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ADB:Schiff, Moritz

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Artikel „Schiff, Moritz“ von Julius Richard Ewald in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 8–11, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schiff,_Moritz&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 07:11 Uhr UTC)
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Schiff: Moritz Sch. gehörte zu der Zahl der hervorragenden Physiologen, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Physiologie als selbstständige Wissenschaft und als experimentelle Grundlage für alle medicinischen Forschungen begründet haben. Wenn sein Name in Deutschland vielleicht weniger in weiten Kreisen bekannt ist, als der anderer Physiologen, denen er keineswegs an Bedeutung nachsteht, so hat dies einen doppelten Grund. Erstens hat Sch. nur im Auslande gewirkt, Italien, Schweiz, und die meisten seiner Schriften italienisch oder französisch publicirt. Zweitens befand er sich in einem gewissen Gegensatz zu der physikalischen Richtung in der Physiologie, die, hauptsächlich durch Helmholtz und du Bois-Reymond vertreten, mit ihren großen und vielfach blendenden Erfolgen hervortrat und das Interesse für den Fortschritt auf anderen Gebieten der Physiologie in Deutschland nicht recht aufkommen ließ. In den anderen Ländern, wo die bedeutendsten Vertreter der Physiologie der biologischen Richtung angehörten, lagen daher die Verhältnisse für Sch. viel günstiger. Hier wurden seine Arbeiten von den weitesten medicinischen Kreisen studirt und bewundert und von den gelehrten Gesellschaften und Akademien durch Preise und andere Ehrungen anerkannt.

Sch. war ein sehr selbständig und originell denkender Geist und in vielen Zweigen seiner Wissenschaft Autodidact. Er ist daher auch nie Schüler im strengen Sinne des Wortes eines anderen Physiologen gewesen. Nur an Magendie und Longet in Paris schloß er sich enger an, und diesen beiden Männern bewahrte er auch sein ganzes Leben hindurch große Verehrung und Dankbarkeit. Mit Matteucci, Moleschott und Valentin hat S. viel verkehrt, doch waren es mehr freundschaftliche als wissenschaftliche Beziehungen, die ihn mit diesen Physiologen verbanden.

[9] Sch. war auch nie Assistent an einem Institut. Die geringste Beschränkung seiner wissenschaftlichen Freiheit wäre für ihn unerträglich gewesen. So ist er stets seinen eigenen Pfad gewandelt, gesondert von der großen Heerstraße, aber zielbewußt und unbekümmert um das Urtheil der Menge. Andere lassen sich durch Einzelne oder vom Strom der Vielen fortschieben. Sch. arbeitete sich allein vorwärts, hat aber dennoch sehr oft die Menge gezwungen, ihm auf seinem ursprünglich einsamen Wege zu folgen. Sein Fleiß war ohne Gleichen. Er arbeitete und forschte von der frühesten Morgenstunde bis spät in die Nacht hinein, kaum Zeit sich lassend für die Mahlzeiten. Ein Grundprincip seiner Forschungsmethode lag in der Wiederholung der Versuche. Wo Andere mit wenigen Versuchen auszukommen glauben, machte er lange Versuchsreihen. Dies ist gewiß eine gute Methode, denn sie schließt die Zufälligkeiten, die durch die individuelle Beschaffenheit des Versuchsthiers und den nie ganz gleichen Ausfall der Operation, das Resultat trüben, mit desto größerer Sicherheit aus, je öfter die Versuche wiederholt werden. Aber zur Ausübung dieser Methode gehört eine Ausdauer, wie sie nur der hat, der mit der Begeisterung des wahren Forschers sich der Wissenschaft opfert. Und das hat Sch. während seines ganzen Lebens gethan.

Sch. wurde am 28. Januar 1823 in Frankfurt a. M. geboren. Er starb am 6. October 1896 in Genf. Sein Vater hatte den Sohn für den Kaufmannsstand bestimmt. Doch gelang es dem Letzteren, den Widerstand des Vaters zu besiegen und die Erlaubnis zum Studium der Naturwissenschaften, speciell der Medicin, zu erlangen. Er studirte 1840–44 unter Tiedemann in Heidelberg, unter Johannes Müller und Lichtenberg in Berlin, unter Rudolf Wagner in Göttingen. Hier doctorirte er auch im Januar 1844 mit der Arbeit: „De vi motoria baseos encephali inquisitiones experimentales“. Nach Absolvirung des Examens ließ er sich nun zunächst als praktischer Arzt in Frankfurt nieder. Hier reducirte sich freilich die ärztliche Praxis auf äußerst wenig. Dagegen wurden Experimentalstudien mit größtem Eifer betrieben. Mehrere Jahre war Sch. auch wissenschaftlicher Mitarbeiter für Ornithologie am Senkenbergianum und hielt zeitweise Vorträge für eine Privatvereinigung von Aerzten. Berühmt wurde damals eine Begebenheit, die für Schiff’s originellen Geist charakteristisch ist und deshalb kurz angedeutet sei. Ein bekannter Magnetiseur, Regazzoni aus Como, trat in Frankfurt auf und versetzte durch gewisse Proceduren sein Medium – eine junge Dame – in einen Schlafzustand, in dem sie absolut empfindungslos sein sollte. Er forderte das Publicum auf, sich durch Versuche von der völligen Empfindungslosigkeit zu überzeugen. Und in der That, die junge Dame reagirte in keiner Weise auf Kneifen, Stechen oder Brennen. Auch Sch. trat heran. Er hatte einen lebenden Frosch in der Tasche und ließ diesen unbemerkt in den Busen der decolletirten Dame gleiten. Als diese aber das Zappeln des feuchten, kalten Frosches auf der Haut spürte, sprang sie mit einem lauten Schrei: „Una bestia, una bestia!“ auf und lief davon. So wurde der Schwindler entlarvt. – Später fand Sch. auch die wissenschaftliche Erklärung des sogenannten Geisterklopfens. Manche Menschen können eine Sehne über den Fußknöchel springen lassen und auf diese Weise, ohne den Fuß zu bewegen, einen Ton erzeugen.

Erst im J. 1855 versuchte Sch. in die akademische Laufbahn zu gelangen, indem er sich in Göttingen zur Habilitation meldete. Da er aber der revolutionären Armee in Baden als Arzt Dienste geleistet hatte, so wurde ihm die venia legendi verweigert, weil „seine Lehren der Jugend gefährlich“ seien. Er wandte sich nach Bern, und es gelang ihm, hier festen Fuß in der Wissenschaft [10] zu fassen. Von 1856–63 bekleidete er in Bern eine Professur für vergleichende Anatomie. Aber in das richtige Fahrwasser kam Sch. doch erst durch seine Berufung 1863 nach Florenz als Professor am Istituto di Studii Superiori. Hier finden wir ihn auf der Höhe seines wissenschaftlichen Lebens. Leider wurde ihm dieses sonst so glückliche, auf seine Person und auf seine wissenschaftliche Thätigkeit so günstig einwirkende Heim in der Mitte der 70er Jahre durch eine systematisch geleitete und mit frivolem Fanatismus durchgeführte Agitation gegen seine Vivisectionen gründlich verleidet. Die Bewegung ging von den in Florenz lebenden Engländern aus, und Sch. durfte hoffen, bei den zuständigen Behörden Schutz zu finden. Als dieser aber ausblieb, entschloß er sich kurz und folgte 1876 einem Rufe als Professor der Physiologie nach Genf, wo er bis zu seinem Lebensende blieb.

Schiff’s wissenschaftliche Arbeiten sind seinem unermüdlichen Fleiß entsprechend außerordentlich zahlreich. Ihr Inhalt ist immer mit originellen Gedanken durchsetzt und auch in der Ausdrucksweise geistreich. Er ist immer im höchsten Grade anregend und hat daher, neben großer Bewunderung, auch häufig heftigen Widerspruch hervorgerufen. Man kann Schiff’s Schriften nicht gleichgültig aus der Hand legen, entweder muß man für ihn oder gegen ihn sein. Und darin liegt zum Theil der Grund dafür, daß sie auf so weite Kreise der Medicin, nicht nur auf die Physiologie, befruchtend eingewirkt haben und es noch lange thun werden.

Wir können hier nur einige wenige von Schiff’s Arbeiten erwähnen. Nur die als bedeutsamst zu bezeichnenden. Was lehren sie? Die Schilddrüse kann nicht aus dem Körper entfernt werden, ohne daß die heftigsten Störungen auftreten, die unter gewöhnlichen Umständen zum Tode führen. Aber durch Einpflanzen einer fremden Schilddrüse in die Bauchhöhle kann man das Thier am Leben erhalten. Dies ist die Grundlage für die chemische Theorie der Wirkungsweise dieses merkwürdigen Organs und der Gegenbeweis für die nervöse Theorie. Von diesen Versuchen ist die Organotherapie ausgegangen.

Die Musculatur ist als solche direct reizbar. Weder die Nervenfasern, welche an die Muskeln herantreten, noch die letzten Nervenverzweigungen, die sich innerhalb des Muskels befinden, sind zur Auslösung einer Contraction nothwendig. Schlägt man auf den Muskel mit einem Stab, so entsteht die idiomuskuläre Contraction in Form eines Wulstes, der genau der getroffenen Stelle entspricht und nicht über diese hinausgeht.

Im Rückenmark gibt es Bahnen (Hinterstränge), welche nur das Tastgefühl, nicht aber auch das Schmerzgefühl zum Gehirn leiten. Andere Bahnen dienen nur dem Schmerzgefühl und nicht dem Tastgefühl zur Uebermittlung. Das Schmerzgefühl kann also nicht einfach als ein übermäßig gesteigertes Tastgefühl gedeutet werden. Theilweise Durchschneidungen des Rückenmarkes können dahin führen, das ein Hund an den Hinterbeinen wohl eine leise Berührung wahrnimmt, aber auch bei stärksten Reizen keinen Schmerz empfindet.

Die bei Reizung der Großhirnrinde auftretenden Bewegungen sind Reflexbewegungen. Centraltheile im eigentlichen Sinne des Wortes sind immer unerregbar für künstliche Reize. So ist auch die graue Substanz im Rückenmark unerregbar. Wenn man die Gehirnrinde reizt, so wirkt man nicht direct auf irgend welche Centren, auf motorische oder sensible, sondern man erregt sensible Fasern, die zu den motorischen Centren führen.

Sehr viel hat sich Sch. mit den Gefäßnerven und deren indirecter Wirkung auf die Temperatur der von ihnen versorgten Körperabschnitte beschäftigt. Er entdeckte, daß auch unabhängig von den Nerven der Arterientonus einen selbstständigen Rhythmus besitzt und beschrieb diese Erscheinung, die er am Kaninchenohr [11] gefunden hatte, unter dem Titel: „Sur un coeur artériel accessoire dans les lapins“.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, in welch fundamentaler Weise die Arbeiten Schiff’s zum Ausbau der Physiologie beigetragen haben. Glücklicherweise sind sie jetzt leicht zugänglich geworden, nachdem Alex. Herzen durch ihre Gesammtausgabe (Moritz Schiff’s gesammelte Beiträge zur Physiologie, in 4 Bänden. Lausanne, B. Benda 1894–98), die Sch. selbst durch viele Anmerkungen und Zusätze vervollständigte, der Wissenschaft einen großen Dienst geleistet hat.

Von Schiff’s Publikationen, welche er in Buchform erscheinen ließ, sind zu erwähnen: „Untersuchungen über Zuckerbildung in der Leber“, Würzburg 1859; „Lezioni di Fisiologia sperimentale sul sistema nervoso encefalico, compilate dal Dott. P. Marchi“, Firenze 1865; 2. Aufl. 1873. Ferner: „Leçons sur la Physiologie de la digestion, rédigées par E. Levier“, Florence et Turin 1867; „La Pupilla come estesiometro“, Firenze 1875 (traduction française chez Ballière, Paris). Und schlieslich das wichtigste dieser Bücher, zugleich sein erstes: „Lehrbuch der Physiologie des Muskel- und Nervensystems“, Lahr 1858–59. Hier hat Sch. nicht nur mit bewunderungswürdiger Vollständigkeit alles zusammengestellt und kritisch gewürdigt, was damals über die Muskeln und Nerven bekannt war, sondern auch die Ergebnisse einer eigenen experimentellen Bearbeitung dieser weiten Gebiete gegeben. Auf jeder Seite dieses schon lange vergriffenen Buches findet man neue Thatsachen und neue Ideen. Es ist ein „Meisterwerk ersten Ranges heute noch und eine wahre Fundgrube wissenschaftlicher Schätze“, wie Nothnagel 1893 treffend gesagt hat.