Die Gartenlaube (1854)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Doctor Schmidt und Magister Müller.

Erinnerung aus dem Leben einen bekannten Komikers.


In einer Mittelstadt eines der kleinern Rheinbundstaaten (es ist sonach von längst vergangener Zeit die Rede und zwar vom Jahre 1808), wo gerade eine Schauspielergesellschaft Vorstellungen gab, erschien eines Tages ein junger Mann, welcher entschlossen war, bei dieser Truppe ein Engagement zu suchen. Sein Mißgeschick wollte jedoch, daß sich augenblicklich alle Fächer ausreichend besetzt fanden, während er in der sichern Erwartung, eine Stelle für sich hier offen zu finden, weit genug hergekommen war. Der junge Mann gehörte aber zum Glück unter die begünstigten Leute, welche sich nicht so gleich durch ein unvermuthetes Fehlschlagen entmuthigen lassen.

Man muß weiter wandern, dachte er, und was sich hier nicht findet, das zeigt sich anderswo. –

Er gehörte indeß ebenso auch nicht unter die Leute, die gern Hunger und Durst leiden, zumal auf der Reise, und um solchem Uebelstande auszuweichen, ist in dieser civilisirten Welt nun einmal das beste Mittel eine wohlgefüllte Börse. Diese letztere besaß er keineswegs, denn die seinige war, wenn auch nicht buchstäblich leer, doch nur äußerst sparsam gefüllt.

Gegen Abend schlenderte er aus seinem Gasthofe hinaus, um ein Kaffeehaus zu besuchen, da er seinerseits die Erfahrung gemacht hatte, daß ein gescheidter Kopf nirgends leichter auf fruchtbare Gedanken geräth, als in einem Kaffeehause.

Das Tagesgespräch drehte sich dazumal, wenigstens in jener Stadt, um die Erhebung der Spanier gegen die Franzosen; namentlich sprach man von dem erbitterten Heldenkampfe, welcher im Augenblick noch unentschieden in den Mauern Saragossa’s wüthete. Kaum vermochte ein anderes Gespräch aufzutauchen, als über diesen Gegenstand. Der junge Fremde, welcher an einem Tische Platz genommen hatte, nahm lebhaft an einem solchen Gespräche Theil, sprach viel über die grauenvollen Scenen, welche in jener Stadt jetzt ununterbrochen vorkommen sollten, wo es Rauch und Trümmer in Fülle gab, wo der Krieg über und unter der Erde tobte, ja unter der Erde, in Kellern und Gewölben, fast noch grimmiger als oben. In begeisterten Worten sprach er sich über den Heldenmuth jener Spanier aus, welche lieber ihre Felder verwüstet und verwildert, ihre Städte in Schutthaufen verwandelt sehen, als sich der aufgedrungenen Fremdherrschaft fügen wollten.

Mitten in einer seiner glänzenden Darstellungen schoß ihm aber plötzlich eine Idee durch den Kopf. – „Gefunden!“ dachte er freudig. „Es ist doch wahr, daß man in einem Kaffeehaus am gescheidtesten ist. Alle Welt interessirt sich hier ausnehmend für Spanien und für Alles, was dort vorgeht. Warum sollte eine öffentliche Vorlesung über diese Gegenstände nicht guten Anklang finden?“

Von der Idee zur Ausführung war bei ihm nur ein Schritt. Triumphirend leerte er sein Glas, nahm seinen Hut und begab sich zurück nach seinem Gasthofe, dem goldenen Wolfe, um alle nöthigen Vorbereitungen noch am nämlichen Abend zu treffen, denn schon am folgenden mußte die Vorlesung gehalten werden, weil dies der einzige Abend war, an welchem das Theater in dieser Woche geschlossen blieb. Er befragte zunächst seinen Wirth, einen leidlich gebildeten Mann, welcher ganz der Ansicht war, daß ein solches Unternehmen den besten Erfolg erwarten ließe. Sofort wurde Alles geordnet. Im Hause selbst befand sich ein Saal, welcher weit mehr als dreihundert Personen bequem fassen konnte. Es war gerade noch Zeit, die betreffende Einladung in das Lokalblatt einzusenden, wo sie am nächsten Morgen erscheinen mußte, und ebenso wurden von der Druckerei bis dahin noch in erforderlicher Anzahl Eintrittskarten geliefert. Nachdem Alles dies bestellt war, ließ sich der Gast noch eine Flasche Wein auf sein Zimmer bringen und legte sich, als sie geleert war, zur Ruhe, sehr zufrieden mit sich und seinem guten Einfall.

Er erwachte am andern Morgen ziemlich spät. Das Blatt mit der Ankündigung war bereits vorhanden. Das Publikum erfuhr darin, daß Herr Doctor Schmidt (der Doctor war ein kleiner Betrug, den er unter den Umständen und als unempfohlener Fremder für verzeihlich hielt) am Abend im Saale des goldnen Wolfes gegen einen Gulden Eintrittsgeld einen Vortrag halten würde „über Spaniens Verhältnisse zu Europa in älterer und neuerer Zeit, und insbesondere über den gegenwärtigen Heldenkampf der Spanier gegen die Fremdherrschaft, dessen Einfluß und Bedeutung“ u. s. w.

Während Herr Schmidt noch bei seinem Frühstück saß, brachte ihm der Wirth die frohe Nachricht, daß bereits jetzt am Morgen eine ziemliche Anzahl Karten abgeholt worden wären. Man kann denken, daß diese Kunde das Frühstück würzte.

Nachdem letzteres beendigt war, konnte er sich indeß nicht verhehlen, daß er sich noch mit anderweitigen ernsten Gedanken beschäftigen müßte. Er hatte viel versprochen, und gleichwohl mußte er sich gestehen, daß von den hoffentlich sehr zahlreich erscheinenden Zuhörern die meisten zum wenigsten ebenso viel als er selber, ja Viele vermuthlich weit mehr von dem Gegenstande wissen würden. Was die jüngste Zeit betraf, für welche die Zeitungsberichte noch die einzige Quelle waren, so fühlte er sich unbesorgt, denn er konnte da der nie stockenden und nie in Verlegenheit [92] kommenden Geläufigkeit seiner Zunge, so wir seiner sehr lebendigen Phantasie vertrauen, um den Zuhörern glänzende Schilderungen von den spanischen Scenerien und Volkssitten, von den unermüdlichen, kühnen Guerillaschaaren in den Gebirgen und von den wilden Gefechten in den Städten aufzutischen. Allein, er hatte noch gar viel mehr in Aussicht gestellt, und was wußte er im Grunde von Spanien? Daß einst die Römer dort gewesen, daß Hannibal daher gekommen, daß später auch Araber da gewohnt, daß zu allen Zeiten mancherlei Südfrüchte und Maulthiere, sowie verschiedene andere Dinge bei gehöriger Pflege, wilder Fanatismus, Mönche und Inquisition aber auch wild daselbst wuchsen, daß es das Vaterland des berühmten Don Quixote, des Marquis Posa und vieler anderer berühmten Personen gewesen: diese und noch einige andere Dinge kannte er ungefähr, wie sie Jedermann kennt; aber sein Publikum wollte natürlich etwas Gründliches und was nicht jedes Kind schon weiß, vernehmen. Einige Vorstudien waren unerläßlich, das ließ sich nicht verkennen; allein sein gutes Gedächtniß und seine treffliche Redegabe ließen ihn nicht zweifeln, daß für den speciellen Zweck die Studien eines Nachmittags völlig ausreichend sein würden, und es kam ihm daher nur darauf an, sich ein Buch zu verschaffen, welches einen Abriß der spanischen Geschichte und einige andere nöthige Notizen über dieses Land enthielte. Das nur flüchtige Durchlesen einer solchen Schrift mußte ihn genugsam ausrüsten, um sein Schiff am Abend glücklich und glänzend an’s Ziel zu steuern. Also ein Buch! Ein Königreich für ein Buch!

Es war indeß recht gut, daß er keine sehr tiefen Studien zu machen beabsichtigte, denn dazu würden die Hülfsmittel gefehlt haben. Er erfuhr nämlich auf Befragen, daß sich keine öffentliche Bibliothek am Orte befand; ebensowenig eine Sortimentsbuchhandlung. Möglich, daß sich im Privatbesitz, etwa bei einem Gelehrten, etwas finden möchte, was Herr Schmidt hätte brauchen können; allein an solche Leute mocht’ er sich nicht wenden, denn es hätte ihm dies leicht eine Blöße geben und den Kredit seiner Vorlesung im Voraus ruiniren können. Die einzige Zuflucht war eine Leihbibliothek, von welcher der Wirth einen Katalog besaß. Dieser Katalog wurde denn sofort vorgenommen und durchgesehen. Allein, außer zwei Romanzensammlungen, dem Cid, dem Don Quixote, etlichen Dramen und mehreren Rittergeschichten enthielt der Katalog auch rein gar nichts, was auf jenes gesegnete Land einen Bezug gehabt hätte. Indeß fand sich doch darin ein Herrn Schmidt nicht unbekanntes, sehr umfangreiches Lexicon verzeichnet, in welchem er sicher sein konnte, wenigstens das Nothdürftige, zwar gedrängt, doch vollständig, zu finden. Dies war ihm ganz gelegen. Er brauchte da um so weniger zu lesen und konnte den Stoff um so bequemer zurecht legen und übersehen. Hatte er nur das nothwendig Geringe zum Ganzen, so war er sicher, den Vortrag selbst gewiß anziehend und befriedigend zu machen.

Es wurde also auf der Stelle nach der Leihbibliothek geschickt, um den oder diejenigen Bände des fraglichen Lexicons zu erlangen, welche den Buchstaben S oder Sp enthielten.

Herr Schmidt war soeben vom Mittagstisch aufgestanden, und hatte sich nach seinem Zimmer begeben, als ihm der verlangte Band gereicht wurde. Zufrieden legte er sich damit auf sein Sopha, um nun endlich die nöthige Vorbereitung anzustellen. Aber ach, der Band, welchen er erhalten, schloß gerade mit dem Artikel „Spanferkel.“

Er zog die Klingel und erfuhr von dem eintretenden Kellner, daß eben nur dieser Band vorhanden und der folgende bereits ausgeliehen gewesen war. Kein Wunder; es wollten damals vermuthlich auch andere Leute etwas über Spanien lesen. Aber die Mittel waren jetzt in der That erschöpft, und Herrn Schmidt blieb nur der Trost, daß er bei seinen Studien nun zum wenigsten keine herkulischen Arbeiten zu verrichten und keine Berge mehr umzureißen haben würde.

Er brütete einige Zeit, während ihn doch eine gewisse Unlust befallen hatte, die ihm sonst fremd war. Da erschien abermals der Wirth und berichtete, daß jetzt, zwei Uhr Nachmittags, bereits der bei weitem größte Theil der Eintrittskarten verkauft wäre; man risse sich förmlich darum, und wenn es so fort ginge, würde der Vorrath vielleicht nicht zureichen. – „Ich bin soeben im Begriff,“ sagte der Mann, „die Stühle im Saale anders stellen zu lassen, um mehr Raum zu gewinnen. Wie Schade, daß Sie kein höheres Eintrittsgeld festgesetzt haben. Ich denke, Sie dürfen schon auf vierhundert Gulden Einnahme rechnen.“

Wieder allein, setzte Herr Schmidt sein Nachdenken fort. Er hatte, offen gestanden, bis jetzt noch nie vierhundert Gulden auf einmal in seinem Besitze gehabt.

Aber plötzlich sprang er vom Sopha auf, schlug sich vor die Stirn und rief: „Ich Thor, ich Narr! Mich da um solche Dinge zu quälen! Ich sollte doch gleich erwägen, daß das Pathetische eigentlich nie mein Fach war, und wo ich erst studiren soll, da vergeht mir vollends Geist und Lust bei der Sache, wie dem Koche der Appetit. Ich muß mich ganz auf eigenem Grund und Boden, in meinem eigenen Revier ergehen, wenn ich etwas leisten soll. Ich müßt’ also einen ganz freien Vortrag halten, reines Gespinnst aus mir selbst heraus. Und wie könnt’ ich mir Sorge machen, während bereits Alles so gut geht, und das Publikum oder das Schicksal so ausgezeichnet für mich sorgt!

Nur sehr schlimm, daß die Leute für ihr vorausbezahltes Geld etwas ganz genau Bezeichnetes und fest Bestimmtes erwarten. Ich müßte einer schlechten Aufnahme, vielleicht einer schmachvollen Niederlage gewärtig sein, falls sich das Publikum widerhaarig zeigen sollte.“

Er sann weiter nach, während er mit starken Schritten auf und ab ging. Die Aussicht lichtete sich mehr und mehr vor seinem Blicke. Ein Plan arbeitete sich aus, und seine Miene ward immer zufriedener und zuversichtlicher, was ihm selbst nicht entging, so oft er vor dem Spiegel vorüberkam.

So brachte er wohl ein Paar Stunden zu. Es fehlten deren noch drei an der Zeit, wo die Vorlesung beginnen sollte.

Herr Schmidt machte sich jetzt fertig zum Ausgehen. Zuvor jedoch schrieb er folgendes Briefchen:

„Geehrter Herr!
„Seit gestern erst hab’ ich die Ehre, Ihnen bekannt zu sein. Ich glaube jedoch, unser kurzen Beisammensein genügte, um uns gegenseitig zu mehr als nur flüchtigen Bekannten zu machen. Meinerseits kann ich Ihnen diese Versicherung geben, und das große Vertrauen, welches Sie mir eingeflößt haben, ermuthigt mich, eine Bitte an Sie zu richten, zu welcher mich eine außerordentliche Verlegenheit veranlaßt. Ich erhalte so eben eine Familiennachricht, welche mich zu augenblicklicher Abreise zwingt. Indeß kennen Sie jedenfalls die Verpflichtung, welche ich für diesen Abend hier übernommen habe. Darf ich Sie bitten, darf ich Ihnen zumuthen, meine Stelle heut’ Abend einzunehmen? Ich muß um diesen Freundschaftsdienst bitten, die Umstände haben mir jeden andern Ausweg abgeschnitten und mir bleibt keine Secunde Zeit. Ich weiß, daß Sie weit besser als ich im Stande sind, das Publikum auch ohne besondere Vorbereitung zu befriedigen. Sollten Ihnen einige nöthige Notizen nicht zur Hand sein, so sende ich beifolgend das Lexicon, wo Sie unter den Artikeln Spanien, Spanisch u. s. w. alles Erforderliche beisammen finden werden. In Betreff der Einnahme werden wir uns leicht arrangiren; inzwischen ersuche ich Sie, den ganzen Betrag in Empfang und Verwahrung zu nehmen; sollte ich nicht schon in den nächsten Tagen zurückkehren können, so werd’ ich dafür sorgen, daß Sie meine Adresse erhalten. Im Voraus sag ich Ihnen meinen unendlichen Dank für Ihren Liebesdienst. Sie werden mich bei den Zuhörern zu entschuldigen wissen. Ihr u. s. w.
Dr. Schmidt.“ 
„An Herrn M. Müller, im silbernen Lamm,
  hierselbst.“

Diesen Brief nebst dem vorhandenen Bande des Lexicons gab er dem Wirthe mit der Weisung, beides nach einer Stunde, nicht früher und nicht später, im silbernen Lamm abgeben zu lassen.

Darauf verließ er das Haus und nahm seinen Weg sehr vorsichtig, um von Niemand auf der Straße bemerkt zu werden. Zum Glück hatte ihm seine kaum zweitägige Anwesenheit auch erst wenig Bekannte erworben. Er begab sich in eine Barbierstube, ließ sich den Schnurrbart, den er damals trug, abnehmen, und sein etwas langes Haar sehr kurz schneiden. Darauf setzte er auch noch eine Brille auf, und begab sich so nach dem silbernen Lamm, wo er sich Magister Müller nannte und sich ein Zimmer anweisen ließ. Hier ließ er es sich sofort angelegen sein, die schon begonnene Metamorphose noch vollständiger zu machen, [93] was ihm bei der Bühnenpraxis, die er früher erworben, nicht gar schwer fiel.

Bald nachher kam der Brief und das Buch aus dem goldnen Wolf für ihn an.

– „Es wäre doch fatal,“ dachte er, „wenn mich noch Jemand erkennen sollte, z. B. der Wirth, der mich zu genau gesehen hat. Vielleicht wär’s klüger gewesen, ich hätte mich in eine Dame verwandelt; dann durft’ ich auch beim Publikum auf größere Nachsicht rechnen – wenn ich etwa als die Schwester oder die Braut des Dr. Schmidt erschienen wäre, als liebenswürdige Dea ex machina! – Doch, sei’s denn so darauf gewagt!“ schloß er diese Erwägung, indem er zugleich seine Toilette am Spiegel beendigte; „ich denke, so bin ich sicher genug!“

Eine halbe Stunde vor dem Beginne der Vorlesung traf er im goldnen Wolf ein, und verlangte den Wirth zu sprechen, der ihn zu seiner Genugthuung als einen Wildfremden empfing.

– „Ist Herr Doctor Schmidt schon abgereist?“

– „Abgereist? Der Vortrag des Herrn Doctors soll ja erst beginnen. Es ist außerordentlich! Wir haben noch eine Menge Personen ohne Karten zulassen müssen. Kein Apfel kann im Saale zur Erde.“

Darauf erklärte Herr „Magister Müller“ dem unendlich staunenden und anfangs sogar höchlich erschrockenen Wirthe, was ihm geschrieben worden. Er legitimirte sich durch den Brief, dessen Außenseite der Wirth gar wohl wieder erkannte, und erklärte, daß er gekommen wäre, um das an ihn gerichtete Verlangen zu erfüllen.

Der Wirth mußt’ es schon geschehen lassen, obwohl ihm nicht ganz wohl bei der Sache zu Muthe war, zumal wenn er das etwas einfältige Gesicht des Herrn Magisters in Erwägung zog. Dieser aber schien nichts zu besorgen, und nachdem er zur Stärkung noch ein Glas Wein zu sich genommen, begab er sich in den Saal, und nahm den für den Vortragenden hergerichteten Platz ein.

Von Herren und Damen war die Elite der nicht umfangreichen Stadt versammelt, und im Ganzen mochten gegen fünfhundert Personen im Saale sein. Damit waren die kühnsten Erwartungen überflügelt. Drei oder vier Personen ausgenommen, war Jedermann des Glaubens, den Doctor Schmidt vor sich zu sehen. Es erregte daher kein geringes Erstaunen, als er zunächst eröffnete, daß man keineswegs jenen Herrn, sondern nur den Magister Müller, auf der Durchreise begriffen, im silbernen Lamm wohnend, in seiner geringen Person erblickte. Er wußte diese einfache Meldung jedoch in einer Weise vorzutragen, daß das Staunen wenigstens kein Unangenehmes war, sondern sich mit einem gewissen Behagen verband. Sodann berichtete er, daß er erst Tags vorher mit Herrn Doctor Schmidt bekannt geworden und erlaubte sich desgleichen, die schriftliche Bitte desselben vorzulesen.

Daran knüpfte er die Frage, ob die geehrten Anwesenden überhaupt geneigt sein möchten, den Tausch gelten zu lassen und ihn an der Stelle des vergebens Erwarteten zu hören. Er vernahm, Dank einem sehr zu Herzen gehenden Humor, mit welchem er sich ausdrückte, durchaus kein Zeichen der Ablehnung. Er erwähnte nun ferner, daß sein Freund ihm zu viel zugetraut, denn er wäre keineswegs so gründlich unterrichtet in dem betreffenden Punkte, um darüber vor einer so ansehnlichen und ohne Zweifel sehr kundigen Versammlung sprechen zu können. Er hielt den mitgebrachten Band des Lexicons empor, erklärte, zu welchem Zwecke ihm dieser Band gesendet worden wäre, wie selbiger aber leider blos bis zum Artikel „Spanferkel“ reichte. Da nun dies Buch einmal die ihm angewiesene Quelle wäre, so müßte er auch daraus schöpfen und über das sprechen, was darin dem Artikel Spanien noch am Nächsten käme, nämlich über das Spanferkel, und er bedürfe dazu nur noch der Genehmigung von Seiten der Versammlung.

Der Redner bewegte sich jetzt in der That ganz in seinem Elemente, und seine Worte, die ganze Art und Weise, wie er das Obige dargestellt hatte, verriethen eine so unwiderstehliche komische Kraft, daß die Versammlung, vielleicht ein halb Dutzend verhärteter politischer Kannegießer ausgenommen, gar nichts Besseres verlangte, als ihn so fortfahren zu hören, wie er begonnen, und als er nach den letzten Worten, wie Erlaubniß erwartend, eine kleine Pause machte, hatte er die Versammlung bereits so weit gewonnen, daß ihm nur ein rauschender Beifallssturm antwortete.

Nunmehr ließ er sich nach Herzenslust gehen, und wußte über das Thema Spanferkel einen Vortrag zu halten, in welchem sich der köstlichste Humor, der glänzendste Witz von Satz zu Satz fortwährend steigerten. Er hatte sich nur einige flüchtige Hauptzüge und Umrisse zuvor entworfen gehabt. Aber während er sprach, strömten ihm die ergötzlichen, durch treffende Satyre und Persiflage gewürzten Einfälle, die schlagenden Witzspiele fort und fort in einer Fülle zu, daß sich selbst das halbe Dutzend Kannegießer bald gewonnen und hingerissen fühlte. Es war das nun eben sein Talent; in andrer Weise würde er vielleicht sehr wenig geleistet haben. Auch möchte der Vortrag, wär’ er aufgezeichnet worden, wohl manche schwache Seiten und matte Stellen gezeigt haben, wie es bei allen Improvisationen der Fall ist; allein beim mündlichen Vortrage wirkte des Redners hierin trefflich begabte Persönlichkeit, sein Mienenspiel, sein Organ, seine Betonung. Er sprach wohl dreiviertel Stunde lang, ließ dann eine Pause eintreten, und sprach hierauf noch ebenso lange mit unverminderter Frische. Als er endlich mit einer gloriosen Wendung schloß und sich zurückzog, war er selber innig gerührt über die Begeisterung, mit welcher man den lang anhaltenden Applaus erschallen ließ. Die heitere Lust hatte aber auch zum wenigsten mehr Thränen erpreßt, als es die erschütternste Schilderung der Scenen in Saragossa vermocht haben würde. –

Als der Redner aus dem Saale trat, wurde er von einem Herrn, in dessen Gesellschaft sich der Wirth befand, ersucht, in ein benachbartes Zimmer einzutreten. Dieser übrigens sehr artige Herr hatte für den gefeierten Redner etwas Unheimliches, was er sich nicht gleich zu erklären wußte, was ihm jedoch bald klar wurde, als er mit jenem Herrn in das bezeichnete Zimmer getreten war. Hier bat der Unbekannte, indem er sich näher zu erkennen gab, Herr Magister Müller möchte entschuldigen, wenn er ihn von Amtswegen mit einigen Fragen hinsichtlich des Dr. Schmidt belästigen müßte. Der Herr war nämlich ein Polizeibeamter.

Die vorgelegten Fragen vermochte der Herr Magister Müller nur zum Theil zu beantworten. Man wünschte zu wissen, woher Herr Dr. Schmidt gekommen, wohin er sich gewendet, was seine rasche Abreise veranlaßt, ob und wann er zurückkehren würde, welche Bekannte er etwa hätte u. dgl. mehr. Der Gefragte erklärte, den Doctor am vorhergehenden Abend zum ersten und einzigen Mal im Kaffeehaus gesehen und gesprochen zu haben, im Uebrigen durchaus nichts von ihm zu wissen; aus eigener Liebhaberei habe er sich bestimmen lassen, in der bekannten Weise heute an Jenes Stelle zu treten. Er wies des Doctors Brief vor und versprach, sobald er im Besitz der darin verheißenen Adresse sein würde, dieselbe der Behörde schleunigst mitzutheilen.

Dabei bewendete es. Der Beamte entschuldigte sich abermals sehr artig wegen der Bemühung, und ging.

Nun hielt Herr „Magister Müller“ Abrechnung mit dem Wirthe und nahm, nach Abzug aller Kosten und Berichtigung der Rechnung des verschwundenen Dr. Schmidt immer noch über vierhundert Gulden in Empfang.

„Warum forscht man aber wohl so eifrig nach dem Doctor Schmidt?“ fragte er nach Beendigung jenes angenehmen Geschäftes.

„O!“ sagte der Wirth, nachdem er sich zuvor überzeugt, daß nicht etwa ein Lauscher an der Thür wäre. „Dr. Schmidt hat sich gerade noch zur rechten Zeit entfernt. Es mußt’ ihm wohl eine geheime Warnung zugegangen sein. Sein Verschwinden bedarf jetzt keiner Erklärung mehr.“

„Aber was vertrieb ihn denn?“

„Lieber Herr Magister, schon die Anzeige im heutigen Blatte hat, wie ich erfahren habe, sogleich die Aufmerksamkeit der Polizei erregt, weil darin vom spanischen Heldenkampfe gegen die Fremdherrschaft, vom Einflusse dieses Kampfes auf Europa u. s. f. die Rede war. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, bin aber belehrt worden, daß es mindestens dem Hochverrathe gleichkäme. Sie wissen ja, daß wir jetzt hier so gut wie französisch sind. Der Besitzer und Censor des Blattes, welche die Sache zufällig übersehen haben, werden auch große Ungelegenheit erleben. Dann soll Dr. Schmidt auch gestern Abend schon öffentlich sehr scharf gegen die Franzosen gesprochen haben, und da hat es solche Horcher gegeben, woran es jetzt nirgends fehlt. Sie hatten sich heute kaum in den Saal begeben, als der Beamte mit einigen Gensd’armen erschien, um den Dr. Schmidt zu verhaften. Ich theilte ihm mit, was inzwischen geschehen war. Er hörte nun an, was Sie vortrugen, [94] und da nichts Spanisches vorkam, so entließ er seine Leute. Ich bemerkt’ aber wohl, daß er ihnen erst noch viele geheime Aufträge gab. Liebster Herr Magister, gratuliren wir dem Dr. Schmidt, daß er bei Zeiten Wind bekommen und sich entfernt hat!“

„Nun ja – allein, was hätte man ihm denn viel anhaben können?“

„Lieber Himmel, was man ihn hätte anhaben können? Herr Magister, unsre Besatzung hier hat jetzt einen französischen Commandanten, weil der Kaiser Napoleon unser Protektor ist, wie man ihn nennt. Drei Stunden von hier ist ein großes französisches Kriegsdepôt. Der Beamte, der Sie befragte, gehört eigentlich gar nicht hierher, sondern ist nur auf Verfügung der französischen Regierung, gewissermaßen als ihr Commissär, hier angestellt, obwohl er nominell zu den ordentlichen städtischen Beamten gehört. Sie fragen noch, was man ihm hätte anhaben können? Jedes Kind, nehmen Sie mir nicht übel, jedes Kind kann Ihnen das sagen, Herr Magister! Man hätte ihn wahrscheinlich nicht lange im Gefängniß gelassen; man hätt’ ihn aber hübsch sicher mit Ketten geschlossen und so an’s nächste französische Kriegsgericht abgeliefert. Dort aber – Sie wissen doch, wie’s dem Buchhändler Palm gegangen ist?“

„Freilich, freilich! – Ich denke, Sie haben Recht – Dr. Schmidt hat den rechten Zeitpunkt wahrgenommen, um weiter zu reisen.“

„Und, im Vertrauen. Herr Magister.“ fuhr der Wirth fort, „das sollten auch Sie thun!“

„Auch ich?“

„Gewiß! Habe mich schon gewundert, daß man nicht mehr Umstände mit Ihnen machte, aber das ist sicherlich nur eine Falle. Man hält Dr. Schmidt vermuthlich für einen Emissär der antifranzösischen oder preußischen Partei und Sie für seinen Gehülfen. Man glaubt, jener sei vielleicht noch in der Stadt verborgen. Daher wird man all’ Ihre Schritte beobachten, und am Ende – könnten Sie leicht ein ähnlichen Schicksal haben. Denken Sie an Palm, und der hatte weit weniger gethan!“

„Der Teufel! Ein deutscher Magister vor einem französischen Kriegsgericht? das ist kein wohlthuender Gedanke. Wie soll deutsche Magisterlogik gegen jene metallene ultima ratio aufkommen?“ sagte Herr Magister Müller, welchem bei Alledem nicht ganz wohl zu Muthe ward.

„Wenn Sie meinen Rath nicht verachten,“ bemerkte der Wirth, „so entfernen Sie sich noch diesen Abend, noch diese halbe Stunde, und das gleich von hier, ohne erst in’s silberne Lamm zurückzugehen.“

„Ganz recht. Gepäck hab’ ich nicht dort – es geht sehr leicht. Sie werden so gut sein, meine kleine Rechnung im Lamm zu berichtigen.“

„Bewahre der Himmel! Das könnte mich in den Verdacht bringen, Ihr Entweichen befördert zu haben. Sie können ja das Geld aus der Ferne schicken. Es geht jetzt gleich ein Wagen ab, welcher einer alten Dame gehört, die heute hier abgestiegen ist. Ich will mit ihr sprechen. Vielleicht giebt Sie Ihnen einen Platz im Wagen. Inzwischen bleiben Sie ganz ruhig hier.“

Die alte Dame war zum Glück barmherziger Gesinnung, und ein halbes Stündchen später gelang es dem mit Recht etwas eingeschüchterten „Magister Müller“, in Gesellschaft jener Fremden aus dem goldnen Wolf abzufahren. Er ward erst ruhiger, als er die Stadt einige Meilen hinter sich hatte. Bald nachher erhielt er verschiedene Beweise, daß er wirklich nur wie durch ein Wunder Palm’s Schicksal entgangen war.

Noch in späterer Zeit, wo er auf verschiedenen Bühnen als einer der beliebtesten deutschen Komiker glänzte, und außerdem durch zahlreiche heitere Skizzen seiner Feder auf mancher verstimmten Stirn die Furchen glätten half, erregte der Name Spanien gewöhnlich ein Gefühl leisen Mißbehagens in Herrn Schmidt, während er in dankbarer Erinnerung stets das Spanferkel in Ehren hielt, welchem er, genau genommen, doch allein seine Rettung aus ungeahnter, schwerster Gefahr verdankte.




Dampf-Grabe-Maschine

von Joseph Bauer, k. k. Hauptmann.

Wenn irgend eine neue Erfindung in dem jetzt so wichtigen Maschinenwesen gemacht worden ist, welche zu der Hoffnung berechtigen kann, daß ihre Anwendung von unberechenbarem Einfluß auf das Leben der Menschen werden müßte, so ist gewiß die obengenannte eine solche, da durch sie in der That ein Problem gelöst ist, das bisher den vielfach angestellten Versuchen nicht gelungen war zu realisiren. Die Dampfgrabe-Maschine ist bestimmt die Bestellung des Feldbodens an Stelle des Pfluges und mit Anwendung des Dampfes anstatt mit thierischen Kräften zu übernehmen, und zwar in einer Weise, daß die von ihr gelieferte Arbeit nicht nur weniger kostspielig werde als die bisher allgemein angewandte Pflugbestellung, sondern auch so beschaffen sei, daß ein erhöhter Ertrag der mit ihr bestellten Felder erzielt werde.

Wer mit Aufmerksamkeit dem in neuerer Zeit so rege gewordenen Streben nach Verbesserung in der Landwirthschaft gefolgt ist, wird erfahren haben, wie sehr vor nicht zu langer Zeit unsere deutschen Feldbauer, an dem Althergebrachten hängend, noch zurück waren gegen die anderer Länder. Allein die Nothwendigkeit ist auch in diesem Bereiche der menschlichen Thätigkeit zur strengen Lehrerin geworden, und wir finden jetzt überall fast dies Streben durch vernünftige Benutzung der Mittel, welche die Naturwissenschaften an die Hand geben, den Ertrag des Bodens zu erhöhen und ihn dem immer wachsenden Verbrauche entsprechender zu machen.

Eines der erfolgreichsten Mittel die Ertragsfähigkeit des Bodens zu erhöhen, ist nun eine vollkommnere Ackerung desselben, als sie bisher mit dem gewöhnlichen Pfluge hergestellt wurde. Es kommt nämlich bei Bestellung des Feldes vor Allem darauf an, die von der darauf gewachsenen Frucht ausgebeutete Oberfläche zu beseitigen und eine neue noch kräftige dafür zu erzielen. Dazu dient eines Theils das Umackern des Feldes, welches die oberen Schichten nach unten, und die unteren Schichten der Ackerkrume nach oben zu bringen hat, den Boden lockert und so dem nöthigen Zutritt der Luft und dem Wasser öffnet. Andererseits dient dazu die Düngung. Es kann hier nur die Rede von der ersteren Art sein, zu deren Vervollkommnung die Dampfgrabe-Maschine dienen soll. Die tiefere Auflockerung des Feldbodens, als sie gewöhnlich mit dem Pflug hergestellt werden kann, hat sich für so entschieden vortheilhaft herausgestellt und für den nutzbaren Bau verschiedener Feldfrüchte so unbedingt nothwendig, daß man den Pflug als unzureichend verlassen, zum Spaten greifen und mit demselben das Feld umgraben mußte. So entstand die sogenannte Spatencultur, deren Kostspieligkeit indessen von dem erhöhten Ertrage ausgeglichen wird. Diese so wichtige Art der Bodenbehandlung in erhöhtem Maaße einzuführen und somit die Nutzbarkeit und Ergiebigkeit des Bodens zu erhöhen, ist die Aufgabe der Bauer’schen Dampfgrabe-Maschine. Wie aus dem oben Gesagten schon hervorgeht, ist die von dieser Maschine bewirkte Bearbeitung des Bodens eine vollständige Umspatung desselben und zwar eine so vollkommene, daß das Erdreich bis zu einer Tiefe von 10 Zoll aufgegraben wird und dabei eine vollständige Umwendung der Ackerkrume stattfindet. Besonders auch diese Eigenschaft der Maschine ist hervorzuheben, da durch sie mit einem einmaligen Umgraben das erreicht wird, was mit dem Pfluge erst nach drei- bis fünfmaligem Ueberpflügen zu ermöglichen ist, abgesehen von der geringeren Tiefe des Eindringens des Pfluges.

Wir geben beifolgend eine Abbildung der Dampfgrabe-Maschine in ihrer gegenwärtigen Form und Ausführung, bemerken aber zugleich, daß der Erfinder zur weiteren Vervollkommnung derselben schreiten wird bei dem Baue künftiger Maschinen, die indessen nur einen sichereren Gang bezwecken sollen und das Princip der Maschine ungeändert lassen werden. Die Maschine besteht in

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Joseph Bauer’s Dampfgrabemaschine.

[96] ihren Haupttheilen aus der Dampfmaschine und dem Grab- und Eggapparat. Die Dampfmaschine ist nach Art der Locomotiven eingerichtet, und besteht aus einem Kessel mit 16 Heizröhren, einer Feuerbüchse und Rauchbüchse, zwei Dampfcylindern, deren Kolben auf eine doppeltgekrümmte Welle bewegend wirken und den nöthigen Steuerungs-, Speise- und Sicherheitsvorrichtungen. Wir übergehen diese Theile als allgemein bekannt schnell und kommen zu der eigentlichen Grabemaschine. Die verschiedenen Functionen der Theile der Grabemaschine lassen sich nach den periodisch erfolgenden Bewegungen derselben eintheilen. Der Hauptbestandtheil ist ein breiter quer unter der ganzen Maschine hingehender Spaten von 5 Fuß Breite, so daß also jeder Einstich dieser Breite entspricht. Dieser Spaten macht nun mittelst der Maschine die nöthigen Bewegungen folgendermaßen. Im ersten Moment fällt er senkrecht herab bis auf die Oberfläche der Erde, wird dann in dieselbe eingedrückt, worauf er eine drehende Bewegung in senkrechter Richtung erhält, durch welche die vor ihm stehende Erde abgebrochen und aufgehoben wird. In demselben Augenblicke fast rückt die Maschine ein Stück von circa 4 Zoll rückwärts und die abgespatete Erde fällt so in den vom vorigen Stich gemachten Einschnitt, daß das, was oben war, zu unterst zu liegen kommt. Dabei wird durch die Heftigkeit des Abwerfens die Erde zerbröckelt und für die nachfolgende Egge bleibt nur ein leichtes Ueberharken, wodurch das gegrabene Land wie ein Gartenbeet hinter der Maschine liegen bleibt. Die Maschine findet nun durch das vierzollige Vorrücken bei dem nächsten wiederholten Herabfallen des Spatens ein neues Stück loszustechendes Land und so wiederholt sich diese Arbeit in der Minute circa 20–30 Mal. Diese sämmtlichen Bewegungen werden durch eine rundgehende Welle vermittelt, welche wiederum durch ein Radvorgelege von der gekrümmten Welle der Dampfmaschine in Bewegung gesetzt wird. Auf derselben sitzen nämlich eine Anzahl Daumen von verschiedener Größe und Form, welche je nach der nothwendigen Aufeinanderfolge der Bewegungen in entsprechenden Winkeln gegeneinanderstehen. Der Spaten befindet sich vertikal drehbar an dem Ende zweier ebenfalls in diesem Sinne drehbarer Balken, die sogenannten Ackerbalken, welche einestheils den Spaten heben und senken, anderntheils ihm als Dreh- und Stützpunkte dienen. Ein noch weiter gehender Mechanismus ist der, durch den die Maschine nach jedem gethanen Abstich um ein Stück fortgeschoben wird und somit dem Spaten eine neue Erdschicht zum Abstechen darbietet. Die Maschine, deren specielle Beschreibung für den Raum und den Zweck dieses Blattes zu weitläufig sein würde, ist im Ganzen überraschend einfach und nur der erste Anblick kann dem Laien in der Maschinenbaukunst den Eindruck größerer Zusammengesetztheit machen, woran einen Theil der Schuld tragen mag, daß die an sich so einfachen Bewegungstheile der Maschine zum größten Theile doppelt an derselben sind. Zum Gebrauche nun muß die Maschine von zwei Pferden auf das Feld gezogen, das nöthige Wasser und die Kohlen mitgeführt werden, dann arbeitet sie ganz selbstthätig voran und macht am Ende des Feldes angekommen immer fortarbeitend mittelst einer Verstellung der hinteren Räder einen Bogen und kehrt so um, um da Feld abwärts weiter zu arbeiten.

Daß eine solche Maschine nicht gleich nach dem ersten Versuche das leistete, was sie zu leisten bestimmt war, ist einleuchtend genug, allein es ist eben so überraschend das zu sehen, was sie nun leisten kann und es ist der Erfinder durch die mehrfachen in der Zeit der Ausführung gemachten Erfahrungen in den Stand gesetzt für eine anderweite Ausführung der Maschine bedeutende Vortheile in der Sicherheit der Bewegungen und in dem Effecte zu bewirken, deren Erreichung mit der gegenwärtigen Form derselben sich nicht ermöglichen ließ.

Für die Zukunft dürfte die Maschine auch noch weitere folgereiche Anwendungen finden, da sie ganz geeignet ist bei Kanal-, Eisenbahn- und anderen Bauten zum Ausgraben des Erdreiches zu dienen und es hat Herr Joseph Bauer bereits eine derartige Maschine entworfen, welche auch das Aufladen der aufgelockerten Erde übernimmt.

Am 23. November v. J. wurde das in Leipzig ausgeführte Werk in Selowitz in Mähren von dem ungarischen ökonomischen Vereine unter Zuziehung sachverständiger Ingenieure geprüft und erhielt dabei nach Ansicht der anwesenden Abgeordneten das Zeugniß, daß das Princip derselben richtig und gelöst sei; es ergab eine berechnete Kostensumme für die Bearbeitung eines Ackers Feld gegen die in dortiger Gegend sehr billige Pflugbestellung eines gleichen Flächenraumes nicht ganz das Doppelte. Dabei ist indessen herauszuheben, daß dies für einmalige Grabung und einmalige Umpflügung gerechnet wurde und das bestellte Feld fertig ist mit einem Bearbeiten der Maschine, während der Pflug drei- bis fünfmal über das Feld gehen muß, um eine ebenso vollständige Arbeit zu liefern.

Stellen sich schon bei diesem ersten derartigen Versuche solche Vortheile heraus, so werden die Resultate künftiger verbesserter Maschinen noch günstiger sein, und es ist sehr zu hoffen, daß die sinnreiche Erfindung von großer Bedeutung für den Feldbau werden wird.

Wer Gelegenheit gefunden hat die Einrichtung in ihren Einzelheiten entweder an der Maschine selbst oder aus den Zeichnungen zu ersehen, wird uns gern eingestehen, daß die Lösung der gestellten Aufgabe auf eine so geistreiche und einfache Weise dem Erfinder gelungen ist, wie es wohl selten in ähnlichen Fällen möglich geworden, und wir müssen nur bedauern, daß Herr J. Bauer nicht ganz dem Wirkungskreise angehört, für den er ein so großes Talent entwickelt hat.




Gesundheits-Regeln.

Leben und Tod; Gesundheit und Krankheit.

Stoffwechsel heißt der Proceß, von welchem im menschlichen Körper Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit abhängt. Denn so lange als der Stoffwechsel im Gange ist, haben wir das Leben, mit seinem Aufhören tritt der Tod ein; beim richtigen Vonstattengehen des Stoffwechsels erfreuen wir uns der Gesundheit, Unordnungen in demselben bedingen Krankheiten, und kommt der Stoffwechsel dabei nicht wieder in die gehörige Ordnung, so bleiben in Folge der Krankheit zeitlebens sogen. organische Fehler zurück. – Der Stoffwechsel (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 39) besteht nun aber darin, daß jeder, auch der kleinste Theil des menschlichen Körpers fortwährend neue Substanz ansetzt, während die alte theilweise abstirbt und entfernt wird, so daß der Körper nach einiger Zeit, obschon er äußerlich noch ganz derselbe zu sein scheint, doch in seinen Bestandtheilen ein ganz anderer, aus jüngeren Stoffen gebildeter ist. – Dieses fortwährende Neuerzeugtwerden, Altern und Absterben (Mausern) der Körperbestandtheile kommt natürlich nur unter bestimmten Bedingungen (sogen. Lebensbedingungen) und mit Hülfe der sogen. vegetativen Processe zu Stande. Zu den ersteren gehören: Luft, Wasser, Nahrung und Wärme; zu den letzteren: der Verdauungs- Blutbildungs-, Circulations-, Athmungs- und Blutreinigungs-Proceß. Unterstützt wird ferner der Stoffwechsel durch erregende Einflüsse von außen (Lebensreize), durch Ruhe und Bewegung. Doch verfolgen wir die beim Stoffwechsel wichtigen Momente und Bedingungen in ihren Einzelnheiten.

Jedes Theilchen des menschlichen Körpers muß von passender Ernährungsflüssigkeit durchtränkt sein, wenn der Stoffwechsel in demselben richtig vor sich gehen soll, denn aus dieser nimmt sich jedes Theilchen das Material zu seiner Neubildung. Passend ist die Ernährungsflüssigkeit aber nur dann, wenn sie diejenigen Stoffe enthält, aus welchen der zu ernährende Theil gebildet ist. In den Knochen würde z. B. der Stoffwechsel nicht der richtige sein können, wenn die Ernährungsflüssigkeit derselben keine Kalksalze, welche in der Knochensubstanz in großer Menge vorhanden sind, enthielte; die Knochen würden dann krank und zwar nicht hart genug werden, gerade wie die Schale von Hühnereiern, wenn die Hühner ein kalkloses Futter [97] bekommen. Die Ernährungsflüssigkeit aller Theile des menschlichen Körpers stammt aus dem Blute und gelangt dadurch in die verschiedenen Gewebe, daß sie, während das Blut langsam durch die feinsten Blutgefäßchen (Haargefäße) der Gewebe fließt, durch die äußerst dünne Wand dieser Gefäße hindurchschwitzt.

Die Wände der feinsten Blutgefäßchen (Haargefäßé) müssen für die Ernährungsflüssigkeit gehörig durchdringlich sein. Sobald diese Wände in ihrer Durchdringbarkeit verändert, vielleicht dicker oder dünner werden, gleich ist auch das aus dem Blute Herausdringende von anderer, mehr oder weniger consistenter Beschaffenheit als die erforderliche Ernährungsflüssigkeit, und dann nicht mehr im Stande, den Stoffwechsel in dem durchtränkten Theile ordentlich zu untrhalten. Die aus dem Blute herausgedrungene falsche Ernährungsflüssigkeit zieht dagegen sehr oft eine krankhafte Veränderung des Theiles oder wohl auch die Bildung eines ganz neuen Gewebes (Aftergebildes, Geschwülste, Krebs) nach sich. Man pflegt ein solches falsches Ernährungsmaterial, welches bald mehr bald weniger von dem natürlichen abweicht, Ausgeschwitztes (Ausschwitzung, Exsudat) zu nennen und als die Ursache der meisten örtlichen Veränderungen (Krankheiten) der Gewebe anzusehen. Am häufigsten kommt eine Ausschwitzung bei widernatürlicher Erweiterung und Anfüllung der Haargefäße mit Blut zu Stande, ein Zustand, der den Namen Entzündung erhielt.

Von der richtigen Menge und Beschaffenheit des Blutes (s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 45), welches durch die Haargefäße der verschiedenen Körpersubstanzen fließt und dabei die Ernährungsflüssigkeit aus seinem Strome durch die Haargefäßwände hindurch in die Gewebe treibt, muß insofern das ordentliche Vonstattengehen des Stoffwechsel vorzugsweise abhängen, als eben nur das Blut im Stande ist, jedem Theile das Material zu seiner Ernährung zuzuführen. Sonach muß jeder Mensch dahin streben, die gehörige Menge von einem richtig zusammengesetzten Blute zu besitzen. Dies läßt sich aber nur durch fortwährende Neubildung (Verjüngung) und Reinigung (Mauserung) des Blutes erreichen. Die richtige Neubildung hängt von der Wahl und Verarbeitung passender Nahrungsmittel und von der Zufuhr der gehörigen Menge Sauerstoffs ab; die Reinigung läßt sich durch Bewegung, kräftiges Athmen, Bäder, Waschungen u. s. w. unterstützen. Der Leser findet übrigens, wenn er Genaueres über das Blut zu wissen wünscht, dies in der Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 45, 48 und 49. Von den passenden Nahrungsmitteln und ihrer Verarbeitung handeln Nr. 22, 32 und 39 des 1. Jahrg. der Gartenlaube; über das Athmen s. Nr. 16 und 17.

Ein gut beschaffenes Blut würde nun aber für sich noch nicht zur Unterhaltung des Stoffwechsels hinreichen, es muß auch ordentlich durch die Haargefäße der einzelnen Theile hindurchfließen, wenn letztere richtig ernährt und gesund bleiben sollen. Anhaltendes, zu schnelles oder zu langsames Hindurchströmen des Blutes durch ein Gewebe übt setes störenden Einfluß auf den Stoffwechsel in demselben aus. Würde aber der Zutritt des Blutes zu einem Theile ganz gehemmt oder häufte sich dasselbe darin so an, daß der Blutlauf vollständig stockte, dann müßte der Stoffwechsel allmälig still stehen, der Theil absterben und endlich in Fäulniß oder Verwesung übergehen. Man pflegt dieses örtiliche Absterben und Faulen den Brand zu nennen und zwar den kalten (trocknen oder weißen) Brand, wenn ein Theil in Folge von Blutmangel abgestorben ist, den heißen (feuchten oder schwarzen) Brand, wenn durch Stockung angehäuften Blutes der Stoffwechsel in einem Theile unterbrochen wurde. Sonach ist dahin zu streben, daß der Blutlauf durch alle Theile des Körpers gehörig von statten gehe. Wie der Blutlauf zu unterstützen ist, lehrt die Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 48.

Auch der Theil selbst, in welchem der Stoffwechsel vor sich geht, muß natürlich hierbei in der richtigen Weise thätig sein, denn was würde ihm alle Durchtränkung mit guter Ernährungsflüssigkeit und alles in gesunden Röhren richtig fließende nahrhafte Blut helfen, wenn er seinen Stoff nicht auch ordentlich wechselte. Er muß also einestheils aus der Ernährungsflüssigkeit die Stoffe herauszunehmen wissen, welche seine Substanz bilden und muß aus diesen seine eigene Substanz aufbauen (neubilden, verjüngen), anderntheils muß er aber auch die älteren seiner Bestandtheile abstoßen. Dieses Neubilden und Abstoßen kann nur bei einem zweckmäßigen Wechsel von Thätigsein und Ruhen des Theiles richtig vor sich gehen. Denn während der Ruhe geschieht die Anbildung der jungen Substanz und in Folge des Thätigseins kommt das Absterben und Abstoßen (Mauseern) der alten zu Stande. Wollte man z. B. das Auge oder das Gehirn zwingen fortwährend thätig zu sein, so würden diese Organe in Folge der gestörten Verjüngung in ihnen gerade so erkranken, als wenn man sie gar nicht thätig sein ließe. Zu anhaltende Anstrengungen der Muskeln schwächen und lähmen endlich dieselben ebenso wie der Nichtgebrauch derselben.

Aus der die Körpersubstanzen durchtränkenden Flüssigkeit sind nun fortwährend noch, wenn der Stoffwechsel in Ordnung bleiben soll, zwei Arten überflüssiger Materien hinwegzuschaffen, von denen die eine gut, die andere schlecht ist. Die erstere ist der Ueberschuß, der vom Gewebe nicht verarbeitete Rest von Nahrungsstoff und heißt Lymphe, die letztere besteht aus den alten abgestorbenen und wieder flüssig gewordenen Gewebsbestandtheilen (Mauserstoffen, Gewebsschlacken). Die Lymphe wird durch besondere Röhren, welche man Lymphgefäße oder Saugadern nennt, nach dem Halse hin geschafft und ergießt sich hier in eine große Blutader, mit deren Blute dann die Lymphe durch Herz und Lunge läuft und so, früher schon aus dem Blute stammend, nun allmälig wieder zu Blute wird. Die Mauserstoffe dringen durch die Wände der Haargefäße in den Blutstrom und werden hier von dem Sauerstoffe, der mit Hülfe des Athmens aus der atmosphärischen Luft in unser Blut gelangt, verbrannt. Durch diese Verbrennung wird nicht blos Wärme erzeugt, sondern auch eine solche Umwandlung der Mauserstoffe erzielt, daß diesen nun durch bestimmte Organe (wie die Lungen, Nieren, Haut und Leber) aus dem Körper entfernt werden können.

Gesundheit (d. i. das richtige Vorsichgehen des Stoffwechsels) kann sonach nur mit Hülfe passender Nahrung, richtiger Blutbildung und Circulation, normaler Durchdringlichkeit der Haargefäßwände, zweckdienlicher Ernährungsflüssigkeit und regelmäßiger Neubildung und Mauserung der Gewebsbestandtheile (durch hinreichende Ruhe mit dem gehörigen Thätigsein wechselnd) erreicht werden. – Krankheit (d. i. das falsche Vorsichgehen des Stoffwechsels) könnte hiernach ihren Grund haben: in unpassender Narung, in gestörter Blutbildung und Circulation, veränderter Durchdringlichkeit der Haargefäßwände, falsch gebildeter Ernährungsflüssigkeit (nicht blos in Folge eines verändeerten Blutes und einer Veränderung der Haargefäßwände, sondern auch in Folge von verminderteer Wegfuhr der Lymphe und Mauerstoffe aus den Geweben) und in unzweckmäßigem Gebrauchen und Ruhen eines Theiles. – Eine falsche Beschaffenheit des ganzen Blutes muß natürlich auch die Ernährungsflüssigkeit und sonach den Stoffwechsel im ganzen Körper verändern und wird deshalb eine allgemeine Krankheit genannt, während alle übrigen Krankheiten örtliche sind. Daß die Heilung von Krankheiten stets darauf gerichtet sein muß, den in Unordnung gerathenen Stoffwechsel wieder in Ordnung zu bringen, versteht sich wohl von selbst, ob dies aber durch künstliche Arzneimittel, wie der Arzt will, oder, wie die Natur will und thut, durch natürliche (physiologische) Hülfsmittel wie Luft, Wasser, Nahrung, Licht, Wärme und Kälte, Ruhe und Bewegung u. s. w. zu erreichen ist, darüber ein anderes Mal. (B.) 




Zwei Stunden im englischen Parlamente.

So oft auch in England die Sitzungen der Volksvertreter und Gesetzgeber schon eröffnet wurden – öfter in der That, als in jedem andern Lande der Erde, ruft doch der jährlich wiederkehrende prächtige Zug der Königin zur Vorlesung der Thronrede immer wieder Hunderttausende nach St. James-Park und die angrenzenden Straßen, durch welche die Königin bei dieser Gelegenheit in’s Parlament fährt. Ich hatte mich dies Jahr auch unter die Massen gestellt und wartete nun am 31. Januar von 12 Uhr [98] geduldig und still, wie andere Legionen englischen Volkes, unter den Bäumen des Park-Spaziergangs, die weder Blätter noch Früchte trugen, selbst nicht einmal einen der vielen Jungen, die hinaufkletterten und auf das freundliche Geheiß der höflichen Policemen immer sogleich ebenso freundlich wieder herabstiegen. In der That ein großes Wunder im Kleinen. Die Doppelreihe der Volksmassen war im Park allein eine gute englische Meile lang, und sie warteten zwei Stunden! Zeit und Gelegenheit und Veranlassung genug zu einigen Zänkereien, Widersetzlichkeiten und Arretirungen. Fischblutiges, nüchternes, freies englisches Volk! Nicht eine einzige Widersetzlichkeit? Nicht ein einziger Scandal? Nicht nur dieses nicht, nein auch kaum ein lautes Wort, zwei Stunden lang hunderttausende freier Menschen im Freien oft bis zum Rippenbrechen zusammengedrängt – und kaum ein lautes Wort! In der That konnte man einzelne etwas laute Aeußerungen der 40 Fuß weit gegenüberstehenden Volksmauer auf unserer Seite vernehmen. Hier und da machte man wohl halblaut einen Witz mit den sehr spärlich vertheilten Policemen, die müßig mit ihren „Flöten“ (den kurzen Stöcken, ihrer einzigen Waffe) spielten und kaum etwas Anderes zu thun hatten, als die „Ladies“ in die erste Linie zu bringen, insofern die dadurch zurückgedrängten Herren, die man hier, wenn der Hut nur einigermaßen gebürstet ist, immer „Gentlemen“ titulirt, es nicht vorzogen, auf ihren Plätzen zu bleiben. Sonst passirte während der zwei Stunden gar nichts. Zwar fuhren hinter der linken Reihe öfter prächtige und seltsame Wagen herauf mit dienstbaren Geistern, die buntscheckiger aussahen, als Seiltänzer und Reitkünstler im Dienste, aber das Alles störte die kaltblütigen Massen nicht. Nur einmal wurden sie ganz unten an der Kaserne der Pferdegarde (dem entgegengesetzten Punkte vom Buckingham-Palast, der londoner Residenz der Königin, zwischen welchen sich St. James-Park ausdehnt) ganz ungemein lebendig und lautes Hut- und Taschentuchschwenken und Jauchzen und Jubeln von Oben und Unten um einen einzigen Wagen herum, aus dem zwei Herren mit Schnurrbärten freundlich, aber doch auch traurig und verlegen, herausnickten. Der Eine trug Civilkleider, der Andere, ein älterer Herr mit hoher Stirn und schöner Nase, eine Uniform. Letzterer, hieß es, ist der türkische Gesandte.

Sie erlassen mir wohl die weitere Beschreibung des königlichen Zuges, der ungefähr um 4 Uhr in meine Nähe kam. Die prächtige Leibgarde mit ihren großen kohlschwarzen Rossen, die rothangeputzte Wache des Towers, die jetzt genau noch so aussieht, wie zu Maria Stuarts Zeiten, die kostbaren Staatskarossen, – das Alles ist schon so oft beschrieben worden, daß ich es nicht wiederholen mag. Jetzt endlich erschien in Mitte ihrer Krieger die Königin, deren friedliche Regierung noch durch keine Gewaltthat befleckt ward und welche in der beschränkten Sphäre ihrer politischen Macht für Dichter, Künstler und Gewerbe mehr gethan hat, als unbeschränkte Fürsten für Gefängnisse und Festungen.

An dem Staatswagen der Königin fiel mir Alles auf, erst die Schönheit der Pferde, dann die Pracht ihrer Geschirre, dann die komische Figur auf dem vordersten Paare mit rother Jacke in Gold, der schwarzen Sammetmütze und der ungeschickt hinten in die Höhe klaffenden weißen Perrücke, am Meisten die in ungeheuerer goldener Pracht thronende unmenschliche Fettigkeit des Hauptkutschers auf dem Bocke, der manchen Thron an Goldschmuck übertrifft, dann die goldene Krone auf dem Wagen oben und zuletzt die drei roth und golden überladenen Diener hinten. Alles prächtig und so geschmacklos. Es kann für das edle Paar, die Beide stets bewiesen haben, daß sie wahrhaft ästhetischen Geschmack haben, kein angenehmes Gefühl sein, in dieser altconservativen ungeschickten Pracht, welche den englischen Thron und alle staatsmännischen Akte noch heute umgiebt, öffentlich erscheinen zu müssen. Diese constitutionelle Beschränktheit, welche die Lords nicht antasten lassen, aus Furcht, daß der Thron an Festigkeit für ihre Interessen verliere, mag dem englischen Königspaare eine der empfindlichsten sein, wie die ganze althistorische Hofetikette, welche die der Ludwigs von Frankreich an Steifheit weit übertrifft, ohne den Geist derselben zu erreichen.

Durch einen seltsamen, glücklichen Zufall ward es mir möglich, mich in einen Winkel des Oberhauses einschmuggeln zu lassen, wo ich denn thatsächlich eine englische Parlaments-Eröffnung in ihrer ganzen überladenen Pracht und historisch-conservirten Geschmacklosigkeit vor meinen Augen – freilich zwischen verschiedenen Schultern und Köpfen hindurch – sich entwickeln sah. Wie ich durch das Gedränge und die prachtvollen Gänge und Hallen des neuen Parlamentsgebäudes – des umfangreichsten und prachtvollsten aller gothischen Architecturen (wobei ich wieder vom „Geschmack“ absehe) auf meinen Platz kam, weiß ich noch heute nicht, kurz ich war da und dachte so lange, bis die Königin kam, nichts als: „Dieses Haus der Lords ist ein Monstrum von Pracht! Ließe man für 100,000 Pfund heraus stehlen, würde es sehr gewinnen. Doch darüber vielleicht ein andermal. Jetzt welch ein Anblick! Der maßlose Reichthum der englischen Aristokratie strahlend und blendend aus tausend diamantenen kleinen Sonnen von schönen und häßlichen Hälsen und Köpfen. Die Orden aller Fürsten Europa’s und Asiens auf den Uniformen von Gesandten, Legations-Secretairen, Ministern und Diplomaten aller Art, die sich in der Gesandtenloge in solcher Masse drängen, daß ich mich des gottlosen Gedankens nicht erwehren konnte, Einige davon seien ganz überflüssig. Was den russischen Gesandten betrifft, so sahen bald die Meisten, daß er nicht da war. Das diplomatische Corps erfreute sich trotz des Himmels voller Sterne auf seinen Busen nur beiläufiger Aufmerksamkeit, bis plötzlich alle bewaffneten und unbewaffneten Augen auf sie gerichtet waren und lange einem lebhaften Feuer von Augen und Bemerkungen ausgesetzt blieben. Es galt blos dem türkischen Gesandten Musurus, der mit seinem rothen Fetz und seiner blauen besternten Uniform diesem gehaltlosen Feuer eine sehr ruhige, würdige Kälte in seinem Gesicht entgegenzusetzen schien. Die Herren Collegen in der Loge grüßten ihn zum Theil sehr warm. In meiner Kurzsichtigkeit konnt’ ich nicht bemerken, ob er dadurch erwärmt ward. Der Türke ist im Allgemeinen ein schlechter Diplomat, er hält Wort, da er die Worte für das hält, was sie wirklich bedeuten. Man sieht, die Türken sind halbe Barbaren.

Die Lords, welche nichts vertreten, als sich selbst, spielten um den berühmten Wollsack herum, (vor welchem zunächst die höchsten Gerichtspersonen – natürlich alle in mächtige, weiße Perrücken gehüllt, saßen) mit ihren langen, scharlachrothen, reich verbrämten Roben und fidibusbecherartigen Turbans eine eigenthümliche Rolle. Da das Ganze auf mich den Eindruck einer seltsamen mittelalterlichen Theaterscene machte, konnte ich sie lange für nichts anderes als Statisten halten. Die Minister bewegten sich links vom Throne an einem großen grünen Tische und entfernten sich Punkt 2 Uhr, gerufen von Trompetenstößen, welche die Ankunft der Königin ankündigten. Nach 10 Minuten trat die Königin mit einem glänzenden Gefolge ein, an der linken Hand geführt vom Prinzen Albert und begleitet von zwei Damen. Die ganze Versammlung erhob sich, bis die Königin vom Throne herab höflich bat, man möge Platz nehmen. Sie trug eine Tiare von Diamanten und eine diamantene Halskette, und über einem weißseidenen Kleide einen reichen Ueberwurf von claretweinfarbigem Sammet. Prinz Albert stand zur Linken in einer reichen Militär-Uniform, die er nur in unumgänglichen Fällen trägt, rechts der Marquis von Winchester, vor ihm Marquis von Landsowne, die Krone auf einem Sammetkissen haltend. Vor ihr selbst kniete der alte Premier-Minister Aberdeen, mit Muse das große Reichsschwert haltend. Um sie herum prächtige Militäruniformen, ungemein alte aristokratische Damenköpfe mit Schmucksachen, die nur nach Tausenden von Pfunden geschätzt werden und zum Theil als alte historische Familienerbstücke ihre Geschichte haben, die uns verschlossen, aber im „hohen Leben“ geläufiger ist als die Geschichte von England; ferner viel Scharlach, viel Perrücken, viel Backenbart und nobles Gesicht dazwischen, so viel eben der Backenbart Nobles läßt. Die Königin gab sofort, wie vorgeschrieben, Befehl, daß die Herren des Unterhauses eingeladen würden zu erscheinen. Während der Pause sprach sie mit Aberdeen, aber nicht lange, denn nach zwei Minuten entstand ein so lächerlicher Tumult durch das ungestüme Hereindrängen der Unterhäusler, als wenn sie als muthwillige Buben alle auf einmal aus der Schule heraus wollten. Einige ehrwürdige Gestalten kamen in Gefahr auf die Nasen zu fallen. Alle verbissen ein natürliches Lachen, das Ihre Majestät zuerst brach. In der That lachte sie mitten in diesen steifen Formalitäten ganz natürlich weiblich ziemlich hell auf, zuerst nur mit der neben ihr stehenden Herzogin von Southerland, dann aber wohl ziemlich mit der ganzen auserlesensten Gesellschaft. Diese Natürlichkeit der Unterhäusler und die von ihr elektrisch aus zuckende elektrische Batterie natürlichen Gelächters [99] that mir unendlich wohl, da man jetzt sah, alle diese reichen, theatralisch verkleideten Gestalten auch blos Menschen waren mit Augen und Zwerchfellen wie andere Leute von gar keiner Geburt. Als das Unterhaus endlich placirt war, überreichte der Lord-Kanzler der Königin kniend die Thronrede, die sie mit lauter, schöner, ausdrucksvoller Stimme verlas, nur einige Male durch natürliches „Gedrängle“ und ein zischelndes Privatgespräch zweier Auserwählten gestört und unterbrochen. Nachdem sie gelesen, zog sie sich an der Hand ihres Gemahls mit Gefolge zurück und überließ den Lords und dem Unterhause die Sorge, in- und ausländische Fragen und Interjectionen wieder für sechs Monate zu besprechen.

Lord Palmerston.

Und nun nur noch einige Worte über die Stunde, die ich im Vogelbauer des Unterhauses zubrachte, um zu sehen, wie sie in ihren Nächten tagen. Das Unterhaus hat architektonisch und ökonomisch mehr Gebrechen, als ein Pferd im Vieharzneibuche, auf dem alle Krankheiten deutlich ausgeprägt sind. Unten Sibirien, zu Häupten Sahara. Viel „Zug“ und keine „Ventilation.“ Sehr hoch, aber zu klein. In der Restauration theurer Wein und nicht alle Abende ein reines Tischtuch. Aber alle diese Gebrechen sind nichts gegen den „Vogelbauer,“ eine enge Gallerie mit Gucklöchern für 100 Personen d. h. für das ganze englische Volk, das hier angeblich vertreten wird. Es ist hier in der That mehr verdrängt als vertreten. Der Bau beweist, daß die, welche innerhalb der Verfassungsfestung sich ummauert haben, gar keine Lust spüren, die Millionen außerhalb hineinzulassen. Freilich sie haben draußen viel Arbeit und öffentliche Meinung und freie Presse und keine Gewerberäthe, und Polizei und Soldaten ohne Waffen. Und das ist mehr werth, als alle sechs Jahre eine Stimme und alle Tage einen Polizeisäbel vor der Nase. Doch halt, ich bin im Vogelbauer! Was sah ich nun von da oben? Wie die Herren auf ihren Bänken spärlich umher lagen oder saßen, mit und ohne Hut, in allen möglichen unanständigen Positionen, plaudernd, schlafend, gehend und kommend. Papiere empfangend, vertheilend, und zerknitternd; wie sie Apfelsinen schälten, hineinbissen und mit den Schalen einen Kollegen vor oder hinter sich bombardirten, der seinerseits mit Papier oder Apfelstückchen das Feuer erwiederte; wie Einer den schlafenden Nachbar unter der Nase kitzelte und nun bersten wollte vor Lachen, als der Aufgewachte einen ganz Unschuldigen bedrohte: wie sie sich von dem großen grünen Ministertische Bücher holten oder dieselben hinwarfen, daß es durch die ganze Halle dröhnte; wie bei alle dem Treiben immer Einer dastand und eine Rede hielt und „der Sprecher“ in seiner lang überhängenden Perrücke fortwährend sehr würdevoll auszusehen suchte und unter einem solchen Ungethüm von weißen Haarlocken in meinen Augen immer komischer, immer fabelhafter, immer unmöglicher auszusehen anfing; wie Einige immerwährend halblaut plaudernd, manchmal Arm in Arm hinausgingen und immerwährend Andere wieder hereinkamen, wie der Redner ununterbrochen unterbrochen ward und sich doch gar nichts daraus machte, wie die „reporters“ und Stenographen in ihrem Winkel die Ohren spitzten und das Wenigste verstehen zu können schienen: wie – nun ich denke es ist genug. So sah’s im Unterhause aus, wenigstens als ich im „Vogelbauer“ war. Freilich hat es seinen Haken. Es war eine „langweilige“ Sitzung ex officio, eine gleichsam vorher und amtlich zur Langweiligkeit bestimmte Nacht, sonst [100] wär’ ich gar nicht unter die Hundert im Vogelbauer gekommen. Zu interessanten, wichtigen Sitzungen, wo eine bedeutende Abstimmung, ein interessanter Parteikampf, eine Rede von Palmerston oder Russel u. s. w. erwartet wird, ist der Zudrang „Bevorzugter“ so groß, daß ein Fremder mit’m Bart stundenlang unter einem königlichen Schutzdache auf Zutritt warten muß, um endlich zu hören, daß heute Niemand mehr eingelassen werden könne Dann kämpfen die Herren im Unterhause auch nicht mit dem Schlafe und Apfelsinenschaalen, sondern mit Reden, guten, oratorischen Reden, derben Angriffen und feinen Witzen und Pointen, dann werden dort Wahrheiten und gewichtige Worte in die Öffentlichkeit geschleudert, wie in keinem andern Saale Europa’s, und die Zuhörer beweisen durch häufiges hear! hear! oder Gelächter oder „Groans“ oder Beifallsgetrommel ihre lebhafte Theilnahme.

Im Ganzen genommen entwickeln aber die beiden Herzkammern der englischen Gesetzgebung wenig Ernst und Würde. Es geht ein eigenthümlicher Zug von Ironie und Phrase durch alle Verhandlungen, der von viel Bildung und Freiheit Zeugniß giebt, zugleich aber von dem geheimen Bewußtsein, daß wohl Dieser und Jener hinter den schönsten Perioden und erhabendsten Schwingungen seiner Beredtsamkeit doch nur sein eigenes Interesse gegen die Ansprüche Anderer geltend zu machen sucht. Vielleicht habe ich das Vergnügen, Ihnen nächstens schon eine interessante wichtige Sitzung schildern zu können, einstweilen sende ich Ihnen das Portrait Palmerstons, des vielbelobten und vielgeschmähten Lord Feuerbrands, dessen wahrheitsgetreue und parteilose Charakteristik bei nächster Gelegenheit folgen wird.




Ein Kapitel für die Frauen.

Von Amely Bölte.

Im Verlaufe der letzten fünfzig Jahre sind wir dahin gekommen, das weibliche Geschlecht nur für den Salon zu bilden. So wie die Erziehung ein größeres Gemeingut zu werden anfing, wollte man auch die Frauen nicht davon ausschließen und sie durch eine Entwicklung ihrer Geisteskräfte eine höhere Stufe der Kultur erreichen lassen; doch wies man sie vorzugsweise darauf an, dem Schönen zu huldigen. Man hieß sie Talente ausbilden, um dadurch ihre Freude an ausgebildeten Talenten zu erhöhen, weil das Verständniß einer Sache unsern Genuß stets steigert; indem man sie aber mit solchen Blüthen schmückte, lehrte man sie auch durch diesen Schmuck gefallen zu wollen und eröffnete damit ihrer Eitelkeit eine ganz neue Sphäre. Die romantische Schule lieh dieser Hinneigung nun noch den Schmelz der Empfindsamkeit, bis die Anhängerinnen eines Jean Paul es dahin brachten, nur von Blumenduft und Weihrauch leben zu wollen. Der Ernst des Lebens hieß ihnen trockene Prosa, jeden bunten Flitter desselben bezeichneten sie mit dem Worte Poesie, sie träumten nur von überschwenglicher Liebe und setzten die Hauptaufgabe des Lebens darin, angebetet zu werden. Kein Mann konnte sich ihnen nahen, ohne daß ihr Auge auf seinem Gesichte den Ausdruck der Empfindungen suchte, die sie einzuflößen begehrten, und in einsamer Stunde nahmen sie dann sogleich ihr Blümchen Wunderhold zur Hand und zupften: „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht;“ und so fort, bis sie das gewünschte Resultat gezupft hatten.

Die romantische Schule lebte sich aus, die Männer wuchsen in eine andere Richtung hinüber; – aber die Frauen blieben stehen. Gehen wir in eine Leihbibliothek und sehen die Masse von Romanen aus weiblicher Feder durch, so werden wir finden, daß Liebe und immer wieder Liebe das große Thema ist, welches sie behandeln. Die Schriftstellerinnen sind die Repräsentantinnen ihres Geschlechtes, die dem Worte leihen, was die Andern im meistens Stillen empfinden und sinnen, und der Tadel, der den Männern in diesen Werken zugetheilt wird, daß sie nicht genug, nicht hingebend, nicht aufopfernd lieben, findet ein Echo in aller Herzen. Daß die Frauen nicht, gleich den Männern, jener neuen Zeitrichtung huldigten, die sich eines gesunderen Sinnes rühmt, der die Erde, die er unter seinen Füssen tritt, als seine große Mutter achtet, das ist wohl lediglich ihrem Erziehungssysteme zuzuschreiben.

Die gewöhnliche Phrase ist, daß man in heutiger Zeit schon viel von einem Mädchen erwarte, sie müsse Musik verstehen, müsse Sprachen treiben und in manchen kleinen Künsten erfahren sein. Dies nennt man die Erfordernisse einer guten Erziehung, und ein recht gebildetes Mädchen wird jene geheißen, die diesen Standpunkt erreicht hat. Man thut ihr damit Unrecht. Bildung kann bestehen ohne Sprachen und ohne Talente. Bildung geht dem innern Menschen an, wie dieser den Gang seiner Gedanken geschult und geregelt hat, so hat er sich gebildet. Bildung ist also im eigentlichen Sinne des Wortes Selbsterziehung, und diese erfordert stille Stunden, erfordert ein Insichgehen, ein Rechten mit sich selbst, eine Wachsamkeit über die Gedanken wie über die Thaten, eine strenge Prüfung, ob man an jedem Tage den Ansprüchen genügt, die man an sich machen konnte. – Will man zugleich den Schönheitssinn entwickeln, so muß dies die Bildung fördern; denn alle Sittlichkeit ist schön, und jedes Leben, das seinem großen Entzwecke entspricht, ist ein schönes.

Jedes menschliche Individuum muß zuerst sich selbst als den Zweck seines Lebens ansehen, denn nur, indem Jeder sich bemüht das Höchste, das seine Natur erreichen kann, aus sich zu machen, wird die ganze Menschheit auf ihrem Wege zu einer vollkommeneren Existenz gefördert. Die zweite Beziehung gilt erst den Personen, die unsern nächsten Lebenskreis ausmachen. Der Frauen Sphäre ist das Haus; die Pflege und Erziehung der Kinder liegt ihnen ob, sie mögen verheirathet oder unverheirathet sein. In der Erfüllung dieser Pflichten haben sie die Aufgabe ihres Lebens zu suchen. Kleine Sorgen und kleine Mühen treten ihnen überall entgegen, und werden für sie ein Quell der schönsten Freuden, sobald sie sich derselben im rechten Sinne unterziehen. Die Arbeit zu finden, die uns Befriedigung gewährt, die uns neben der eigenen Billigung auch den Beifall Anderer verspricht, das ist eigentlich das einzige dauernde Glück. Das System unserer jetzigen Erziehung hat den Frauen mehr oder minder diese Genugthuung geraubt, und damit die Basis der Selbstachtung unter ihren Füßen fortgezogen. Die Mütter haben sich eingeredet, daß ein Mädchen, wenn es erwachsen in die Gesellschaft trete, Aufsehen erregen müsse, um so den Männern zu gefallen. Aus diesem Grunde wird die ganze schöne Jugendzeit damit verbracht, sie in Dingen zu unterweisen, die in keiner Mädchenerziehung die Hauptsache sein sollten. Der Mann, der sie zur Gattin wählt, ist nicht immer ein Freund der Musik, weniger noch wird er mit ihr fremde Sprachen reden, wohl aber kann es ihn glücklich machen, wenn sie sinnig auf seine Interessen eingeht, wenn sie seinem Hause mit Umsicht vorsteht, so daß seine Einnahme, wie klein oder wie groß diese sei, für ihre beiderseitigen Bedürfnisse ausreicht. Dieser Punkt ist wohl der schwierigste in jedem neuorganisirten Haushalte und einer ernsten Betrachtung werth.

Der Mann erwirbt das Geld; der Frau fällt das Detail der Ausgaben anheim, sie hat zu überlegen, wie viel sie hier und wie viel dort verwenden kann, damit der ganze Haushalt verhältnißmäßig organisirt sei. Das Glück einer Ehe beruht vielfach auf diesem Talente, oder scheitert an demselben. Der Luxus unserer Lebensweise ist leider unendlich gestiegen, und fast täglich steigern sich unsere Ansprüche! Die Einnahme unserer Staatsdiener ist dagegen, was sie vor fünfzig Jahren war, und auch in andern Lebensstellungen erblicken wir dasselbe Verhältniß. Die Wohnung einer Familie muß jetzt bedeutend größer sein, wie ehemals; es dürfen Gesellschaftszimmer nicht darin fehlen, und die Hausrenten steigern sich mit jedem Jahre. Die Erziehung der Kinder ist viel kostspieliger geworden, die Töchter und auch die Söhne müssen Privatunterricht haben, und sogar die Bücherrechnung ist am Ende jedes Jahres eine Summe. Wo sonst eine Dienerin gehalten wurde, da findet man jetzt zwei und unter zehn Müttern nährt kaum eine noch ihr Kind. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Toilette der Frau, die in demselben Verhältniß zur Einnahme steht, wie das Cigarrenrauchen des Mannes. Keine Frau kann jetzt mehr ohne bunte seidene Kleider ausgehen, und [101] weiße Glacé-Handschuhe und Batist-Schnupftücher, von denen unsere Großmütter nichts wußten, gehören zu Nothwendigkeiten des Lebens. – Fällt es nun einem Manne ein, einen Hausstand zu gründen unter Bedingungen, wie es sein Großvater ohne Bedenken gethan, so steht ihm häusliches Elend bevor, wo jener im Wohlstand lebte. Denn wie könnte es auch anders sein, da die Einnahme ja nur dieselbe geblieben ist, während alle Ausgaben sich verdoppelt haben. Ersparnisse, die unsere Großmütter weise in Anwendung brachten, können wir von unsern talentvollen jungen Damen nicht erwarten. Die Wäsche, die in den Haushaltungen nach altem Schnitte, von der Mutter und den Töchtern geplättet wurde, wird fremden Händen übergeben; denn den Dunst ertragen die Nerven unserer heutigen Damenwelt nicht. Ihre Kleider selbst zu machen, haben sie nicht gelernt, dazu wird eine Nähterin gehalten. Die feinen Hemden des Hausherrn werden in einem Laden gekauft, während es der Stolz unserer Mütter war, dieselben mit eigener Hand recht sauber anzufertigen, und wie sorgsam mußte dann in der Wäsche damit verfahren werden! Die Kinder werden von einer Dienerin angekleidet und spazieren geführt, wobei sie rohe Sitten und eine schlechte Sprache lernen; die Mutter aber konnte selbst diese Pflicht nicht übernehmen. Auch ihre Talente, das Einzige, was die Erziehung ihr gab, sucht sie nicht zu verwerthen; denn die Musik ist nach und nach liegen geblieben, die Sprachen hat sie vergessen und aus Liebe zu ihren Kindern kann sie nun nicht wieder rückwärts lernen.

Jahre vergehen, der Schmuck der ersten Jugend ist dahin, und dieselbe Frau, die wir als Mädchen talentvoll nannten, erscheint uns jetzt entsetzlich langweilig, und nur geeignet, mit Klatschereien und fadem Geschwätz die Stunden auszufüllen, die sie ihrem Vergnügen widmen will. Ihr Geist hat keine Nahrung gesucht, weil ihre Erziehung ihr kein Bedürfniß der Art eingeflößt, und aus Langeweile suchte sie mitunter ein Buch, das aber nur ein Liebesroman sein durfte, der ihr nichts zu denken gab. Unter der Leitung einer solchen Mutter wächst nun eine neue Generation empor.

Ein anderer schwarzer Punkt in diesem häuslichen Bilde ist noch die Armuth, die hier verborgen mit giftigem Zahne tödtet. Der Schein soll gerettet werden, man hat eine Position in der Welt zu vertreten. So wird der Entschluß gefaßt, heimlich zu entbehren, und was man sich auf diese Art versagt, das zehrt am Lebensblute. Die Ausgaben für den Tisch werden beschränkt, die Kinder erhalten die angemessene Nahrung nicht, gutes kräftiges Fleisch wird selten gereicht, und lebenslängliches Siechthum ist oft Folge dieser traurigen Oekonomie. An ein frisches fröhliches Gedeihen des physischen Menschen ist dabei nicht zu denken, und der moralische gewinnt wahrlich ebenso wenig. Diese Kargheit in Allem, dies ewige Rechnen und Berechnen thut der jungen Seele so weh, es beugt sie und erdrückt sie. Einen Freund mit heimführen, damit er am Tische der Familie mit genieße, was es giebt, das darf der Sohn nie wagen; denn es soll ja ein heiliges Geheimniß bleiben, was man hier vorgesetzt findet. An eine Handlung des Wohlwollens der Menschenliebe, darf nicht gedacht werden, es sei denn, daß der Schein sie fordere.

Die Töchter wollen auf einen Ball gehen, und haben keine Kleider. Sie sticken heimlich für einen Laden, und benutzen den Ertrag, um dafür den bunten Flitter zu erstehen, mit dem sie in der Gesellschaft glänzen wollen. Wüßte dort Jemand, wie sie diesen Putz erworben, sie würden vor Scham in die Erde sinken; aber man weiß es nicht, und so tanzen sie mit dieser Lüge im Herzen der Welt einen Cotillon vor. Vielleicht fällt es einem jungen Manne gerade heute ein, sich zu verlieben und seine Hand zu bieten; wie kann das Mädchen da anders handeln, als froh die Gelegenheit ergreifen, die sie dem Aelternhause entführt, wo sie gleichsam eine Last ist. Gottlob, ein eigener Herd! seufzt sie, und findet an demselben die ganze Kette von stillen Sorgen wieder, die sie zurückzulassen begehrte. Dies sind die Folgen unserer heutigen Mädchenerziehung.

Wer nicht in sich schaut, der schaut auch nicht um sich, der übersieht den Kreis seiner nächsten Pflichten nicht, und ermangelt des Muthes, um sie mit starkem Willen zu erfüllen.




Blätter und Blüthen.

Eine Tigerjagd in den Certoes. In seiner Reise durch Brasilien erzählt der bekannte Reisende Weechs: An der Grenze von Minas-Geraes beginnt ein ungeheurer Landstrich, welcher eben nur mit Gras bedeckt, manchmal wieder mit Gebüsch überzogen, beinahe noch ganz unangebaut und so wenig bevölkert ist, daß man Tage lang reisen kann, ohne auch nur die Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken. In der Landessprache werden diese Gegenden Certoes genannt, und dort allein findet man dieselben großen Heerden, welche in den Pampas von Buenos Ayres den Reichthum der Einwohner ausmachen. Aus diesen Certoes stammte mein Vater, und als ich mein achtzehntes Jahr erreicht hatte, beschloß er, mich zu seinen Verwandten zu schicken; ich bekam einen treuen Neger und ein gutes Pferd mit, und langte wohlbebalten und freudig empfangen bei dem Bruder meines Vaters an. Nachdem ich gehörig ausgerastet hatte, gesellten sich die zwei ältesten Söhne des Hauses zu mir und erboten sich, mir ihres Vaters Heerde zu zeigen; ich wurde in ein Zimmer geführt, bekam Hose, Weste, Jacke und Hut, von Sohlleder verfertigt, ein frisches kräftiges Pferd und eine lange, mit einer Spitze versehene Varra oder Lanze in die Hand, und nun ging’s über die Ebene weg, was die Pferde laufen konnten. Bei dieser Gelegenheit gaben mir meine Vettern eine Menge Beweise ihrer Reitkunst, welche an Tollkühnheit gränzten, ich war oft nicht im Stande, ihnen zu folgen, und als wir dichtes Gebüsch erreichten, verlor ich sie gänzlich aus den Augen; kaum bemerkte dies mein Pferd, als es den Kopf zwischen die Beine nahm, in wüthendem Galopp mit mir in das Dickicht stürzte und, alle Hindernisse besiegend, mit mir fortrannte. Ich blieb mechanisch auf dem Pferde sitzen; anfangs bemüht es aufzuhalten, oder es auf eine bessere Bahn zu leiten; aber jede Anstrengung war vergebens. In dem Gebüsche angekommen, fühlte ich nur den Widerstand, welchen Zweige und die Stacheln der Dornhecken der reißenden Gewalt, mit welcher mein Pferd zwischen ihnen durchsetzte, leisteten; ich war allein bedacht, mein Gesicht zu schützen, übrigens vollkommen überzeugt, meine Kleider und einen Theil meiner Haut bei diesem verwünschten Ritte zu verlieren. Ich besinne mich nicht mehr, wie lange das Rasen meines Pferdes dauerte, ich fühlte nur, daß es plötzlich stille hielt, und als ich die Hände vom Gesicht brachte und ganz verwirrt um mich sah, erblickte ich meine beiden Vettern, welche sich vor Lachen die Seiten hielten. So roh sie übrigens waren, so bemerkten sie doch, daß meine Erschöpfung zu groß war, um mit Anstrengung weiter zu reiten; wir setzten daher den Weg langsam fort, bis wir einen Theil der Heerde erreichten. Es befanden sich auf dieser Stelle 12,000 Stück Hornvieh auf einem Umkreise von einer halben Stunde weidend, großes, prächtiges Vieh, und der kleinste Theil von dem Eigenthume meines Oheims, der 40,000 Stück des schönsten Hornviehes und 10 Quadratlegoas unbestrittenes Land besaß. Mehrere berittene Schwarze, ebenso wie wir gekleidet, mit einer Varra bewaffnet und mit einem Lasso (Fangschlinge) versehen, hüteten die Heerde. Während dieser Zeit konnte ich nicht unterlassen, mich zu besehen und zu betasten, und zu meinem Erstaunen war ich nicht im Geringsten beschädigt und sah nun die Zweckmäßigkeit der schweren ledernen Kleidung vollkommen ein; dadurch kühn gemacht, forderte ich meine Vettern selbst zu einem rascheren Ritte auf, und wir legten eine beträchtliche Strecke Weges zurück, als wir plötzlich auf einen halberwachsenen Ochsen stießen, welcher zerrissen und zum Theile aufgezehrt an dem Rande eines Dickichts lag. Meine Vettern baten mich zu warten, sprengten in das Gebüsch und kamen bald darauf wieder zurück. Sie beklagten sich sehr über den Schaden, den sie durch die Raubgier eines großen Tigers leiden mußten, dem sie schon lange vergebens auf der Spur wären, versicherten mich jedoch, daß er ihnen nicht mehr lange entgeben könnte, und daß sie zuversichtlich hofften, mir vor meiner Abreise noch das Vergnügen einer Tigerjagd zu verschaffen. Als wir vor der Wohnung ankamen, wurde ich einstimmig befragt, wo ich meine Varra gelassen hätte, und es blieb mir nichts übrig, als mein Abenteuer zu erzählen, und mich tüchtig auslachen zu lassen. Da ich übrigens seit meiner zartesten Jugend mich geübt hatte, so reichten wenige Tage hin, und ich blieb hinter dem besten Reiter der Certoes nicht mehr zurück, und brachte jedesmal meine Varra mit nach Hause. Die Lebensweise auf dem Gute meiner Verwandten war mir ebenso auffallend; wir hatten beinahe keine andere Nahrung als Fleisch, und nur, wenn mein Oheim oder einer seiner Söhne von Babla zurückkamen, wohin sie im Jahre zweimal einige tausend Stück Hornvieh zum Verkaufe trieben, brachten sie Salz, Manoio-Mehl, Wein und Branntwein mit sich; war der Vorrath aufgezehrt, so lebten sie wieder allein vom Fleische; die Jäger erhielten nie etwas Anderes. Eben so wenig sah mein Oheim jemals Leute bei sich oder besuchte seine Nachbarn, und nur zwei- bis dreimal im Jahre ritt er mit seiner Familie nach einem Kirchspiele, welches dreißig Stunden von seiner Wohnung entfernt war.

Am achten Tage meines Aufenthaltes und im Augenblicke, als wir die gewöhnliche Mahlzeit einnehmen wollten, sprengte ein Sklave vor das Haus und kündigte uns an, daß soeben ein gewaltiger Tiger sich in der Nähe der Heerde gezeigt habe. Wir sprangen alle vom Boden auf, und selbst mein alter Oheim warf sich auf eines der schnell gesattelten Pferde: die Söhne brachten sechs gekoppelte Hunde herbei, und nun ging es im raschesten Laufe der beschriebenen Stelle zu. Die Hunde wurden losgelassen, und wenige Augenblicke darauf hatten sie die Spur des Tigers aufgefunden. Einer der Söhne stürzte in’s Dickicht, und das Geheul der Hunde verrieth, daß sie sich bereits im Kampfe mit dem Raubthiere befanden. Ihre [102] Bemühung, den Tiger aus dem Dickicht zu bringen, schien jedoch vergebens; ungeduldig darüber, eilten ihnen alle Anwesende zu Hülfe, nur mein Oheim, ein erprobter Jäger, und ich blieben im Freien. Ein allgemeiner Schrei der Angreifenden erregte endlich unsere Aufmerksamkeit, und fast in demselben Augenblicke theilte sich das Gebüsch, aus dem der Tiger wüthend und von zwei muthigen Hunden hart bedrängt, hervorstürzte. Ein Schlag seiner gewaltigen Tatze streckte einen derselben zu Boden, und ohne sich weiter zu besinnen, befand er sich mit einem einzigen Sprunge in unserer Mitte. Ich gestehe gern, daß ich für einen Augenblick alle Besinnung verlor, als ich jedoch zu mir kam, erblickte ich meinen alten Oheim unter den mörderischen Klauen des Unthiers; der Neger war bereits vom Pferde gesprungen und griff es mit seinem Messer an, und ich säumte nicht, seinem Beispiele zu folgen. Der Tiger, als wäre ihm meine Unbekanntschaft mit diesem Kampfe bekannt gewesen, ließ nun meinen Oheim los, und brachte mich augenblicklich unter sich. Schon gab ich mich für verloren, als er von der Varra eines meiner herbeieilenden Vettern wohl getroffen niederstürzte und von den übrigen augenblicklich getödtet wurde. Man zog mich betäubt unter ihm hervor, und jetzt erst bemerkte ich, daß ich eine bedeutende Verletzung am Arme erhalten hatte und ganz mit Blut bedeckt war: ich wurde nach Hause gebracht; man wendete einige Kräuter an, und stellte mich in kürzerer Zeit, als ich gedacht hatte, vollkommen her. Ich wollte übrigens diese mir merkwürdige Gegend nicht eher verlassen, bis ich mit der Art, den gefährlichsten Feind der Heerden aufzusuchen und anzugreifen, bekannt war, und die Gelegenheit hierzu stellte sich bald ein. Als ich meines Obeims Gut verließ, drangen mir meine Vettern die Haut des erlegten Tigers auf; ich kam glücklich in Palmeinos an, und habe seitdem manchen nützlichen und glücklichen Kampf mit unsern Unzen bestanden, welche, obwohl kleiner bedeutend als die Tiger der Certoes, nicht weniger schädlich und raubgierig als jene sind.




Linné’s Blumenuhr. Der geistreiche Einfall Linné’s, durch die Blumen zu erfahren, was die Glocke geschlagen, scheint noch nirgends ausgeführt worden zu sein. Sein Plan gründet sich auf die verschiedenen Theile des Tages, in welchen Blumen ihre Kelche öffnen und schließen. Die Tageslilie macht ihre Augen früh um 5 Uhr auf, die Dandolie um 6, Geierkraut um 7 Uhr und sofort. Aehnlich ist’s mit dem Schließen am Abend.




Zum Tischrücken. Zeigt der moderne Fanatismus für Tisch- und Geisterklopfen und andere Phantasieausgeburten des angeblichen Hereinragens einer Geisterwelt in das Erdenleben (das wir eher ein Hinausragen und Hinaustragen absurdester Hirngespinnste in der Natur nennen möchten) in trauriger Weise, wie wenig sich noch naturwissenschaftliche Kenntnisse und klare Begriffe selbst in der sogenannten gebildeten Welt heimisch zu machen gewußt haben; und hat der im Gefolge dieser und anderer Arten des neumodischen Mysticismus auftretende Unsinn oft eine mehr lächerliche als ernste Seite, so kommen doch dazwischen immer noch Fälle vor, welche vor dem aberwitzigen Treiben warnen müssen. So wird aus Freiburg (in der Schweiz) Folgendes berichtet. Eine junge hochschwangere Frau ließ sich dazu verleiten, während einer gesellschaftlichen Operation des Tischrückens die Frage an den Tisch oder an den Klopfgeist zu richten, wie lange sie noch leben werde. Der Tisch läßt achtzehn Schläge vernehmen. Die Frau fragt weiter, ob damit Jahre gemeint seien. Keine Antwort. „Sind es Minuten?“ Die Fragestellerin hört einen Schlag und deutet ihn als Bejahung. Schon steigt ihre Beängstigung und sie fragt weiter: Wird der Tod plötzlich sein? Abermals ein Schlag, den die unglückliche Neugierige wieder als Bejahung deutet, und wodurch ihre Beängstigung zu förmlichem Wirrsinn gesteigert wird, von dem die Arme bis jetzt nicht wieder befreit werden konnte. Wir halten dafür, daß Diejenigen sehr wenig Gescheidtes mehr an sich und auf der Welt zu thun haben müssen, welche derartigem wahnwitzigen Treiben in Rede und That Vorschub zu leisten vermögen!

Mich selbst erinnerte der erste Taumel des Tischrückens, der epidemieartig um sich griff, sogleich an eine traurige Erfahrung meiner Jugend.

Es sind jetzt ungefähr fünfzehn Jahre, da zeigte einer meiner Freunde, mit dem mich besondere Verhältnisse längere Zeit in sehr naher Berührung hatten stehen lassen, Spuren einer geistigen Verstörung, die sich allmälig heranbildete und endlich einen höchst betrübenden Charakter annahm. Der junge Mann, früher heiteren Gemüthes und ein treffliches mathematisches Talent, faßte ein unvertilgliches Mißtrauen gegen seine Umgebung, endlich selbst gegen seine Freunde, schloß sich in seiner misanthropischen Stimmung gänzlich ab, ward förmlich leutscheu und glaubte nun, die unwiderleglichsten Beweise von allerlei kleinen Intriguen, die gegen ihn gesponnen würden, zu erblicken. Freilich war auch seine ganze Lage damals eine solche, daß dem sich täglich fester setzenden Wahne des Unglücklichen kaum mit Erfolg hätte entgegengearbeitet werden können. Unter die von dieser Lage unterstützten Einbildungen gehörte es auch, daß er glaubte, während seiner zeitweisen Entfernung aus dem Zimmer machten sich Unberufene das Geschäft, unter seinen Effecten und Papieren herumzuwühlen; und um sich dessen noch mehr zu vergewissern, machte er vor seinen Ausgängen hier und da Zeichen, um nach der Hand die Spuren fremder Thätigkeit wieder zu finden, die er denn natürlich auch stets fand, so fest wir auch überzeugt sein konnten, daß seine Beobachtung eine durchaus irrige war. Allein der Wahn selbst mußte die Schärfe des Auges für eine unbefangene Beobachtung ja bereits getrübt haben. Dabei mochte es wohl vorgekommen sein, daß der Zug eines offenstehenden Fensters beim Gehen aus der Thüre auf Tischen liegende Papiere einmal verrückt hatte; allein die natürliche Erklärung war dem verstörten Geiste schon verloren gegangen. Der ganze Zustand war für uns Freunde ein um so peinlicherer, als sich mit jener fixen Idee des sonst ruhig und still sich verhaltenden Armen eine immer steigende Vernachlässigung seiner selbst in der äußern Erscheinung, in Kleidern, Wäsche und Zimmercultur verband, die schließlich geradezu in Schmutz überging und so rückwirkend wieder dem Uebel selbst Nahrung zutrug – so gewiß ist es, daß mit den Verluste der Herrschaft über sich selbst und sein Körperliches der Mensch auch in demselben Grade die geistige Freiheit verliert, und jener Culturmaßstab der Seife eine sehr tiefe psychologische Begründung hat. Genug, die ungenaue oder geradezu irrige Beobachtung, mit der sich unser Freund wahrhaft quälte, hatte ihn bei einmal erwachtem und sich täglich aus sich steigerndem Mißtrauen zuletzt in jenen Zustand geistiger Unfreiheit gebracht, den man gewöhnlich mit dem Namen „fixer Idee“ bezeichnet. Das weitere Schicksal des Unglücklichen gehört nicht hierher. Es zeigte nur, wie Recht jener klare, geistvolle Forscher in Silberhaaren, Alexander von Humboldt, hatte, als er sagte: „Eine ungenau beobachtete Thatsache ist schwerer zu erschüttern als eine Theorie!“

Aber was hat diese traurige Geschichte mit dem Tischrücken zu thun? wird man fragen. Mehr als man beim ersten Anblick denkt. Sie zeigt, wie leicht, wenn einmal die Tramontane kalter, ruhiger Beobachtung verloren ist, man unaufhaltsam jenem Stadium zusegelt, wo sich willenlos Wind und Wetter überlassen werden muß und die Zurechnungsfähigkeit aufhört. Die Manie, mit welcher man über das Tischrücken hergefallen, dünkt uns etwas weit Ungewöhnlicheres und Auffallenderes, als uns die wirkliche Entdeckung einer wunderbaren Naturkraft je hätte scheinen können. Ein Tisch bringt uns aus aller Fassung, macht uns schwindeln, uns, die wir als jedes Fanatismus baar gelten konnten, auf einmal wieder zu Fanatikern. Meinen armen Freund hatte sein strenglogisches, mathematisches, illusionsloses Studium nicht davor bewahren können, sein geistiges Gleichgewicht zu verlieren; und uns „Volk der Denker,“ wie wir uns doch gerne nennen hören, brachte eine einzige, im Ganzen vorerst doch gewiß bedeutungslose Erscheinung so rasch und allgemein in Bewegung, daß wir fast erschrocken vor der Thatsache stehen, wie wenig im Grunde dazu nöthig ist, uns in irgend eine Verrückung jener olympischen Ruhe und ewigen Gleichmüthigkeit zu versetzen, die bereits als unentbehrlich zur Erhaltung des Weltfriedens und des europäischen Gleichgewichts erklärt wurde. Bei dieser Gelegenheit sind so viel faule Seiten unserer vielgerühmten Cultur an den Tag gekommen, daß wir in der That alle Ursache haben, recht bescheiden zu sein, und noch viel, gar viel zu lernen. Auf dem Wege sind wir, seit namentlich die Wissenschaft es nicht mehr verschmäht, Allen verständlich zu reden. Daß aber der Spuk noch nicht beschworen, zeigt in traurigster Weise auch der Eingangs erwähnte Vorfall. Dr. L–n. 




Eine deutsch-amerikanische Zeitung. In Sachsen, Stuttgart und besonders Leipzig wird man sich noch ganz gut des Advokaten Grahl erinnern, der in den politischen Zeiten der Jahre 1848 und 1849 eine Rolle spielte und dann nach Amerika flüchtete. Wie wir hören, hat er dort in den ersten Jahren viel Trauriges erfahren und mit großer Sehnsucht der verlassenen Heimath gedacht. Jetzt lebt er in Sheboigan im Staate Wisconsin und giebt eine Zeitschrift in Format der Times: „Der Phönix aus Nordwesten“ heraus, welche wöchentlich zwei Mal erscheint, und außer politischen Leitartikeln und Nachrichten auch Erzählungen und belehrende Aufsätze bringt. Durch die Freundlichkeit eines Anverwandten sind uns mehrere Nummern dieses Phönix zugegangen, die in vielerlei Beziehungen von großem Interesse sind. Man glaubt, eine sächsische Zeitung zu lesen. Außer den üblichen Leitartikeln und politiscken Notizen findet man da Erzählungen von Gerstäcker, naturwissenschaftliche Mittheilungen von Roßmäßler, Pädagogisches von Diesterweg (natürlich alles Nachdruck), Auszüge aus Zschokke’s, Mahlmann’s, Leop. Schefer’s etc. Schriften, auf der Inseratenseite „Tanzvergnügen im Waldschlößchen.“ „Echt baierisches Bier im Gasthof zur Stadt Hamburg.“ – Deutsches Möbelmagazin von Albrecht – Pulvermachers Rheumatismusketten. – Deutscher Eisenwaaren-Laden von Gärtner. – Vogelschießen der deutschen Schützencompagnie. – Papierhandlung von Reinbold. – Deutsche Freischule. – Grahl, der zugleich einen Buchladen hat, kündigt: Marbach’s Volksbücher. Das malerische Deutschland. Hamm, Ackerbaukatechismus, Auerbach’s Dorfgeschichten. Gerstäcker’s Auswanderungsgeschichte. Meyer’s Universum. Schwab, die deutschen Sagen etc. an, wie denn überhaupt alle Ankündigungen – und das Blatt hat davon sehr viele – nur echt deutsche Namen tragen. Interessant ist eine Rubrik: „Deutsche, welche Deutsche suchen.“ Da sucht Benner in Newbraunfels die Geschwister Kleinhaus aus Ippenhausen in Churhessen, Pohlens in Philadelphia sucht Ernst Louis Pohlens aus Dresden, Lewis Bleidowns in New-York sucht Ernst Kresse aus Altenburg etc. etc. Grahl ist Redakteur dieser Zeitschrift, aber zugleich auch Setzer, Drucker, Verleger und Expedient derselben; wobei ihm nur ein deutscher Freund und sein ältestes Kind zur Hand gehen. Ein saures Stückchen Brodt!




Eisenbahnwärter-Romantik. In Frankreich wurde vor etwa fünf Jahren ein Bahnwärter so krank, daß er für immer unfähig blieb, sein Amt wieder anzutreten. In den ersten Tagen seiner Krankheit versah seine Frau, verkleidet, den Posten, der nicht verloren gehen sollte. Da der Mann krank blieb, fuhr sie auch fort, in der Kleidung desselben alle Pflichten des Bahnwärters zu erfüllen und zwar fünf Jahre lang, bis man unlängst entdeckte, weß Geschlechts sie sei und daß sie nur aus Liebe zu dem Manne und den Kindern so ausdauernd und männlich gehandelt habe. Ihre nächsten Nachbarn in der Bahnbeaufsichtigung waren in das Geheimniß eingeweiht worden. Sie wurde zur Strafe abgesetzt und von der Bahndirection und Privatpersonen so reichlich beschenkt, daß sie zeitlebens genug hat.
E. K.  





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.