Am Eingange des Vierwaldstättersees

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Autor: V. Bl.
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Titel: Am Eingange des Vierwaldstättersees
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 312–314
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Am Eingange des Vierwaldstädtersees.
Etwas für die kommende Reisesaison.

Der Sommerverkehr in der Schweiz gruppirt sich hauptsächlich um die zwei schönsten Seen derselben, den Genfersee und den Vierwaldstädtersee. Es wird ewig ein unausgemachter Streit unter den Schweiz-Touristen bleiben, welcher dieser Seen der reizvollere sei, denn die Entscheidung ist reine Geschmackssache. Da ist nicht die Rede von einem Mehr oder Weniger der Schönheit: die Art der Schönheit bildet das Streitobject. Man würde ebenso erfolglos streiten, ob ein schöner Mann oder ein schönes Weib im Punkte der Schönheit höher stehe. Praktisch dürfte jene Frage für die nächste Zeit zu Gunsten des Vierwaldstädtersees entschieden werden, und zwar durch die Gotthardbahn und die projectirte Arlbergbahn. Für die Arlbergbahn würde allerdings nur in Betracht kommen, daß dieser See der nähere ist, aber für den Gotthardbahnverkehr wird er geradezu den Centralpunkt bilden.

Den Schlüssel zu diesem wunderbaren Gewässer, das wie ein seltsam gebrochenes Kreuz in die riesige Alpenwelt der Urschweiz hinabgedrückt ist, stellt Luzern dar, und in Luzern wird die Direction der Gotthardbahn ihren Sitz nehmen.

Die Lage Luzerns ist in ihrer Art unvergleichlich. Flach hingelagert, das niedrige Bergland der Vorschweiz hinter sich, wird die Stadt rechts und links von je einem Alpenriesen flankirt, hier dem Rigi, dort dem Pilatus; vor sich hat sie den grünen See, der ein Stück hin seine beiden Kreuzarme hinter den Pilatus und vor den Rigi schiebt, und über das Seepanorama erhebt sich zwischen letzteren beiden der massige Zug des Bürgenstocks, dem die Häupter einer immer gewaltiger sich aufreckenden Alpenwelt über die Schulter blicken. Der Rigi ist ein breiter, dicker, bequemer Patron, ein gutmüthiger Riese; freundlich leuchten die hellen Culmhäuser von dem sanft rundlichen und übergrünten Koloß hernieder, und ein blau aufschwebendes Wölkchen mahnt an die kecke Bahn, welche ihm den Leib überschnürt hat. Dort oben genießt der Glückliche, Wetterbegünstigte das berühmte, unbeschreibliche Panorama; dort lagert sich's so gemüthlich auf dem kurzen Almrasen; vielleicht hat selbst der Juli droben noch ein grau-überkrustetes Schneebett bewahrt, aus dem eine lustige Gesellschaft das Material zu einem Schneeballkrieg im Sommer nehmen kann. Anders der Pilatus, der locale Wetterzauberer mit der energisch geschnittenen Physiognomie und dem kahlen Scheitel: steil, geklüftet und doch compact, gewaltig und trotzig steht er da; zuweilen, wenn die Gewitterballen lebendig werden auf seinem Gipfel, hat er etwas unheimlich Persönliches, und man begreift die Sagenwelt, die sich um ihn gesponnen hat, und das vor Zeiten der Gespenstergefahr wegen erlassene Verbot, den Berg zu betreten.

Unten aber, in der anmuthig saubern Schweizerstadt ist nichts Unheimliches zu finden. Da ist alles luftig, farbenhell und baumgrün; da zieht sich, über der Reuß drüben, am linken See-Ufer eine Hôtel- und Villenpracht hin mit schattiger Seepromenade: der Schweizerhofquai; da ragen die Thürme grauer Stadtmauern und imposante Kirchenbauten, und auf der vielbrückigen grünen Reuß schwimmen zahme Schwäne und tummelt sich die Menge halbgezähmter Wasserhühner mit dem eigenthümlich kurzen Schrei und den wunderlich ausgebogten Schwimmhäuten an den Zehen.

Die Stadt birgt Manches, was für den Fremden der Besichtigung werth ist – in erster Linie das Löwenmonument. Es liegt seitab in der Weggisvorstadt; der Weg führt bei dem Meyer'schen Diorama, in welchem man die Rigi- und Pilatus-Aussicht, gut gemalt, bei effectvoll wechselnder Beleuchtung zum Voraus studiren kann, dann bei dem Staufer'schen Museum ausgestopfter Alpenthiere vorüber. Im kühlen Schatten üppigen Grüns stehen wir vor einem Bassin, hinter welchem eine steile glattgehauene Felswand aufsteigt. Da ruht, von dem Constanzer Meister Ahorn nach Thorwaldsen's Modell in den Sandstein des Felsens gehauen, der Löwe von Luzern, ein Denkmal für die treuen Schweizer des unglücklichen sechszehnten Ludwig's von Frankreich. „Helvetiorum fidei ac virtuti“ steht über der Nische; die Namen der gefallenen Tuilerienvertheidiger sind unter ihr mit Goldschrift verzeichnet.

Ein ergreifendes Bild, dieser sterbende Löwe mit der abgebrochenen Lanzenspitze zwischen den Rippen und dem leisen Ausdruck des Schmerzes im Gesicht, der die Majestät des Gewaltigen erst recht zur Geltung bringt! Rings ist es still; die wenigen Besucher des Denkmals flüstern blos; kühler Wasserdunst webt in dem Schatten, in den sich nur vereinzelte Lichter zu stehlen vermögen, und leise glucksend fallen die Tropfen, welche – nicht ohne Schaden für die am meisten exponirte Partie des Monumentes – vom feuchten Felsen sich lösen, in das Bassin nieder.

Im nahen Gletschergarten kann man die wunderbaren Riesentöpfe, sechszehn Strudellöcher aus der Gletscherzeit, nebst Felsblöcken voll uralter Gletscherspuren betrachten, und ebenda Pfahlbautenreste und das Pfyffer'sche Relief der Urcantone aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts. Reste der bildenden Kunst aus alter Zeit bewahren das Rathhaus, die originelle Capellbrücke über der Reuß nahe dem Bahnhof mit ihren possirlichen Bildern

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Ein Sommerabend in Luzern.
Originalzeichnung von Ernst Heyn.

[314] in den Dachgiebelfeldern und die alte Steuerbrücke mit einem Todtentanze. Auch die Kirchen enthalten manches Sehenswerthe, und die Hof- und Stiftskirche, welche in der Woche allabendlich (außer Sonnabends, wo die Vormittagszeit dazu bestimmt ist) ein gewähltes Publicum zu einem Orgelconcert sammelt, bietet außerdem noch etwas Hörenswerthes: denn ihre gewaltige Orgel von neunzig Registern steht mit einer Tonhalle auf dem Kirchengewölbe in Verbindung, durch welches zwei der Stimmen, die Menschen- und die Engelsstimme, ihren Weg nehmen, um, wie von unsichtbaren Chören gesungen, aus der Decke der Kirche herniederzuschweben.

In eine andere Welt versetzt wieder das Zeughaus mit schönen Glasgemälden und der historischen Waffensammlung aus der Glanzzeit des Schweizerruhms, darunter die Rüstung des gefallenen Leopold von Oesterreich und gar ein Geschenk Karl's des Großen, in Harsthörnern bestehend. Die reichen städtischen Bibliotheken enthalten mancherlei handschriftliches Material von wissenschaftlichem Interesse.

Aber all das Sehenswerthe will gar keine rechte Zugkraft üben angesichts des blühenden, lachenden, bewegten Lebens ringsum. Die Luzerner sind gut katholisch, und das eine Zeitlang florirende liberale Element unterliegt wieder stark ultramontanen Einflüssen; aber sie sind ein munteres, lebenslustiges Völkchen, sauber und freundlich, wie ihre Stadt. Nur ist in dem bunten Menschentreiben auf Gassen und Quai schwer zu sagen, wer da Luzerner ist. Wir befinden uns in einem Sammelpunkte von Touristen, Sommerfrischlern und Badegästen, und diese fremden Elemente sind im Grunde die anziehenderen für das Auge. Da begegnen sich die originellen Trachten des Landvolks aus den Nachbarcantonen in ihrer verwirrenden Mannigfaltigkeit mit der bequemen Reisetracht der englischen Lady und der großen Toilette ständiger weiblicher Hôtelgäste; da wandert der nach allen Regeln der Bergsteigekunst equipirte französische Alpenbummler neben dem einfachen deutschen Gymnasiallehrer, der sein Nöthigstes im schlichten Umhängetäschchen mit sich führt; da plaudert, lispelt, schnattert und schnarrt es in allen civilisirten Sprachen besonders von den Lippen sehr junger Ehepaare, welche in sonnigster Honigmondstimmung ganz unverkennbar ein großes Contingent der fremden Besucher stellen.

In später Nachtstunde sammelt sich das Alles noch einmal zur Ankunft des letzten Dampfers auf der Promenade des Schweizerhofquais, und das giebt dann ein Bild ab, wie die beigefügte Zeichnung Meister Heyn's es den Lesern vor Augen stellt. Welch ein zauberhafter Genuß ist das, in lauer Sommernacht, im Mondschein an der blitzenden Wasserfläche auf und nieder zu promeniren, wenn der abendliche Bergduft über die Fläche schwebt und die Bergriesen in schimmernde Schleier hüllt!

„Er kommt!“ heißt es endlich, und da biegt der Dampfer von Weggis her in das Kreuz des Sees ein; nur langsam verringert sich die Entfernung. Leider hat sich die Wolkenwucht, die schon seit dem Nachmittage auf dem Pilatus gebraut, in flockiger Auflösung inzwischen weiter und weiter über den Himmel geschoben.

„Es wird morgen Regen geben!“ sagt eine Stimme.

„Um's Himmelswillen, es wird doch nicht? Das wäre zu schrecklich. Ein paar Tage nur am Vierwaldstädtersee, und dabei Regen!“

Aber da hilft kein Klagen und Jammern: ein Luzerner hat es gesagt, und die kennen ihren Pilatus.

V. Bl.