Bilder aus den deutschen Alpen/2. Kirchfahrt auf oberbairischem Gebirgssee

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Autor: Karl Stieler
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Titel: Kirchfahrt auf oberbairischem Gebirgssee
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 171–174
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bilder aus den deutschen Alpen.

Nr. 2. Kirchfahrt auf oberbairischem Gebirgssee.

Flocken wirbelten, ich saß im Pelzmärtelcostum auf einem Bauernschlitten und eilte von München aus den Bergen zu.

„Welcher Unsinn!“ seufzte die alte Tante, als ich von dannen ging. Sie frug mich nicht lange: wohin? und wenn es der Leser thut, bin ich bei Gott in Verlegenheit. Denn wer mitten im Januar und mitten im Schneegestöber auf einer Landstraße fährt, dem vergeht alle Geographie. Die Landschaft bekommt etwas so Utopisches, etwas so Verflachtes und Verallgemeinertes, daß man glauben könnte, man sei überall und nirgends. Alles Individuelle wird zugeschneit, alle Eigenthümlichkeit steckt im Nebel. Wüßt’ ich es nicht, daß hinter Holzkirchen die Berge stehen, gesehen hätt’ ich sie nimmermehr; und wären nicht die blauweißen Wegzeiger ganz officiell im Graben gestanden, so hätt’ ich dies weite Blachfeld dem Czaarenreiche zugewiesen. – Wie gesagt, die Gegend hat etwas unbestreitbar Sibirisches, und wer dort den Bauern betrachtet in seiner weißen Wolldecke, welcher eben „Guten Abend“ brummt, der glaubt auch an Eisbären.

Der Bauernschlitten fuhr gen Tegernsee, – ich auch. Selten zog ein Wanderer oder ein Gefährt an unserm Schlitten vorbei, nur ein flinker Einspänner machte eine dankenswerthe Ausnahme. Aus dem Pelzmagazin in seinem Innern winkte eine Hand mit flüchtigem Gruße, und das ist eine Hand, die viel Gutes thut. Es war der wohlbekannte hochverdiente Aesculap dieses Thales.

Manchmal war der Kutscher in Gedanken vertieft, aber das merkte ich immer erst, wenn wir umgeworfen hatten. So alle Stunden kam es einmal vor, wie eine regelmäßige kühlende Medicin, und als ich bei „Guggemos“ absteigen wollte, rollte ich direct zur Thür hinein.

Wohl mancher der freundlichen Leser kennt das „Hotel zum Guggemos“ in Tegernsee aus eigener Anschauung. Aber jetzt schaut es sich anders an, als in den Sommertagen, wo die fremden Herren auf der Bank vor dem Hause mit den Beinen baumeln und ihren Bädeker studiren, während die Dämchen drinnen durch Toilette glänzen. Jetzt sieht man keinen Bädeker und keine Toiletten vor dem Haus und ich glaube – nicht einmal die grüne Bank.

Es war Abend geworden und ich trat ein in’s Herrenstübchen. Ueber dem blanken Tisch hing die Petroleumlampe, die sich so siegreich wie keine andere Entdeckung in unseren conservativen Bergen verbreitet hat. Hier waren die „Herren“ versammelt, und die Hunde der Herren krabbelten unter dem Tisch herum und machten mir ihr Compliment. Da sah ich den „Cäsarl“ wieder und den „Kuno“ und „Bausen“, den mir zürnenden Dachshund. Die Gebieter aber, die wohlbekannten, schüttelten mir die Hand, und das war ein freudiger und freundlicher Willkomm für mich.

„Nun, was treiben Sie immer?“ hieß es auf beiden Seiten, [172] und als das Register der Todten und der Lebendigen erschöpft, als die Wahlen zum Zollparlament erörtert waren, da trat eine tiefe Pause ein. Wenn der „Tarok“ nicht wäre, dann würden die Berge noch viel einsamer sein, und manchmal hörte man nichts als das Fallen der Karten und die tiefen Athemzüge derer, denen es schmeckte. Ohne Eile „ging der Engel durch’s Zimmer“, und wenn ich ein altdeutscher Maler wäre, dann würd’ ich seine Gestalt im Hintergrunde zeichnen, etwa neben jener der liebenswürdigen Wirthin.

Das Leben der Eingebornen, das echte Bauernleben ist im Winter ein ungeheuer abgeschlossenes, zurückgezogenes. Die Arbeit der Frauen liegt im Hause und die Männer begeben sich zu dieser Zeit in die tiefste Wildniß der Berge, um das Holz aus Schlitten herauszuschaffen.

Ohne Zweifel ist der Schlitten das wichtigste Fuhrwerk von allen, im Gebirge. Nicht nur weil der Winter dort acht und der Sommer blos vier Monate dauert, sondern weil er selbst im Sommer nie ganz in Urlaub kommt. Von den steilen Wiesenhängen, wo die Mäher fast lebensgefährlich stehen, wird das Heu im Schlitten herabgebracht. Auch der Hirsch, der im sommerlichen Hochwald erlegt wird, kommt also’ zu Thale, und die breiten niedrigen Schlitten, die quer mit Tannenästen bedeckt werden, heißen geradezu Hirschschlitten, Im Winter, wo die ungeheuren Schneemassen die Unebenheiten des Terrains ausgleichen, werden die meisten Theile des Berges dem Transport erst zugänglich. Tausende von Klaftern, die nicht das Wasser unentgeltlich spedirt, führt der Schlitten ihrer Bestimmung entgegen. Bei kleineren Lasten und auf steileren Wegen ist keine Bespannung möglich. Kutscher und Pferd besteht in derselben Person, und zum Einhalten hat man die sogenannten „Sperrtatzen“, die sich wie eiserne Krallen in den Boden wühlen. Trotzdem kommt durch Ueberstürzen manches Unglück vor, und Mancher ward geschleift oder zerschnitten von den eisernen Beschlägen.

Zum Personentransport sind vor Allem die kleinen sogenannten „Beinschlitten“ üblich, bei welchen statt der Eisenbeschläge glatte Knochen aufgesetzt werden. Sie haben ein Sitzbrett in der Höhe von drei Fuß, aber ohne Lehne und werden geritten, indem zwei eisengespitzte Stäbe zugleich die Richtung und die Bewegung geben. Auf diesen „Boanlschlitten“ hält die „reifere Jugend“ bisweilen Wettrennen ab, wobei es nicht nur Gewinnste, sondern auch Verluste – von großen Zehen und kleinen Fingern und anderen nützlichen Dingen giebt. Denn der Boanlschlitten wirft gerade so gut ab, fällt ebenso schön in die Grube und geht gerade so leicht durch, wie das kostbarste englische Rennpferd. Auch die bausbackigen oberbairischen Jockeys sind auf ihre Virtuosität genau so stolz, wie der athemlose ausgehungerte Lenker des Gladiateur.

Dieser Corso der Boanlschlitten ist eine Hauptunterhaltung an jenen einsamen Winterstätten, wo die Rubrik „Vergnügen“ noch nicht besteht, wo es keine „öffentlichen Lustbarkeiten“ giebt und manche Ortschaften wenigstens in Bezug auf das Amüsement ganz der Selbstverwaltung überlassen sind.

Bei Weitem malerischer, und vielleicht darum seltener, sind indeß die niedrigen Schlitten, die aber nur an manchen oberbairischen Seen gebraucht werden und die der Fahrende aufrecht leitet statt rittlings zu sitzen. Sie sind meist von beschränkterem Umfang, höchstens für ein Paar gebaut, und wenn dies ein „zärtliches Paar“ ist, so wird es wohl sehr mit solcher Bauart einverstanden sein.

Auch das Schlittenrecht, welches bekanntlich in einer Naturalleistung (in einem Kuß) besteht, kommt im Gebirge fleißig zur Anwendung und dehnt sich ohne Zweifel auch auf diese niedrigste Form des Schlittens aus.

Ganz besonders ist dieselbe (die Form, nicht die Naturalleistung) auf dem Staffelsee zu Hause und reicht selbst nach Osten bis auf den Chiemsee herüber. An den Seen, die tiefer in den Bergen liegen, beim Tegernsee, Königs- und Achensee, ist sie viel seltener.

Das ist nun freilich ein frisches pittoreskes Bild, wenn, wie dies unser Bild darstellt, die elastische Gestalt des verwegenen Burschen sich aufrichtet und über seinen Schützling beugt, wenn die scharfe Luft pfeift und der Mantel im Winde flattert, der blaue Mantel, den schon der Vater getragen hat! Das ist fast eine Luftfahrt und keine Eisfahrt mehr, so kühn ist hier die Stellung, so frei die Bewegung!

Manneslang sind die beiden Dirigentenstäbe, und Gott sei gnädig, wenn das Fuhrwerk aus dem Tact kommt! Lustige Zurufe tönen hier und dort, wo der Schlitten vorübersaust, und das Dirndl denkt sich wohl manchmal: „Mit Einem, der’s so kann, werd’ ich sicher gut fahren.“ Aber ducken muß man sich! –

Nur ausnahmsweise frieren die oberbaierischen Seen schon um Dreikönig zu, wie Heuer, das Entstehen des Eises ist aber stets ein gewaltiger Vorgang, ein revolutionäres Ereigniß, ein Staatsstreich in der Natur. Die Decke bildet sich bei Nacht, und wer drinnen in seinem Bette liegt, der hört ein Ringen und Stöhnen, ein Toben und Heulen, als ob draußen einer gefesselt würde. Am Morgen liegt dann der helle feste Spiegel vor unseren Blicken. Die Gegend bekommt dadurch so etwas Zusammengewachsenes, ein so strammes Gepräge, als ob die Berge förmlich hineingefroren wären in den See.

Ehe man das Eis zu betreten wagt, wird eine Gasse in demselben ausgehauen, in der die Schiffe von einem Ufer zum andern fortgeschoben werden. Dann wandert der erste Leichtfuß über die schwankende Decke, aber manches Opfer liegt zwischen ihm und den vierspännigen Wagen, die zuletzt den mauerdicken Weg betreten. Von den Martertafeln, deren tragikomische Inschriften die Verunglückten besingen, gelten sechszig Procent denjenigen, die im Eise zu Grunde gingen. Auf einer derselben steht folgender Nekrolog:

„Ich, Johann Koch bin im Schlitten gekommen,
Hat das Eiß mich mitgenommen,
Mein sterblicher Leib ist erfroren im Eiß,
Meine Seell verbrennt im Fegfeuer heiß.
Hl. Maria, Bitt für uns!“

Nach seiner Gesammtanlage paßt auch der echte eigentliche Gebirgsländer nicht auf’s Eis. Im Geröll der Felsen, da klammern sich eiserne Muskeln fest, da giebt die massive elastische Gestalt ihm Sicherheit, aber für den glatten bodenlosen Boden des Eises paßt die Art seines Ganges nicht. Darum ist auch die Species Schlittschuhläufer im Hochgebirge wenig verbreitet, und nur die Honoratioren und das Zünglein der Cultur haben hier etwas nachgeholfen. Auch das Eisschießen ist mehr ein Vergnügen der Honoratioren und des Bürgerstandes, als der eigentlichen Bauern. Die Gehöfte derselben liegen meist weit ab vom See, und dann hat der Bauer einen Zug von aristokratischer Abgeschlossenheit. „Mein Haus ist meine Burg“ heißt es auch hier, und er kommt nur herunter zum Herrgott oder zum Bier. Andere Formen des geselligen Bedürfnisses als die Kirche und das Wirthshaus sind noch ziemlich unentwickelt – und andere Formen des Vergnügens als das dolce far niente noch ziemlich unbeliebt. Der Gegensatz zwischen der strengen Arbeit und dem strengsten Nichtsthun ist noch nicht wie bei den Städtern durch die wuchernde Fülle der Passionen, der Liebhabereien, des Dilettantismus ausgefüllt. Die einzige Jagd macht eine Ausnahme; im Uebrigen kann der Bauer nichts als arbeiten und faulenzen, aber Beides auch recht. Diese Entwickelung, diese Extreme von Knechtschaft und Souveränität sind das nothwendige Resultat seiner jahrhundertlangen Leidensgeschichte.

Am Sonntag ist der Bauer ein Herr. Da rüsten sich die Schlitten zur Kirchfahrt und es mag ihm die Andacht wohl leichter werden, wenn er auch sein Mädel aufsitzen läßt. Das Wort: „Ihr sollt den Herren suchen“ ist auf dem Lande von jeher so verstanden worden, daß die Bewohner des linken Ufers auf das rechte in die Kirche gehen und umgekehrt, und so fliegen denn die Schlitten von allen Himmelsrichtungen aneinander vorüber. Da heißt es sicher regieren mit der kühnen Stange, denn wenn zwei solcher Weltkörper aus der Bahn gerathen und zusammenstoßen, dann giebt es blutige Meteore.

Ganz besonders gefährlich sind die kleinen offenen Stellen, da wo sich am Seegrund Quellen finden, die man „Kelchbrunnen“ heißt und die durch die Bewegung das Gefrieren hindern. Wehe Jedem, dem die Sonne oder der tiefe Nebel dies blendende Grab verdeckt, er stürzt mit Sturmeseile in einen unermeßlichen Abgrund. So sind die Kirchenglocken Manchem zum Grabgeläut geworden.

Die meisten Unglücksfälle ereignen sich indessen auf dem Chiemsee, wo auch der Brauch der Kirchfahrt am stärksten in Uebung steht. Grauenvoller noch sind die Tiefen des Königssees

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Eiskirchfahrt auf den oberbairischen Seen.
Nach der Natur gezeichnet von Ph. Sporer.

[174] bei Berchtesgaden, und es mag denen, die zur Nacht nach Bartholomä hinüberfahren, wohl schreckenvoll zu Muthe sein, wenn es stöhnt und kracht und der himmelhohe Watzmann seine Schatten über das blanke Eisfeld wirft. Wir mir erzählt ward, ist auch einst Roß und Wagen hier versunken, als sie des Abends von einem Festschmaus heimkehrten, und nur wie durch Wunder sind der Knecht und die Frauen gerettet worden. Auch am Chiemsee ist Einer entronnen, der meilenlang zwischen Tod und Leben ging. Im März, als der See mit Schnee bedeckt und das Eis darunter schon so mürbe war, daß Niemand mehr es zu betreten wagte, ging ein italienischer Bilderhändler, der keine Ahnung von einem See hatte, schnurgerad auf die Fraueninsel los und trug Gepäck von mehr als einem Centner mit sich. Drüben sahen sie ihn kommen und riefen ihm zu, daß er unter brechendem Eise sei. Es mag wohl ein Henkersgang gewesen sein, bis er die Insel erreichte! –

Was hätte wohl die Tante geseufzt, wenn sie mich bei der Bergpartie auf die Bodenspitze gesehen hätte, bei sechs Fuß Schnee und sechszehn Grad Kälte! – Welcher Unsinn! …

Diesmal war’s blauer Himmel und wir stiegen an der Westseite empor, wo der Berg so steil und felsig ist, daß kein Schnee sich halten kann. Der kommt erst auf der zweiten Etage, auf der Beletage, wo man die schöne Aussicht hat, wo im Sommer der grüne Sammetteppich liegt, statt nackter steinerner Staffeln. Blendend hell lag die Mittagsonne über den weißen Matten, todtenstill lag die Welt im Thal Darunter. Ein Jäger geleitete mich, sonst war kein menschliches Wesen sichtbar; nur die langen tiefgetretenen Spuren des Wildes sah man im Schnee, wo das Füchslein vorbeihuscht und das scheue Birkhuhn flattert. Auch für das Ohr ist es eine grauenhafte Oede. Wenn das Rollen der Steine aufhört, wird es athemlos stille. Der Berggeist schläft. Durch die hundertjährigen Tannen aber fährt der Wind mit kurzen Stößen, und das sind die Athemzüge des Schlafenden – die kolossalen Stoßseufzer der Natur. Andächtig entzückt – demüthig stand ich in diesem winterlichen Tannenwald und horchte. – Wie gebleichtes Greisenhaar hing das lange fahle Waldhaar von den Aesten, und die Aeste stöhnten und streckten sich im Winterschlaf. Wenn dann der. Wind vorüberfuhr, dann wurden alle Töne wach vom feinsten Flötenklang bis zum wilden Posaunenstoß. Jeder Stamm ist ein Glied in der Riesenorgel der Natur, und die Musik, die aus ihr erschallt, ist das ewige Lied vom Werden und Vergehen. Die Tiefe der Jahrhunderte liegt in diesem Gesang – es ist die „neunte Symphonie“ des Waldes.

Droben auf der Spitze machte der Wind die Honneurs und nahm mir Hut und Mantel ab, ehe ich mich’s nur versah. Hier oben sieht man hinunter auf drei Seegebiete, vor Allem auf den Tegernsee, den ein leises Nebelgrau umschleierte. Blau und lustig lachte der Schliersee herüber, aber der Spitzing lag unten wie ein öder melancholischer Gedanke.

Mir war als blickten mich drei Freunde mit verschiedenem Blicke an, und das berühmte Gedicht des Mirza Schaffy von den Augen ging mir durch die Seele:

Ein graues Auge
Ein schlaues Auge,
Des Auges Bläue
Bedeutet Treue,
Aber des schwarzen Aug’s Gefunkel
Das ist, wie Gottes Wege, dunkel.

Der ganze ungeheuere Bergkessel lag da wie ein verschneites Grab, und die Almhütten schauten kaum mit den Dächern hervor. Kein Juhschrei scholl; kein Läuten tönte. Im Sommer ist da unten lustiges Leben, wenn die Matten rings um den schwarzen Bergsee grünen und die Alpenglocken so lieblich klingen. In diesen Tagen entfesseln sich dann die ganzen Wunder der Bergespracht, da liegt die Junischwüle mit ihrem blauen summenden Zauber auf diesen Wäldern, da schaut der Hirsch in die Mondnacht hinauf, und Jäger und Wildschütz schleichen auf heimlichen verschlungenen Pfaden. Lustig flackert vom kleinen Alpenheerd das Heimgartfeuer und der tönende Jodler verhallt in blauen Fernen. Ist dies dasselbe Land? Jetzt giebt es nur zwei Farben in der Natur, das tiefe Schwarz der Wälder und das blendend weiße Schneefeld; die ganze Scala der Nuancen, die milden reichen Stufen des Grünen fehlen. Die Landschaft hat etwas peinlich Schroffes, sie tritt uns entgegen wie ein Mensch, dessen Wesen immer zu den Extremen greift, dem die feingemischten wohlthuenden Mitteltöne fehlen.

Unter uns sauste ein Rudel Gemsen vorüber, die unser Anblick in die Flucht geschlagen. Aber die Flucht war so disciplinirt, so strategisch geschickt, daß sie mancher Compagnie zum Vorbild dienen dürfte.

Früh kamen die tiefen blauen Schatten des Nachmittags und bis an den Hüften im Schnee kletterten wir den Grat entlang, um auf der höchsten Spitze die Feierstunde zu erleben, wo der Tag zum Abend wird, wo die Nacht geheimnißvoll heraufsteigt. Diese Secunden sind die zartesten im Menschenleben, wie im Leben der Natur. Immer schwärzer ward der Spitzingsee, das schwarze Auge, immer enger zog sich das rosenfarbene trügerische Strahlennetz um die Häupter der Berge. Nur noch die obersten Gipfel glühten, sie flehten mit brennender Stirn um den Tag, um das Leben! Dann verzogen sich ihre Züge – auch die Berge haben ein Antlitz und dies Antlitz erbleichte. Nie hab’ ich die Nacht so kommen sehen – ich hielt den Athem an wie vor einem Sterbebette. Ein Raubvogel schwebte gewaltig durch die Dämmerung; fernhin tönte dumpf das Echo eines Schusses aus dem Thale. Durch den verschneiten Berghang stiegen wir hinab über Stämme und Felsblöcke, über Schnee- und Eiswüsten. Hinter den Riesenzinken der Rothen Wand aber klimmte der Mond empor, und der funkelte mit seinem grünen Lichte und blitzte so verführerisch, als wollt’ er sagen: Was ist aller Tag vor meiner Herrlichkeit! Ein Singen und Summen scholl in Felsen und Tannen, daß mir ganz bange ward. Durch jede Mondnacht tönt ein Sirenengesang.

Carl Stieler.