Deutsche Politik – Schlußwort (1914)

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Autor: Bernhard von Bülow
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Titel: Deutsche Politik – Schlußwort
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Erstes Buch, S. 131 bis 136
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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Schlußwort.


Das Deutsche Reich, wie es hervorgegangen ist aus den Feuertaufen von Königgrätz und Sedan als die späte Frucht des langen Werdeganges unseres Volkes, konnte erst entstehen, als der deutsche Geist und die preußische Monarchie sich fanden. Sie mußten sich finden, sollte ein einheitliches deutsches Staatsleben von dauernder Kraft gewonnen werden. Die schicksalsreiche deutsche Geschichte sah des Großen, des Gewaltigen die Fülle, sie sah den Kampf der deutschen Kaiser um das Erbe der Cäsaren, sah die deutschen Waffen siegreich am Belt und am Mittelmeer, in Kleinasien und im Herzen des heutigen Frankreichs, sie sah nach dem geistigen Läuterungsprozeß der Reformationszeit die höchste Entfaltung künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens seit den Tagen des alten Hellas und dem Cinquecento. Aber das staatliche, das politische Ergebnis war doch im 19. Jahrhundert die Auflösung aller staatlichen Formen, die Überflügelung der deutschen Macht durch die jüngeren Staaten des europäischen Westens und Ostens. In tausendjähriger Arbeit war kulturell das Höchste, politisch nichts erreicht worden. Die von Natur gesegneten Gebiete des deutschen Westens und Südens haben dem deutschen Geistesleben unvergängliche Werke geschaffen, aber für das härtere Geschäft der Staatsbildung die Kraft nicht aufzubringen vermocht. Wir modernen Deutschen teilen das herbe Urteil Treitschkes über den Unwert der deutschen Kleinstaaten nicht mehr. Wir haben im jahrzehntelangen Besitz der Reichseinheit die Freiheit des Blickes wiedergewonnen für die mannigfachen Segnungen, die wir den kleinen Staatsbildungen verdanken. Den Sünden des deutschen Partikularismus standen doch zur Seite die Förderung und der Schutz, die das geistige Leben Deutschlands von den Fürsten und Städten erfuhr. Der weimarische Musenhof hat wohl das Größte, nicht das einzige geleistet. Die Geschichte der meisten außerpreußischen Staaten ist verknüpft mit dem Namen dieses oder jenes derjenigen Männer der Wissenschaften und Künste, die geholfen haben, den großartigen Bau unseres geistigen Lebens aufzurichten. Als Preußen sich seiner Pflichten gegen die ideellen Güter Deutschlands erinnerte, in jenen schweren und doch großen Jahren, in denen Friedrich Wilhelm III. das schöne Wort fand, der preußische Staat müsse durch geistige Kräfte ersetzen, was er an physischen eingebüßt hat, hatte der deutsche Geist schon die höchsten Gipfel erstiegen ohne die Hilfe Preußens. Das geistige Leben Deutschlands, das die Welt bewundern gelernt hat, dem selbst der erste Napoleon Reverenz erwies, ist das Werk des deutschen Westens und Südens, geleistet unter dem Schutze seiner Fürsten, der kleinen Staaten und der freien Städte.

Das Volk auf dem märkischen Sande, in den von der Natur karg bedachten Ebenen östlich der Elbe und Oder aber hat in den Jahrhunderten, die die deutsche Kultur im [132] anderen Deutschland werden sahen, unter einem heldenhaften und staatsklugen Herrscherhause in Kämpfen und Entbehrungen die staatliche Zukunft Deutschlands vorbereitet. Im Westen und Süden Deutschlands ist der deutsche Geist gebildet worden, in Preußen der deutsche Staat. Die Fürsten des Westens sind die Pfleger deutscher Bildung gewesen, die Hohenzollern die politischen Lehr- und Zuchtmeister. Es hat lange gedauert, ehe man in Deutschland die Bedeutung Preußens, an dem selbst Goethe nur den großen König liebte, begriff, ehe man erkannte, daß dieser rauhe, durch und durch prosaische Militär- und Beamtenstaat ohne große Worte aber mit desto größeren Taten ein deutsches Kulturwerk ersten Ranges schuf, daß er die politische Kultur des deutschen Volkes vorbereitete. Der preußische Staat ist für Deutschland geworden, was Rom für die antike Welt gewesen ist. Der geistig universalste und dabei preußischste der deutschen Historiker Leopold v. Ranke, sagt in seiner Weltgeschichte, es sei die Aufgabe der antiken Welt gewesen, den griechischen Geist mit dem römischen zu durchdringen. Die antike Bildung, in der das Geistesleben Westeuropas mit allen seinen Wurzeln ruht, ist der Welt erhalten worden durch den Schutz des Rechts- und Militärstaats Rom, der der alten Welt die politischen Daseinsformen gab. Dem deutschen Geistesleben ist der preußische Staat Beschützer geworden dadurch, daß er dem deutschen Volk die staatliche Einigung und die ebenbürtige Stellung unter den großen Reichen der Welt schuf.

Wir haben durch die Reichsgründung ein nationales Staatsleben gewonnen. Unsere politische Entwicklung hat damit einen neuen sicheren Weg betreten. Aber zum Ziele gelangt ist sie noch nicht. Die Aufgabe, deren Erfüllung wohl begonnen, keineswegs aber vollendet ist, muß sein die Einheit unseres geistigen und politischen Lebens, das heißt die gegenseitige Durchdringung preußischen und deutschen Geistes. Das preußische Staatsleben muß sich so mit dem deutschen Geistesleben, dieses sich so mit jenem aussöhnen, daß beide ineinander verwachsen, ohne einander zu schwächen. Eine solche Aussöhnung ist noch nicht erreicht. Noch sieht der Vertreter deutschen Geisteslebens gern im preußischen Staate eine feindliche Macht, noch der Altpreuße bisweilen in der freien, durch keine Regel gehemmten Entfaltung des deutschen Geistes eine destruktive Kraft. Und immer wieder kann man erfahren, daß in Parlament und Presse im Namen der Freiheit wider Preußen und im Namen der Ordnung wider den nie zu bändigenden deutschen Geist geeifert wird. Mein verstorbener Freund Adolph Wilbrandt läßt in einem hübschen Schauspiel einen Beamten aus norddeutscher Adelsfamilie und die Tochter eines bürgerlichen Gelehrten auftreten, die sich erst abstoßen und streiten. „Ich repräsentiere das Deutschland Schillers, Goethes und Lessings“, sagt die Gelehrtentochter, und der Beamte erwidert: „Und ich das Deutschland Bismarcks, Blüchers und Moltkes.“ Ähnliches hören wir oft von klugen und ernsten Männern. Unsere deutsche Zukunft hängt davon ab, ob und wie weit es uns gelingt, den deutschen Geist mit der preußischen Monarchie zu verschmelzen. In dem Wilbrandtschen Stück kommt es schließlich zu Liebe und glücklicher Ehe zwischen dem angehenden Staatsminister und der anmutigen Schwärmerin für Friedlich Schiller.

Es ist richtig, daß im außerpreußischen Deutschland auf Grund anderer politischer Traditionen vielfach Auffassungen von staatlicher Herrschaft und politischer Freiheit herrschen, die grundverschieden sind von denen, die gewachsen sind auf dem Boden preußischer [133] Traditionen. Dieser Unterschied kommt nicht nur zur Geltung in den Parteigegensätzen, sondern auch in den Parteien selbst. Man sucht es im deutschen Süden mehr in einer Lösung der politischen Kräfte nach unten hin, in Preußen mehr in einer Bindung der politischen Kräfte von oben her. Dort eine mehr geistige, hier eine mehr staatliche Auffassung des politischen Lebens. Eine jede der beiden ist Ergebnis geschichtlichen Werdens und hat ihre wohlberechtigte Eigenart. Der Preuße tut unrecht, wenn er im politischen Leben Süddeutschlands nichts sehen will, als zersetzende Demokratie. Der Süddeutsche tut ebensolches Unrecht, wenn er die Eigenart des preußischen Staatslebens als politische Rückständigkeit perhorresziert. Fortschritt ist im politischen Leben ein sehr fließender Begriff, und in welcher Richtung politischer Entwicklung zuletzt der wahre Fortschritt liegen wird, das ist eine Frage, die alle Weisen der Welt nicht werden beantworten können. Ein jeder Staat, ein jedes Volk sucht auf seine Weise vorwärtszukommen und seine politischen Institutionen zu vervollkommnen. Wir Deutschen, die wir aus geschichtlichen Gründen nicht ein einheitliches, sondern ein vielgestaltiges Staatsleben haben, dürfen uns weniger noch als ein anderes Volk abstrakte politische Prinzipien schaffen, weder solche, die allein den preußischen, noch solche, die allein den süddeutschen Überlieferungen entnommen sind, und alle Politik über den Leisten dieser Prinzipien schlagen. Unsere Aufgabe besteht darin, die politische Entwicklung in Preußen, den Einzelstaaten und im Reich so zu führen, daß jedem der Glieder im Reich diejenigen Kräfte erhalten werden, mit denen es dem gemeinsamen Vaterlande am wertvollsten ist. Die Harmonie des deutschen Lebens in allen seinen Teilen wird weniger zu erstreben sein durch eine Uniformierung aller Einrichtungen in Nord und Süd, in Ost und West, als durch ein Abschleifen der heute noch vorhandenen Gegensätze.

Die Bismarckische Reichsschöpfung war nicht zuletzt dadurch so meisterhaft, daß sie eine feste Bindung schuf, ohne die Eigenart und die Selbständigkeit der Einzelstaaten zu zerstören, und daß sie durch die Wahrung des monarchischen Prinzips auch im neuen Reich Preußen nicht nur nominell, sondern tatsächlich zum führenden Staat machte. Die Einigung Deutschlands, die der patriotischen Demokratie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts vorschwebte, wollte die Selbständigkeit der Bundesstaaten mehr oder minder aufheben und die einigende Kraft in den maßgebenden Einfluß eines Reichsparlamentes legen. Abgesehen davon, daß die deutschen Fürsten für eine solche Einigung nie und nimmer zu haben gewesen wären, war es ein Irrtum, in dem durch und durch monarchischen Deutschland einigende Kräfte von einem noch gar nicht vorhandenen, geschweige denn erprobten Parlamentsleben zu erwarten. Daß in einer gemeinsamen deutschen Volksvertretung die Kräfte mehr auseinanderstreben als sich im Reichsgedanken und in großen nationalen Aufgaben zusammenfinden, haben die seit der Reichsgründung vergangenen Jahrzehnte mit ihren Kämpfen zwischen Reichsregierung und Reichstagsparteien genügend bewiesen. Der Preuße Bismarck wußte am besten, daß in Deutschland starkes Staatsleben nur monarchisch zu schaffen und zu erhalten ist. Das Einigungswerk konnte nur von Dauer sein, wenn dem deutschen Reichsbau nicht lediglich ein monarchisches Ornament gegeben wurde, sondern wenn die Monarchie tatsächlich zum Träger der Einigung wurde. Und sollte die durch Jahrhunderte erprobte staatsbildende [134] Kraft der preußischen Monarchie für das neue Reich gewonnen werden, so durfte der König von Preußen als deutscher Kaiser nicht etwa Inhaber schattenhafter Würden sein, er mußte regieren und führen und zu diesem Zweck tatsächliche monarchische Rechte besitzen so, wie sie dann in der Reichsverfassung niedergelegt und umschrieben sind. Auf den Wegen der Demokratie, auf denen andere Völker zum Ziel nationaler Entwicklung gelangt sind, wäre Deutschland gar nicht oder nur sehr langsam und unvollkommen zu staatlicher Einigung gekommen. Als Monarchie, mit der Vertretung der verbündeten Fürsten im Bundesrat und dem König von Preußen an der Spitze sind wir ein einiges deutsches Reich geworden. Unter die alleinige Obhut streitender Parteien im Parlament gegeben, hätte der Reichsgedanke niemals so an Boden, niemals so die deutschen Herzen gewinnen können, wie es geschehen ist, da die Reichseinheit unter den Schutz der Monarchie gestellt ward. Was Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts der spätere Ministerpräsident des Deutschland schicksalsverwandten Italiens Crispi an Mazzini schrieb, er habe sich von der Republik zur Monarchie bekehrt, weil die Monarchie Italien einige, die Republik es spalte: das gilt auch für uns. Und das gilt besonders deshalb, weil das Deutsche Reich, in der Mitte Europas gelegen, an seinen weiten Grenzen von Natur ungenügend beschützt, ein Militärstaat sein und bleiben muß. Starke Militärstaaten haben aber in der Geschichte immer einer monarchischen Führung bedurft.

Eine starke Monarchie an der Spitze schließt eine rege Anteilnahme des Volkes an den Dingen des staatlichen Lebens im Reich und in den Einzelstaaten natürlich nicht aus. Im Gegenteil, je lebhafter und verständnisvoller das Interesse des Volkes in allen seinen Teilen ist an der Entwicklung der politischen Angelegenheiten, desto inniger wird die Nation mit der Monarchie, die führend an der Spitze des nationalen Lebens steht, verwachsen. Das Staatsleben der modernen Monarchie ist eine Arbeitsgemeinschaft von Krone und Volk, wie sie bei uns durch die Verfassungen geschaffen ist. Es ist ein alter Irrtum, den Grad der Anteilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften allein messen zu wollen an der Summe der Rechte, die der Volksvertretung gegeben ist. Es kann ein Parlament sehr weitgehende Rechte besitzen, ohne daß das Volk besonders lebhaftes Interesse an der Politik nimmt. So war in Frankreich früher zuweilen das Parlament allmächtig, aber das Volk gleichgültig. Dem relativ großen Maß von verfassungsmäßigen Rechten, das in Deutschland dem Reichstag und den Landtagen gegeben ist, könnte eine weit regere politische Teilnahme, ein viel eindringenderes politisches Verständnis des Volkes zur Seite stehen, als es bisher der Fall ist. Die sogenannte „Politisierung des Volkes“ ist eine Frage politischer Erziehung, nicht eine Frage parlamentarischer Macht. Die hier und da laut gewordene Behauptung, es wäre mein Gedanke gewesen, die Verteilung der Rechte zwischen Krone und Parlament zugunsten des Parlaments zu verschieben, das heißt ein parlamentarisches Regime im westeuropäischen Sinne herbeizuführen, gehört in das dichtbevölkerte Reich politischer Fabeln. Die Rechtsgrenze zwischen Krone und Parlament hat mir unverrückbar festgestanden. In der äußeren wie in der inneren Politik habe ich es als meine vornehmste Aufgabe angesehen, die Krone nach bestem Wissen und Gewissen zu stärken, zu unterstützen und zu schützen, nicht nur aus innerstem Royalismus und persönlicher [135] Anhänglichkeit an ihren Träger, sondern auch, weil ich in ihr den Eckstein in Preußen und den Schlußstein des Reiches sehe.

Was uns Deutschen politisch fehlt, das ist nicht zu erringen durch Veränderungen auf dem verfassungsrechtlichen Gebiet. In den Parteien, denen vermehrte Rechte zugute kämen, fehlt es ja selbst noch vielfach zu sehr an politischem Urteil, politischer Schulung und Staatsbewußtsein. Noch steht in Deutschland eine große Summe der Gebildeten, denen ja die Führung im Parteileben gebührt, dem politischen Leben gleichgültig, wenn nicht gar ablehnend gegenüber. Sehr kluge und gelehrte Männer betonen oft mit einem gewissen Stolz, daß sie von Politik nichts verstehen und auch nichts wissen wollten. Die Unkenntnis der allerelementarsten Dinge des Staatslebens ist oft erstaunlich. Die Zeiten sind vorüber, in denen es für das Staatswohl nichts ausmachte, ob die Nation etwas von den Gesetzen verstand, die ihr gegeben wurden. Das Geschäft der Gesetzgebung liegt heut nicht mehr allein in den Händen mehr oder minder fach- und sachkundiger Beamter, sondern das Parlament arbeitet mit. Aber die Tätigkeit der Fraktionen vollzieht sich auch in unseren Tagen oft noch kaum anders als die ehemalige reine Beamtentätigkeit: bei vollkommener Verständnis- und Urteilslosigkeit weiter Kreise der Bevölkerung. Bei wirtschaftlichen Fragen regen sich wohl die Interessengruppen in Landwirtschaft, Handel und Industrie, bei einigen Spezialfragen regen sich die für die speziellen Dinge eigens gegründeten Vereine, aber im allgemeinen läßt man das Diktum der Parlamentarier mit der vollen Passivität des beschränkten Untertanenverstandes über sich ergehen. Wird dann das fertige Werk am Leibe gespürt, so setzt eine herbe Kritik ein, die sich aber auch nur auf den Einzelfall beschränkt, ohne eine Belebung des politischen Verständnisses zur Folge zu haben. Die aktive Anteilnahme am Gange der politischen Geschäfte, die fehlt uns Deutschen, eine Interessiertheit, die nicht gelegentlich des in mehrjährigen Zwischenräumen wiederkehrenden Wahlkampfes erwacht, sondern sich befaßt mit den großen und kleinen Fragen des staatlichen Lebens. Sache der Gebildeten ist es, diese politische Erziehung in die Hand zu nehmen, Sache der geistigen Führer, denen kein Volk so willig folgt, wie das deutsche. Die lässige Gleichgültigkeit geistig und ästhetisch empfindsamer Naturen gegenüber dem politischen Leben, die vor Zeiten einmal unschädlich war, ist heut nicht mehr am Platz. Die Gegenwart, die voll ist von ernsten und großen politischen Aufgaben, die in den Parlamenten eine Teilnahme des Volkes an den Staatsgeschäften geschaffen hat, braucht ein politisches Geschlecht. Und Regierungspflicht in dieser Gegenwart ist es nicht, dem Parlament neue Rechte zu schaffen, sondern die politische Teilnahme des Volkes in allen seinen Schichten zu wecken durch eine lebendige, national entschlossene, in ihren Zielen große, in ihren Mitteln energische Politik. Die Kritik, die jede Politik, die nicht farblos ist, auslösen muß, ist kein Schade, wenn auf der anderen Seite positives Interesse geweckt wird. Das Schlimmste im politischen Leben ist die Erstarrung, die allgemeine schwüle Windstille.

Die Ruhe ist nur dem gestattet, dem keine Pflicht mehr zu erfüllen bleibt. Kein Volk kann das von sich sagen. Am wenigsten das deutsche, das vor so kurzer Zeit erst einen neuen Weg zu neuen Zielen beschritten hat. Die Zahl der Aufgaben, die wir seit 1870 gelöst haben, ist doch klein neben der Zahl derer, die ihrer Lösung noch harren. Wir dürfen [136] uns des Getanen nur freuen, um aus dem Blick auf unser Können das Vertrauen zu gewinnen, mehr und Größeres zu leisten. Goethe hat uns nicht im Wagner, der zufrieden sieht, wie wir es zuletzt so herrlich weit gebracht haben, das deutsche Volk im deutschen Menschen gestaltet, sondern im Faust, der in hochgespanntem Selbstvertrauen immer strebend sich bemüht und als der Weisheit letzten Schluß die Wahrheit findet: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.“