Das Bureau der „todten Briefe“ in Washington

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Titel: Das Bureau der „todten Briefe“ in Washington
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 623
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[623] Das Bureau der „todten Briefe“ in Washington. Von allen gouvernementalen Verwaltungsfächern der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die in Washington ihren Centralpunkt finden, steht keins in so directer, ich möchte fast sagen, intimer Beziehung zu der gesammten Bevölkerung des Landes, wie das General-Postamt. Von ihm aus erstrecken sich in vielfach sich kreuzenden Richtungen mehr als zehntausend Canäle durch den ganzen Continent, nicht allein nach den großen Verkehrsplätzen und Hauptstädten, sondern bis in den bescheidensten Weiler und in die Hütte des letzten Backwoodsmann. Mit der größern Verbreitung der Bildung ist auch der Postverkehr in’s Ungeheuere gewachsen. Der nordamerikanische Bürger fragt wenig danach, ob der Preis eines Pfundes Kaffee um fünf oder zehn Cents steigt, denn er kann zur Noth auch ohne Kaffee leben, aber seine Briefe, mögen diese geschäftlichen oder privaten Inhalts sein, müssen sicher, schnell und billig bestellt werden, wenn es nicht zu ernstlichen Demonstrationen kommen soll. Auch die Zeitungen, welche der Vermittlung der Post bedürfen, sind in Amerika ein allgemeines Bedürfniß geworden, und der Bürger, der sich keine solche hält, wird als außerhalb der Grenzen moderner Civilisation stehend betrachtet. Die Zeitungen gehören zum „täglichen Brod“ von Millionen, und wird durch irgend einen Zufall ihr pünktliches Eintreffen verzögert, so pflegt dies gewiß nicht ohne harte Worte und offene Beleidigungen für den betreffenden Postmeister abzugehen.

Der gegenwärtige General-Postdirector hat sich übrigens durch die vortreffliche Einrichtung der complicirten Maschinerie seines Departements die allgemeinste Anerkennung erworben. Namentlich sind die Maßregeln, sogenannte „todte“, d. h. unbestellbare Briefe (dead letters) an den Absender zurückgehen zu lassen, zweckentsprechend, und ein Besuch in dem „Bureau der todten Briefe“ zu Washington dürfte vielleicht auch für den Ausländer nicht ohne Interesse sein.

In dem ersten Zimmer, das wir unter Führung eines Assistenten des General-Postdirectors betreten, finden wir zwölf bis fünfzehn Beamte hinter ungeheuern Haufen unbestellbarer Briefe, die aus allen Richtungen der Windrose und aus allen Ländern der Welt hier zusammen gekommen sind.

Sie werden hier geöffnet und nach Inhalt und Werth in fünf verschiedene Classen eingetheilt.

Die erste und werthvollste Classe sind die Geldbriefe, welche einen Dollar oder mehr enthalten. Ist ein Brief mit dieser Werthdeclaration geöffnet, so wird der Inhalt geprüft und dann in das Couvert zurückgelegt, auf dem der Beamte mit Beifügung seines Namens den Betrag und die Geldsorte bemerkt. Man registrirt solche Briefe sorgfältig, dann gehen sie in die Hände eines obern Beamten über, dessen Ausgabe es ist, sie an den betreffenden Absender zurückzubefördern und dem betreffenden Postamte die Weisung zur Rückzahlung der Summe gegen Quittung zu geben. Die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, welche auf diese Art von Briefen verwendet wird, ist eine so große, daß jeder an das Hauptpostamt abgelieferte „todte Brief“ an den Absender zurückgelangen muß, wenn sich seine Adresse nur aus irgend einer Andeutung ermitteln läßt. Die täglich auf diese Weise aufgefundene Summe beläuft sich auf durchschnittlich zweihundert Dollars.

Im vergangenen Jahre wurden durch das Bureau mehr als fünfzigtausend Dollars an die Eigenthümer zurückgegeben. Zuweilen umschließt das geöffnete Couvert Gold ohne einen begleitenden Brief, oder was ebenso schlimm ist, der Brief ist ohne bezeichnende Unterschrift. In solchem Falle wird ein nochmaliger Versuch gemacht, den Adressaten aufzufinden, und schlägt auch das fehl, so deponirt man das Geld bei dem Haupt-Postamte zur Verfügung des sich etwa später meldenden rechtmäßigen Eigenthümers.

Die zweite Classe unbestellbarer Briefe ist unter dem technischen Ausdrucke „minors“ begriffen. Sie enthalten Anweisungen, Versicherungspolicen, Wechsel, Pfandbriefe und andere Papiere, welche einen Geldwerth repräsentiren, sowie Gegenstände verschiedener Art, z. B. Schmucksachen, Bilder u. s. w. Alle Briefe dieser Classe werden in ihre Couverts zurückgelegt, sorgfältig registrirt und einem andern Bureau zur Rückbeförderung an den Absender zugewiesen.

Die dritte Classe von Briefen enthält geringere Summen als einen Dollar, Muster, Empfangsbescheinigungen u. s. w., und diese werden nicht einzeln registrirt – aber ein Beamter ist ausschließlich damit beschäftigt, sie an ihre Absender zurück zu expediren.

Der vierten Abtheilung gehören Briefe an, welche keine Werthgegenstände enthalten, aber so unterzeichnet sind, daß man den Absender auffinden kann. Die Postverwaltung geht dabei von dem Grundsatze aus, daß Jeder gern das aufgelaufene Porto zahlt, um seine verlorenen, wenn auch unwichtigen Briefe wieder zu erhalten und damit zugleich die Gewißheit, daß der Adressat sie nicht empfangen hat. Sie bleiben, wie die Werthbriefe, zwei Monate in der Local-Postexpedition liegen, gehen nach Ablauf dieser Zeit an das General-Postamt zu Washington und werden von hier ab gegen Erlegung des doppelten Porto dem Absender zugestellt. Die Zahl dieser an und für sich werthlosen „todten“ Briefe belaufen sich im Durchschnitt täglich auf 5–6000.

Ebenso groß ist die Zahl der fünften und letzten Classe, nämlich solcher Briefe, deren Absendungsort und Absender sich weder aus der Unterschrift und dem Inhalte, noch aus dem Poststempel entziffern lassen. Diese Briefe werden in eine Stampfmaschine gebracht, die sie unleserlich macht, und dann an die Papiermühle verkauft. Im Ganzen sind dreißig Officianten mit dem Oeffnen und Zurücksenden sogenannter „todter“ Briefe beschäftigt. Sie expediren täglich im Durchschnitt 12,000 Stück – jährlich also mehrere Millionen.

Der Grund, daß so viele Briefe ihre Adresse nicht erreichen, liegt zum Theil in der Ruhelosigkeit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, in dem schnellen Wechsel des Aufenthaltsortes, zum Theil in schlecht geschriebenen Adressen, zum Theil aber auch in der großen Anzahl gleichnamiger Städte und Orte – es giebt z. B. 150 Jacksons in der Union – und in den oft angebrachten Abbreviaturen bei der Bezeichnung der Staaten. Es giebt z. B. sieben Staaten, welche mit dem M anfangen: Maine, Massachusetts, Maryland, Michigan, Minnesota, Missouri und Mississippi, und eine undeutliche Abbreviatur derselben kann leicht die Ursache werden, daß der Brief Tausende von Meilen in falscher Richtung befördert wird.