Die Brüder Grimm bei der Märchenerzählerin
[515] Die Brüder Grimm bei der Märchenerzählerin. (Zu dem Bilde S. 505.) Wer sollte ihn nicht kennen, den köstlichen Schatz der „Kinder- und Hausmärchen“, welchen die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm für uns gehoben und gesichert haben, wer sollte nicht in seinen Kindertagen mit namenlosem Entzücken der Geschichte vom Wolfe und den sieben jungen Geißlein, von Hänsel und Grethel, vom Rothkäppchen und Aschenputtel, vom „Tischchen deck’ dich“, vom Dornröschen, Sneewittchen, Daumerling, und wie sie alle heißen, gelauscht haben, wer sollte ihrer nicht noch in seinen reifen Jahren mit andächtiger Rührung gedenken! In jahrelanger treuer und eifriger Sammelarbeit haben die Brüder Grimm sie unmittelbar aus der Quelle, aus der mündlichen Volksüberlieferung geschöpft und so aus der schon schwindenden Fülle reiche Reste für uns gerettet.
Mancher günstige Zufall kam ihnen dabei zu statten. Als der erste Band ihrer Sammlung 1812 erschienen war, da haben auch verständige Freunde manches werthvolle Kleinod zugetragen. Ganz besonders ergiebig aber erwies sich eine Fundgrube: in dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehren lernten die Brüder eine Bäuerin kennen, die in ihrem Gedächtniß eine ganz erstaunliche Fülle der schönsten Märchen barg. Es war eine Frau Viehmann. Lassen wir uns von den Brüdern selbst über diese Frau erzählen!
„Die Frau Viehmännin,“ so schreiben sie in der Vorrede zu ihrem Märchenbuch, „war noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf. Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß und sagte wohl selbst, daß diese Gabe nicht jedem verliehen sei und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Wer an leichte Verfälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber.“
Durch den Krieg gerieth die Frau Viehmännin in Elend und Unglück. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre ohnedies schon arme Hütte. Sie ward siech und starb am 17. November 1816. Das deutsche Volk aber darf ihr wohl ein dankbares Andenken bewahren für das kostbare Erbe, das aus ihrem Besitze in den seinigen, ja in den der ganzen gesitteten Menschheit übergegangen ist, ein dankbares Andenken aber auch den beiden genialen Brüdern, die ihres Amtes als Vermittler dieser Erbschaft so treulich gewaltet haben.