Der Vierfingrige

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Autor: Eduard Engel
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Titel: Der Vierfingrige
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–28, S. 458–463, 478–483
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[458]

Der Vierfingrige.

Eine Erzählung von Eduard Engel.

Jetzt thu mir den Gefallen, kleiner Hans, und sitze mal eine Weile still! Deine nervöse Zappelei ist nicht länger zu ertragen!“ –

Der dies sprach und dabei den also Angeredeten mit einer Art von komischer zärtlicher Wuth in die Sofaecke drückte, war reichlich einen Kopf kleiner als der langaufgeschossene, schmächtige „kleine Hans“, aber um so breiter in den Schultern, höher in der Brust, strammer in Haltung und Bewegung. Unverkennbar war er Militär gewesen; der Ton seiner Stimme klang selbst hier zu Hause, in Gegenwart seiner kleinen zarten Frau, wie gedämpfter Befehl vor der Front. Und der „kleine Hans“ gehorchte, halb erschöpft, halb mit lachender Gegenwehr. Er befand sich offenbar in jenem Zustand zitternder Erregung, die durch ihre Dauer und ihr Uebermaß in Abspannung umzuschlagen droht.

„Gut, Richard, ich halte ganz still, nur möchte ich – – endlich einen vernünftigen Tropfen trinken!“ sagte der „kleine Hans“.

„Daß ich daran nicht gleich gedacht habe!“ rief entschuldigend die Frau Polizeihauptmann, Evchen Farne, und wollte zum Zimmer hinaus.

„Hiergeblieben, Evchen!“ kommandirte der Hauptmann. „Du bist imstande, dem Jungen einen Kaffee zu bringen, und davon kann unter obwaltenden Umständen keine Rede sein.“

„Aber –“

„Kein Aber, Hauptmännin! Im Namen des Gesetzes: Du schickst die Minna sofort hinüber ins Domhotel: der Hauptmann Farne läßt sich empfehlen und bittet um eine Flasche Pommery mitsammt Eiskübel. Hans braucht nach der Geschichte so ein Mittelding zwischen Besänftigendem und Anregendem, und beides steckt in dem Pommery“.

„Um diese frühe Stunde Champagner?“ warf jetzt auch Hans, der jüngere Bruder, ein mit einem Blick auf seine Uhr; „es ist ja erst halb Sieben.“

„Na, ein bißchen später ist es hier in Köln doch schon. Hast wohl noch Pariser Zeit? – Aber das macht keinen Unterschied, es bleibt beim Champagner. Wirst mir’s danken. Uebrigens ist’s für mich schon sehr spät, denn Du hast mich ja um drei aus dem Federnest geweckt, Evchen hat seitdem auch keine drei Augen voll Schlaf mehr gehabt – na und Du?“

Hans wollte famos geschlafen haben im Eisenbahnwagen, aber sein Bruder kannte ihn besser. „Bis der Kübel kommt, kannst Du uns schon ein gut Stück der verrückten Geschichte erzählt haben. Bis heute nachmittag um zwei will der Polizeipräsident meinen Bericht haben – also los!“

Und Hans begann:

„Schon auf dem Wege zum Nordbahnhof in Paris –“

„Halt, Hänschen!“ unterbrach ihn der Bruder, „so wird’s nichts. Dies ist weder Rapportstil, noch Erzählstil. Erst möchte ich wissen, warum Du hierher gekommen bist. Bitte, mich nicht mißzuverstehen. Bist mir natürlich von Herzen willkommen, mir und der kleinen Frau; aber bis zu dieser Stunde habe ich keine Ahnung, was Dich herführt. Oder pfuschst Du mir ins Handwerk und bist etwa dem Millionenhalunken von Paris bis nach Köln nachgefahren?“

Aber da kam lachend Hauptmanns Minna mit dem eisgefüllten Kübel herein, aus dem der weißköpfige Pommery sehr vergnügt hervorguckte. Schnell waren die Gläser gefüllt, geleert, wieder gefüllt, und Hans begann:

„Gestern früh um diese Stunde hatte ich von dem Millionenhalunken und davon, daß ich in vierundzwanzig Stunden bei Euch sein würde, keine Ahnung. Aber so gegen neun Uhr fing der Rummel an. – Doch ich sehe, Du verstehst noch nicht. Schadet auch nichts. Kannst trotzdem zu Deinem Rapport ausholen.“

Der Polizeihauptmann zog sein Taschenbuch, spitzte den Bleistift und lauschte. Evchens neugierige, schon gar nicht mehr verschlafene Augen hingen an des Schwagers Lippen.

„Also da ist nun erstlich mal der Krach im Comptoir d’Escompte. Von dem habt Ihr wohl auch gehört, Kinder?“ fragte Hans.

„Selbstverständlich,“ erwiderte Richard; „habe auch gleich an Dich gedacht; aber Du schriebst ja noch vor acht Tagen, Deiner Stellung könne der Krach nichts anhaben.“

„Ja, das schrieb ich damals; aber die Todten reiten schnell. Seitdem hat es munter weiter gekracht, und aus den fünfzehntausend Franken, die ich mir in den sechs Jahren als deutscher und englischer Korrespondent im Kabinet des Direktors erspart hatte, sind heute rund tausend Franken geworden, und allenfalls langt es noch zu einer zweiten Flasche Pommery. Hier siehst Du meine ganze Habe“, – dabei holte er aus einem Visitenkartentäschchen eine einzige zusammengefaltete Tausendfranknote. „Das wundert Dich? Wenn man heutzutage Kupferaktien versilbern muß, kommt nicht mehr heraus. ‚Alles ist weg, weg, weg!‘ ganz wie mir heute nacht die Eisenbahnräder in die Ohren höhnten. Was ist heute für ein Tag?“

„Sonnabend – heiliger Eberhard,“ sagte Richard geschäftsmäßig.

„Und gestern Freitag, natürlich ein Freitag! Und da sage noch einer, man solle nicht abergläubisch sein. Komme ich da gestern morgen wie gewöhnlich gegen halb zehn Uhr vors Comptoir d’Escompte in der Rue Bergère. Am Abend zuvor war ich mit dem Subdirektor und dem ersten Kassirer im Theater der Porte St. Martin gewesen, hatte spät Abendbrot gegessen, war mit den Herren bei schönem Frühlingswetter noch einmal die Boulevards auf- und niederspaziert und dann erst gegen ein Uhr zu Bett gegangen. Ich hatte dann unruhig geschlafen – der Kurssturz der Kupferaktien hatte mich doch schmählich geärgert – und so war ich verdrossen und verschlafen, wie ich die Treppe zum ersten Stock des Bankgebäudes hinaufstieg. Erst auf der obersten Treppenstufe sah ich einen höheren Polizeibeamten stehen, so eine Art Pariser Kollegen von Dir, und rechts und links je zwei Sergents de ville, die mir den Weg versperrten: ‚Niemand passirt hier, mein Herr!‘

‚Aber ich bin der Sekretär der Direktion! Was ist denn geschehen?‘

‚Das dürfen wir Ihnen nicht sagen, mein Herr. Jedenfalls kommen Sie hier nicht hinein!‘

‚Wollen Sie wenigstens die Freundlichkeit haben, dem Herrn Direktor meine Karte zu übermitteln?‘

Einer der Schutzleute verschwand mit meiner Karte im Arbeitszimmer des Direktors, kam bald zurück, flüsterte seinem Vorgesetzten ein paar Worte zu, der dann höflich zu mir sagte: ‚Treten Sie ein, mein Herr! Aber der Herr Direktor ist im Nebenzimmer.‘

Auf meinem Schreibtisch in dem leeren Kabinet lag ein großer Brief, an mich adressirt, versiegelt. Mir ahnte nichts Gutes. Hastig riß ich den Brief auf: meine Entlassung! Hier hast Du den Wisch. Natürlich: lebhaftes Bedauern – treue Dienste – peinliche Geschäftslage – fernerhin verzichten – mit ausgezeichneter Hochachtung u. s. w.

In dem Augenblick trat der Direktor ein, zusammen mit dem Polizeihauptmann – verstört, fahrig. Ich wollte auf ihn zugehen und mich verabschieden; persönlich waren wir stets vortrefflich miteinander ausgekommen. Aber er ließ mich gar nicht erst anfangen. ‚Ach, mein lieber Herr Jean, welch entsetzliches Unglück! Dieser Diebstahl! Das hat uns gerade noch gefehlt! Millionen sind weg! Gestohlen! Mehr als vier Millionen!‘

Ich begriff kein Wort.

‚Sie wissen noch nichts?! Eingebrochen ist man bei uns, die Thür zum Tresorgewölbe aufgesprengt, in die Luft gesprengt, das ganze Schloß, die drei Schlösser wie Blech zerfetzt – die Polizei meint, mit Melinit oder sonst einem Teufelszeug – die Thür zum Geldschrank, dem breiten Hauptschrank, aus den Angeln gesprengt, gesägt, was weiß ich? – und alles oder fast alles geraubt, was an Barem darin lag. Dies ist beinah noch ärger als das große Unglück, dem auch Sie, mein lieber Jean, zum Opfer fallen.‘

‚Aber wie war das möglich, Herr Direktor?‘ fragte ich, um doch irgend etwas zu sagen. Ich kam mir noch überflüssiger vor, als da ich die Kündigung gelesen hatte.

‚Was weiß ich, wie es möglich war? Beide Schlüsselgarnituren, die zur Nischenthür und die zum Schrank, sind unversehrt hier in meiner Hand. Herr Souchon, der erste Kassirer, hat sie nach vorgenommener Zählung des Barbestandes, nach Prüfung der Siegel an den Fondspacketen mir gestern abend in [459] Ihrem und Herrn Chevallets, des ersten Buchhalters, Beisein übergeben‘ – ich mußte zustimmend nicken – ‚wir vier haben zusammen das Comptoir verlassen und‘ – er lächelte bitter – ‚die verehrliche Polizei hat inzwischen schon festgestellt, wo ich, Sie, Herr Souchon und Herr Chevallet seit gestern abend um sieben Uhr gewesen sind. Sie ist freundlich genug, einem jeden von uns zu bestätigen, daß wir keine Diebe sind. Hier sind die Schlüssel, aber Schlüssel oder Nachschlüssel hat der Dieb gar nicht nöthig gehabt. Mit solchen Kleinigkeiten halten sich die Diebe, wie es scheint, heutzutage nicht mehr auf. Kommen Sie mit und sehen Sie sich den Tresor selber an!‘

Er stürmte voran, durch die Couponkasse, die Wechselkasse, die Buchhalterei in den engen Gang, der zur Tresornische führte, eine Art von Alkoven an der Schmalseite der Hauptkasse.

,Er muß sich irgendwo unter der Treppe am Nachmittag versteckt haben; Vaillant, den Wachhund des Comptoirs, haben sie mit Strychnin vergiftet vor der Nischenthür gefunden; den alten Nachtwächter Lesoudier hat der Spitzbube in den Kopf geschossen, er wird die Stunde nicht überleben und ist nicht zur Besinnung, geschweige denn zu einer Mittheilung zu bringen. Und dann sehen Sie die Raffinirtheit des Halunken: hier liegt ein Ballen russischer Konvertirter, über fünf Millionen Franken werth – Stückzahl und Preis steht drauf – da sehen Sie: nicht ein Siegel erbrochen; war dem Burschen zu gefährlich. Auch kein einziger Wechsel fehlt, nicht ein Blatt französischer Rente – nichts, dessen Veräußerung zur Entdeckung führen könnte. Dafür hat er aber alles weggeräumt, was an Barem da war, so viel er nur schleppen konnte. Noch hat Herr Souchon nicht genau festgestellt, wie viel; aber schon jetzt sind es über vier Millionen Franken allein in französischen Banknoten. Ein Packet mit zweitausend Stück Tausender, drei Packete mit je tausend Stück neuer Fünfhunderter, macht schon dreieinhalb Millionen, den Rest in sieben kleineren Packeten mit Hundertern. Auch einige Rollen Napoleons, zwei oder drei, fehlen ganz, zwei sind aufgebrochen und ein paar Dutzend Stück herausgenommen – vier Stück lagen heute früh an der Erde, eines war bis ins Kassenzimmer gerollt. Da liegen noch die Fetzen der Rollenhülsen. Aber mehr als ein paar tausend Franken in Gold sind das nicht. War ihm offenbar zu unbequem.‘“

„Unsere Herren Spitzbuben, durchbrennenden Kassirer und dergleichen Raubzeug machen’s meist dümmer – Gottlob!“ schaltete der Kölner Polizeihauptmann in seines Bruders Erzählung ein und trank sein Glas aus.

„‚Haben Sie gar keinen Verdacht?‘ fragte ich den Direktor.

‚Einen Verdacht schon, aber keinen Dieb! Wer mit so unerhörter Frechheit und Schlauheit mordet und raubt, der wird selten gepackt. Hier der Herr Kommissar meint zwar, die Polizei würde ihn noch heute kriegen; aber das sagt die Polizei immer. Es nützt nichts, aber es tröstet!‘

‚Und der Verdacht?‘

‚Seit dem letzten Montag will Herr Souchon – und seit Dienstag auch Herr Chevallet – Tag für Tag, manchmal wiederholt am selben Tage, einen großen, breitschultrigen, ganz glattrasirten Menschen bemerkt haben, in tadelloser Kleidung, ein bißchen englisch aussehend, eine Art von ‚Gentleman‘, der englische Fünfpfundnoten zum Umwechseln brachte. Er hielt sich jedesmal so lange wie möglich an der Kasse auf, erkundigte sich nach den Wechselkursen, prüfte jeden Napoleon, wies einmal einen ausgezeichneten Ludwig den Achtzehnten zurück, und als er gestern vormittag wiederkam, wechselte er drei Fünfpfundnoten in kleine und größere deutsche Noten und etwas deutsches Gold um. Dabei soll er kein Auge vom Tresor gelassen haben, so daß er Herrn Souchon unheimlich wurde. Beiläufig, ein Engländer oder Amerikaner war er auf keinen Fall, er sprach gerade so gut französisch wie ich.‘

‚Das ist aber eine herzlich schwache Spur,‘ bemerkte ich.

‚Hören Sie nur: der Raubmörder trug bei all den Wechselgeschäften stets dicke schwarze Lederhandschuhe, die er niemals auszog, auch nicht um kleinere Münzen einzustreichen, und Souchon, dem das beim zweiten Besuch des Schurken auffiel, hat deutlich bemerkt, daß er an der linken Hand nur vier Finger hatte; der kleine Finger fehlte!‘“ –

„Und einen Mörder und Dieb mit solchem Signalement hat die Pariser Polizei nicht in vierundzwanzig Stunden gekriegt?!“ schrie Richard empört dazwischen und wollte aufspringen. Doch besann er sich gleich, lächelte vergnügt und sagte nur: „Ja so!“ Dann aber nach einer kurzen Pause: „Und nicht mal die Nummern der größeren Banknoten wurden in Eurer alten Gaunerbude notirt?“

„Ich bitte Dich,“ entgegnete ihm Hans, „bei einem Kommen und Gehen des Geldes in Millionen täglich? Da hätten ja mehrere Leute den ganzen Tag nichts anderes zu thun gehabt, als die Nummern aufzuschreiben. In der Beziehung konnte der Verbrecher ganz ruhig sein. –

Genug, ich sah ein, daß ich hier überflüssig war. Helfen konnte ich nichts; ich mußte ja froh sein, daß die Polizei mich ruhig laufen ließ. Der Direktor war viel zu aufgeregt, um mir zum Abschied mehr als einen flüchtigen Händedruck zu gönnen.

Vor dem Weggehen fragte ich noch den Polizeikommissar, welche Maßregeln zur Ergreifung des Thäters man denn getroffen hätte. – ‚Alle, die in solchen Fällen überhaupt üblich und möglich sind. Ganz Frankreich, alle Grenzstationen, alle Polizeiverwaltungen des Auslandes sind seit einer Stunde telegraphisch benachrichtigt; das genaue Signalement nach den Angaben der Herren Souchon und Chevallet ist jetzt schon auf allen Eisenbahnstationen bekannt. In Paris wird durch die Revierpolizisten Haus bei Haus Umfrage gehalten, ob ein Mensch mit einer vierfingrigen linken Hand bekannt sei. Ich denke, vor heute abend haben wir ihn.‘

‚Viel Glück!‘ sagte ich und empfahl mich.

Wohin nun? Fort von Paris! An eine Stellung, wie ich sie gehabt, war in den nächsten Wochen nicht zu denken, am wenigsten für einen ehemaligen Angestellten des verkrachten Comptoir d’Escompte, und nun gar unter der Verdachtwolke, die nach diesem ungeheuren Diebstahl auf jedem ruhte, der im Dienste des Comptoirs gestanden. – Ohne Stellung und Einnahme auf dem theuren Pariser Pflaster? – Das ging nicht lange. Auch war mir Paris wie mit einem Schlage zuwider geworden, ich war trostbedürftig, sehnte mich nach der Heimath, den nächsten Angehörigen, was man leider immer erst dann spürt, wenn’s einem miserabel geht. Also auf nach Köln: ‚der Dom, der Karneval un dat köllsche Wasser – da geht ja nix drüber!‘ Zum Glück hatte ich meine fünfzehn Kupferaktien schon einige Tage vorher, als es zu knistern anfing, verkauft, – sonst könnte ich damit heute Deine Gute Stube neu tapezieren.

Ich ging trübselig nach Hause, vierter Stock in der Rue des petits champs. Mein bißchen fahrende Habe war bald gepackt. Der große alte Familienkoffer, als Frachtgut an Dich adressirt, wird wohl erst nächste Woche kommen. Die kleine Schwägerin findet darin für ein Jahr neueste französische Lektüre, – gut umschütteln und mit Auswahl zu sich nehmen. Einen kleineren Koffer gab ich abends als Freigepäck auf und nahm nur das Handtäschchen dort mit in den Wagen.

Mit dem Packen, den Laufereien zum Spediteur, einigen Abschiedsbesuchen und einem Besuch im Louvremagazin für die Frau Schwägerin, dann meiner Henkersmahlzeit im Palais Royal waren die paar Tagesstunden schnell hingebracht. Die brave Madame Perrin, Boulangistin vom Chignon bis zum Pantoffel, bei der ich fünf Jahre gewohnt habe – ‚eine Perle von Miether‘, wie sie beinah weinend beim Abschied mir bescheinigte –, ließ sich’s nicht nehmen, mir selbst eine Droschke zu besorgen, eine richtige Pechnummer: 13 403, ungerade Zahl mit ungerader Quersumme, – allein genügend, um mich so mißgestimmt wie nur möglich zum Nordbahnhof fahren zu lassen.

Von der Rue des petits champs bis zum Bahnhof sind’s vielleicht zwanzig Minuten. Mir dünkten sie wie Stunden. Mein ganzes Pariser Leben zog auf der Abschiedsfahrt an meiner Seele vorüber. Dort gegenüber der Bibliothek, hinter dem kleinen Rasenplatz des Square Louvois, hatte ich zuerst gewohnt, in dem stillen Hotel Lulli, als ich vor sechs Jahren als dummer Junge nach Paris kam; – bei jenem Bankier in der Rue Richelieu hatte ich meinen ersten Hundertmarkschein in Napoleons gewechselt; – bei –“

„Ueberspringe mal ein Dutzend solcher sentimentaler Erinnerungen, Hänschen, und laß den Expreßzug nach Köln abfahren!“ trieb Richard den behaglich erzählenden Bruder an. Evchen protestirte; alles, was Paris anging, war ihr von höchstem Interesse.

Hans fuhr fort: „An der Ecke der Rue Drouot und der Rue Lafayette –“

„Laß doch die Ecke in der Ecke und fahr’ ab!“ hetzte Richard, dem um seinen Bericht für den Polizeipräsidenten bange wurde.

„Nein, die Ecke kann ich Dir nicht schenken; Du wirst gleich sehen warum nicht. – Also an der Ecke, wie mein Kutscher nach rechts hinüber biegen will, – sieh mal, so –, kommt von dort, links, [460] her in rasender Eile eine andere Droschke angefahren. Mein Kutscher will ausweichen, der andere will anhalten; – beides gelingt nur halb, und wir rasseln zusammen, wenn auch mit abgeschwächtem Stoß. Bis auf die kleine Beule in meinem Hut kein Unfall, Pferde und Wagen unbeschädigt. Trotzdem lehnt sich der Insasse der tollgewordenen andern Droschke aus dem Schlagfenster und schreit verängstigt seinem Kutscher zu: ‚Tausend Donner, was ist geschehen? – Vorwärts, Kutscher, sonst ist’s mit dem guten Trinkgeld nichts. Wir versäumen den Zug!‘

Offenbar auch nach dem Nordbahnhof, dachte ich. Welchen Zug konnte er meinen? Der Expreßzug nach Deutschland ging ja erst um sechs Uhr zwanzig Minuten, und es war jetzt knapp dreiviertel auf sechs. – Ach, lächerlich, als ob vom Nordbahnhof um diese Zeit nicht noch andere Züge abgehen könnten!

Aber verdammt eilig hatte es der Mensch. Das las man ihm vom Gesicht: angstverzerrt, die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Ich hatte es nur wenige Sekunden gesehen, aber es hatte sich mir mit merkwürdiger Schärfe eingegraben. Unter Tausenden hätte ich es schnell herausgefunden. Mich hatte er nicht gesehen.

Viel zu früh auf dem Bahnhof, wie immer; aber das Eisenbahnfieber werde ich nicht los.

Da saß ich nun in dem über alle Maßen öden Stall, den man in Paris Wartesaal nennt. An der Eingangsthür ein schmieriger Kontrollbeamter; die Ausgangsthüren zum Perron verschlossen fast bis zur Abfahrtsminute. Zu meinem Leidwesen hatte ich bei der Ankunft die Entdeckung gemacht, daß dieser Expreßzug nur die erste Klasse führte. Fünfzehn Franken theurer als der zweieinhalb Stunden später fahrende Postzug. Wer aber einmal auf einem Bahnhof ist, mag nicht mehr warten.

‚Le Soir!‘ – ‚Le Télégraphe!‘ – ‚La France!‘ schrie der Zeitungsverkäufer. Ich kaufte mir alle Abendblätter, die er hatte, als Reiselektüre für die schlaflose Nacht. Auch war ich neugierig, wie die Presse den Diebstahl beurtheilen mochte.

Ich saß auf der niedrigen Pritsche unmittelbar neben der Glasthür zum Perron. Meine Handtasche lag links neben mir; mit dem rechten Ellbogen stützte ich mich auf meine zusammengerollte Reisedecke und begann im ‚Soir‘ zu lesen. Gleich auf der ersten Seite ein Leitartikel über den ‚Mord, Einbruch und Raub im Comptoir d’Escompte‘. Nichts Neues für mich darin, nur einiges Falsche und die bekannte Formel am Schluß: ‚Die Polizei ist dem Verbrecher auf den Fersen; wir hoffen, unseren Lesern morgen die ganze Wahrheit mittheilen zu können.‘ Keinerlei gehässige Andeutung gegen die Leitung oder die Beamten des Comptoirs. Nur noch die Notiz: ‚Das Institut verringert sein Personal bis auf das Unentbehrlichste.‘

Auf der zweiten und dritten Seite der alte Tratsch: Patriotenliga, Boulanger, König Milan und Frau Artemista, und ähnlicher Kohl. Zur Abwechselung statt des abgestandenen Déroulède der famose Roßarzt Antoine. Ich schlug um, die vierte Seite. Halt, eine Riesenanzeige, fast über die ganze Seite weg:

‚Raubmord und Diebstahl von 4 320 000 Franken!

In der Nacht vom 21. zum 22. März sind aus dem Tresor des Comptoir d’Escompte in der Zeit von siebeneinhalb Uhr abends bis sieben Uhr morgens mittels Einbruchs 4 320 180 Franken in Banknoten von 1000, 500 und 100 Franken sowie 2080 Franken in Napoleons gestohlen worden. Die Banknoten befanden sich in elf mit den Siegeln des Comptoirs verschlossenen Packeten aus gelbbraunem Packpapier. Der Dieb hat den Wachthund mit einem Strychninpräparat vergiftet und den Nachtwächter erschossen mit einer kleinkalibrigen Revolverkugel. Spuren eines Kampfes zwischen dem Verbrecher und dem Wächter sind nicht vorhanden. Der Einbruch ist erfolgt nach Sprengung der Thür zum Tresor und zum stählernen Geldschrank mittels zweier Melinitkapseln. – Dringend verdächtig des Mordes und Einbruchs ist ein Mann in den Vierzigern, mit glattrasirtem Gesicht, über Mittelgröße, breitschultrig, offenbar Franzose, er spricht wenigstens mit fehlerlosem Accent. Er ist mit Leichtigkeit daran zu erkennen, daß ihm an der linken Hand der kleine Finger fehlt. – Wer den verwegenen Verbrecher ergreift oder zu dessen Ergreifung beiträgt, erhält fünf Prozent derjenigen geraubten Summe sofort bar ausbezahlt, welche sich bei dem ergriffenen Verbrecher vorfindet, mindestens aber 50 000 Franken Belohnung.‘“

[461] „Also im günstigsten Fall – 216 009 Franken,“ sagte Richard ruhig.

„Hast Du das so flink heraus? Um so besser! –

Ich lächelte, wie ich das las. Wie oft schon hatte ich ähnliche Anzeigen gelesen, wenngleich nicht über so gewaltige Summen! Oft sogar mit Konterfeien der Herren Diebe geschmückt, in den ‚Fliegenden Blättern‘ und im ‚Kladderadatsch‘. Immer hatte ich dabei das Gefühl: da könnte ich nun in eine große Gesellschaft solcher Diebe gerathen und fände doch den Richtigen nicht heraus. Mir fehlt eben der Polizeiblick. Das ist wie mit dem Finden verlorener Gegenstände. In meinem ganzen Leben habe ich nur einmal einen alten Westenknopf gefunden. Und das fiel mir just ein, wie ich die Anzeige las. Einen besonderen Eindruck machte sie mir kaum, – ich kannte ja die Einzelheiten, und besser. Immerhin prägte sie mir das dürftige Signalement ein. Ueber Mittelgröße! Was will das besagen? Dergleichen giebt es unter zehn Männern doch mindestens drei bis vier. – Breitschultrig ! Auch ein nettes Indicium! – Glatt rasirtes Gesicht! Läßt sich leicht verbergen.“

„Immerhin besser als ein bärtiges Gesicht,“ warf Richard dazwischen, „denn Bärte lassen sich abschneiden.“

„Accentloses Französisch sprechen auch einige Millionen Franzosen. Nur die vier Finger an der linken Hand! Die lassen sich freilich nicht verbergen. Einen vierfingrigen Spitzbuben würde sogar ich erwischen, wenn er so gefällig wäre, mir gerade in den Schuß zu laufen.

Wie ich das alles hin und her erwog, kam ein Mann aufgeregt in den Wartesaal, mit einem funkelnagelneuen gelben Handkoffer. – Halt! mein Mann! Derselbe Mensch, mit dessen Droschke die meinige vor einer Viertelstunde zusammengefahren war. – So reiste er doch mit dem nämlichen Zuge wie ich? Wenn er es aber so eilig gehabt hatte, warum kam er später als ich hier herein, der ich doch draußen erst meinen Koffer aufgegeben hatte und nun schon gute zehn Minuten hier saß? –

‚Ist der Expreßzug nach Köln schon fort?‘ fragte er in aufgeregtem Ton den wachhaltenden Billetkontrolleur.

‚Noch fünfzehn Minuten, mein Herr.‘

‚Sind Sie ganz sicher?‘

‚Wenn ich es Ihnen sage!‘

‚Mein Kutscher, dieses Thier, hat mich fälschlich zum Ostbahnhof gefahren, obgleich ich ihm deutlich ‚Nordbahnhof‘ gesagt habe. Er behauptete, ich hätte ihm ‚Ostbahnhof‘ gesagt. Hat man jemals so etwas erlebt!‘

‚Ja, das kommt hin und wieder vor,‘ meinte der Beamte phlegmatisch.

Was kommt einem Billetkontrolleur auf einem Pariser Bahnhof nicht alles vor!

‚Erst fährt der Esel unterwegs mit allen möglichen Droschken zusammen, dann bringt er mich zu einem falschen Bahnhof und schließlich verlangt er die doppelte Taxe, weil er mich zwei Touren gefahren haben will.‘ – Dabei drückte er auf die Klinke der Perronthür. Verschlossen! Er gebärdete sich wirklich gar zu ungeduldig. Unwillkürlich – ich wußte nicht warum, ich hatte ja nicht den kleinsten Anlaß zu irgend welchem Verdacht – aber unwillkürlich blickte ich auf des Menschen linke Hand. Ich hatte das übrigens seit dem Morgen mit allen Leuten gethan, die mir begegnet waren. – Völlig gesunde fünf Finger, und ich lachte mich innerlich aus. Nie einen Pfennig gefunden, nie auch nur ein vierblättriges Kleeblatt, und nun hatte ich wohl gar Lust, unter den zweieinhalb Millionen Parisern den vierfingrigen Viermillionendieb zu entdecken!

Ich griff wieder zum ‚Soir‘, las aus Langweile schließlich sogar das Stückchen Romanfeuilleton und war eben mitten in einem schaurigen Giftmord, dem eine Dame aus dem Quartier de l’Europe zum Opfer gefallen war, als die Glasthür zum Perron von draußen geöffnet ward und der schnarrende Ruf erscholl: ‚Die Reisenden nach Tergnier, St. Quentin, Belgien, Deutschland!‘ Ich hatte der Thür zunächst gesessen, aber trotzdem kam mir der Mensch mit dem gelben Koffer zuvor. Mit unhöflichem Ungestüm schoß er an mir vorüber durch die wie überall nur mit einem Flügel geöffnete Thür und war im Abendnebel verschwunden.

Der Zug war ziemlich stark besetzt, und es fiel mir schwer, ein behagliches Coupé zu finden. Ich suchte den Durchgangswagen nach Köln, – an allen Fensterscheiben Köpfe. Doch halt, im letzten Coupé nur ein Kopf! Ich drückte dem Schaffner einen [462] Silberfranken in die Hand und bat ihn, mir dieses Coupé zu öffnen. Er zögerte ein paar Augenblicke, murmelte etwas von ‚reservirt‘, sah dann nach der Uhr der Abfahrtshalle, und da der große Zeiger dicht vor der Vier stand, so öffnete er mir kurz entschlossen, trotz einer Art Widerstandes von innen, die Coupéthür. Ich sprang hinein, der Schaffner schlug die Thür zu, – und – ich befand mich gegenüber dem Kerl mit dem gelben Koffer! Unvermeidlich, dieser Mensch! dachte ich.

Jener hatte offenbar darauf gerechnet, das Coupé für sich allein zu behalten. Wüthend öffnete er das Fenster, steckte den Kopf hinaus, daß die Spitzen der dichten langen Bartkoteletten im Winde flatterten, und herrschte den Schaffner an:

‚Habe ich Ihnen darum fünf Franken gegeben, daß Sie mir mein Coupé ganz voll stopfen? Habe ich Ihnen nicht gesagt, ich wollte allein bleiben?!‘ –

Dies war mir doch zu stark, und ich sagte höflich zu ihm: ‚Auf der Eisenbahn, mein Herr, hat jedermann die gleichen Rechte!‘

Aber er schien mich gar nicht zu hören, da er noch immer den Kopf zum Fenster hinausbog und sich mit dem Beamten zankte, der in dem sicheren Gefühl des baldigen Zugabganges nur spöttisch verschmitzt mit den Schultern zuckte.

Da, im letzten Augenblick, der große Zeiger berührte fast schon den dicken schwarzen Punkt der Vier, prallte der Backenbärtige zurück und wurde ganz still. Unsere Coupéthür wurde plötzlich aufgerissen, – ein Herr in Civil, augenscheinlich ein Beamter der geheimen Polizei, war auf das Trittbrett gestiegen, beugte sich in unser Coupé, fixirte uns wenige Sekunden mit durchbohrendem Blick und fragte dann kurz, gebieterisch:

‚Wohin reisen die Herren?‘

Mein Reisegefährte, der beim Aufreißen der Thür zusammengefahren war, hatte sich inzwischen wieder gefaßt und antwortete barsch: ‚Wie können Sie es wagen, in dieser Weise die Thür aufzureißen und solche unverschämte Frage zu stellen? Wer sind Sie?‘

Der Beamte wollte auffahren und im selben Tone erwidern. Doch, war es die Wirkung der Grobheit meines Reisegefährten, war es die Ueberzeugung, daß er unrecht hatte, – genug, er berührte leicht seinen Hut, sagte: ‚Pardon, es ist gut,‘ und stieg zum Perron hinunter. Ich hörte ihn dann noch das benachbarte Coupé öffnen, in welchem sich eine Herde Engländerinnen befand, und die Thür gleich wieder schließen. – Inzwischen war die Abfahrtsminute vorüber, eine Glocke ertönte, ein kurzer Pfiff von der Maschine, und der Zug fuhr hinaus in die beginnende Nacht.

Mein Mitreisender that einen tiefen Athemzug. ‚Was sagen Sie zu dieser unglaublichen Unverschämtheit?‘ wandte er sich an mich, ganz höflich, beinah zuthulich geworden.

‚Wahrscheinlich ein Polizeikommissar, der nach dem Raubmörder sucht,‘ erwiderte ich ruhig.

‚So, so, ja das ist wohl möglich. Etwas höflicher hätte er trotzdem sein können. – Um was für einen Raubmörder handelt es sich denn?‘

Ich zog die Nummer des ‚Soir‘ aus der Ueberziehertasche und hielt ihm die vierte Seite hinüber. Er dankte und las sie aufmerksam. Dabei studierte ich sein Gesicht. Scheinbar unbewegliche Züge, nicht einmal so viel Interesse darin, wie doch dieser außerordentliche Fall es bei jedem erwecken mußte, der zum ersten Mal davon hörte. Nur in seinen wasserblauen Augen unter den leicht ergrauten buschigen Brauen zuckte es wie Wetterleuchten.

Die Gasflamme an der Decke brannte trübe, flackerig. Der Bärtige hob das Blatt näher ans Auge. Aha, es interessirt ihn also doch! Wahrscheinlich das Signalement. – Wieder blickte ich auf seine beiden großen knochigen Hände und zählte, kindisch genug, die Finger an jeder. Natürlich je fünf.

Er reichte mir, abermals dankend, das Blatt zurück. ‚Ein recht erheblicher Diebstahl. Kein Wunder, daß die Polizei hinterher ist. Ueber 200 000 Franken Belohnung ist kein Pappenstiel. Aber sie hat es ja kinderleicht: sie braucht ja nur jedermanns Finger zu zählen,‘ und er lachte laut, vielleicht ein wenig zu laut und roh.

‚Ich fürchte,‘ entgegnete ich, ‚wir werden unterwegs noch oft von der Polizei belästigt werden.‘

‚Meinen Sie? Es ist doch recht ungemüthlich, in einer Zeit zu reisen, in der jeder Reisende im Verdacht steht, ein Raubmörder zu sein. – Wäre es nicht das Bequemste, man untersuchte den ganzen Zug ein für allemal und heftete dann an jede Coupéthür draußen einen Zettel: ‚Hierin befindet sich der Raubmörder nicht‘ –? Und wieder lachte er seine laute Lache.

Dann fragte er geschmeidig: ‚Darf ich wissen, bis wohin ich das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben werde?‘

‚Ich reise nach Köln.‘

‚Ei, wie sich das trifft! Auch ich habe mein Billet zunächst bis nach Köln genommen. Will die 11 000 Jungfrauen sehen‘ – wieder das ekle Lachen –, ‚dann reise ich nach Berlin. In Köln wird man uns wohl auch polizeilich empfangen und ausforschen?‘

‚Das ist leicht möglich,‘ versetzte ich und wollte hinzufügen: ‚Vielleicht erwartet uns dort gar mein Bruder, der Polizeihauptmann ist,‘ – aber ich besann mich: wozu jenen wissen lassen, daß Du zur Polizei gehörst? Er hätte mich am Ende selbst für einen verkappten Polizisten gehalten, und die lange Reise mit ihm wäre dadurch gewiß nicht angenehmer geworden. Ich mußte nun einmal wohl oder übel die elf Stunden mit ihm zurechtkommen.

Jeder von uns beiden hatte eine der dreisitzigen Coupéseiten für sich belegt und die Armstützen in die Höhe geklappt. So sicher ich war, daß ich nicht schlafen würde, richtete ich mir’s doch zum Schlafen ein. Das Wetter war frühlingsfeucht und milde; dazu verbreiteten die beiden langen, mit heißem Wasser gefüllten Blechheizkästen am Fußboden eine sehr behagliche Wärme. Aus meiner getigerten Reisedecke machte ich mir ein molliges Kopfkissen, streckte mich der Länge nach auf den Sitz, mit dem Gesicht in der Zugrichtung, meinem Reisegefährten zugekehrt, schloß die Augen und versuchte zu schlafen.

Mit rasender Geschwindigkeit glitt der Expreßzug über die Schienen. Leider befand sich unser Coupé, als das letzte des Wagens, gerade über dem einen Räderpaar. So spürte ich jede Erschütterung bis ins Mark. Die eintönige Musik der Räder setzte ein und hörte nicht mehr auf, bald leiser, wenn wir übers offene Land hinsausten; bald stärker, wenn ein Einschnitt, eine Station oder ein Tunnel passiert wurde. Immer im gleichen Takt, unaufhörlich, bis zur verzweifelten Ermüdung des Gehirns, und dennoch kein Schlaf! –

Auch der Bärtige drüben konnte oder mochte nicht schlafen. Er hatte sich gar nicht niedergelegt. Ich hatte, bevor ich mich auf den Sitz gestreckt, die eine Hälfte des blauen Lampenblendschirms vor die Gasglocke gezogen, um meinen schlafbedürftigen Augen wenigstens äußerliche Erholung zu gönnen. Das ermöglichte mir zugleich, den andern unbemerkt von Zeit zu Zeit durch meine halbgeöffneten Augenwimpern zu beobachten. Er dachte wohl, ich schliefe; jedenfalls kümmerte er sich nicht um mich. Ueber ihm im Hängenetz lag sein eleganter gelber Koffer mit Nickelbeschlägen, hell von der Gasflamme beschienen. Ganz neu, wie eben gekauft. Es war ein sogenannter Blasebalgkoffer, doch war er so vollgestopft, daß kaum eine Falte an den Seiten sich zeigte. Ich bemerkte das alles durch die hin und wider sich ein wenig öffnenden Wimpern. Was ich nur damit wollte?! Nie zuvor hatte ich Dinge, die mich nichts angingen, so deutlich beobachtet.

Der Bärtige hatte seinen runden braunen Hut, auch einen ganz neuen, abgenommen und neben den neuen Koffer ins Netz gelegt. Dann hatte er aus seiner Ueberrocktasche eine schwarzseidene Reisemütze gezogen und aufgesetzt, allem Anscheine nach auch noch nie zuvor getragen. Dabei hatte sich ein schwarzer, innen weiß gefütterter Winterhandschuh mit dem Handgelenkende ein wenig aus der Tasche geschoben. Dieser Handschuh war das einzige an dem Menschen, was nicht nagelneu aussah.

Er blätterte eifrig hin und her in einem ganz neuen, knisternden Kursbuch. Von Zeit zu Zeit warf er über die Blätter des Buches hinweg einen verstohlenen, scheuen Blick auf mich. Unwillkürlich schloß ich dann jedesmal die Augen. Ich wußte nicht, warum, – aber mir war, als drückte man sie mir jedesmal zu.

Plötzlich steht er leise, leise auf, legt so behutsam wie etwas Zerbrechliches sein Kursbuch ins Netz, dann dreht er sich wieder mit einem lauernden Blick nach mir um. Ich rühre mich nicht und drücke die Augen zu. Nun beginnt er das rothe Plüschpolster, worauf er gesessen, vorsichtig, kaum hörbar herauszuzerren, nach jedem leisen Ruck innehaltend, lauschend, – fast so weit heraus, wie es überhaupt möglich war, ohne daß er mich dabei berührte. – Wie seltsam! Ich lag doch ganz behaglich da, empfand gar kein Bedürfniß nach einem breiteren Lager. Aber freilich, der andere war viel breiter gebaut als ich. – Hätten ihm da nicht ein paar Zoll weiter heraus genügen können?

Nun war er mit seinem mühseligen Geschäft fertig und wieder [463] blickte er sich nach mir um, mit einem Blick, scharf wie Nadeln. Ich fühlte ihn noch, als ich schon die Wimpern geschlossen hatte. Dann hörte ich, wie er sich abwandte, und sachte, sachte zwinkerte ich ihm nach. Mit noch behutsameren Bewegungen als vorhin, unhörbar, faßte er nach seinem im Netzwerk liegenden Koffer, hob ihn, mit der Linken von unten stützend, um ihn nicht gegen das dünne eiserne Randgestänge des Hängenetzes schleifen zu lassen, ein wenig empor und dann – o so sänftiglich – auf den Sitz hernieder.

Welch peinlicher Mensch! dachte ich. Wie er besorgt ist, daß der neue schöne Koffer nur beileibe keine Schramme bekomme! Oder nimmt er so zarte Rücksicht auf meinen ‚Schlaf‘? Sieht ihm gar nicht ähnlich.

Jetzt greift er in die Hosentasche und zieht ein dünnes Schlüsselchen hervor, so eines, wie man es zu den Chubb-Schlössern hat. Leise, leise, daß es kaum klirrt, schiebt er es ins Schloß – dann ein kurzes Knacken, und der vollgepfropfte Koffer klafft mit einem nicht mehr zu dämpfenden Ruck weit auf. Der Mensch erschrickt, klappt duckend zusammen, als hätte ihn plötzlich eine Riesenfaust im Genick gepackt. Dann richtet er sich wieder hoch auf und fährt zu mir herum. Gewiß glotzt er mich an – aus nächster Nähe – mich überhaucht es wie der heiße Athem aus einem Raubthierrachen. Ich sehe ihn nicht, aber ich athme seine fürchterliche Nähe. Ich fühle ganz deutlich, daß er sich über mich gebeugt hat; es lastet über mir wie ein schattender, dicker Qualm; ich höre seine Brust sich in kurzen Stößen heben und senken – und ich weiß, o so sicher weiß ich es, daß Leben und Tod in diesen Sekunden um mich ringen! Die leiseste Bewegung wie die eines Wachenden, ein Zucken der Augenlider, und es ist um mich geschehen. Es ist sehr warm, und doch überfröstelt es mich wie ein Anhauch aus offenem Grabe.

Er muß seiner Sache sicher sein, er muß an meinen bleiernen Schlaf glauben, denn er beugt sich nicht mehr über mich hin. Ich höre ihn sich auf seinen Sitz niederlassen. Gleich darauf erhebt er sich wieder, macht mit dem rechten Arm eine Bewegung nach oben, als wolle er den Blendschirm zurückklappen, um besser zu sehen, wohl um mich besser zu sehen; doch er läßt nach kurzem Besinnen den Arm wieder sinken. Einmal greift er auch, wie nach einem plötzlichen Entschluß, in die äußere rechte Seitentasche des Ueberrocks, in die andere, aus der kein Handschuhzipfel hervorguckt. Die Hand bleibt wohl eine halbe Minute in der Rocktasche, doch kommt sie leer wieder heraus.

Und dann? – Großer Gott, was ist das! Nimmt er nicht aus dem weit offenen Koffer vorsichtig, erst zögernd, dann fest entschlossen ein großes, mit einem dicken Bindfaden umschnürtes Packet von Zeitungspapier heraus und stopft es blitzgeschwind unter den vorgezogenen Sitz? Dann noch eins und noch eins. – Könnte ich nur deutlicher sehen, nur den Kopf ein wenig drehen!

O, was er auch da dicht vor mir verbergen mag, wer er auch sei, ein Raubmörder oder ein Verrückter – ich weiß jetzt, daß ich Zeuge bin des zweiten Aktes in einem furchtbaren Drama.

Ich kann nichts denken, nichts wünschen als: käme nur eine Haltestation! Aussteigen, gleichviel in welches andere Coupé, oder den Zug verlassen, irgendwo warten auf den nächsten Zug! Nur nicht länger zusammenbleiben mit diesem entsetzlichen Menschen, dem ich einer zu viel bin!

Wie lange es wohl noch dauern mag bis zum nächsten Halt? Der Expreßzug hat erst einmal gehalten, ‚Compiègne!‘ hatte man gerufen. Das ist jetzt bald eine Stunde her.

Doch da pfeift die Maschine zum Bremsen; langsamer fährt der Zug; ein Halt naht.

Der entsetzliche Mensch schiebt eilig seinen Sitz zurück und setzt sich nieder. Er will auch den Koffer schließen, aber dessen Inhalt ist wirr durcheinander gerutscht, zum Theil auf die Polster gefallen. Er kommt nicht mehr damit zurecht. Jetzt hält der Zug. Draußen ruft man: ‚Tergnier!‘. Die Thür wird heftig aufgerissen. Der Bärtige sitzt da mit zusammengebissenen Zähnen, die eine Hand in die Ueberziehertasche versenkt, einen finsteren Entschluß im Gesicht. Den geöffneten Koffer sucht er nach Möglichkeit durch seinen zurückgeschlagenen Ueberrock zu decken. In diesem Augenblick hat er sogar mich vergessen.

Seine Furcht – denn nur Furcht sieht so aus – war überflüssig. Ein Eisenbahnarbeiter ist, ohne ein Wort zu sagen, ins Coupé gesprungen, reicht einem draußen stehenden zweiten Arbeiter die erkalteten Heizbüchsen hinaus, schiebt zwei frischgefüllte herein und schlägt die Thür zu. Ein Schaffner hat hereingerufen: Zwei Minuten Aufenthalt! Aber ich, der ich den ersten Haltepunkt wie eine Erlösung herbeigesehnt, liege ganz still da. Auch ich habe die Zähne zusammengebissen; ich bleibe – komme was da will!

Jedoch mit dem bloßen Schlafheucheln ist es jenem Menschen gegenüber nicht gethan. Nur nicht eine Dummheit begehen aus halber Klugheit! – Ich räkle mich, werfe mich wie ein im Schlaf Gestörter auf meinem Lager umher, schiebe mir das Kopfkissen zurecht, starre wie schlaftrunken um mich, auch auf jenen Menschen, der ganz still dasitzt, und – bin wieder der harmlose Schläfer.

Ob mir die Täuschung gelungen? Ob er nicht doch gemerkt, daß ich nur mit ihm gespielt? Wenn er es gemerkt hätte! – Wenn er hörte, wie mein Herz jetzt klopft! Er muß es ja hören. Höre ich es denn nicht ganz deutlich, in der Stille der Nacht, während der Zug noch hält? Soll ich nicht jetzt noch aufspringen und mich hinausstürzen?

Aber vielleicht war alles nur ein harmloses Ungefähr. Wie konnte jener Mensch der Mörder und Räuber sein, mit den gesunden fünf Fingern an jeder Hand? – Aber war man denn wirklich so ganz sicher, daß der Vierfingrige, der sich so auffällig an der Kasse zu schaffen gemacht hatte, der Verbrecher war? Konnte der, gleichviel ob vierfingrig oder was sonst, nicht einen Spießgesellen gehabt haben, der jetzt die Hälfte der Beute in Sicherheit brachte? – Ich bleibe liegen! sagte ich mir. Aber da war es ohnehin zu spät zur Flucht; der Zug fuhr weiter.

Solange der noch nicht seine volle Geschwindigkeit erlangt hatte, blieb der Bärtige unbeweglich sitzen, die Rechte noch immer in der Seitentasche des Ueberrocks, seine Augen jetzt unverwandt auf mich geheftet. Wie wenig Licht braucht doch ein Menschenauge, um alles um sich herum wahrzunehmen! Nur ein Spältchen breit wie ein Frauenhaar, wie ein Spinnwebfaden lassen meine Wimpern offen, aber alles, alles sehe ich dadurch.

Was der Mensch nur in jener Ueberziehertasche verbirgt, festhält, umklammert? Ja gewiß, umklammert, denn sehe ich nicht die Sehnen seines Handgelenkes bis zum Zerreißen gespannt? Hat er auch da eines der Packete versteckt? Hat er vielleicht –? Eine längliche, fast senkrecht verlaufende, schmale Erhebung in dem dicken, dunkelbraunen Zeug des Rocks, der Taschenklappe. – O, jetzt hab’ ich’s! Ein Dolch, eine Pistole, ein Revolver! – Wie sich gleich einem Wirbelsturm meine Gedanken, meine Erinnerungen jagen! Ich denke an den Tod; aber merkwürdig, ich habe nicht die geringste Angst vor ihm. Er ist mir nicht halb so entsetzlich wie jener Mensch dort mit dem Räthsel seines Wesens. Ich bin ganz klar im Kopf, in allen Sinnen. Ich zähle die schwarzen Hornknöpfe an dem Ueberzieher des Menschen, der die Mordwaffe gegen mich umspannt hat, und – gar zu gern wüßte ich, ob an dem etwas zurückgeschlagenen unteren Schoßende nicht noch ein Knopf sitzt. Das dünkt mir von äußerster Wichtigkeit.

Wenn das noch lange dauerte, würde ich verrückt, das fühlte ich. Oder ich mußte aufspringen und dem Menschen ins Gesicht brüllen: ‚Ich schlafe ja gar nicht, hast Du das denn nicht einmal bemerkt? Du bist der Mörder, der Dieb, und ich weiß es!‘ – Und wie lange konnte es noch dauern? Meine Schläfen brannten und hämmerten; meine Fußsohlen prickelten, als kröchen Tausende von aufgestörten Ameisen drauf hin und her.

Ich war nie zuvor mit diesem Zug gefahren. Auf dem Fahrplan des Bahnhofes hatte ich nur gesehen, daß er an ganz wenigen Stationen hielt. Ob das so weiter gehen würde in diesem meinem rollenden Sarge bis zur belgischen Grenze? Bis nach Erquelinnes? Bis dahin waren nach meiner Schätzung noch reichlich zwei Stunden. Je schneller jetzt wieder der Zug fuhr, desto sicherer war ich, der Mensch würde bald irgend etwas unternehmen. Wenn er ein Verbrechen zu verbergen oder die Früchte eines Verbrechens zu flüchten hatte, – konnte, mußte er sich nicht sagen: Nur die Todten reden nicht? So wenig wie der arme Lesoudier, der Nachtwächter, noch redete? Nur ein Hauch des Zweifels an meiner Harmlosigkeit, und derselbe Revolver machte auch mich stumm. Die kleinkalibrige Kugel! Und wie leicht war es dem starken Mann, mich dann wie ein Bündel durchs Fenster hinauszuschleudern in die mondlose Nacht! Und wenn er noch so sicher war – er wußte ja, ich kannte das Verbrechen der letzten Nacht in der Rue Bergère.

(Schluß folgt.)

[478]
Mir schwebten alle nur erdenklichen Todesarten vor. Ans Erwürgtwerden hatte ich bis dahin nicht gedacht, aber mit jeder Minute mehr dachte ich an mehr. Ich dachte an jede Möglichkeit. Erwürgen war für ihn doch wohl das Sicherste. Eine Kugel hinterläßt Spuren; auf der ersten besten Station konnte man sie bemerken. Ein Schuß mußte auch im Nachbarcoupé von den Engländerinnen gehört und auf der nächsten Station gemeldet werden. Mir wurde die Kehle trocken, so trocken, daß ich um ein Haar gehustet hätte.

Aber er saß noch still. Noch spürte ich nicht seine entsetzlichen Finger um meinen Hals. Er saß und lauschte auf die sich immer noch steigernde Geschwindigkeit des Zuges. – Und jetzt wußte ich auch, was es mit dem Verbergen der Packete für eine Bewandtniß hatte. So dumm zu sein, das nicht gleich zu wissen! Vor der belgischen Zollgrenze leert er seinen Koffer von dem Raube, von allem Verdächtigen, läßt alles unter dem Sitz, bis wir die deutsche Grenze passirt haben, stopft dann den Raub wieder in den Koffer und ist geborgen.

[479] Und dennoch, hat die Sache nicht ein Loch? Wenn nun ein Mitreisender, ich oder ein anderer, der unterwegs einstiege, ihn daran hinderte, – einer, der nicht so gut wie ich aufs ‚Schlafen‘ sich verstünde? – Spaß! Der Revolver oder was sonst räumt jeden lästigen Zeugen schnell aus dem Wege. Aber wer sollte in diesen Expreßzug unterwegs einsteigen? Höchstens ein über Aachen hinausfahrender Reisender; denn wer würde diesen unpassenden Zug benutzen, der durch alle größeren Städte Belgiens und die Grenzstädte Deutschlands mitten in der Märznacht fuhr, während es so viele bequemer liegende Schnellzüge auf dieser Weltverkehrslinie gab? Und angenommen, es stiege jemand ein, den jener Mordbube sich nicht getraute, zu ermorden, oder gar das ganze Coupé füllte sich mit Reisenden, – hatte er nur erst seinen Raub unter den Polstern versteckt, so konnte er ihn ja im schlimmsten Falle ruhig darunter lassen, bis wir in Köln ausstiegen, und ihn dort als letzter im Wagen bleibend wieder in den Koffer packen. Wie kindisch einfach das war; aber aufs Einfachste kommt man ja stets zuletzt. Jetzt sah ich alles wie von greller Sonne beschienen vor mir. Und noch lebte ich, und – lebend wich ich nicht von diesem Platz, ehe ich nicht am Ziel, das sich mir jenseit der deutschen Grenze lockend aufthat angelangt war. Das stand fest!

‚St. Quentin!‘ – Man öffnete hier gar nicht einmal die Thüren. Mein Reisegefährte hatte sich näher ans Fenster nach dem Perron zu gesetzt. Er horchte auf ein Gespräch dicht unter der Coupéthür, vielleicht zwischen dem Stationsvorsteher und dem Zugführer. Der eine scherzte:

‚Haben Sie vielleicht den Vierfingrigen in Ihrem Zuge?‘

‚Kann schon sein,‘ erwiderte der andere lachend, ‚aber gesagt hat er’s uns bis jetzt nicht. Wollen Sie ihn vielleicht mal fragen?‘ und beide lachten.

‚Aber das Comptoir war auch ohne den Diebstahl futsch, was?‘

Ja, so sagt man! – Aber wir müssen fort. Gute Nacht! Auf Wiedersehen! Ich komme morgen mit dem Schneckenzug, mit Nr. 11, zurück.‘

‚Gute Nacht!‘

Vorwärts! – Erst wartete mein Mann wieder, bis der Zug mit voller Kraft fuhr. Dann erhob er sich wie vorhin, nur vielleicht noch ängstlicher, behutsamer. Wieder zog er seinen Sitz, den er in Tergnier zurückgestoßen hatte, heraus, weit, ganz weit. Wieder klappte er seinen Koffer auf und hob Packet auf Packet, noch fünf zu den vorhin versteckten drei, alle von gleicher Größe, heraus, stopfte sie in den leeren Raum unter den Polstern, so geräuschlos, daß nur, wer alles schon wußte, etwas hören konnte. Aber ich hörte alles, hörte es aus dem Rasseln der Räder, dem Schnauben der Maschine, dem Klappern der Fensterrahmen heraus. Um mich kümmerte er sich nicht mehr; meiner war er sicher, so oder so, schlafend oder nicht schlafend.

Das Geschäft war bald erledigt. Im Koffer blieb so gut wie nichts, nur einige Wäschestücke, Schuhe, eine Bürste. Das machte ihn bedenklich, er sah mit komischer Verlegenheit in den leeren Koffer. An der Zollgrenze konnte der erst recht auffallen. Dann kam ihm ein Gedanke, jedenfalls ein guter, denn als er sich wieder mit dem Gesicht zu mir herumdrehte, lächelte er selbstzufrieden. Doch erst schob er, jetzt mit einiger Mühe, das Polster wieder über die verborgenen Packete; dann blieb er ein Weilchen sinnend stehen, zog seinen schweren Ueberrock aus und legte ihn vorsichtig auf den Eckplatz. Er konnte aber nicht verhindern, daß derselbe, wie durch ein schweres Gewicht hinabgezogen, auf den Boden glitt, auf den einen Heizblechkasten, mit einem gedämpften aber vernehmlichen Prall, wie umwickeltes Metall. –

Hatte ich etwas gehört? – War ich erwacht? – Mit einem krampfhaften Griff hatte er den Rock wieder aufgehoben, in die Seitentasche gefaßt, einen schweren Bulldoggrevolver herausgezogen und auf den Sitz gelegt.

Nein, ich hatte nichts gehört. Ich war nicht erwacht. Ruhig wie bisher lag ich da und athmete tief und langsam ein und aus. – Wie das wohl that, noch athmen zu können!

Ich hatte ihn entwaffnet. Wenigstens steckte er den Revolver mit dem Lauf nach unten in die rechte Hosentasche, daß nur das letzte Ende des Kolbens herausschaute. Darauf zog er sich den Rock, den er unter dem Ueberzieher trug, vom Leibe, dann auch die Weste, zog seinen Ueberrock übers Hemd wieder an, knöpfte ihn bis oben zu und steckte den Revolver wieder in die Tasche. Den ausgezogenen Rock sammt der Weste packte er unordentlich je in eine Tasche des leeren Koffers und verschloß diesen wieder mit dem Schlüsselchen.

Es ist vollbracht. Er hat seinen Raub in Sicherheit, da, wo niemand ihn sucht. Jetzt mag die Grenze, mag die zweite Grenze kommen, ihn ficht das nicht an!

Auch bei ihm wie bei mir läßt jetzt die Spannung nach; er ist müde geworden und legt sich der Länge nach auf die weichen Polster und ruht wie ein Drache auf seinen Schätzen.

Lange dauert’s nicht mit seiner Ruhe. Nach knapp zehn Minuten schnellt er wieder auf, diesmal ohne ängstliche Rücksicht auf meinen Schlaf, holt sich das Kursbuch aus dem Netz herunter und studirt darin, sinnend, blätternd, rechnend. Für mich giebt’s jetzt kaum noch etwas zu beobachten. Ich könnte jetzt wirklich schlafen, das heißt, wenn ich könnte. Aber es lohnte wohl auch nicht mehr, die Grenze mußte bald da sein. Wie bald? Auch ich rechnete. Und wie ich rechnete, fielen meine zwinkernden Blicke auf einen schwarzen Fleck am Fußboden, halb unter dem Sitze des andern, da unten zwischen seinen Füßen. Was das nur war? Regte es sich nicht? Kroch es nicht hervor? Nein, nur der unruhig hin und her zuckende Fuß des andern, bald der linke, bald der rechte, schob an dem schwarzen Ding, daß es sich selbst zu rühren schien. Der Schatten des tief hinab reichenden Sitzes gegenüber verbarg mir den größten Theil des schwarzen Flecks, und ich wagte nicht, meine Augenlider weiter zu öffnen als zum feinsten Spalt. Aber das Schwarze da ließ meine Blicke nicht mehr los. Wie eine dickgeschwollene schwarze Riesenspinne lag es am Boden und streckte seine wulstigen Beine gegen mich aus. – Seine Beine? – Nein, nein, Finger waren es, schwarze Teufelskrallen, gekrümmt wie zum Angreifen, zum Festpacken. Eine dicke schwarze Faust, – nein, eine Hand, – nein, ein Handschuh! Nichts als ein Handschuh, derselbe, der vorhin aus des Menschen Ueberrocktasche gefallen war, als der Rock selbst zu Boden glitt.

Er hatte nichts Geheimnißvolles mehr für mich, der schwarze, eben noch so unheimliche Fleck, der nichts war als ein ganz gewöhnlicher Handschuh, und dennoch ließ er meine Blicke nicht mehr von sich. Meine Augen hatten sich längst an das Halbdunkel gewöhnt; ich sah selbst die dunkelbraunen Raupen auf der äußeren Handschuhfläche. Ich sah jeden Finger. – Jeden?! – Nein, nicht jeden! – Daß ich nicht mit lautem Schrei aufsprang! – Nein, ich sah nicht jeden, denn der schwarze Handschuh hatte nur vier Finger!

Ich hatte ihn! ich hatte ihn! Noch wußte ich nicht, wie alles zusammenhing; aber ich wußte bestimmt, ich hatte ihn, den vierfingrigen Mörder und Räuber!

Aber wie? Was ist’s mit diesem Handschuh? Ich schloß die Augen, um nichts mehr außen zu sehen, und suchte. Fünf Finger von Fleisch und Bein, kein Zweifel daran war möglich. Und trotzdem nur vier Finger von Leder? – – O du erzschlauer Tölpel, der du wie alle Erzschlauen nicht schlau genug gewesen bist! Eine Masche nur hast Du offen gelassen in dem Netz, und nun schlüpft die Entdeckung durch diese eine Masche hinein. Der du an den vierfingrigen Handschuh nicht mehr gedacht hast, womit du dir, zwei Finger in einen Lederfinger zwängend, ein so unübertreffliches falsches Signalement zurechtgeschneidert. Der du ihn nicht, zu Hause angekommen nach der Mordnacht, in tausend Stücke zerschnitten, ihn nicht verbrannt hast! – Hast was zugelernt, Mordgesell, he? – Wirst dich vor die Stirn schlagen und dich einen Esel schimpfen, wenn ich dich erst in Nummer Sicher gesetzt? Hättest doch besser gethan, mich kaltblütig zu erdrosseln, nur der Vollständigkeit wegen, – besser zu vorsichtig als zu nachsichtig, was? Beinahe hätte ich laut aufgelacht über die Dummheit dieses abgefeimten Satanskerls.

Wenn er nur später nicht zu dem Verdacht käme, ich könnte des Handschuhs gewahr geworden sein! Wenn er ihn nur bald vermißte, suchte, wieder einsteckte! Ich brauchte ihn ja nicht mehr, ich wußte alles. Auch der üppige schwarzgraue Backenbart machte mir jetzt keine Sorge mehr. Der war gewiß so neu wie alles andere, was der fliehende Mörder am Leibe trug.

Da lag also das Glück, der Reichthum auf Armeslänge vor mir. Fünf Prozent vom Inhalt jener acht Packete, fünf Centimes von jedem Franken, den der Millionendieb so dummschlau versteckt hatte, gehörten mir zu ehrlichem Besitz, wenn es mir gelang, lebend nur bis zur nächsten Station zu kommen. Und dann dachte ich an Dich, mein alter Junge, und an Deine kleine [480] Frau, und wie Ihr mich empfangen würdet, wenn ich, der stellenlos gewordene Banksekretär, ankäme mit der Viertelmillion oder so etwas ähnlichem zur Belohnung und als der glorreiche Aufspürer des größten Diebes der Neuzeit. Das war doch ein ander Ding, als anzukommen mit einer Tausendfrankennote und kaum genug Kleingeld, um einen lustigen Tag im lustigen Köln zu verleben!

Ja, aber hatte ich ihn denn schon, den Dieb? Hatte nicht vielmehr er mich? – Da saß er ja auf Griffes Weite mir gegenüber. Wären wir nur erst auf der nächsten Station! Am besten auf der Grenzstation. Dort mußten wir alle hinaus, ich konnte mit einem Polizeibeamten sprechen, konnte ihn verhaften, seinen Raub mit Beschlag belegen lassen, konnte –

So? Konnte ich wirklich? O ja, möglich war das, aber ob auch sicher? ob auch rathsam? Im fremden Lande, ich, der Prussien, auf einer kleinen französischen Eisenbahnstation, wo kein Mensch mich kannte? Wo man sicher lieber selbst die Belohnung eingesteckt hätte? Komm du hinterher und klage und beweise, daß du es gewesen bist, der seine Ergreifung veranlaßt hat! Der Himmel ist hoch und Bismarck ist weit. Und der Kerl war bewaffnet! Den ersten, der Hand an ihn zu legen versuchte, schoß er zweifellos nieder.

So sann und sann ich darüber nach, was ich mit dem Menschen anfangen sollte. ‚Das Fell des Bären,‘ weißt Du! – Da fielst Du mir ein, Richard!“ –

„So! Also erst jetzt! Hättest schon früher darauf kommen können!“

„Sei froh, daß ich in der Lage überhaupt auf etwas Gescheites kam. Und ans nächste denkt man ja immer zuletzt.

Ich muß dich bis über die deutsche Grenze haben, dachte ich; dich sammt deinen geraubten Millionen. Bis nach Aachen. – Warum nur bis nach Aachen? – Nach Köln, natürlich nach Köln! Und dort nimmt dich der ausgezeichnetste aller Polizeihauptleute Mitteleuropas in freundlichen Empfang, wir theilen uns in die viertel oder fünftel Million Belohnung und machen im Mai, dann aber mit Evchen, eine lustige Reise nach Paris zur Ausstellung. Das richtige Fell des Bären! Ich machte schon Pläne, was ich mit den auf mich fallenden hunderttausend Franken wohl am besten anfangen würde.

Wie sollte ich Dich nur zur Stelle schaffen? Morgens um halb sechs Uhr auf den Kölner Centralbahnhof. – Durch eine Depesche, wie sonst? Ja, aber wo und wie eine Depesche schreiben und aufgeben, ohne den Mörder Lunte riechen zu lassen? Und ohne daß der annehmende Telegraphist den ganzen Braten erführe? Sah mich der Vierfingrige auf der Grenzstation zum Telegraphenamt gehen, so war ich geliefert, oder ich durfte nachher nicht in dem Coupé mit ihm bleiben. Und suchte ich mir ein anderes, so wußte er, woran er war, und verschwand auf irgend einer kleinen belgischen Station; ich fand dann in Köln das Raubnest leer. Die Depesche mußte, wenn überhaupt, dann in französisch sprechendem Lande, in Frankreich oder Belgien, aufgegeben werden. Am besten noch in Frankreich oder recht nahe der französischen Grenze. Weiter nach Osten verstanden die belgischen Telegraphisten schon eher eine deutsch abgefaßte Depesche und konnten mir durch irgend eine selbst gutgemeinte Einmischung meinen Jagdplan zerstören. Hatte ich all das Entsetzliche der letzten Stunden durchgemacht und sollte noch so nahe am Ziele um meinen Fang gebracht werden? Vorsicht, mehr als bisher; laß dir Zeit!

Die Depesche! Ein anderes Mittel gab es nicht. Der annehmende Telegraphist würde sie mechanisch abklappern, und erst der auf der Empfangsstation oder der Empfänger selbst, also Du, Richard, würden wissen, um was es sich handelt. – Aber besser ist besser: selbst der empfangende Telegraphist in Köln durfte nichts Sicheres herauslesen, ebensowenig der Beamte an irgend einer Umschaltestelle unterwegs! Du allein! – Wenn ich das nur richtig heraus hätte! Schon die Adresse war bedenklich. Der ‚Polizeihauptmann‘ allein konnte alles verrathen. Und die Depesche selbst mußte alles und nichts sagen. Genug, um Dich zu bestimmen, pünktlich auf dem Posten zu sein, die ganze Geschichte nicht für einen Jux zu halten, – und doch nicht genug, um irgend einem Dritten etwas zu verrathen.

Ich sann nach. Nie hat die Abfassung einer kurzen Depesche einem menschlichen Gehirn so viel Mühe gemacht. Und wenn der Kerl mir zur Seite blieb, meine Depesche las? Ob er nicht am Ende Deutsch verstand?! Kerle von der Sorte sprechen meist mehr als eine Sprache. – Unaufhaltsam donnerte der Zug vorwärts, näher und näher der Grenze. Sollte die Depesche am richtigen Ort aufgegeben werden, so mußte ich sie jetzt im Kopf fertig haben. – War das schon die Grenze? Ich war noch nicht fertig, hatte eigentlich noch nicht das erste Wort meiner Depesche gefunden. – Nein, ‚Aulnoye!‘ rief es draußen, also noch nicht einmal Jeumont, die Grenzstation auf der Fahrt von Deutschland.

Der Zug hielt in Aulnoye mehrere Minuten; er wurde hier getheilt: ‚Wagenwechsel nach Brüssel!‘ schrie es den Zug entlang. Die vorderen Wagen gingen nach Brüssel, die hinteren nach Deutschland. Unser Wagen wird auf dem Bahnhof ein wenig hin und her geschoben und gerüttelt. Sich jetzt länger schlafend zu stellen, müßte selbst einem Einfältigeren als dem Mordbuben verdächtig erscheinen. So ‚erwache‘ ich denn bei einem besonders kräftigen Kuppelungsstoß, fahre auf, reibe mir die Augen und setze mich aufrecht hin. Ah, wie wohl das thut, wieder einmal zu sitzen, nicht mehr der Länge nach dazuliegen wie ein hilfloses Schaf auf der Schlachtbank! Ich rücke ans Fenster, die Scheiben sind von innen hauchbeschlagen, von außen verregnet. So wende ich mich denn mit Aufgebot all meiner Ruhe und Unbefangenheit zu dem Vierfingrigen: ‚Ist dies schon die belgische Grenze, mein Herr? Warum öffnet man nicht?‘

‚Nein, mein Herr,‘ antwortet jener sehr höflich, ‚dies ist erst Aulnoye. Wir halten noch in Maubeuge und in Jeumont, dann kommt Erquelinnes; noch fünfzig Minuten, mein Herr.‘

‚Hast Dein Kursbuch mit Erfolg auswendig gelernt,‘ denke ich und sage dann laut zu ihm: ‚Ach, da muß man bald seine Sachen zusammenpacken für die Zolldurchsuchung.‘

‚Ja,‘ meint der andere, ‚aber ich denke doch, man wird uns nicht zum Aussteigen zwingen?‘

Er ist ganz ruhig, fast heiter. In der Stimme klingt nichts nach Verdacht, nach Aengstlichkeit. Dies ist die Minute, oder keine, um ihm meine Depesche glimpflich beizubringen. Und ich antworte nach einer kleinen Pause, in der ich mir mit meinem Kopfkissen zu schaffen mache: ‚Aussteigen müssen wir sicher; die Belgier sind strenge Zöllner. Uebrigens, ich muß so wie so aussteigen, ich habe eine Depesche aufzugeben.‘

Das Wort ‚Depesche‘ hat ihn doch erschreckt. Nur ein blitzschnelles Zucken um die Augen, aber es war mir nicht entgangen. Jetzt nur vorwärts, da half nichts. – ‚Ja, eine Depesche an meine Schwester in Köln; ich habe in der Eile der Abreise ganz vergessen, ihr meine Rückkehr von Paris aus zu melden. Ich wohne nämlich mit meiner Schwester zusammen.‘

Er hatte sich beruhigt und fragte theilnehmend: ‚Werden Sie auch Zeit genug dazu in Erquelinnes finden? Sie wissen, gerade an den Zollstationen kann man nichts nebenbei besorgen.‘

‚Ja, ich glaube, Sie haben recht. Am besten schreibt man die Depesche schon vorher und giebt sie dann zur Besorgung.‘

Das gefiel ihm ausnehmend.

‚Ich habe nur ein Bedenken,‘ fuhr ich fort, ‚meine Schwester versteht nicht Französisch, und ich fürchte, der belgische Telegraphist in Erquelinnes versteht nicht Deutsch.‘

‚Wenn Sie recht leserlich deutsch mit lateinischen Buchstaben schreiben,‘ meinte er, ‚so wird das nichts auf sich haben. Deutsch allerdings wird der gute Mann in Erquelinnes sicher so wenig verstehen wie ich. – Was wollen Sie, wir Franzosen sind nun mal in solchen Künsten unverbesserliche Dummköpfe.‘

Gott sei Dank, er verstand also kein Deutsch! Oder war das nur eine Falle für mich? Unmöglich, das Bekenntniß seiner Unwissenheit hatte einen Klang elementarer Aufrichtigkeit. – Ich suche in der Brusttasche nach einem Stück Papier, finde aber nichts Brauchbares. Der Kündigungsbrief des Comptoirs geräth mir zwischen die Finger, daran hing ein großes leeres Blatt. Aber nein, der Mensch hätte die Siegel oder das Papier oder sonst etwas Verdächtiges daran erkannt.

‚Sie suchen gewiß ein Blatt Papier für Ihre Depesche, mein Herr?‘

Dies ist ein ‚comble‘, wie wir in Paris sagen: fängt der Kerl richtig an, selbst in den Taschen nach einem Stück Papier für mich zu suchen! Ich wehre ab, bitte ihn, sich keine Mühe zu geben, aber er ist nun mal im Eifer hilfreicher Dienstfertigkeit und sucht weiter. Da kommt ihm ein guter Einfall: ‚Bitte, mein Herr, nehmen Sie eines dieser leeren Blätter hinten aus dem Kursbuch, die sind sogar liniirt, der Drucker hat augenscheinlich an Fälle wie diesen gedacht,‘ – und er reißt mir zwei Blätter heraus. Ich danke ihm tiefgerührt. Hat man je einen angenehmeren Mörder gesehen?

[482] Einen Bleistift habe ich selber. Um ihm jeden noch möglichen Schimmer des Verdachtes zu benehmen, schreibe ich meine Depesche, indem ich das Blatt sammt dem mir geliehenen Kursbuch als Unterlage auf die Kniee lege, so daß er, wenn er will, mitlesen kann. Er sieht flüchtig zu. Die erste Zeile recht vertrauenerweckend groß: ‚Madame Farne, Köln, Burgmauer 147.‘ Er sieht schon nicht mehr hin, sondern wischt mit der flachen Hand den Fensterschweiß weg und blickt in die Nacht hinaus. Um so besser!

‚Für Richard. – Erwarte Dich auf Tod und Leben fünfeinhalb früh Centralbahnhof Köln mit zwei handfesten Mannschaften Civil. – Verhafte schonungslos Menschen, dem ich aussteigend Hand schüttle. – Hänschen.‘

Wenn er das nur nicht für einen Ulk nimmt! Aber ‚auf Tod und Leben‘ schreibt man nicht um einen Ulk, und ein Polizeihauptmann hält so leicht nichts für einen Ulk. Ich war sicher, Du würdest kommen.

Einander behaglich gegenübersitzend fahren wir der belgischen Grenze zu. Der Mörder wird gesprächig, ordentlich unterhaltend und witzig. Warum sollte er auch nicht? Bis jetzt war ihm der Streich vortrefflich gelungen. Was der Polizeikommissar auf dem Nordbahnhof nicht hatte entdecken können, wie sollte das der belgische Grenzbeamte herausfinden? Und die höllische Schlauheit mit den vier Fingern! Ich las ihm die Freude vom Gesicht, von den triumphirend auf seinen Knieen ausgespreizten beiden Händen mit ihren je fünf vollständigen Fingern daran.

Wieder ein kleiner Halt: Maubeuge. Bald darauf Jeumont. ‚O diese Menge überflüssiger Haltestationen!‘ ruft der Mensch. Er ist doch ein wenig nervös. Sicherheit hin, Sicherheit her, Grenze bleibt Grenze! Ich strecke meinen linken Fuß ein wenig vor und schiebe den schwarzen Handschuh noch weiter unter den Sitz. Wenn er den jetzt noch entdeckte! Wenn er glaubte, auch ich hätte ihn gesehen! – Und wenn er ihn nun nachher vermißt? Beim Aussteigen oder beim Wiedereinsteigen? – Ach was, kommt Zeit, kommt Rath!

Jetzt fängt er wieder zu plaudern an. Er will seine Unruhe niederkämpfen, verreden: ‚Vielleicht hat man den Dieb inzwischen schon erwischt, und wir erfahren etwas davon an der Grenze.‘

‚Schon möglich; solche Menschen sind ja meist entsetzlich dumm. Laufen von Paris alle nach Brüssel oder doch nach Belgien. Da fängt man sie dann ganz gemüthlich ab wie die Krammetsvögel in der Schlinge.‘

‚Und nun gar solch ein Mensch mit nur vier Fingern!‘ und er lacht. ‚Ein Mensch mit nur vier Fingern an einer Hand sollte überhaupt nicht stehlen, sollte sich keinesfalls einer Verfolgung mit Signalement und Zubehör aussetzen.‘

‚Er wird eben nicht wissen, daß man seine Vierfingrigkeit bemerkt hat.‘

‚Und die Zeitungen? Das erste, was solch ein Mensch thut nach vollbrachter That, ist, die Zeitungen darüber zu lesen.‘

‚Ich bin überzeugt,‘ bemerke ich mit starkem Brustton, ‚der Dieb sitzt noch ganz ruhig in Paris, zählt seine Banknoten und lacht sich ins Fäustchen, daß man auf einen vierfingrigen Dieb fahndet. Diese ganze Geschichte mit dem glattrasierten Engländer oder so ähnlich, der Banknoten zu wechseln kam, ist doch gar zu einfältig. Warum soll der nun gerade der Dieb sein?‘

‚Ja,‘ meint er, ‚das sehe ich auch nicht recht ein. Aber in Ermangelung irgend einer andern Spur folgt die Polizei dieser einzigen, die sie hat. Wohl bekomm’s ihr!‘

Und dann nach einigem Besinnen: ‚Ist man übrigens schon so sicher, daß der Dieb nicht einer von der Bande im Comptoir d’Escompte selber ist?! Die haben doch noch ganz andere Flibustereien verübt.‘

Ich antwortete nichts, sondern zuckte mit den Achseln und brachte das Gespräch auf weniger verfängliche Dinge, auf Weltausstellung und Eiffelthurm. Er ging harmlos darauf ein, nur schien er neugierig geworden zu sein, wer und was ich wohl sei. So ließ ich denn zwanglos einfließen, daß ich ein deutscher Journalist sei, der für sein Blatt nach Paris gereist sei, um ein vorläufiges Bild der Weltausstellung zu geben. Das brachte uns unmerklich auf die Politik, auf Boulanger, für den er schwärmte, auf Elsaß-Lothringen, Bismarck, den alten und den jungen Kaiser Wilhelm. Der Kerl plauderte über alles mit jener Mischung von gesundem Menschenverstand und unbefangenster Unwissenheit über nicht-französische Dinge und Menschen, gegen die man machtlos ist. Dabei durchaus nicht chauvinistisch, bewahre! Für ihn war es ausgemacht, daß die Deutschen bei nächster Gelegenheit ‚ihren Raub‘ herausgeben müßten, und hinterher würde die schönste Freundschaft zwischen beiden Völkern herrschen. Wozu sich angesichts einer solchen doch unvermeidlichen Thatsache groß ereifern? Belgien wird von Frankreich einverleibt, Luxemburg –‘

‚Station Erquelinnes! Alles aussteigen!‘ – So erfuhr ich nicht, wie sich der Raubmörder das Schicksal Luxemburgs dachte.

Er ließ mich höflich zuerst aussteigen. Ich übergab meine Handtasche einem Gepäckträger, händigte ihm meinen Schlüssel ein und eilte vor allem zum Bahntelegraphenamt. Ein einziger verschlafener Telegraphist war darin. ‚Nehmen Sie eine Depesche in deutscher Sprache an?‘ fragte ich ihn.

‚Allerdings, wenn ich sie nur lesen kann; Deutsch verstehe ich nicht, aber das ist auch gar nicht nöthig, mein Herr.‘

‚Sprechen Sie telegraphisch direkt mit Köln?‘ fragte ich noch, während jener schon die Wortzahl ermittelte.

‚Ganz direkt, mein Herr. – Kostet sechs Franken sechzig Centimes. – Hier drei Franken vierzig Centimes zurück. Gute Nacht! – Gewiß, wird sofort weiter gegeben.‘

Ich war noch vor Beendigung der Zollplackerei im Untersuchungssaal, wo ich den Bärtigen gerade seinen Koffer schließen sah. Mein Täschchen war gar nicht geöffnet worden. Wir gingen zusammen in das dunstige schäbige Buffetzimmer und bestellten jeder einen Mazagran.

‚Na, haben Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Depesche gehabt?‘ fragte mich der Mörder.

‚Alles ganz glatt gegangen. – Und Sie mit der Douane?‘

‚Nur geöffnet und gleich wieder geschlossen. – Schade nur, daß Ihnen der Spaß entgangen ist mit dem Polizisten, der um die Zollbarriere strich wie ein hungeriger Wolf und allen Leuten auf die Hände sah. Denken Sie, wenn jetzt zufällig einer der Reisenden, ein völlig unschuldiger Mensch, nur vier Finger gehabt hätte! Dem hätte es gut gehen können. – Hoffentlich läßt man uns wieder in dasselbe Coupé?‘

‚Gewiß, ich habe sogar Schirm, Stock und Hut darin liegen lassen. Es ist ja der Durchgangswagen nach Köln.‘

‚Das ist ein wahres Glück,‘ erwiderte jener. Er griff in die Ueberziehertasche nach Feuer für eine Cigarette, die ihm der Kellner gebracht hatte. Plötzlich erbleichte er und suchte in beiden Taschen eifrig, ängstlich.

‚Sie vermissen etwas?‘ fragte ich besorgt.

‚Nein, – das heißt – es wird wohl im Wagen irgendwo liegen. Haben Sie – haben Sie ihn vielleicht bemerkt?‘

‚Aber was denn?‘

‚Ich habe einen Handschuh verloren.‘

‚Sie haben, so viel ich mich erinnere, keine Handschuhe getragen, als Sie in Paris einstiegen.‘

‚Ich weiß, ich weiß; aber ich hatte beide Handschuhe in meiner Ueberrocktasche, und jetzt fehlt mir einer, Teufel!‘

Sogleich wollte er zu unserm Coupé laufen, aber die Thür des Wartezimmers war noch verriegelt. In ungeheurer Aufregung stapfte er vor der Thür hin und her. Ich fühlte ihm seine Angst nach, sah förmlich die Gedanken, die sich unter diesem Schädel jagten: ‚Muß das nun gerade der mit den vier Fingern sein! Warum habe ich ihn nicht verbrannt, zerrissen? Wenn er auf dem Sitz oder am Fußboden des Coupés liegen geblieben ist und ihn einer der Leute findet, die auf solchen Stationen in alle Coupés hineinglotzen, oder ein Arbeiter, der die Heizkästen erneuert, – wenn er die vier Finger entdeckt, – davon spricht, – der Stationsvorsteher hat längst das Signalement erhalten – –‘

Mir ward doch unbehaglich zu Muthe. Jetzt wieder mit ihm ganz allein in das verwünschte Coupé hinein? Aber es mußte sein! Was hatte ich denn auch zu fürchten? Auf mich konnte er keinen Verdacht haben. Und in das Coupé zurückgekehrt, würde er ja alsbald den Handschuh finden, so finden, daß ich dabei ganz außer Spiel blieb. Ihn jetzt noch mir aus den Fingern lassen? – Um keinen Preis!

Kaum war die Ausgangsthür geöffnet, so stürmte er hinaus wie in Paris. Er wollte offenbar möglichst viel Zeitvorsprung vor mir gewinnen, um unbeobachtet nach dem Handschuh zu suchen. Die Freude will ich dir lassen, du dummer Teufel! Es fehlen noch fünf Minuten an der Abfahrtszeit; langsam gehe ich dem Ende des wesentlich verkürzten Zuges zu.

Vor dem Coupé angelangt, sehe ich den Mörder noch immer [483] suchen: im Hängenetz, auf dem Boden, auch unter den Sitzen, nur nicht an der richtigen Stelle. ‚Es brennt!‘ will ich ihm beinah zurufen, wie er den gesuchten Handschuh fast mit dem Finger streift, – aber da hat er ihn schon selbst gefunden, schleunigst zusammengedrückt und in die Rocktasche versenkt. Er grübelt nach, wie der Handschuh wohl aus der Tasche gefallen und unter den Sitz gerathen sein kann; allein bald schaut er sich der richtigen Veranlassung zu erinnern; sein Gesicht glättet sich wieder.

Und nun, Halunke, thu, was dir beliebt! Mit dir bin ich einstweilen fertig; ich habe genug von dir. Ich störe dich nicht mehr. Packe ein oder packe aus, mir ist alles eins; du entgehst mir nicht mehr. Jetzt will ich doch sehen, ob ich denn nicht allen Ernstes schlafen kann. Mir wird erst jetzt meine furchtbare Müdigkeit fühlbar. Mein Körper schmerzt mich, als hätte man mir jeden Knochen einzeln ein paarmal zerbrochen; mein Kopf kann nicht einen einzigen klaren Gedanken mehr erzeugen, geschweige festhalten. Müde, müde, müde – weiter denke und fühle ich nichts – und dann überhaupt nichts mehr.

Stunden mußten vergangen sein. Wie viele? – ich weiß von nichts. Ich war trotz mehrmaligen Haltens, das ich nur im Traum gespürt hatte, nicht einmal voll erwacht. Da wird die Thür wieder aufgerissen, die Heizung erneuert, – ein Mann, ein Beamter springt herein. Ich rühre mich nicht, auch mein Reisegefährte scheint zu schlummern. Der Beamte hat uns beide kurz aber scharf angeblickt, besonders unsere Hände, dann hat er leise die Thür zugedrückt. Durch das Fenster zu meinen Füßen lese ich den Namen der Station: Verviers.

Der Zug fährt weiter. Nur noch wenige Minuten und wir sind auf deutscher Erde. Der Gedanke ermuntert mich, ich springe auf. Auch der andere liegt mit weit offenen Augen da. Diesmal fange ich an, mit ihm zu sprechen:

‚Sie haben gut geschlafen, mein Herr?‘

‚Ausgezeichnet! Bei Ihnen braucht man nicht erst zu fragen.‘

‚Ja, ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen.‘

‚Das ist ein kostbares Geschenk der Natur für einen Reisenden.‘

‚Doppelt kostbar für einen Mann der Feder. Morgen, oder ich muß wohl schon sagen heute, muß ich wieder am Schreibtisch sitzen.‘

‚Sie werden über die Ausstellung schreiben?‘

‚Damit bin ich einstweilen fertig. Ich werde zunächst über den Raubmord im Comptoir d’Escompte schreiben.‘

‚Ach, wie schade, daß ich kein Deutsch verstehe, um das lesen zu können.‘

Der Zug fährt über mehrere Viadukte und durch lange Tunnel mit verminderter Geschwindigkeit. Mein Gegenüber sieht ganz ruhig, fast spießbürgerlich aus. Wer will ihm noch etwas anhaben? –

‚Herbesthal! Alles aussteigen, – Zollrevision!‘ – Der Mörder hat das Deutsche nicht verstanden, ich übersetze es ihm. Wieder hinaus mit dem Handgepäck, wieder scharf gemustert von spähenden Polizeiaugen, – dann zurück ins Coupé. Ein deutschredender Schaffner, sauber, stramm, eine Freude für den, der aus Frankreich kommt, hat unsere Billete geknipst. Vorwärts! Der letzte Akt in diesem Drama beginnt, für den Mörder nach seiner Meinung der entscheidende: jetzt gilt’s, das geraubte Gut unbemerkt vor Köln wieder in den Koffer zu praktiziren. Gute zwei Stunden bleiben ihm dazu, und – ‚ich schlafe nie besser als im Eisenbahnwagen‘.

An Uebung im Schlafen jeder Sorte, im künstlichen zumal, fehlt es mir ja nicht. Der Vierfingrige soll es gut haben. Ein bißchen zappeln soll er zuvor, aber das kann weder ihm noch mir etwas schaden. Ich beginne ein gleichgültiges Gespräch, doch er hat keine Lust, darauf einzugehen. Er sähe mich am liebsten wieder in meiner dunkeln Ecke liegen und schlafen. Indessen ich lasse ihn bis nach Aachen darauf warten. Auch in Aachen wieder polizeiliche Untersuchung, sehr höflich, aber sehr eingehend. Rathlos sitzt der Halunke da; die Unkenntniß dessen, was der Beamte zu uns spricht, genirt ihn gewaltig. – Und nun, du Satansbraten, pack’ ein, pack’ alles ein und vergiß mir ja nichts, auf daß wir in Köln alles schön beisammen finden!

Ich habe mich so gelegt, daß ich ihm den Rücken zudrehe. Ich habe es satt, mich von dem Scheusal beglotzen zu lassen. Zu sehen brauche ich jetzt ja nichts mehr. Ich höre den Kerl in seinem Kursbuch blättern. Von hier aus kenne ich die Linie Station für Station. Bis nach Stolberg hat er so an zehn Minuten. Ob er es bis dahin wagen wird? – Aha, er weiß jetzt nicht sicher, ob ich schon eingeschlafen bin, und wartet lieber noch. Seinen Koffer hatte er auf den Sitz gelegt, gleich beim Einsteigen in Herbesthal.

Stolberg vorüber, – jetzt gehts auf Düren zu. Die rothe Lohe aus den Riesenschloten der Hochöfen hier herum wirft flackernde Lichter durch die Wagenfenster. – Ist das schon Düren? Das wäre zu schnell gegangen. Nein, Eschweiler. Eine Minute Aufenthalt. Ich schlafe so laut, wie ich unauffälligerweise kann. Der Zug rasselt weiter, – und jetzt muß er meiner ganz sicher geworden sein: wieder höre ich das wohlbekannte Knacken des Schlüsselchens, wieder Ruck um Ruck, wie er die Polster herauszieht. Sein langer Ueberrock streift meinen Ellbogen, ich fühle etwas Hartes durch alles Zeug hindurch: aha, den Kolben seines Revolvers! aber ich rühre mich nicht. Dann höre ich ihn Packet auf Packet hervorheben und in den Koffer legen; ich zähle –: o, er vergißt keines! – Knacks! schließt sich der Koffer wieder.

‚Düren! fünf Minuten!‘ Vom Osten her dämmert ein fahles Licht durchs Fenster; der Morgen graut. Noch eine Stunde bis nach Köln.

Mit jeder Minute wuchs jetzt meine Ungeduld. Ob meine Depesche richtig in Deine Hände gelangt war? Wie, wenn Du nicht zu Hause warst, als sie mitten in der Nacht ankam? Wenn Du dienstlich irgendwo um Köln zu thun hattest? – Nun, den Rest weißt Du, Richard, und kannst jetzt wohl Deinen Bericht allein fertig kriegen.“

„Aber ich nicht,“ sagte Evchen, „ich weiß ja noch gar nichts, weiß nur, daß Richard mitten in der Nacht herausgeklingelt wurde, mir sagte: ‚Dienst, – schlafe Du nur ruhig weiter,‘ sich anzog und fortging. Das ist alles.“

„Nun,“ fuhr Hans fort „Sie hätten ihn sehen sollen, meinen Vierfingrigen, wie vergnügt er ausstieg, als der Zug hier auf dem Bahnhof hielt, und wie er, nach einem schnellen Blick den Perron entlang, auf mich wartete, um mir Adieu zu sagen. Ich hatte Richard, hinter dem Rücken des aussteigenden Mörders, ein abwinkendes Zeichen gegeben, noch ein wenig zu warten. Richard stand mit zwei Riesenkerlen an dem Ausgang nach dem Droschkenplatz. Also alles in Ordnung.

Der Vierfingrige hatte einen sich ihm anbietenden Gepäckträger rauh abgewiesen und trug seinen jedenfalls nicht ganz leichten Koffer selbst mit beiden Händen. Nahe dem Ausgang, bis wohin ich neben ihm hergegangen war, setzte er ihn nieder, um einem Droschkenkutscher zu winken. In diesem Augenblick streckte ich ihm die Hand entgegen und sagte zu ihm, so daß Richard dicht neben uns jedes Wort hören konnte, auf französisch: ‚Glückliche Reise, mein Herr!‘ und dann zu Richard und seinen beiden Schutzleuten auf kerndeutsch: ‚Packt den Mordshalunken!‘ – Wie mit eisernen Klammern legten sich je zwei Hände um jedes Handgelenk des Burschen. Nie habe ich ein solches Bild des rathlosesten Entsetzens gesehen. Aber das währte nur wenige Sekunden, dann riß der große starke Mensch wie mit Riesenkräften an den ihn umspannenden Händen, daß die beiden wackeren Kerle alle Mühe hatten, ihn nicht loszulassen. Richard trat dicht vor ihn hin und sagte ihm ruhig ins Gesicht auf deutsch: ‚Sie sind verhaftet!‘ Sich sträubend und vor hilfloser Wuth schäumend, schrie er Richard an: ‚Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich los!‘

Ich trat neben Richard und griff, ohne ein Wort zu sagen, in des Mörders Rocktasche, holte, während er verdutzt stillstand, seinen Revolver und seine Handschuhe heraus und sagte ihm auf französisch: ‚Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen Bruder vorstelle, den Herrn Polizeihauptmann, an den ich Dank Ihrer Liebenswürdigkeit von Erquelinnes die Depesche gesandt habe. Ich hoffe, daß Sie von den vier Millionen Franken keine einzige im Wagen haben liegen lassen. Und wenn Sie in Zukunft zu einem Raubmord sich wieder einmal eines vierfingrigen Handschuhs bedienen, so lassen Sie ihn nicht im Coupé auf den Boden fallen.‘ – Dabei hielt ich ihm den schwarzen Handschuh mit seinen ausgespreizten vier Fingern vor die Augen. –

Er warf mir einen Blick zu so erfüllt von wüthender, ohnmächtiger Mordlust, daß mich dieselbe Empfindung überkam wie in der Nacht, als ich seine Finger um meinen Hals zu spüren vermeinte. Dann knickte er zusammen: er wußte, hier half nicht Wuth noch List. Widerstandslos ließ er sich in das Polizeiwachtzimmer des Bahnhofs führen, wo sie ihm die Hände banden. –

Jetzt geh und mach’ einen recht schönen Bericht für Euren Präsidenten. – Auf Ihr Wohl, liebe Schwägerin!“ –