Die Gartenlaube (1853)/Heft 37

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 37. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Bilder und Skizzen aus dem Erzgebirge.

1.0 Ein Harfenmädchen.

Breitenbrunn hatte heute einen seiner lustigen Tage, nach der Kirmes den lustigsten im Jahre. Es war der weiße Sonntag; der hielt noch Alles, was Breitenbrunnisch hieß, beisammen; von morgen an aber zog Eins nach dem Andern, was eine Saite rühren oder eine Pfeife blasen konnte, hinaus in die weite, weite Welt, zu singen und zu spielen überall, „soweit man deutsche Lieder singt.“ Denn Schaaren von Musikanten (Schaller oder Schallstifte, wie sie wohl auch sich nennen), männlichen wie weiblichen Geschlechtes, sendet Breitenbrunn alljährlich um diese Zeit in ferne Länder aus und sieht sie nicht eher wieder, als bis der Herbstwind über die Haferstoppeln fährt und der Herr Pastor die Kirmespredigt studirt. Der weiße Sonntag ist daher das Abschiedsfest für die musikalischen Zugvögel und ihre Angehörigen, und da alle Musikanten in aller Welt ein lustig Volk sind, mithin auch in Breitenbrunn, so halten sie ihren Abschied nicht unter Klagen und Seufzern, sondern mit Jubel und Tanz. So auch heute. Wo nur ein gedieltes Plätzchen war, da sich drei Pärchen im Kreise drehen konnten, da gab’s Musik und Tanz, da war „Leben und Lebenslust vollauf.“

Nur ein Haus schien von der allgemeinen Freude ausgeschlossen zu sein, oder besser nur eine Hütte, die alleräußerste draußen nach der „Unruh“ zu, da, wo die beiden Wiesenbächlein sich zum „Ortbach“ vereinigen. So einsam, wie sie lag, so still war es darin; ja hätte nicht der säulengerade aus dem Schornsteine aufsteigende Rauch dem widersprochen, so hätte man glauben mögen, die Hütte wäre ausgestorben. Und doch hauste auch hier ein an dem Abschiedsfeste sehr nahe betheiligtes Paar: eine Mutter, die daheim blieb, und eine Tochter, die morgen mit ihrer Harfe hinauszog, wer weiß wie weit und auf wie lange Zeit! Sie hatten einander so lieb und waren noch nie getrennt gewesen; es war das allererste Mal, daß das siebzehnjährige Röschen mit in die Fremde wanderte – darum waren sie so still, darum saßen sie beisammen und waren so traurig und konnten nicht begreifen, wie man anders sein könne, wenn zwei Herzen von einander scheiden: ein Mutterherz und ein Tochterherz!

Das Mutterherz zumal war aufgelöst im heißen Abschiedsweh. Und mit Recht! Es dachte an die Gefahren, welchen das geliebte Kind in der argen Welt draußen entgegenging. Und dies Kind war ja das einzige Liebespfand, das sie von dem gestorbenen Gatten [394] besaß. Unter tausend Mühen hatte sie es groß gezogen, es so treu gehütet, sein unsterblich Theil so sorgsam gepflegt und bewahrt, wie sein leiblich Leben. Darum war auch des Mädchens Seele so rein geblieben, wie das Brünnlein, das den Hüttenhewohnerinnen seinen krystallenen Schatz fast zum Fenster hineinsprudelte, und ihre Gestalt war so zierlich emporgewachsen, wie die schlanke Tanne, die der Vater bei der Geburt des Kindes in dem kleinen Gärtchchen neben dem Hause gepflanzt hatte. Dabei war sie so munter, wie die hüpfende Welle des „Ortbachs“, und Augen hatte sie blau und lieb wie die Vergißmeinnichtblümchen, die ihn säumen. Jetzt waren sie freilich von Thränen getrübt.

„Ach, Mutter!“ sprach sie, „warum müssen wir so arm sein, daß wir nicht immer beisammen bleiben können, sondern ich mit hinaus muß in die fremde Welt, wo Niemand mich liebt und keine Mutter bei mir ist?“

„Ja,“ erwiederte die Mutter, „ich ließe Dich nicht mit ziehen, wenn wir nicht noch von der langen Krankheit Deines seligen Vaters her so tief in Schulden stäken, und wenn die „Borten“[1] noch gingen, daß man damit wenigstens sein knappes Auskommen hätte. „Indeß“ – fuhr sie schluchzend fort – „es muß so sein – es geht jetzt Vielen wie uns, und wir müssen noch froh sein, daß Du in so guter Gesellschaft reisest: die Schmidt-Lene ist eine brave Frau; sie spielt nur an ehrbaren Plätzen; sie wird immer um Dich sein und ein Aug’ auf Dich haben. – – O mein Rösel – bleib mir fein brav – habe Gott vor Augen und im Herzen und hüte Dich, daß Du in keine Sünde willigest – es bräche mir das Herz, wenn – –“

Hier erstickte das Schluchzen ihre Rede; sie bedeckte ihr Gesicht mit der blauen Leinwandschürze, und Röschen weinte mit ihr. Endlich ermannte sich Frau Goldhahn (das war der Name der kleinen Familie), stand auf und holte aus dem Schränkchen, das an der hintern Wand des Zimmers hing, ein kleines Etui; daraus zog sie ein Miniaturbildchen hervor.

„Sieh, Röschen,“ sprach die wackere Frau, „dieses Bild Deines Vaters geb’ ich Dir mit auf die Reise – trag’ es immer an Deinem Herzen und betracht’ es täglich – es wird Dir ein Schild sein gegen jede unreine Berührung. Vergegenwärtige Dir bei seinem Anblicke immer und immer wieder Alles, was ich Dir von dem Seligen erzählt habe, so wird nie ein Mann Gewalt über Dich gewinnen, der nicht so fromm und gut, so rein und redlich ist wie er. Ach! wenn er hätte denken sollen, daß es uns so ergehen würde! Damals, als ihn sein Bruder für mich malte, leuchteten uns ganz andere Hoffnungssterne. Er war ein so kluger und geschickter Mann, und es mußt’ ihm Alles so fehlschlagen!“

Frau Goldhahn küßte das Bild und hing es der Tochter um den schneeweißen Hals, worauf sie nicht müde wurde, ihr auf’s Neue von dem verstorbenen Vater zu erzählen, um sein Charakterbild recht tief in die jungfräuliche Seele zu prägen; denn die fromme Mutter war des Glaubens, daß neben diesem Bilde nie ein unwürdiges Raum, nie ein beflecktes Geltung gewinnen könne.

So verfloß der weiße Sonntag in dieser Hütte, die am folgenden Tage ihres reizendsten Schmuckes auf lange Zeit beraubt werden sollte. Wie der Morgen graute, erschien die „Schmidt-Lene“ mit ihrem Manne und drei jüngeren Schwestern vor der Thür, durch die sie Röschen bald den Armen der jetzt gefaßten Mutter entführten.

Wir folgen den Wanderern jetzt nicht in die fernen Gegenden, die sie bereisen, sondern warten auf ihren Bergen, bis wir sie sehen wieder daher gezogen kommen. –

Es fehlten nur wenig Tage bis zur Kirmes; einzelne Breitenbrunner Zugvögel waren schon mit gefülltem Beutel heimgekehrt, und die Schmidt-Lene mit ihrer kleinen Künstlergesellschaft wurde noch heute erwartet. Kein Wunder daher, daß das Häuschen an der Gabel des „Ortbachs“ leer stand – denn seine einsame Bewohnerin war über alle Berge weg, die zwischen Breitenbrunn und Raschau liegen, der Tochter entgegen. Wer an der unbelebten Wohnung vorüberging, konnte durch die Fenster sehen, wie blank gescheuert und aufgeputzt das kleine Zimmer war, ja daß sogar eine Guirlande von grünem Laub und rothen Vogelbeeren an den Wänden hinlief und die Thür durch eine Einfassung von Tannenzweigen und Immortellen in eine Ehrenpforte verwandelt war. Du heilige, süße Mutterliebe!

Sie war aber auch solcher Liebe werth, sie, der diese Ehrenpforte galt! Denn rein, wie sie vor einem halben Jahre aus den Armen der Mutter hinausgezogen war in die große Welt, kehrte sie jetzt an der Hand dieser Mutter zurück unter das niedere, aber von keiner Sündenschuld belastete Dach. Das zeigte das unverändert klare Vergißmeinnichtauge, das sonnige, Unschuld strahlende Antlitz, das zeigte ihr ganzes seraphgleiches Wesen. Und doch war sie eine Andere, als wie sie gegangen; das Mädchen war eine Jungfrau geworden, und auf ihrer Stirn lag der Adel des Bewußtseins glücklich bestandener Prüfungen, aus ihren Augen leuchtete die Flamme einer seligen Verklärung.

Die Augen einer Mutter sehen scharf. Frau Goldhahn erkannte sogleich, daß ihre Tochter ihrer werth geblieben; aber auch die angedeutete Veränderung entging ihr nicht, nur wußte sie dieselbe nicht zu deuten. Es war etwas „Vornehmes,“ wie sie es nannte, an ihr, das sie früher nicht besessen, und ein Gefühl des Glückes, der Befriedigung spiegelte sich in ihren Mienen, worauf die gute Frau fast eifersüchtig war, weil sie einen Augenblick glaubte, daß es ihrem Kinde in der Fremde doch besser gefallen habe, als daheim. „Wenn es ihr draußen zu wohl gefällt,“ dachte sie auf dem Heimwege, „so wird sie mich bald wieder verlassen, und am Ende einmal gar nicht wieder kommen.“

Von dieser Sorge wurde sie indeß befreit, als Röschen nach den ersten Umarmungen, die sie daheim unter der grünen Ehrenpforte mit der Mutter getauscht, ausrief: „Daheim ist doch daheim! bei Dir ist’s am schönsten, Mutterle! Nun bringt mich auch sobald Niemand [395] wieder mir fort von Dir! Der liebe Gott hat uns gesegnet, daß die Noth uns nicht gleich wieder hinaustreibt, und wenn auch die Lene nächstes Frühjahr wieder reist, so bleib’ ich doch daheim bis das andere Jahr!“

Das war Balsam für das Mutterherz. „Ach, Du gutes Kind!“ erwiederte Frau Goldhahn, „wie erquickt mich Deine Rede! Daraus erkenne ich, wenn ich’s nicht schon wüßte, daß Du hrav geblieben bist, Dich nicht von dem Schimmer und den Verlockungen der argen Welt hast bethören lassen. Ja, ja, Du hast meine Worte beherzigt, Du hast das Bild Deines guten, seligen Vaters treu, nicht nur auf dem Herzen, sondern auch im Herzen bewahrt.“

Eine hohe Purpurröthe, die bei diesen Worten Röschens Gesicht übergoß, entging den Augen der Mutter nicht, doch schrieb sie dieselbe ihrer Bescheidenheit zu, herzte und küßte die Erglühete auf’s Neue und eilte dann, den – zumal bei solcher Veranlassung – in Breitenbrunn wie aller Orten im Gebirge unvermeidlichen Kaffee zu bereiten. Röschen wollte der Mutter das Geschäft abnehmen, allein da kam sie schön an; sie mußte sich gefallen lassen, aus der „Hölle“ gejagt und auf das Kanapee gewiesen zu werden, damit sie sich von der weiten Reise ausruhe. In der That war Röschen von dieser so ermüdet, daß sie, nachdem sie sich aller überflüssigen Umhüllungen entledigt hatte, so zu sagen auf das Kanapee fiel und bald auf ihm entschlief.

Welch ein rührendes Bild sich jetzt dem Auge eines Beobachters dargeboten hätte! In der Stube umhertrippelnd das geschäftige, freundliche, überglückliche Mütterchen – und auf dem Kanapee die in sanftem Schlummer hingegossene liebliche Gestalt der voll aufgeblühten Jungfrau! Zuweilen warf die Mutter einen glänzenden Blick auf die Ruhende, zuweilen – wie beim Kaffeemahlen – blieb sie gar bei ihr stehen und betrachtete sie mit seligem Entzücken. Darüber vergaß sie zuletzt gar die Röhrenkuchen [2], daß erst ihr Brandgeruch die gute Alte wieder an ihr Werk erinnerte. Endlich war Alles bereit: der Kaffee stand in blanker irdener Kanne, die erst gestern von der Lauterer Topfhändlerin geliefert worden war, auf dem Tische; dazu gesellten sich zwei Steinguttassen, mit großen Blumen bemalt und jede mit einem Sinnspruch beschrieben; ein Salzfäßchen von gleicher Masse, das interimistisch die Stelle der selten gebrauchten Zuckerdose vertrat, vervollständigte das einfache Service. Die Röhrenkuchen lagen aufgeschichtet in der Mitte und ein Näpfchen Butter stand bereit, ihnen den nöthigen haut-gout zu verleihen. Jetzt hätte Frau Goldhahn doch gern gesehen, ihre Schläferin wäre aufgestanden, aber es dauerte sie, sie zu wecken. Sie schlief so süß – wer weiß, ob sie nicht ’was Liebliches träumte! Auf ihrem rosigen Antlitz lag ein so himmlischer Friede, zugleich aber umspielte ihren Mund ein wonniges Lächeln. Die Mutter mußte mitlächeln, als sie das sah, und sie hätte der Schlummernden vor hochaufwallender Mutterlust um den Hals fallen mögen. Aber sie beugte sich nur ganz still nieder auf sie und hauchte einen leisen Kuß aus ihre Stirn. In diesem Augenblicke bewegte Röschen ihre Hand nach der wogenden Brust, preßte sie mit einem Seufzer darauf und ließ sie sanft wieder herabgleiten. Bei dieser Bewegung verschob sich das Tüchlein, das den Busen züchtig verhüllte, und das Auge der Mutter heftete sich auf die entblößte Stelle. Es war jedoch nicht das Gebilde, welches der göttliche Bildner hier geschaffen, es war ein Werk von Menschenhand, das die mütterlichen Blicke fesselte. Da war ja das Bild des Gatten – aber in ganz anderer Fassung als sonst! Der einfache Elfenbeinrahmen war einem kostbaren von Gold und Perlen gewichen – Frau Goldhahn bog sich betroffen nieder, um den reichen Zierrath genau zu betrachten und auch das lange entbehrte Bild des Gatten zu küssen. Aber wie betroffen fuhr sie zurück – das war es ja gar nicht – das war das Konterfei eines wildfremden Mannes!

Vergebens suchte die gute Frau das ihr theure Bild – ein anderes thronte an seiner Stelle. Da zog eine schwere Kummerwolke durch das Gemüth der Matrone, darüber vergaß sie die Schonung gegen den „heiligen“ Schlaf – sie weckte die Tochter und fragte sie heftig: „Wo hast Du mein Bild?“

Die Gefragte fuhr erschrocken empor, erröthete, stammelte und sank der zürnenden Mutter schluchzend an die Brust.

„Herzliebe Mutter!“ flehete sie, „sei mir nicht böse – ich will Dir jetzt Alles erzählen.“

Frau Goldhahn konnte ihrem Herzenskinde nicht wahrhaft zürnen, und im Tone von Röschens Bitte lag eine so rührende Gewalt, in ihrem Antlitz ein solcher Zauber der Unschuld, daß jene, schnell besänftigt, sie bei der Hand nahm, zum Tische führte und zum Essen und Trinken nöthigte; dann erst forderte sie die Heimgekehrte auf, ihre Erzählung zu beginnen.

„Wir waren“ – lautete dieselbe – „schon viele Meilen weit gereist, hatten in Leipzig, Magdeburg, Braunschweig, Hannover und der großen Stadt Hamburg gespielt und gute Geschäfte gemacht, als wir uns in Folge einer Verschreibung nach Dobberan begaben. Das ist ein kleiner Ort an der großen See mit einem Seebade. Da ging unsere goldene Zeit an. Wir wurden von dem Wirthe, der uns für die Badezeit verschrieben hatte, mit offenen Armen aufgenommen, in seinem großen Hotel prächtig einquartirt, auch fortwährend gut bewirthet und behandelt. Das dankten wir aber dem guten Rufe, worin die Schmidt-Lene wegen ihres Verhaltens allerwege steht; denn das ist ganz anders, wie das der meisten „Schallerinnen,“ die mitunter so frei sind – so – ich kann gar nicht sagen wie. O Mutterle – wenn ich mit solchen ziehen sollte, so wollt’ ich lieber daheim halb verhungern, als draußen in Saus und Braus leben. Also in Dobberan waren wir und bei unserm Herrn Gastgeber gut aufgehoben. Da mußten wir alle Mittage und Abende für die Gäste spielen, wofür er uns ein Gewisses gab, doch hatte er nichts dawider, wenn Musikfreunde uns ein [396] Extra-Geschenk gaben. Aber mit dem Notenblatte umhergehen, wie’s gewöhnlich geschieht, das fiel bei uns weg. Wollte Jemand extra ’was auflegen, so wurde er an den Mann der Lene gewiesen; weder ich, noch ihre Schwestern durften Etwas nehmen. So waren wir auch wohl geachtet und hatten überhaupt ein köstlich Leben – so köstlich, daß ich armes Ding mich erst gar nicht drein zu schicken wußte, aber nach und nach fand sich das, und zuletzt konnt’ ich die guten Speisen, den starken Kaffee, die würzige Chokolade und den feinen Thee so gut genießen wie die Andern.“

„Da schmeckt Dir nun gewiß meine „Lutsche“ nicht?“ fiel die Mutter der Erzählerin in die Rede.

„Wie kannst Du nur so denken!“ entgegnete Röschen. „Meinst Du wohl, es hätte mir von allen delikaten Sachen, die ich dort genossen, eine so gut geschmeckt wie Dein „Gekochtes“ oder „Gebackenes?“ Wie oft hätte ich mit Freuden all jene Leckerbissen um ein Stück „Rauche Mahd“ oder „Götzen“ oder einen Röhrenkuchen von Dir hingegeben! Schenk’ nur tapfer ein, Mutterle, unsere „schwarze Hanne“ mundet mir doch besser, als draußen der beste Kaffee. Daheim bleibt daheim, Mutterle, Nichts im fremden Lande hat mir so gut gefallen wie Alles, was daheim ist – doch Eins – ja, das gesteh’ ich – Eins hat mir so gut gefallen wie unsere hohen, waldigen Berge, das war das Meer. O Mutter, wie groß ist Gott, der die Berge schuf und das Meer! Ich kann Dir nicht beschreiben, wie herrlich dieses ist, und ihm verdank’ ich es auch, daß ich so lange draußen ausgehalten. In dem flachen Lande, das zwischen unsern Bergen und der See liegt, wär’ ich am Heimweh gestorben, wenn ich da so lange hätte leben sollen. Der Anblick der majestätischen See erquickte und beruhigte mich, so oft mich ein Bangen nach der Heimath ergriff. – Eines Tages war ich auch an das Gestade gegangen, an mein Lieblingsplätzchen, eine kleine Bucht, die auf der einen Seite von einer Düne und auf der andern von einer Klippe gebildet wurde. Ich war allein, denn am Ufer des Meeres fühlt’ ich mich gerade so sicher wie in unsern Bergen. Es war Fluthzeit und die Wogen reichten bis nahe an meine Füße heran. Ich lauschte ihrem taktgemäßen, plätschernden Schlage, denn es war Windstille, sonst hätte die Brandung mächtig wie der Donner gebraust. Ich dachte an Dich, an Dein stilles Häuschen, an unser Dorf; ich zog das Bild des Vaters heraus und betete bei ihm, daß Gott Dich mir erhalte und mich so gut werden lasse, wie Du bist und wie der Selige gewesen, und daß er Dich an mir möge rechte Freude erleben lassen. Und nach diesem Gebete war ich so glücklich, so froh, daß ich hätte ein Freudenlied anstimmen und, wie sonst zu den Harfen, zu dem Schlage der Wellen singen mögen: „Seid umschlungen, Millionen!“ Als ich mich hierauf zum Nachhausegehen wandte, fielen mir die vielen kranken, mißmuthigen, unglücklichen Gesichter ein, denen ich drinnen begegnen würde, und ich dachte: wären doch Alle so froh und glücklich wie ich! Nur wenig Schritte war ich von dem Gestade fort, als ich hinter mir eine männliche Stimme laute, abgerissene, mir aber unverständliche Worte rufen hörte. Ich sah mich um und erblickte auf der Klippe eine Mannesgestalt, jung und schön, aber bleich wie der Tod, mit langen schwarzen Locken. Sein Rock lag am Boden, sonst war er vollständig bekleidet. Seine ausgebreiteten Hände bewegten sich heftig hin und her. Eine fürchterliche Angst befiel mich – unwillkürlich kehrte ich um, trat nahe an die Klippe und vernahm deutlich die Worte: „Leb’ wohl, du schöne, gleisende, feile Welt! Vergifte fort, bis du vom eigenen Gifte zerfressen, zusammenbrichst zum Chaos, aus dem du hervorgegangen! Leb’ wohl, Vater! Leb’ wohl, Mutter! Lebt wohl, Ihr Brüder! O könnt’ ich Euch mir nachziehen, in den reinigenden, erlösenden Tod! Doch Ihr hängt an der Welt und ihren süßen Giften – mein Ekel ficht Euch nicht an – – lebt wohl!“ – Während dieser Worte war ich wie von fremder Macht gezogen nahe an ihn gelangt – es war mir klar, daß er sich ertränken wollte – ich wußte nicht, was ich that, noch was ich thun sollte – es galt ein Menschenleben nicht nur vom zeitlichen, sondern auch vom ewigen Tode zu retten – im Augenblicke, da er sich hinabstürzen wollte in die tiefe See, umschlang ich ihn von hinten, und da ich nicht wußte, was ich sonst zu ihm sagen sollte, betete ich die Worte des 37. Psalm: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn! Erzürne Dich nicht über den, dem sein Muthwille glücklich fortgeht. – Befiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn: Er wird’s wohl machen. Und wird Deine Gerechtigkeit hervorbringen wie das Licht und Dein Recht wie den Mittag.“ Da wandte sich der Fremde nach mir um und sah mich an mit seinen großen, brennenden Augen, daß ich die meinen niederschlagen mußte. Ich machte mich von ihm los und wollte zurückweichen, aber er faßte mich fest bei der Hand und sagte: „Sprich weiter, Du – “ und er gab mir einen Namen, den ich Dir nicht sagen kann! Ich konnte aber kaum mehr sprechen, nur die Worte vermocht’ ich hervorzubringen: „Thun Sie doch Ihrer Mutter das Herzeleid nicht an!“ Da ruhte sein Blick lange auf mir, aber nicht mehr so wild wie erst, und er wurde sichtbar weicher, so daß ich mir ein Herz faßte, ihn anzublicken. Aber lange sprach keins von uns ein Sterbenswörtlein. Endlich sagte er: „Der Himmel ruft mich durch Dich zurück in die Welt, wird er mich aber auch durch Dich in ihr führen?“ – Er wird Sie führen, wenn Sie ihm vertrauen, – sagte ich; – „Weg’ hat er allerwegen, an Mitteln fehlt’s ihm nicht,“ wie’s in dem schönen Liede heißt. – „O sagen Sie mir das Lied!“ bat er und zog seinen Rock an. Wie gut war es, daß ich es auswendig wußte! Ich „betete“ das Lied her, und muß es wohl nicht ganz ungeschickt gethan haben, denn als ich schloß, weinte er wie ein Kind. Nach einer Weile verließen wir die Stelle – wie froh war ich, als wir das Meer eine Strecke weit hinter uns hatten! Wir gingen langsam der Stadt zu; eh’ wir sie aber erreichten, nahm er Abschied, bat mich um meinen Namen und fragte, ob er mich wiedersehen dürfe. Ich sagte ihm, wer ich sei und daß, wenn er mich sehen wolle, dies jeden Mittag und Abend in unsern Concerten wohl geschehen könne. Er dankte und ging.

(Schluß folgt.)



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Alexander von Humboldt.




Naturschilderungen, von jedem ächten Menschen so gern gelesen, gehören zu den schwierigsten Aufgaben der beschreibenden Darstellung. Die schwierigste Aufgabe auf diesem Gebiete ist aber die Schilderung eines großen Menschen; – „dieses Gebietes,“ sage ich, denn der Mensch ist ja eine kleine Welt, ist die zusammenfassende Wiederholung alles Dessen in einem abgeschlossenen Körper, was wir um uns auf der Erde an tausend Formen vertheilt finden.

Alexander von Humboldt.

Eine biographische Skizze Humboldt’s ist um so [398] mehr ein Versuch auf diesem Gebiete, als er durch und durch ein Sohn, ein Produkt der gewaltigen Natur und mehr als der Träger – die Verkörperung ihrer Wissenschaft ist. Als ehre die Natur in ihm ihren Oberpriester, hat sie ihn, ungeschwächt an Geist und Körper, auf einen Höhepunkt des Alters geleitet, den überhaupt selten ein Mensch und noch seltener anders als auf Kosten der geistigen Kräfte erreicht. Gestählt und geläutert in dem Lichte einer tropischen Sonne, steht Humboldt jetzt da, umringt von zahlreichen Forschern, die fast sämmtlich seine Jünger sind, alle überragend in stiller Größe, wie die Palme den blüthenprangenden Urwald Brasiliens überragt.

Um Humboldt’s geistige Persönlichkeit in ihrem ganzen Umfange würdigen zu können, ist es durchaus nothwendig, sich an den ganzen Umfang der Naturwissenschaft zu erinnern; denn er umfaßt diese, wie vielleicht kein anderer Naturforscher neben ihm. Die Erforschung der Gesetze, nach denen sich die Weltkörper im ewigen Kreislaufe bewegen; derjenigen, nach welchen der Lichtstrahl sich in Farbenstrahlen spaltet, sind ihm in seiner langen Forscherlaufbahn nicht wichtigere Aufgaben gewesen, als die derjenigen, nach denen das bunte Pflanzenchaos sich in ein klares System auflöst oder die Ueberfluthungen des Orinoco stattfinden. Bei einer Vergleichung der einzelnen Fächer der gesammten Naturwissenschaft mit Humboldt’s Riesengeist findet man mehr, als daß sich dieser über jene alle verbreitet, – man findet, daß er viele derselben ganz neu geschaffen hat. Vor Humboldt gab es keine Climatologie, keine Pflanzengeographie, keine Hydrographie, keine Meteorologie. Die physische Weltbeschreibung, welche die ungeheure Summe der uns auf und über der Erde umgebenden Erscheinungen in ein geordnetes Gesammtbild vereinigt, ist Humholdt’s Schöpfung.

Ueberall, wohin in drei Erdteilen sein Fuß trat, wurde er ein Reformator der Naturwissenschaft. Naturerscheinungen, welche bis dahin für die gelehrte Welt wenig mehr gewesen waren, als in die dicken Folianten einer bestäubten Wissenschaft einregistrirte Thatsachen, zog er hervor an das Licht seines durchdringenden Geistes und zeigte der staunenden Welt die darin waltende Gesetzlichkeit und ihren Zusammenhang mit der Weltenordnung.

Doch bezeichnet dies noch nicht den Standpunkt, von welchem aus Humboldt’s Bedeutung beurtheilt werden muß, wenigstens hier in einem Artikel der Gartenlaube beurtheilt werden muß. Humboldt ist nicht blos ein großer Gelehrter, er ist auch ein großer Mensch; zwei Dinge, die nicht gleichbedeutend sind. Wie er den Naturforschern als solchen über ein halbes Jahrhundert lang das Vorbild eines Gelehrten gewesen ist, so ist er es, und zu seiner Freude mit nicht geringem Erfolge, ihnen auch als Mensch. Diese letztere Bedeutung, welche ungleich größer als die erstere ist, hat er durch seinen „Kosmos“ gewonnen. Dieses Buch, ein Evangelium der Natur, durchweht ein Geist, der aus jeder Seite herausspricht: „die Naturwissenschaft gewinnt ihre Bedeutung und ihren Werth erst, indem sie ein Gemeingut der Menschheit wird und dabei als irdische Heimathskunde erscheint.“

Humboldt’s namenlose Bedeutung für den Standpunkt, auf dem die Gegenwart steht, wird uns sofort klar, wenn wir uns daran erinnern, welch tiefe Wurzeln die neuere Weltanschauung in dem fruchtbaren Boden der Naturwissenschaft getrieben hat; der Naturwissenschaft, welche ja eben Humboldt wesentlich zu Dem gemacht hat, was sie heute ist. Es hat vielleicht noch nie eine Zeit gegeben, welche eine so klar und bestimmt ausgesprochene und so beharrlich erstrebte allgemeine Bildungsrichtung gehabt hätte, als es die naturwissenschaftliche der unsrigen eben ist, und noch nie hat eine Bildungsrichtung irgend einer Zeit eine so sichere Aussicht auf Sieg und Segen gehabt, als eben diese der unsrigen.

In einem zwar nur geistigen und unblutigen, aber auch unerbittlichen Kampfe mit abgelebten und zu fernerem Leben unfähigen Anschauungen steht die ehrwürdige Greisengestalt Alexander von Humboldt’s als Vorkämpfer auf dem Plane und sein immer noch oder jetzt vielleicht mehr als je klares Auge sieht sich die Zahl seiner Kampfgenossen täglich mehren. Der greise Feldherr war ja aber auch der Erfinder des Schlachtplanes und der Erzieher seines Heeres. Denn er lenkte zuerst den Blick der Naturforscher von der Aeußerlichkeit der einzelnen Gestalten und Erscheinungen auf ihr inneres Wesen und lehrte sie, daß die Naturwissenschaft ihr höchstes Ziel weder als Dienerin der Heilkunde und Gewerbe, noch als Lieferantin für die Naturalienkabinette, sondern erst als Erzieherin des Menschengeschlechts zur irdischen Heimathsangehörigkeit erreiche.

Leider giebt es eine Meinung unter den Leuten, welche sagt: Humboldt wisse nicht, welchen Dämon er heraufbeschworen habe, oder er habe dies wenigstens nicht gewollt. Diese Meinung ist eben so irrig, als sie, ohne sich dessen bewußt sein zu können, ein Unrecht an unserem größten Zeitgenossen ist. Humboldt weiß, was er thut und will die Folgen seines Thuns.

Die neue Weltanschauung hat er seit einem halben Jahrhundert verbreitet und in seinem Kosmos klar und thatsächlich ausgesprochen und wenn sie dereinst in ihrem eigenen Lichte als Siegerin den hellen Kampfplan überschauen wird, so wird sie sich dankbar des Mannes erinnern, der, am 14. September 1769 in Berlin geboren, im Jahre 1793 mit einem Versuch einer Flora Freibergs (Florae Freibergensis specimen) begann und in unsern Tagen im Kosmos den ersten Markstein des erkämpften Bodens setzte.

Welches aber war der Weg, aus welchem Humboldt zu seiner Größe gelangte?

Es werden wenig Menschen gelebt haben, deren Leben gleich dem seinigen inhaltreich war; inhaltreich an eigener Kraft und eigenem Schaffen und inhaltreich an Gunst der äußeren Umgebung.

Aus vornehmer, reich begüterter Familie entsprossen, wendete sein Vater, von dem seine Zeitgenossen mit hoher Achtung sprechen, Alles auf, um seinen Söhnen, Wilhelm und Alexander, eine Erziehung geben zu lassen, wie sie vortreffliche Lehrer, unterstützt von den reichen Mitteln der Familie, von den glänzenden [399] Gelegenheiten Berlins und dem wetteifernden Fleiße der Schüler, zu geben vermochten.

Wilhelm, um 2 Jahre älter als Alexander, wurde der große Alterthums- und Sprachforscher und Staatsmann, Alexander der größte Naturforscher seiner Zeit. Die weit von einander abliegenden Ziele ihrer Bahnen waren doch kein Hinderniß, daß die Brüder in innigster Bruderliebe eins waren, bis 1835 der Tod Wilhelm’s sie trennte.

Alexander, der Anfangs an Begabung seinem Bruder weit nachzustehen schien, wurde in seinem der lebendigen Natur zugewandten Streben vielleicht durch einen seiner Lehrer bestärkt, dem Verfasser desjenigen Buches, welches Jeder von uns gelesen hat und kaum einer ohne den Drang, etwas von einem Alexander von Humboldt zu werden: des Robinson, Joachim Friedrich Campe.

Die „brennende Begierde in entfernte, von Europäern wenig besuchte Länder zu reisen,“ wie er selbst von sich sagt, hatte er durch die sorgfältigsten Vorbereitungsstudien zu einem berechtigten Drange geläutert und nachdem vielmalige Täuschungen gefaßter und der Ausführung schon ganz nahe gewesenen Reisepläne seine eiserne Beharrlichkeit erprobt hatten, schiffte er sich mit seinem französischen Freunde und Ruhmesgenossen, Aimé Bonpland am 5. Juni 1799 endlich zu Coruña in Spanien ein, um unter dem Schutze eines starken Sturmes aus dem von englischen Schiffen blokirten Hafen zu entkommen.

So schwer war es, daß dieser große Geist sich von Europa, dem Sitze der Gelehrsamkeit, losreißen konnte, um jenseits des Oceans im Schooße der Natur dieser die Weihe geistiger Erkenntniß zu geben.

Zwischen dem 5. Juni 1799 und dem August 1804, wo Humboldt in Bordeaux wieder europäischen Boden betrat, liegt die Einsammlung eines Schatzes, wie nie einer für Wissenschaft und Leben, für Leib, Geist und Herz des Menschen größer gesammelt worden ist.

Wenig Monate fehlen an einem halben Jahrhunderte, während welches Humboldt mit der Verarbeitung dieses Schatzes beschäftigt gewesen ist. Frei von der, den Naturforschern leider so oft eigenen Schwäche, ihre Entdeckungen selbst und allein zu veröffentlichen, und dadurch oft zu verspäten, theilte Humboldt mit vollen Händen seine ungeheuren Vorräthe an Sammlungen und Entwürfen an befähigte Genossen aus, mit deren Hülfe nach und nach eine ganze Literatur erwachsen ist, deren selbst kürzeste Aufzählung an diesem Orte viel zu viel Raum einnehmen würde.

So durchdrang Humboldt’s Geist seit seiner Rückkehr bis heute immer mehr die große Arbeiter-Association der Naturforscher Europa’s und Nordamerika’s. Durch seinen Kosmos hat er das in hundert einzelne Theile zerfallende Riesenwerk seines Lebens in klarem, abgeschlossenem Auszuge zusammengefaßt; hat er gezeigt, was er wollte und worein er die Aufgabe und die Pflicht der Naturforschung gesetzt.

Feiern wir alle, die wir an der wahren, sittlichen und geistigen Entwickelung der Menschen Freude haben, am 14. September in stiller Dankbarkeit Alexander von Humboldt’s 84. Geburtstag. Er hat zu dieser Entwickelung den mächtigsten Anlaß gegeben.

Es wird eine große, heilige Stelle leer sein, wenn er von den Lebendigen geschieden sein wird; aber um sie herum schaart sich immer zahlreicher die freie Verbrüderung derjenigen Naturforscher, welche durch ihn begreifen gelernt haben, daß die Naturwissenschaft nicht das Besitzthum grübelnder Gelehrten ist; daß vielmehr die Naturforscher nur die Verwalter fremden Eigenthums sind. Die Naturwissenschaft, wie alle Wissenschaft, ist Eigenthum der Menschheit. Die Besitzesurkunde hat der Großmeister derselben im Kosmos niedergelegt. Er hat sie bei seinen Lebzeiten dem Volke vererbt; möge er noch lange darüber wachen, daß dem Erben sein Erbtheil nicht verkümmert werde.




Aus der Gewerbswelt.

Mitgetheilt von Friedrich Georg Wieck.
Leben und Weben und der – Druck.

Leben und – Weben, so wie der Mann da in unserem Holzschnitt, ist eine große Kunst: nämlich nicht sowohl letzteres als ersteres. Denn der Mann webt einfachen glatten Kattun, von dem der Dampf mit der Webmaschine in derselben Zeit zehnmal mehr und zugleich besser macht als des Mannes fleißige Hand. Ja! es ist gewiß eine Kunst zu leben bei solchem Weben; und doch weben noch viele Tausende in unserem Vaterlande jenen glatten Kattun und leben noch; freilich so gut wie es nun eben geht. Sollen wir daher nicht die Maschine willkommen heißen, die dem Menschen die mühselige Arbeit abnimmt, bei der er ohnehin nichts mehr verdient und er gezwungen wird, irgend ein anderes Fach zu ergreifen, dessen Betreibung ihn besser lohnt? Denn bei allem mechanischen Fleiß hängt dem Menschen die geistige Trägheit doch stark an, und das alte morsche Werkzeug muß erst ganz zu Grunde gehen, ehe er sich entschließt, das neue bessere in die Hand zu nehmen, weil dessen Behandlung ein bischen Willenskraft und geistige Anstrengung kostet. Es giebt Weber in einigen Gegenden von Deutschland, die auf erbärmlichen Stühlen Kattun weben und nicht die Hälfte des Lohns verdienen, den ihre nicht geschickteren Brüder verdienen, weil diese in verbesserten Stühlen arbeiten. Und dies Mißverhältniß bestand schon vor zehn Jahren und besteht noch heute. [400] Wir werden in einem späteren Artikel von der „Musik der Weberei“ sprechen, und wie sie mit Farbentönen spielt und herrliche Kompositionen vor Augen führt. Dahin muß auch der Weber blicken und aus seinem alten Marterholz Blumen blühen, Gewinde und Ranken sich entfalten lassen, die, mit der Natur wetteifernd, erzeugt sind unter der Sonne der Kunst. Einfach und schlicht ausgedrückt will dies sagen: daß der Weber gemusterte Gewebe, bunte Waare, glänzende, schmiegsame, weiche Mischgewebe machen muß. Und dies vermag er, wenn er auf seinen einfachen Handstuhl jene wunderbare Vorrichtung stellt, der ein Mann seinen Namen gegeben hat, zu dem Napoleon einst sagte: Und Ihr wollt das thun, was Gott selbst nicht vermag: nämlich einen Knoten in einen Faden knüpfen, der an seinen beiden Enden festgehalten wird? Dieser Mann war der Franzose Jacquard, durch dessen Vorrichtung zum Musterweben – die Jacquardmaschine –

viele, viele tausend Arbeiter, welche vor deren Erfindung die Musterlitzen zogen (sogenannte Ziehjungen), in Noth und Elend zu gerathen wähnten, während sie im Gegentheil in der Wirklichkeit bald mehr verdienten und Herren der Arbeit wurden, während sie früher deren Sklaven gewesen waren. Sie spielten nun mit den Mustern in den Geweben. Mit ihrem Weberschiffchen schrieben sie das Testament Ludwigs XVI. schwarz auf weiß und zeichneten Gemälde auf ihre Werften, so daß die Gobelins nach und nach viel von ihrer Merkwürdigkeit verloren, da der Fuß des Webers mit einem einzigen Tritt in seinem Stuhle etwas Aehnliches zu schaffen vermochte. Die persischen Schals, deren Anfertigungszeit nach Jahren berechnet wird, stellten die Schals der Jacquardweber in Bezug auf Schönheit und Fülle der Muster weit in den Schatten, so daß gegenwärtig eine gewisse Unvollkommenheit in Farbenformen und Figuren das Erkennungszeichen der ächten Kaschmirschals ist, weil man selbst die Verknüpfung der Fäden auf der Kehrseite nachzuahmen weiß. –

Nun aber fragen wir zurück. Wie kann nur ein Mensch glatten Kattun, etwa zu 12 Pfennige die Elle fertigen mögen, während ihm die Mittel gegeben sind, köstliche Zeuge „zu flechten und zu weben mit himmlischen Rosen ins irdische Leben?“ – Noch einmal: es ist die Gewohnheit, der Mangel an Anregung zu etwas Besserem; es ist die trübsinnige Unterwerfung unter eine vermeintlich unabänderliche Nothwendigkeit, es ist endlich Mangel an anderer Arbeit, was ihn nöthigt, bei der alten Arbeit zu bleiben. Freilich müssen wir nun aber nicht glauben, daß die Kunstweberei keine Mitbewerbung in anderen Fächern hätte. Sie begegnet deren mehreren. Die gefährlichste ist aber die der Zeugdruckerei. Diese übt oftmals einen sehr beengenden Druck auf die Musterweberei aus: denn sie ist im Stande, mit noch leichterer Mühe als es die Weberei mit Hülfe der Jacquardmaschine vermag, die herrlichsten Gebilde in den mannigfaltigsten, glänzendsten Farben auf die Oberfläche der Zeuge zu zaubern. Freilich macht sie es zuweilen zu schön und umhängt die zarte Gestalt einer Jungfrau mit Blumengewinden und Sträußen, daß sie aussieht wie ein bekränztes Opferlamm. Aber in ihren bescheidenen, und künstlerisch schönsten Mustern ist die Druckerei groß und mächtig geworden, und hat nicht allein die Kunst, sondern Chemie und Mechanik in ihren Sold genommen. Wieder sind es Maschinen gewesen, welche der Zeugdruckerei eine Entfaltung gegeben haben, die zwar nicht der der Buchdruckerei gleich kommt, aber doch so hoch getrieben ist, daß eine einzige Fabrik in Manchester im Stande wäre, das Bedürfniß der ganzen Welt an gedruckten Kattunkleidern zu befriedigen, während der Lesehunger der Welt wohl nicht von einer Buchdruckerei gestillt werden möchte. Wir lassen in

unserem Bilde einen Blick auf eine jener mächtigen Zeugdruckmaschinen fallen, die, ohne Stillstand, Stück um Stück bis mit 16 Farben auf einmal bedrucken; Zeuge, deren Musterpracht die Ballsäle und Promenaden mit wandelnden Blumenbeeten bedeckt, so gefährlich für die Augen und Herzen der Männerwelt. – Es ist bemerkenswerth, daß die Männer gedruckte Zeuge verschmähen, und den Druck allenfalls nur auf Weste und Kravatte dulden. Dahingegen huldigen sie der Kunstweberei und befördert sie durch Annahme kunstvoll gearbeiteter Rock-, Westen- und Beinkleiderstoffe. Die Kunstweberei ist dankbar dafür, und hat [401] dies noch neulich von Frankreich aus dargethan durch Hervorbringung eines Pantalonzeugs, auf dem sich Adam und Eva unter dem Apfelbaum die Hände reichen. (Thatsächlich.)

Die Zeugdruckerei hinwiederum ist die Patronin des glatten Kattuns, dem sie emporhilft und in anständige Gesellschaft bringt; aber sie dankt es dem Handweber nicht, daß er so wohlfeil arbeitet. Lieber greift sie zur Maschinenwaare, die da viel schöner ist. Ihrer Meinung ist auch die Fabrikation einfach gefärbter Baumwollzeuge und das riesige Geschäft in dichten, weißen Waaren, mit denen England die Welt umspannt und im eigentlichsten Wortverstande die ganze Erde umspannen könnte, so daß sie, etwa vom Monde aus, anzusehen sein würde, wie ein Plum-Pudding.

So glauben wir denn nachgewiesen zu haben, daß Leben schwerer ist als Weben und der Druck groß ist.




Blätter und Blüthen.

Richtet nicht! Es ist viele Jahre her, da gingen zwei Zöglinge der Universität in Warschau durch die Straße, in welcher die Säule König Sigismund’s steht, um deren Piedestal man meistens eine Zahl Weiber sitzen sehen kann, die an die Vorübergehenden Früchte, Kuchen und verschiedene Eßwaaren verkaufen. Die jungen Männer machten in ihrem Gange Halt, um eine Gestalt zu betrachten, deren Seltsamkeit ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es war ein Mann, dem Anscheine nach zwischen fünfzig und sechzig Jahren; sein einst schwarzer Rock war fadenscheinig geworden; sein breiter Hut überschattete ein mageres, runzliges Gesicht; seine Gestalt war sehr abgezehrt, doch ging er mit einem festen und raschen Schritte. Bei einer der Buden unter der Säule stand er still, kaufte für einen halben Groschen Brod, aß einen Theil desselben, steckte das andere in seine Tasche und verfolgte seinen Weg gegen den Palast des Generals Zaionczek, Statthalters des Königreichs, der in Anwesenheit des Czaren Alexander königliche Gewalt in Polen übte.

„Kennst Du diesen Mann?“ fragte der eine Student den andern.

„Ich kenne ihn nicht; aber nach seinem kläglichen Kleide und seinem nicht weniger traurigen Gesichte zu urtheilen, würde ich ihn für einen Leichenbesorger halten.“

„Falsch, mein Freund! es ist Stanislaus Staszic.“

„Staszic!“ rief der Student aus, indem er nach dem Manne blickte, der eben in den Palast trat. „Wie kann ein geringer, schlecht aussehender Mann, der mitten auf der Straße Halt macht, um einen Bissen Brod zu kaufen, reich und mächtig sein?“

„Und doch ist es so,“ erwiederte sein Gefährte. „Unter diesem nicht vielversprechenden Aeußern ist einer unserer einflußreichsten Minister und einer der berühmtesten Gelehrten Europa’s verborgen.“

Der Mann, dessen Aeußeres in so seltsamem Widerspruch mit seiner socialen Stellung stand, der so mächtig war als er unbedeutend aussah, so reich als er arm erschien, verdankte all sein Glück sich selbst – seinen Arbeiten und seinem Genie. Von geringer Herkunft verließ er in seiner Jugend Polen in der Absicht, sich Kenntnisse zu sammeln. Er brachte einige Jahre auf den Universitäten von Leipzig und Göttingen zu, setzte seine Studien in dem Collège de France unter Brisson und d’Aubenton fort, gewann Buffon’s Freundschaft, besuchte die Alpen und die Apenninen und kehrte endlich mit reichen und mannigfaltigen Kenntnissen versehen in sein Geburtsland zurück. Er ward sofort von einem Edelmanne eingeladen, die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. Nachher wünschte das Gouvernement seine Talente zu benützen; und Staszie ward Schritt vor Schritt zu den höchsten Posten und den ansehnlichsten Würden erhoben. Seine ökonomischen Gewohnheiten machten ihn reich. Tausend dienende Hände bebauten seine Ländereien und er besaß große Summen Geldes auf Interessen angelegt. Wann erhob sich je ein Mann so weit über den Rang, in dem er geboren war, ohne dem Neide und der Verleumdung eine Veranlassung zu geben, ihre Pfeile gegen ihn zu richten? Die Mittelmäßigkeit rächt sich stets durch Verleumdung; und so ging es auch Staszic; denn die guten Leute von Warschau waren schnell bei der Hand, alle seine Handlungen schlimmen Beweggründen zuzuschreiben.

Eine Gruppe Müssiggänger hatte sich da gesammelt, wo die Studenten standen. Alle blickten nach dem Minister und ein Jeder hatte irgend etwas gegen ihn zu sagen.

„Wer sollte es denken,“ rief ein Edelmann, dessen grauer Schnurrbart und altmodisches Gewand die Zeit von König Sigismund zurückrief, „daß er ein Staatsminister sein könnte? Früher, wenn ein Palatin die Hauptstadt durchwanderte, ging ihm ein Trupp Reiter voraus und ein solcher folgte ihm. Soldaten zerstreuten die Haufen, welche sich drängten ihn zu sehen. Aber welchen Respekt kann man für einen alten Minister fühlen, der nicht das Herz hat, sich eine Kutsche zu gewähren und der ein Stück Brod in den Straßen ißt, gerade wie ein Bettler thun würde?“

„Sein Herz,“ sagte ein Geistlicher, „ist so hart wie die eiserne Kiste, in der er sein Gold aufbewahrt; ein Armer könnte an seiner Thüre Hungers sterben, ehe er ihm ein Almosen geben würde.“

„Er hat den nämlichen Rock in den letzten zehn Jahren getragen,“ bemerkte ein Anderer.

„Er sitzt auf dem Boden, aus Furcht, seine Stühle abzunutzen,“ tönte es aus dem Munde eines frechblickenden [402] Jungen und Alle vereinten sich zu einem spöttischen Lachen.

Ein junger Zögling einer der öffentlichen Schulen hatte in unwilligem Schweigen diesen Gesprächen zugehört, die ihm in’s Herz schnitten; zuletzt unfähig sich zurückzuhalten, wandte er sich gegen den Priester und sagte:

„Ein durch seine Freigebigkeit so bekannter Mann sollte mit mehr Achtung besprochen werden. Was geht es uns an, wie er sich kleidet, oder was er ißt, wenn er einen edlen Gebrauch von seinem Vermögen macht?“

„Bitte, welchen Gebrauch macht er davon?“

„Die Akademie der Wissenschaften hatte einen Platz für eine Bibliothek nöthig und keine Fonds, einen zu miethen. Wer verlieh ihr einen herrlichen Palast? war es nicht Staszic?“

„Oh! ja, weil er so gierig nach Lob ist wie nach Gold.“

„Polen schätzt als seinen Hauptruhm den Mann, welcher die Gesetze der Sternenbewegung entdeckte. Wer war es, der ihm ein Denkmal, würdig seines Ruhmes, errichten ließ – der den Meisel des Canova rief, das Andenken Copernikus' zu ehren?“

„Es war Staszic,“ erwiederte der Priester, „und so ehrt ganz Europa dafür den freigebigen Senator. Aber, mein junger Freund, es ist nicht das Licht der Mittagssonne, welches christliche Liebe beleuchten soll. Wenn Ihr einen Menschen gründlich kennen lernen wollt, so beobachtet den täglichen Lauf seines Privatlebens. Dieser prahlerische Geizhals seufzt in den Büchern, die er veröffentlicht, über das Loos der Bauern, und auf seinen weiten Gütern beschäftigt er fünfhundert unglückliche Sklaven. Geht eines Morgens in sein Haus – da werdet Ihr ein armes Weib treffen, welches mit Thränen zu einem kalten, stolzen Manne fleht, der sie zurückstößt. Dieser Mann ist Staszic – das Weib seine Schwester. Sollte nicht der stolze Schenker von Palästen, der Erbauer prächtiger Statuen sich nicht lieber mit dem Schutze seiner unterdrückten Leibeigenen und mit der Hülfe für seine verlassene Verwandte beschäftigen?“

Der junge Mann begann seine Erwiederung, aber nicht Einer wollte auf ihn hören. Traurig und niedergeschlagen, von einem Manne, der ihm ein wahrer und edelmüthiger Freund gewesen, so sprechen zu hören, ging er in seine bescheidene Wohnung. Am nächsten Morgen begab er sich zu einer frühen Stunde in das Haus seines Wohlthäters. Dort fand er ein Weib weinend und klagend über die Unmenschlichkeit ihres Bruders.

Diese Bestätigung Dessen, was der Priester gesagt hatte, gab dem jungen Manne einen bestimmten Entschluß ein. Es war Staszic, der ihm eine Stelle im Kolleg verschafft und ihn mit den Mitteln versehen hatte, dasselbe fortwährend zu besuchen. Jetzt wollte er seine Gaben zurückweisen – er wollte keine Wohlthaten von einem Manne empfangen, der unbewegt auf seiner eigenen Schwester Thränen blicken konnte.

Der gelehrte Minister hielt beim Eintritte seines Lieblingszöglings in seiner Beschäftigung nicht inne, sondern sagte, indem er zu schreiben fortfuhr, zu ihm:

„Gut, Adolph, was kann ich heute für Euch thun? Braucht Ihr Bücher, so nehmt sie aus meiner Bibliothek; oder Instrumente – sucht sie aus und schickt mir die Rechnung. Sprecht frei zu mir und sagt mir, wenn Ihr etwas nöthig habt.“

„Im Gegentheil, Herr, ich komme, um Euch für Eure bisherige Güte zu danken, und zu sagen, daß ich es in Zukunft ablehnen muß, Eure Geschenke zu empfangen.“

„Ihr seid also reich geworden?“

„Ich bin so arm wie immer.“

„Und Euer Kolleg?“

„Ich muß es verlassen.“

„Unmöglich!“ rief Staszic aus, indem er aufstand und seine durchdringenden Augen auf seinen Besuch heftete – „Ihr seid der am meisten versprechende von allen unsern Schülern – es kann nicht sein!“

Vergebens versuchte der junge Student den Beweggrund seines Benehmens zu verbergen; Staszic bestand darauf ihn zu wissen.

„Ihr wollt mich,“ sagte Adolph, „mit Gunstbezeugungen überhäufen auf Kosten Eurer nothleidenden Familie.“

Der mächtige Minister konnte seine Bewegung nicht verbergen. Seine Augen füllten sich mit Thränen und er drückte des jungen Mannes Hand warm, als er sagte:

„Lieber Junge, nimm stets den Rath in Acht: Urtheile über nichts vor der Zeit! Ehe das Ende des Lebens kommt, kann die reinste Tugend vom Laster besudelt, und die bitterste Verleumdung als unbegründet bewiesen sein. Mein Benehmen ist in Wahrheit ein Räthsel, das ich jetzt nicht lösen kann – es ist das Geheimniß meines Lebens.“

Als er den jungen Mann noch unschlüssig sah, fügte er hinzu:

„Haltet eine Rechnung über das Geld, das ich Euch gebe; betrachtet es als ein Darlehen; und wenn Ihr eines Tages durch Arbeit und Studium Euch selbst reich findet, so zahlt die Schuld durch Erziehung eines armen es verdienenden Studenten. Was mich betrifft, so wartet meinen Tod ab, bevor Ihr über mein Leben urtheilt.“

Fünfzig Jahre hindurch erlaubte Stanislaus Staszic der Bosheit, seine Handlungen anzuschwärzen. Er wußte, daß die Zeit kommen würde, wo ganz Polen würde ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Am 20. Januar 1826 sammelten sich dreißigtausend trauernde Polen um seine Bahre und suchten das Leichentuch zu berühren, als dächten sie, es wäre irgend eine heilige, köstliche Reliquie.

Die russische Armee konnte den Grund der Huldigung nicht begreifen, welche in dieser Weise von dem Volke in Warschau diesem berühmten Manne dargebracht wurde. Sein letztes Testament erklärte vollständig den Grund seines scheinbaren Geizes. Seine ausgedehnten Güter waren in fünfhundert Theile getheilt, deren jeder das Eigenthum eines freien Bauern – seines frühern Leibeigenen werden sollte. Eine Schule sollte nach einem bewundernswerthen Plane und in sehr ausgedehntem Maße für den Unterricht [403] der Bauernkinder in verschiedenen Gewerben errichtet werden. Ein Reservefonds war für die Unterstützung der Kranken und Alten vorgesehen. Eine unbedeutende jährliche Abgabe, von den freigelassenen Leibeigenen zu zahlen, war bestimmt, um nach und nach die Freiheit ihrer Nachbarn zu erkaufen, die, wie sie es gewesen, zu harter und undankbarer Arbeit verdammt sind.

Nachdem Staszic in dieser Weise für seine Bauern gesorgt hatte, vermachte er 600,000 Gulden zur Gründung eines Musterspitals, und bestimmte eine beträchtliche Summe für die Erziehung armer und fleißiger Jünglinge. Was seine Schwester betrifft, so vererbte er ihr nur dasselbe Ausgesetzte, was er ihr jährlich während seines Lebens gegeben hatte; denn sie war eine Person von sorglosen und extravaganten Gewohnheiten, die alles Geld, das sie empfing, thöricht verschwendete.

Ungewöhnlich war das Schicksal des Stanislaus Staszic. Ein Märtyrer der Verleumdung während seines Lebens, ward nach dem Tode sein Andenken gesegnet und geehrt von den Vielen, welche er glücklich gemacht hatte.




Die Zucht der Champignons und ihre Gefahren. In Lezennes, einem Dorfe südöstlich in kurzer Entfernung von Lille gelegen, besitzt ein Herr Puy einen Garten, der in Frühbeeten und Treibhäusern eine Menge Delikatessen hervorbringt. Den größten Ruf hat sich Herr Puy durch seine Champignonszucht erworben, aber vergebens würde man sich in diesen Frühbeeten und Treibhäusern nach Champignons umsehen. Und dennoch ist man denselben hier näher, als man glaubt.

Außer seinem Garten und seinen Feldern besitzt Herr Puy nämlich auch noch ein unterirdisches Gebiet. Schon mancher Monarch hat sein Reich so ausgedehnt und weitläufig gefunden, daß ihm die Beherrschung desselben zuletzt unbequem und gefährlich geworden ist. Gerade dies ist auch der Fall mit Herrn Puy. Er besitzt nämlich die Katakomben oder Steinbrüche von Lezennes und betreibt in denselben die Zucht der Champignons nach großartigem Maßstabe. Herr Puy ertheilt Fremden gern Erlaubniß, diese merkwürdige unterirdische Pflanzstätte in Augenschein zu nehmen und man wird dann nach einem Wirthshause geführt, zu welchem ein Keller gehört. In der Seitenwand dieses Kellers ist eine kleine Thür angebracht, durch welche man auf hölzernen Stufen in die Höhlen hinuntersteigt. Die Tiefe ist nicht sehr beträchtlich und fast überall dieselbe; man befindet sich blos sechsunddreißig Fuß unter der Oberfläche der Erde. Vor dem Hinabsteigen bekommt man eine kleine Lampe eingehändigt und wird von einem Führer begleitet. Es kann durchaus nichts schaden und auch nicht als Feigheit ausgelegt werden, wenn man sich von noch einigen Personen begleiten läßt und wer sich weigert, diese unterirdischen Steinbrüche anders zu betreten, als mit einem Packet Zündhölzchen und Wachslichtern in der einen und einigen Pfund Zwieback in der andern Tasche, kann deswegen noch nicht als ein übertrieben furchtsamer Mensch betrachtet werden. Ich für meinen Theil schäme mich fast, zu gestehen, daß ich mich in dieses Labyrinth hineinwagte, ohne irgend welche Vorsichtsmaßregel zu gebrauchen.

Der Platz, auf welchen man nach dem Hinabsteigen zuerst gelangt, ist der Mittelpunkt einer Reihenfolge unregelmäßiger Gänge, die sich nach rechts und links vier bis fünf Stunden weit im Umkreise erstrecken und auf die verworrenste Weise durchkreuzen. Diese Gänge sind durchschnittlich drei bis vier Ellen breit, ungefähr eben so hoch und durch den weichen Kalksteinfelsen gehauen. Im Ganzen genommen jedoch ist ihre Dimension sehr unregelmäßig und sie sind zuweilen so niedrig und schmal, daß nur eine Person hindurchpassiren kann. Hier giebt es Kreuzwege, Seitenstraßen und Sackgäßchen, in welchen man wieder umkehren muß. Soweit als die Champignonszucht betrieben wird – und diese nimmt einen sehr bedeutenden Theil der Höhle ein – sind hier und da vergitterte Oeffnungen nach oben angebracht, durch welche der nothwendige Dünger eingebracht wird und die zugleich als Luftlöcher dienen, ohne welche die Arbeiter ihre Arbeit nicht lange verrichten könnten. Jenseits des Champignonsgebiets fällt kein Lichtstrahl in diese ewige Nacht, aber selbst wo dies der Fall ist, und auch mit einem Lichte in der Hand, möchte es Jedem, der diese Gänge nicht kennt, sehr schwer fallen, ohne Führer heil Rückweg zu finden.

Die Champignons wachsen hier auf terrassenförmigen, etwa zwei Fuß hohen und eben so breiten Erhöhungen, die mit dem nöthigen Dünger und mit dem Spaten flachgeschlagener Erde bedeckt sind. Eine Bedeckung mit Stroh findet hier nicht statt, weil dieselbe bei einem so unabänderlichen Zustande der Feuchtigkeit, Temperatur und Finsterniß unnöthig wäre. Zwischen diesen Erhöhungen, welche sich durch die Gänge hinziehen, sind schmale Wege freigelassen, damit die Arbeiter dazwischen herumgehen und die Ernte einsammeln können.

Sieben oder acht Mann sind fortwährend mit den hier nöthigen Arbeiten beschäftigt. Sie erhalten einen etwas höhern Lohn als Herrn Puy’s übrige Gartenarbeiter, verdienen denselben aber auch redlich. Die munteren gebräunten Gesichter der Männer, welche mich begleiteten, bildeten einen seltsamen Gegensatz zu dem wachsbleichen Gesicht unseres Führers, und feine Damen, welche viel auf ihren Teint halten, könnten hier sehen, wie ersprießlich es für die Gesundheit ist, ein oder zwei Mal jährlich von den Sonnenstrahlen tüchtig gegerbt zu werden. Diese Leute arbeiten täglich zwölf Stunden und bekommen daher im Winter, ausgenommen an Sonn- und Festtagen, die Sonne niemals zu sehen. Sie sind leichter Krankheiten unterworfen als Arbeiter im Freien, nicht blos in Folge des Mangels an dem wohlthätigen Einflusse, den das Tageslicht auf den menschlichen Körper äußert, sondern auch wegen der unvollkommenen Lüftung dieser unheimlichen Regionen und der Dünste, welche sowohl von dem gährenden Dünger, als von den aufsprießenden Pilzen ausgeströmt werden.

Am 10. Januar 1847 stieg Herr Puy in seine Höhlen hinab, um allerhand Arrangements für das [404] eben begonnene Jahr zu treffen. Er ging in Gedanken versunken immer weiter und weiter, ohne zu bemerken, daß er vom richtigen Wege abgekommen war. Als er zurückzukehren versuchte, fand er, daß er durch Gänge hindurchschritt, die ihm bis jetzt noch ganz unbekannt gewesen waren. Zuweilen sah er sich genöthigt, auf Händen und Knieen weiter zu kriechen, um die Richtung, die er für die richtige hielt, zu verfolgen, aber es war ihm nicht möglich, einen begangenen und erkennbaren Theil der unendlichen Grotte aufzufinden. Endlich ging ihm das Licht aus und es wäre vollkommen nutzlos, übrigens aber auch fast unmöglich für ihn gewesen, den Weg noch weiter fortsetzen zu wollen. Er setzte sich lieber, entschlossen zu warten, denn er wußte, daß man ihn vermissen und Nachforschungen nach ihm anstellen würde. Es war dies das Klügste, in der That aber auch das Einzige, was er thun konnte.

So blieb er die ganze Nacht im Finstern, nicht wissend wo, auf dem Boden der Höhle sitzen. Am nächsten Morgen, als Madame Puy, seine Mutter – denn Herr Puy ist unverheirathet – fand, daß er nicht am Abend vorher wie gewöhnlich nach Lille zurückgekehrt war, kam sie sogleich auf die Vermuthung, daß er sich in den Steinbrüchen verirrt habe. Madame Puy lebt jetzt noch und sagte mir, sie werde diesen Tag und die darauf folgenden in ihrem Leben nicht vergessen. Sie forderte sogleich ihre Freunde und Nachbarn auf, die Arbeitsleute bei dem Nachsuchen zu unterstützen, und alle folgten dieser Aufforderung, wobei einige selbst in nicht unerhebliche Gefahr geriethen. Der Mann, der mich in den Champignonbeeten herumführte, lief in seinem Eifer, seinen vermißten Herrn aufzufinden, selbst dreizehn Stunden lang in der Irre herum, obschon er mit Lichtern wohl versehen war.

Der Tag verging und Herr Puy war noch immer nicht aufgefunden. Die ganze Bevölkerung von Lille nahm an dem Vorgange den lebhaftesten Antheil und die öffentlichen Behörden leisteten allen nur möglichen Beistand. Die Soldaten der Garnison wurden in die Höhlen hinuntercommandirt, Trommeln geschlagen und Gewehre abgefeuert, aber es ist eigenthümlich, daß in diesen fürchterlichen Höhlen auch das stärkste Geräusch nicht weit hörbar ist. Zollwächter wurden von der Grenze herbeigeholt und brachten ihre großen feinspürenden und wohldressirten Hunde mit. Anstatt aber Herrn Puy ausfindig zu machen, hätten die Hunde sich beinahe selbst verirrt und besonders der eine, gerade der größte und schönste, gerieth auf solche Abwege, daß er hätte umkommen müssen, wenn er nicht endlich wieder entdeckt worden wäre. Man band das eine Ende von verschiedenen Knäueln Bindfaden in den besuchteren Theilen der Höhle fest und ging dann dieselben weiter aufrollend nach entgegengesetzten Richtungen, in der Hoffnung, daß der Verirrte zufällig auf einen dieser Fäden stoßen werde. Andere drangen so weit vor, als sie sich getraueten und nahmen dabei Strohbündel mit, aus welchen sie in kurzen Zwischenräumen einzelne Halme auf den Boden legten, so daß die Spitze oder Aehre den Weg andeutete, den sie zu gehen hatten, um dieser Schreckenshöhle wieder zu entrinnen, denn es stand nicht zu fürchten, daß hier der Wind oder ein Thier oder ein menschlicher Wanderer diese schwache und leichte Spur wieder verwischen werde. Kurz, es ward Alles gethan, was Muth und Freundschaft an die Hand gaben, aber drei Tage lang blieb die menschenfreundliche Spürjagd vergebens.

Nachdem Herr Puy drei ganze Tage lang verschwunden gewesen, ward er endlich von einem kühnen jungen Manne an der Stelle aufgefunden, wo er beschlossen hatte, zu bleiben, bis man ihn suchen würde. Dieser Platz war gerade unter der Mühle eines benachbarten Dorfes und weit, weit von dem Ausgangspunkte entfernt. Herrn Puy’s erste Frage war, wie lange er hier zugebracht habe, denn er hatte kein Mittel, den Flug der Zeit zu messen. Er war ganz erstaunt, als er hörte, daß er drei ganze Tage in dieser Einsamkeit ohne Speise und Trank zugebracht hatte. Es war vielleicht ein Glück für ihn, daß er in diesem Zustande von Unwissenheit hatte verharren müssen, weil er außerdem, da die Stunde der Erlösung sich immer weiter hinauszog, der Verzweiflung anheimgefallen sein würde. Bei alledem und trotz aller angewendeten Sorgfalt verstrichen sechs Monate, ehe er von der Krankheit, die ihn befiel, wieder genas und es dauerte wenigstens ein Jahr, bevor er alle Folgen dieses Unfalles überwunden hatte.




Literatur. Von dem in England vielgelesenen, in 4 Monaten 13 Mal neu aufgelegten Buche: die weite, weite Welt von Elisabeth Wetherell ist in Leipzig bei Kretzschmar eine eben so gewandte wie seitens des Verlegers gut ausgestattete illustrirte Uebersetzung erschienen, die wir allen Freunden derartiger Lektüre als die beste von allen anempfehlen können. Für gläubige Gemüther, für junge unerfahrene in’s Leben tretende Jungfrauen, für besorgte Mütter und Erzieherinnen enthält das Buch im Gewande einer anziehenden Erzählung viele schöne, ächt christliche Samenkörner, die, auf guten Acker gestreut, wohl gute Früchte tragen können. Das Buch bildet übrigens die 1. Abtheilung einer Bibliothek illustrirter Erzählungen für christliche Familien. Die Betonung ist hier auf christliche zu legen. – Unter den vielen Anthologien deutscher Dichterwerke nimmt jedenfalls der in Berlin erscheinende: Deutsche Dichterwald von Opitz bis Lenau, mit den ersten Rang ein. Nicht nur, daß die Sammlung sehr vollständig, und was die Auswahl anlangt, mit Geschmack und Kritik angefertigt ist; sie giebt zugleich eine ganz verständige Literaturgeschichte in Biographieen, von denen einzelne wirklich kleine Meisterstücke der Charakteristik sind. Wir wünschen dem Unternehmer (der einzelne Band von 23 Bogen kostet nur 15 Ngr.) den besten Fortgang.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Geklöppelte Spitzen.
  2. Nächst der „Rauchen Mahd“ und dem „Röhrenkloß“ ein Lieblingsgebäck des Erzgebirgers. Sämmtliche Gebäcke bestehen aus gekocht geriebenen Kartoffeln, wenig Mehl und Salz, wozu bei letzteren beiden etwas Leinöl oder Butter kommt, da sie in der Pfanne gebacken werden.