemacht haben, mag auch die „analytische“ Statik seither ebenfalls in hohem Maaße entwickelt und ausgebildet worden sein, so haben doch die Culmann’schen Schöpfungen ihren Werth in keiner Weise eingebüßt; sie bilden den Grundstock, auf dem zahlreiche [573] Gelehrte und Praktiker weiter gebaut haben und immer noch bauen. Zwischen graphischer und rechnerischer Statik hat sich allmählich eine Art Wettlauf ausgebildet, der der Statik der Bauwerke und damit dem Bauwesen überhaupt nur zum Vortheil gereichen kann.

Im J. 1875 gab C. die erste Hälfte seiner „Graphischen Statik“ in zweiter, bedeutend vermehrter Auflage heraus. Die Neubearbeitung der zweiten, mehr die Anwendungen umfassenden Hälfte war ihm nicht mehr vergönnt. Wol fanden sich in seinem Nachlasse zahlreiche Bruchstücke und zerstreute Skizzen, aber zu manchen Aufzeichnungen fehlte das vermittelnde Band und zu den Skizzen das erläuternde Wort. Eine reiche Expertenthätigkeit, vielleicht auch das zunehmende Alter ließen das Werk nicht zu dem geplanten Abschluß kommen. „Doch es mögen dich Andere benutzen und weiter bauen, und was ich nicht kann, werden meine Schüler vollbringen“, hatte er schon im Vorwort zur ersten Ausgabe gesagt.

Neben seinem Hauptwerke verfaßte C. eine Reihe kleinerer Abhandlungen aus den verschiedensten Gebieten des Ingenieurwesens, die meist in Zeitschriften erschienen sind. Bei zahlreichen Gelegenheiten amtete er ferner als Sachverständiger, theils allein, theils im Verein mit Anderen. Kaum ist zu seiner Zeit in der Schweiz eine größere Brücke gebaut worden, bei deren Entstehung er nicht als Experte mitgewirkt hätte. Auch das Ausland verlangte wiederholt seinen fachmännischen Rath. Von anhaltendem Einfluß auf die Verbauung der im Gebirge so oft verheerend auftretenden Wildwasser war sein im J. 1864 erschienener Bericht über die Untersuchung der schweizerischen Wildbäche. Aufsehen erregte ferner sein im J. 1865 erfolgter Nachweis, daß der eigenthümliche Aufbau der Spongiosa im menschlichen Hüftknochen mit verblüffender Deutlichkeit den mit Hülfe der graphischen Statik gezeichneten Spannungstrajectorien in einem belasteten Krane entspreche. Culmann’s Lehrweise war nicht leicht verständlich. Bei seinem lebhaften Temperamente eilten seine Gedanken häufig seinen Worten voraus. Auch seine Bücher entbehrten vielfach der wünschenswerthen Klarheit und Durchsichtigkeit. Er glich dem Adler, der hoch über den Häuptern seiner Schüler seine Kreise zeichnete. Was aber dem mündlichen Vortrage und dem schriftlichen Ausdrucke abging, das ersetzten die eigene Begeisterung, mit der er seine Vorträge belebte und das liebenswürdige persönliche Interesse, das er jedem seiner Schüler entgegenbrachte. Die geniale Beherrschung seines Stoffes, die erstaunliche Leichtigkeit, mit der er die schwierigsten Fragen behandelte, und daneben die Grundzüge seines Charakters, Wohlwollen und Bescheidenheit, verschafften ihm die ungetheilte Hochachtung und Verehrung Aller, die zu seinen Füßen saßen. Zahlreiche seiner Schüler haben im In- und Auslande einflußreiche und angesehene Stellungen erlangt. Durch Culmann’s Schule gegangen zu sein, galt vielerorts allein schon als Zeugniß technischer Tüchtigkeit. Eine stattliche Zahl wirkt im Sinne ihres Meisters als Lehrer an höheren und niederen technischen Schulen. Unter den zahlreichen Ehrungen, die C. in Anerkennung seiner hervorragenden Leistungen als Gelehrter und als akademischer Lehrer zu Theil wurden, sei nur die eine erwähnt, daß ihm im J. 1880 von der philosophischen Facultät der Zürcher Universität der Doctortitel honoris causa verliehen wurde.

C. verschied, 60 Jahre alt, im Schooße seiner Familie am 9. December 1881 an den Folgen einer Lungeninfection, die er sich wahrscheinlich auf einer im Herbste dieses Jahres nach Constantinopel unternommenen Reise zugezogen hatte. Er hinterließ eine Wittwe, zwei Söhne und eine Tochter. Seine wohlgelungene Büste schmückt das Treppenhaus des Zürcher [574] Polytechnikums, den Zugang zu der Stätte seiner ein Vierteljahrhundert umfassenden Lehrthätigkeit.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jean-Victor Poncelet (1788–1867), französischer Mathematiker, Ingenieur und Physiker.