Die Gartenlaube (1856)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[221]
Ein Familiengeheimniß.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)
VI.
Der Diamantring.

Franz hatte sich in die eine, Henriette in die andere Ecke des Wagens gelegt. Die Ungewißheit über den Ring brannte wie Feuer auf der Seele des armen Banquiers. Um sich zu zerstreuen, sah er nach den schwarzen Wänden der stillen Häuser, an denen sie vorüberfuhren. In dem Augenblicke, als eine Straßenlaterne ihre Strahlen in den Wagen warf, sah er unwillkürlich nach seiner Frau – ruhig, in ihren seidenen Pelzmantel gehüllt, saß sie da, sie schien nachzudenken, und dachte auch vielleicht nach. Franz zitterte bei dem Anblicke dieser schönen, engelgleichen Züge, er zitterte vor einer unheilvollen Aufklärung des seltsamen Geheimnisses. Ihm war, als ob die Last des Argwohns, die auf seiner Frau lag, ihn selbst drücke, und als ob er sie unwillkürlich abschütteln müßte, fragte er:

„Wir haben sehr schnell den Ball verlassen – Du hast doch nichts vergessen?“

Es war dunkel im Wagen, sonst hätte er die Ueberraschung gesehen, die sich in Henriette’s Gesicht malte.

„Nein!“ antwortete sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig. „Ich wüßte nicht, daß ich etwas vergessen hätte.“

Das vorige Schweigen trat wieder ein. Mit der Schlauheit der Frauen, die stets die Tugend ein wenig beeinträchtigt, wartete sie auf eine zweite Frage ihres Mannes. Franz hatte sich ruhig gewendet, und setzte seine Betrachtung der Häuser fort; er fühlte, daß er auf diese Weise nicht weiter forschen dürfe, ohne seinen Verdacht zu erkennen zu geben, und den Verdacht gegen seine Frau hielt er für ein Verbrechen an der Liebe. Franz hatte früher durch die Macht seines Geldes einen Geschäftsmann ruinirt, ohne die Tugend seiner Gattin in Zweifel gezogen zu haben.

Henriette hatte keine Ahnung von der Leidenschaft, von den tiefen Empfindungen, die sich unter dem Schweigen ihres Mannes verbargen, und Franz kannte das große Drama nicht, das das Herz seiner Frau zusammenpreßte. Der Wagen trug zwei Ehegatten, die sich gegenseitig anbeteten, die eins in dem andern lebten, aber dennoch durch eine tiefe Kluft getrennt wurden. Sonst saßen sie Hand in Hand neben einander, freundlich plaudernd – heute zum ersten Male hing Jedes seinen Gedanken nach.

Der Wagen hielt an. Franz bot seiner Gattin den Arm, und führte sie in ihr Zimmer. Die Kammerfrau, die sich zur Dienstleistung meldete, ward fortgeschickt; Henriette wollte ihre Nachttoilette allein besorgen. Das Schlafzimmer Madame Soltau’s war ein reizender Ort. Franz hatte ihn erschaffen, indem er seinen zärtlichen Launen gefolgt war, die nicht müde wurden, der Göttin, die er anbetete, einen Himmel auf der Erde zu schaffen. Der Reichthum hatte für ihn einen um so größern Werth, da er ihm die Entwicklung seiner Gefühle gestattete. Franz war stets darauf bedacht gewesen, jene Sorgfalt und Zartheit an den Tag zu legen, welche die Liebe läutert und den Gegenstand derselben reizender macht.

Henriette wußte, wozu sie durch die Sorgfalt ihres Gatten verpflichtet ward; sie suchte ihm das zu sein, was er aus ihr machen wollte. Von wahrer Liebe begeistert, ward sie nie müde, alle jenen kleinen Pflichten zu erfüllen, die eine Frau nicht außer Acht lassen muß, da sie der Liebe stets neuen Reiz verleihen. Henriette betrat ihr Schlafzimmer allein, um ihren Ballstaat abzulegen; als sie wiedererschien, trug sie ein reizendes Nachtgewand. Franz erblickte seine Frau in einem schneeweißen Negligé – die schweren Flechten ihren dunklen Haaren waren leicht auf dem Haupte zusammengelegt. Henriette zeigte sich ihrem Manne schöner, als sie es für die Welt gewesen war. Sie kannte das Geheimniß, sich für die Feste ihres Herzens geheimnißvoll zu schmücken. Heute hatte sie die größte Sorgfalt auf ihre Toilette verwendet; die feine Batistrobe war nachlässig zusammengezogen, die entfesselten Locken der Schläfe fielen auf die schwellenden Alabasterschultern herab. Ihre zarten Füße bekleideten Pantoffeln von rothem Sammet. Ein feines Parfüm entströmte ihrem Gewande.

Als sie eintrat, saß Soltau neben dem zierlichen Bronce-Ofen, in dem ein Feuer knisterte. Er war nachdenkend, und hatte ihren Eintritt nicht bemerkt. Lächelnd und ihres Vortheils gewiß, schlich sie näher, legte ihre kleine weiße Hand auf seine Augen, und flüsterte, indem sie die Spitzen ihrer Perlenzähne an seine Wangen brachte, daß ihr würziger Athem ihn berührte:

„Franz, ist Dir noch unwohl?“

Dann umschlang sie ihn mit dem schönen Arme, als ob sie ihn seinen trüben Gedanken entreißen wollte. Henriette liebte mit ganzer Seele, und diese Liebe gab ihr das ganze Bewußtsein ihrer Macht.

„Nein, mir ist besser!“ murmelte Franz, indem er die rechte Hand seiner Frau ergriff. Er zuckte zusammen, als er den Ring an dem Zeigefinger derselben vermißte.

„Franz, Du bist wirklich krank!“ rief sie besorgt.

Soltau sah sie an: ihr schönes Auge blickte offen und mitleidsvoll auf ihn herab; die lieblichen Züge drückten nur Besorgniß, keine Spur von Befangenheit aus.

[222] „Mein Gott,“ dachte er, und ein stechender Schmerz durchzuckte seine Brust – „wenn dieses Engelsgesicht löge, wenn hinter diesen Blicken ein arglistiges Herz verborgen läge!“

„An was denkst Du, Franz?“ fragte sie ein wenig schüchtern.

„An den Ball!“

„Ah, an Miß Belling!“ rief sie scherzend, indem sie sich auf seine Kniee setzte.

„Du hast Recht.“

„O, ich wußte es.“

„Ich stelle Vergleiche zwischen Dir und ihr an.“

„Und darf man wissen – es ist zwar eine seltsame Frage von einer Frau an ihren Mann – darf man wissen, zu wessen Gunsten diese Vergleiche ausfallen?“

„Sie ist seltsam; aber auch ein Beweis Deines Vertrauens in meine Offenheit.“

„Vorausgesetzt, daß ich nicht so anmaßend bin, außer bei meinem Manne einen Sieg über die gefeierte Schönheit davontragen zu wollen. Du siehst, Franz, daß ich eben so offen bin, als Du.“

Franz drückte sie zärtlich an sich, indem er sagte: „Muß ich Dir denn wiederholen, daß meine Frau den Vergleich, den ihr Mann anstellt, nicht zu fürchten hat? Glaube mir, ich kenne den Schatz, den ich besitze, und jeder Vergleich läßt mich seinen unschätzbaren Werth erkennen.“

„O Franz, ich hätte jene Frage nicht an Dich richten sollen!“

Sie preßte ihre zarten Lippen auf seinen Mund, während sie sich mit beiden Armen an seinen Hals hing. Dann flüsterte sie:

„So hat der Ball sein Gutes gehabt.“

„Aber auch sein Uebel.“

„Für Dich?“

„Nein.“

„Was willst Du sagen, Franz?“

„Man bot mir auf dem Balle einen Diamantring an – ich sollte eine Summe darauf leihen. Hier ist er.“

Er gab ihr den Ring, den er von dem Advokaten erhalten hatte. Henriette verlor ihre Fassung nicht; sie sah den Ring einen Augenblick verwundert an, dann gab sie ihn zurück.

„Fast möchte man glauben, er sei der meinige, Dein Geburtstagsgeschenk, Franz!“

„Ich habe es geglaubt, und glaube es noch!“ antwortete der Banquier, indem er die Steine betrachtete.

„Dann bist Du im Irrthume, mein Freund!“ antwortete ruhig die junge Frau.

„Hier steht mein Name – diese Steine habe ich selbst gekauft – –“

„Das ist seltsam!“

„Henriette, Du hast diesen Ring verloren – Du mußt ihn verloren haben!“ fügte er mit großer Anstrengung hinzu.

„Vorhin, als ich mich auskleidete, habe ich den Ring mit meinen Schmucksachen abgelegt.“

Franz sah bestürzt auf.

„Unmöglich!“ flüsterte er.

Sie erhob sich schweigend und ging in ihr Kabinet. Franz sah ihr mit starren Blicken nach; dann betrachtete er das verhängnisvolle Juwel wieder, von dem er die Ueberzeugung hatte, daß es das Geschenk seiner Liebe war. Er zitterte vor dem nächsten Augenblicke, der Aufklärung bringen mußte. Wie war es möglich, daß Henriette den Ring vorhin abgelegt haben konnte, der sich seit zwei Stunden in seinen Händen befand? Sollte sie sich stellen, als ob sie der Meinung sei, ihn wirklich mit den übrigen Schmucksachen abgelegt zu haben?

„Das ist eine fürchterliche Nacht!“ flüsterte er vor sich hin. „Ich muß die Tugend meiner Frau in Zweifel ziehen, muß sie wie eine Verbrecherin inquiriren!“

Da erschien Henriette wieder; schweigend und mit ruhigen Mienen überreichte sie ihm ihren Diamantring. Der bestürzte Franz hielt zwei Ringe in der Hand, die sich so täuschend ähnlich sahen, daß er nicht zu unterscheiden vermochte, welchen von beiden er zuletzt empfangen hatte.

„Henriette,“ murmelte er, „an Wunder kann ich nicht glauben – hier liegt eine arge Mystifikation zum Grunde.“

„Mir scheint, man will das Glück unserer Ehe zerstören!“ flüsterte sie bewegt.

„Du hast Deinen Ring nie vermißt, Henriette?“

„Nie! Auf welche Weise hast Du den zweiten Ring erhalten?“ fragte sie schüchtern.

„Der Advokat Eberhardi gab ihn mir.“

Er erzählte kurz die Scene mit dem Advokaten und dem Fremden.

„Der Begleiter Miß Belling’s,“ schloß er, „nahm sich Deiner mit einer Wärme an, die mich in Erstaunen setzte. Er sprach von Beweisen, die man mir liefern würde, wenn ich die Schurkerei des Advokaten in Zweifel zöge. Sollte er den Ring gemeint haben, den Du mir so eben gebracht hast?“

„In diesem Falle, Franz, setzest Du eine Beziehung zwischen mir und ihm voraus?“ fragte die junge Frau, indem sie ihn vorwurfsvoll ansah. „Kannst Du es denn nicht über Dich gewinnen, mich so lange ohne Argwohn zu betrachten, bis diese verhängnißvolle Angelegenheit aufgeklärt ist? Ist Deine Liebe zu mir ein leichtes Rohr, das bei jedem Windhauche schwankt? Franz, ich fühle, daß ich diesen Thatsachen gegenüber kein Recht mehr habe, Vertrauen von Dir zu fordern; aber ich bitte Dich darum, indem ich Dir zugleich bei dem Andenken an meine Mutter und bei dem Glücke, das wir bisher in unserer Liebe fanden, schwöre: Deine Gattin hat keinen andern Gedanken, als Dich, sie hat nicht einen Augenblick aufgehört, Dich zu lieben und Dir treu zu bleiben. Mein Vertrauen zu Dir steht so fest,“ fügte sie mit bebender Stimme hinzu, „daß es selbst eine Fluth von Verdächtigungen nicht erschüttern könnte.“

Er stand rasch auf, und drückte sie tief erschüttert an seine Brust.

„Henriette, verzeihe nicht mir, verzeihe meiner unendlichen Liebe zu Dir!“ rief er unter Thränen. „Wenn ich Dich betrachte, muß es mir ja klar werden, daß uns Neid und Mißgunst verfolgen!“

„Warum bleiben wir nicht fern von der Welt?“ fragte sie, nachdem sie zärtlich seine Augen geküßt hatte. „In unserer Einsamkeit sind wir so glücklich, und wir suchen die Welt auf!“

„Meine Eitelkeit, mich an Deiner Seite zu zeigen, ist hart bestraft – vergessen wir diesen Abend, und fliehen wir die tückische, boshafte Welt.“

„Und was wirst Du mit dem zweiten Ringe beginnen?“ fragte sie an seinem Halse.

„Ich werde ihn dem Advokaten mit dem Bemerken zurücksenden, daß er entweder ein Wahnsinniger oder ein Betrüger ist. Und nun gute Nacht, Henriette.“

Der Banquier wollte sich entfernen.

„Franz!“ rief sie noch einmal.

Der Gerufene kam zurück.

„Versprich mir, Dich keiner Gefahr auszusetzen und das Aufsehen zu vermeiden, damit der böse Mensch seinen Zweck nicht erreicht.“

„Fürchte nichts, Geliebte; meine Liebe zu Dir macht mich vorsichtig! Schlafe ruhig, mein Engel – ich habe Alles vergessen, das schwöre ich Dir!“

Nach einer innigen Umarmung trennten sich die beiden Gatten.

„Henriette hat Recht!“ flüsterte Franz vor sich hin, als er sein Zimmer betrat. „Sie liebt mich so rein und aufrichtig, daß der leiseste Verdacht ihre zärtliche Neigung beflecken muß.“

Die junge Frau brach in Thränen aus, als sie allein war.

„Mein Gott, mein Gott,“ rief sie leise aus, „ende bald die schrecklichen Tage der Prüfung und laß meinen armen Mann nicht in dem Meere der Zweifel versinken, das ihn umtobt!“

Dann trat sie zu dem Tische, auf dem die beiden Ringe lagen. Sie ergriff einen davon, betrachtete ihn eine Zeit lang, drückte ihn an ihre Lippen und flüsterte:

„Dies ist der rechte! O wie theuer ist er mir – er soll ferner nicht mehr von meinem Finger kommen!“

Sie steckte ihn auf den Zeigefinger der rechten Hand; den andern verschloß sie in ein Kästchen. Dann löschte sie die beiden Kerzen aus und trat in ihr Schlafgemach, das durch eine Lampe unter blauem Glase matt erhellt ward.

Zwei Minuten später lag sie in den seidenen Kissen ihres Bettes, um bald darauf einem ruhigen Schlafe, dem Schlafe reiner Seelen, in die Arme zu sinken.


[223]
VII.
Der Auferstandene.

Ehe Franz am andern Morgen in das Comptoir ging, betrat er das Zimmer seiner Frau. Es war leer. Leise öffnete er die Thür ihres Kabinets – Henriette lag noch in einem sanften Schlafe. Ihre zarten Wangen waren leicht geröthet, und ein weißes Häubchen suchte umsonst die Locken zu verbergen, die auf die Schultern herabquollen. Durch die rosigen Lippen schimmerten die weißen Zähne wie Korallen. Ihr leises Athmen war kaum zu vernehmen.

„Die Schöpfung lügt nicht!“ dachte der entzückte Banquier. „Eines solchen Schlummers kann sich nur die Tugend erfreuen.“

Unbemerkt zog er sich zurück. Das Gewitter, das gestern den Horizont seines ehelichen Lebens getrübt, hatte seine Liebe erfrischt, wie der Regen die stets der Sonne ausgesetzten Blumen. Und man kann Soltau’s Liebe mit einer solchen Blume vergleichen, denn die Sonne des Glücks hatte sie stets erwärmt, sie bedurfte der Erfrischung eines Gewitterregens. Wie anders betrachtete er heute die Dinge! Er hätte die armen Menschen bedauern mögen, die ihn um seinen Schatz beneideten. Leichten Herzens ging er an die Arbeit. Gegen zwölf Uhr trat Ludwig Lambert in sein Kabinet und gab ihm einen Brief.

„Wer brachte ihn?“

„Ein alter Mann; er wartet im Comptoir auf Antwort.“

Der Banquier erbrach den Brief und las:

„Mein Herr!

„Ein Elender hat es gewagt, die Ehre Ihrer Gattin anzutasten, indem er Ihnen einen Ring überreichte, der einen Schein von Schuld auf sie werfen mußte. Der Zufall hat mich die Fäden des Netzes erkennen lassen, mit dem der Advokat Sie umstrickt. Diese Nacht auf dem Balle kam ich zu spät, um den ersten Angriff auf Ihre Ruhe zu verhindern, aber noch zeitig genug, um Sie den Feind würdigen zu lehren. Sie sehen, ich bin in ein Geheimniß eingeweiht, das unter den wenigen Personen bleiben muß, die es kennen. Der Advokat muß unschädlich gemacht werden, und dies kann nur durch mich geschehen; wollten Sie es unternehmen, Sie würden Ihre Ehre und die Ihrer Gattin auf das Spiel setzen. Der Ring, den er Ihnen gab, ist falsch und die Steine sind unecht. Fragen Sie bei dem Juwelier nach, der den echten und den unechten gefertigt hat. Ich bitte, mir durch Ueberbringer dieses Briefs den falschen Ring senden zu wollen, er soll mir als Waffe dienen, mit dem ich den Advokaten zu züchtigen gedenke. Sollten Sie Anstand nehmen, ihn mir anzuvertrauen, so betrachten Sie die Summe als Kaution, von deren Zinsen Sie Fräulein Sophie Saller die Rente zahlen. Uebrigens forschen Sie nicht weiter nach meiner Person, Sie könnten sonst in den Verdacht gerathen, den Todtenschein eines Lebenden erschlichen zu haben, um seine Lebenspolice zu verwerthen. Es liegt also in Ihrem Interesse, mich durch Ihre Indiscretion und Neugierde nicht zum Leben zu erwecken. Vergessen Sie nicht, daß der Advokat der Bruder des Kaufmanns ist, den Sie vor einigen Jahren ruinirt haben, weil er Ihre Gattin verleumdete. Der Bursche will sich an Ihnen rächen; sein Plan ist so schlau angelegt, daß er endlich nicht nur die Ehre Ihrer unschuldigen, liebenswürdigen Gattin brandmarken, sondern auch den oben ausgesprochenen Verdacht wegen der Lebenspolice auf Sie wälzen und Sie verderben muß. Nur ein Todter kann Ihr Schützer und Ihr Retter sein.

Verschonen Sie meinen Boten mit Fragen, und übersenden Sie den Ring.
Edmund Kolbert.“

     P. S.

„Der Sicherheit wegen verbrennen Sie diesen Brief, wenn Sie ihn gelesen haben.“

Wir unternehmen es nicht, die Bestürzung des armen Banquiers zu beschreiben. Er müßte verblendet gewesen sein, hätte er nicht einsehen wollen, daß hier ein großes, wichtiges Geheimniß obwaltete, in das man ihn wider seinen Willen und selbst unbewußt hineingezogen hatte. Die Angelegenheit mit der Lebenspolice war weder abzuleugnen noch rückgängig zu machen, und wer bürgte ihm dafür, daß der Advokat nicht auf der Spur sei, die zur Entdeckung dieses Geheimnisses führte? Durfte er es wagen, ohne seine Firma zu beflecken, die Sache zur Sprache zu bringen? Sollte er Anlaß zu einer Untersuchung geben, die ihn compromittiren mußte? Oder sollte er voreilig die Plane eines Unbekannten durchkreuzen, der sich später dafür rächen würde? – Der schwarze Ballgast konnte demnach kein anderer gewesen sein, als Edmund Kolbert, und Miß Belling und Sophie Saller waren eine und dieselbe Person. Franz beschloß, dem Unbekannten den Ring zu senden und ihm zu überlassen, den Advokaten, den er allen Grund zu fürchten hatte, unschädlich zu machen.

In dem Comptoir stand der alte Mann, der Bote des Briefs. Er war sehr anständig gekleidet und hatte ernste, ehrwürdige Züge.

„Ich bitte, mein Herr, nehmen Sie einen Augenblick Platz!“ sagte Soltau, indem er an ihm vorüberging.

Der Greis verbeugte sich und nahm den Stuhl, den ihm Lambert gab.

Henriette hatte mit Ungeduld auf ihren Mann gewartet. Sie war ein wenig blaß nach der Ballnacht, aber diese Blässe gab ihrer Schönheit einen wunderbaren Reiz. Franz küßte mit einer unbeschreiblichen Seligkeit seine Gattin, die durch den Brief von allem Verdachte gereinigt war. Die neu entstandenen Verwickelungen galten ihm Nichts gegen das Glück, das er in der Ueberzeugung fand: Henriette’s Liebe hat sich nicht geändert. Beide liebten sich einander zu rein, als daß der zugleich grausame und wohlthätige Eindruck, den die Scene in der verflossenen Nacht ausgeübt, nicht eine Spur in ihrer Seele zurückgelassen hätte, die Jeder mit gleichem Eifer zu verwischen strebte. Sie wetteiferten in der gegenseitigen Annäherung.

„Mein Kind,“ begann er mit einer Zärtlichkeit, die nicht ganz frei von Affectation war, „ich muß Dich an die unglücklichste Stunde unsers gemeinschaftlichen Lebens erinnern.“

„Warum?“

„Man fordert den zweiten, den unechten Ring von mir.“

„O, ich wußte es Wohl, daß er falsch war. Sende ihn zurück, Franz; mich peinigt ein drückendes Gefühl, so lange ich ihn in unserm Hause weiß.“

Sie holte beide Ringe. Franz war ein Kenner – die Verschiedenheit der Steine, die ihm Abends beim Kerzenlicht entgangen, war jetzt bemerkbar. Im Uebrigen war eine täuschende Aehnlichkeit vorhanden.

„Wird ihn der Advokat ferner nicht mißbrauchen?“ fragte sie besorgt, während der Banquier den Ring in ein Papier siegelte.

„Dann werde ich ihm entgegenzutreten wissen!“ antwortete Franz, der seiner Frau den wahren Zusammenhang der Sache verschweigen wollte, um sie nicht zu beunruhigen. „Laß das Frühstück serviren, Henriette, in einer Viertelstunde bin ich wieder bei Dir.“

Er ging in das Comptoir zurück, und übergab dem alten Manne das Papier. Dieser grüßte höflich und entfernte sich. Nach dem Frühstück ging Franz zur Börse. Ergiebige Geschäfte boten sich ihm, ohne daß er sie suchte; es schien, als ob an diesem Tage ein besonderer Glücksstern über dem Banquier schwebte. Philipps war nicht zu sehen, wohl aber bemerkte er in dem Gewühle den Advokaten Eberhardi, der nicht selten die Börse besuchte, um Geschäfte zu machen. Eberhardi war mehr Wucherer und Börsenspekulant, als Rechtsanwalt; seine Praxis war eine moderne: er verlieh Gelder zu hohen Zinsen und hatte Wucherer zu Clienten. Man sagte, daß er sich in einem Jahre ein bedeutendes Vermögen erschunden habe. Diesem Umstande verdankte er seine Anwesenheit auf dem Balle des Schiffsrheders.

Der Advokat schien den Banquier gesucht zu haben. Kaum hatte er ihn bemerkt, so verfolgte er ihn. An einem der großen Pfeiler trafen beide zusammen. Mit der Keckheit, die Haß und Rache verleihen, redete er Soltau an, indem er ihn am Arme ergriff.

„Mein Herr, ich bitte um eine kurze Unterredung, denn ich habe Ihnen nicht nur wichtige Entdeckungen zu machen, sondern auch Erklärungen von Ihnen zu fordern, die Sie mir als Mann von Ehre nicht verweigern können.“

„Wenn Ihre Entdeckungen sich auf einen gewissen Ring beziehen, so muß ich Sie bitten, zu schweigen,“ antwortete Franz.

„Uebrigens werden Sie Ihr Eigenthum, ein nachgemachtes Juwel mit falschen Steinen, durch eine dritte Person zurückerhalten, von der Erklärungen zu fordern Sie mehr Grund haben als von mir.“

Ein bitteres Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des Advokaten.

„Fürchten Sie nicht, daß jener Kapitain Belling dem Kriminalgericht entgeht; aber ich möchte nicht gern, daß Madame [224] Soltau an seiner Seite vor den Schranken der Justiz erscheine, die den Verbrechern das Urtheil spricht. Wollen Sie noch, mein Herr, daß ich schweige?“

Der Banquier erblaßte; aber er war stark genug, seine Fassung zu bewahren. Rasch trat er mit dem Advokaten hinter den Pfeiler, dann sagte er mit vor innerer Aufregung halb erstickter Stimme:

„Herr Advokat, ich werde Sie hören; aber jedes Ihrer Worte, das meine Frau beleidigt, haben Sie zu vertreten.“

„Dazu bin ich erbötig!“ rief Eberhardi. „Also hören Sie mich an: Sie haben mich in dem Verdachte, Ihnen gestern Abend einen nachgemachten, falschen Ring überreicht zu haben? Nun gut, so muß ich Ihnen sagen, wie ich in den Besitz dieses Ringes gekommen bin. Vor ungefähr acht Tagen, Abends gegen sieben Uhr, führte mich ein Geschäft in ein Haus der Polstraße, das von Leuten bewohnt wird, über deren Erwerb selbst unsere Polizei nicht im Klaren ist. Ein Advokat darf sich nicht scheuen, auch mit solchen Leuten in Berührung zu kommen.“

„Fassen Sie sich kurz, mein Herr!“,

„Als ich nach beendetem Geschäfte aus der Thür dieses Hauses treten will, kommt athemlos eine Frau an und fragt mich: mein Herr, trägt dieses Haus die Nummer 50? Ich bejahete es. Sie dankte, und betrat die dunkele Hausflur. Gleich darauf höre ich einen leichten Schrei – ich eile zurück, und finde die Frau halb ohnmächtig neben der Treppe; sie hatte sich ohne Zweifel heftig an das Geländer gestoßen, das sie in der Finsterniß nicht sehen konnte. Fast weinend bat sie mich, ich möchte sie die steilen Treppen zum dritten Stocke hinanführen, da sie voraussetze, daß ich in dem Hause bekannt sei. Mitleidig ergriff ich die Hand der bescheiden gekleideten Frau, und zog sie die steile, finstere Treppe hinan. Im ersten Stocke kommt ein Mädchen mit Licht – die Neugierde, welche die kleine, zarte Hand erregt, trieb mich an, meinem Schützlinge in das Gesicht zu sehen – die schwarze Kaputze bedeckte einen wahren Engelskopf. Erröthend wandte sie sich ab, dankte für den geleisteten Dienst, entzog ihre Hand der meinigen, und bat das Mädchen, es möge ihr gegen einen guten Lohn voranleuchten. Beide verschwanden auf der Treppe zum zweiten Stocke. Gleich darauf hörte ich sie die dritte Treppe ersteigen. Das schöne Gesicht hatte auf mich einen um so größern Eindruck ausgeübt, da mir schien, als ob mir die Züge desselben bekannt wären. Offenbar gehörte die Frau einem Kreise an, der den Bewohnern dieses Hauses fern lag. Ich beschloß, ihre Rückkehr zu erwarten, und stieg die Treppe hinab. Nach einer Viertelstunde höre ich Schritte, und meine Schöne kommt die Treppe herab. Ein Mann im Schlafrocke bleibt auf der Mitte der Treppe stehen, um ihr zu leuchten. Von meinem Verstecke aus konnte ich deutlich sein Gesicht beobachten, das sich in dem Lichtkreise der Kerze befand. „Gute Nacht!“ rief sie noch einmal zurück. „Gute Nacht, meine theure Henriette!“ antwortete die Baßstimme des Mannes, der nun mit dem Lichte verschwand. Henriette wollte auf die Straße treten – eine wahre Sündfluth strömte vom Himmel herab. Seufzend blieb sie auf der Schwelle stehen. Ich bot ihr zum zweiten Male meine Dienste an. „Rufen Sie mir jenen Fiaker herbei, der vorüberfährt!“ bat sie mit einer himmlischen Stimme. Nach einer Minute hielt der Fiaker vor dem Hause. Die junge Frau befahl dem Kutscher, sie an die Ecke der W.straße zu fahren. Bereitwillig öffnete ich den Wagenschlag, ergriff ihre Hand und half ihr einsteigen. Sie war so eifrig bemüht, ihr Gesicht vor dem Scheine der Straßenlaterne zu verbergen, daß sie mir hastig ihre Hand entzog, die Kaputze niederriß, leichtfüßig in den Wagen sprang, und die Thür hinter sich zuschlug. Der Fiaker rasselte davon. Ich blieb zwar zurück, hatte aber nicht nur ihr Gesicht noch einmal deutlich gesehen, sondern hielt auch einen Ring in meiner Hand, der sich von ihrem Finger gestreift hatte. Am folgenden Tage hielt ich Nachfrage in dem Hause – man wollte weder von einem Manne im Schlafrocke, noch von einer jungen Frau etwas wissen. Ich mußte also den Ring behalten, dessen Werth ein Juwelier auf tausend Mark schätzte. Gestern Abend erkannte ich in Madame Soltau die Besitzerin des werthvollen Ringes – sie weigerte sich, ihn anzunehmen, und ich bot ihn ihrem Gatten an. Da erschien ein anderer Ballgast, um mich zu beleidigen. Man nannte ihn auf dem Balle den Kapitain Belling; ich aber erkannte in ihm den Mann im Schlafrocke. Das Criminalgericht wird auf die mir zugefügte Beleidigung Antwort geben. Und Sie, Herr Soltau, müssen am Besten wissen, ob Ihre Frau falsche Steine im Ringe trägt.“

Jeder Andere würde dem Advokaten mit derselben Aufmerksamkeit zugehört haben, wie unser Banquier: aber des Gatten Henriette’s mußte sich ein hohes Erstaunen bemächtigen. Jetzt zeigte sich Soltau’s Charakter: die Erzählung versetzte ihn mehr in Erstaunen, als daß sie ihn niedergeschlagen machte. Hier galt es zu unterscheiden und zu richten, und zwar über eine angebetete Frau. Aber er war immer noch mehr Liebhaber als Ehemann, und in dem Chaos von Gedanken, das seinen Kopf durchtobte, hörte er deutlich eine Stimme, die ihm zurief: sie kann nicht lügen, und warum auch sollte sie dich hintergehen?

„Mein Herr,“ sagte er nach einer Pause, „ich habe bereits Gelegenheit gehabt, die echten Diamanten meiner Frau von den unechten jener Person zu unterscheiden, der Sie den Dienst geleistet haben. Sie irren sich, denn als ich den von Ihnen empfangenen Ring zeigte, brachte mir meine Gattin den ihrigen. Einen schlagernden Beweis kann es nicht geben. Ihre Angelegenheit mit dem Kapitain Belling kümmert mich nicht; wollen Sie aber durchaus einen Criminalproceß einleiten, so werde ich mit beiden Ringen vor den Schranken erscheinen, und es wird nicht schwer sein, den Fälscher zu ermitteln. Für Ihre Mittheilungen danke ich Ihnen nicht, denn sie sind eben so falsch wie Ihre Diamanten. Denken Sie an Ihren Bruder, der heute noch bereuet, mich in meiner Gattin beleidigt zu haben!“

Er wandte dem Advokaten verachtend den Rücken und verließ die Börse. Nun suchte er den Juwelier auf, der in einer der angrenzenden Straßen wohnte. Er traf den Mann in seinem Laden. Ohne Umschweife fragte er nach dem Besteller des Ringes. Der Juwelier sah ihn verwundert an.

„Herr Soltau selbst hat mir Auftrag zu der Arbeit gegeben,“ war die Antwort.

„Ich selbst? Seit einem Jahre habe ich Ihren Laden nicht betreten. Wir sahen uns das letzte Mal, als ich den echten Ring bei Ihnen bestellte.“

„Ganz recht, Herr Soltau; den zweiten Ring haben Sie brieflich bei mir bestellt.“

„Ich bitte, zeigen Sie mir den Brief.“

Der Juwelier holte ihn aus seinem Schreibpulte hervor. Mit Erstaunen sah der Banquier, daß seine Handschrift täuschend nachgeahmt war. Hätte er nicht genau gewußt, daß er die Bestellung nicht gemacht, er würde die Schriftzüge für seine eigenen gehalten haben. Selbst die Unterschrift war wie von seiner eigenen Hand.

„Sie sehen,“ sagte der Juwelier, „daß ich in Ihrem Auftrage die Arbeit geliefert habe. Es war mir nicht nur Ihre Handschrift bekannt, sondern auch die Bezugnahme auf die Zeichnung, die Sie mir vor zehn Monaten selbst eingehändigt, mußte mich in dem Glauben bestärken, daß Sie der Auftraggeber seien. Der Schreiber des Briefs spricht von einem Scherze und fordert den Ring so rasch als möglich – einen so theuern Scherz kann sich nur ein reicher Mann erlauben, denn die imitirten Diamanten stehen ziemlich hoch im Preise.“

„Wer brachte den Brief?“

„Ein junger Mann, den ich für Ihren Commis hielt. Derselbe Bote holte den Ring ab, und bezahlte zweihundertfunfzig Mark. Hat man Ihnen vielleicht den Ring mit den echten Steinen betrügerisch vertauscht?“

An einen solchen Betrug konnte Soltau nicht glauben, wohl aber an einen andern.

„Nein,“ antwortete er zerstreut, „das ist es nicht; aber der Scherz ist doch ein wenig kühn. Lassen Sie mir den Brief – ich werde den Schreiber warnen, daß er seine Kunst nicht zum zweiten Male versucht. Noch Eins: würden Sie den Boten wieder erkennen, wenn Sie ihn sehen?“

„Ich glaube, Herr Soltau!“

„Sprechen Sie nicht über die Sache, ich werde sie vorläufig als Scherz nehmen.“

Der Juwelier versprach es.

(Schluß folgt.)
[225]
Genre-Skizzen vom Nordpol.

Kampf mit Wallrossen.

Selbst der Tod hat sein Leben, seine Unsterblichkeit. Wir denken uns nichts Todteres, als den in ewiges Eis gebundenen Nordpol, die arktischen Regionen. Allerdings lebt er nicht, wie die Tropen in luxuriöser Blätter-, Blüthen- und Thierentwickelung; aber wie auch die brennendste, keimloseste Wüste Leben, zauberhaftes Wallen und Walten von Naturgesetzen durchzuckt, wie sie Humboldt sah und schilderte, arbeitet und baut und bildet auch der trostloseste Norden in unaufhörlicher Gestaltung und Zerstörung die erhabensten, glänzendsten Paläste und setzt selbst dem ewigen Eise seinen Floh in den Pelz. Die Heimath des Winters, wo er sich von seinen jährlichen Ausflügen nach dem Süden in grimmer Majestät unter ewigen Eispalästen erholt, ist großartiger, erhabener, klassischer in ihren Lebensgebilden als irgend eine andere Gegend der Erde. Der Winter ist ein Magiker, wie kein anderer. Während der Nächte um Weihnachten bemalt er oft alle Fenster eines ganzen Landes mit träumerischen Landschaften unbekannter Gegenden mit zackigen Bäumen und feenhaften Blumen. Die Höhen der Alpen krönt er alle Jahre frisch mit wundervollen Gletschern, wie mit Diademen reinen Silbers, und sonstigen Häuptern von Gebirgszügen hält er die weiße Königsmütze frisch und weiß, ohne sie zu waschen. Ueber Feldern und Wiesen und über jeden Baumzacken reist oft seine Arbeit in einer Nacht, das prächtigste Gewand von krystallenen Edelsteinen reinsten Wassers gewoben. Und wenn’s der Erdhaut bei uns gar zu kalt wird, hüllt er sie [226] oft plötzlich in einen dicken, warmen Schneepelz, unter welchem der Frühling sanft schläft und sich vorbereitet, in stillen Athmungen zur großen frischen Auferstehung jede Jahres.

Aber der große Magiker entfaltet seine wahren Zauberkünste im Norden, in den Regionen des Seehunds und Eisbärs, an den Gestaden des Polarmeercs. Wenn der kurze heiße Polarsommer schwindet und die Sonne immer länger unter dem Horizonte bleibt, bis sie sechs Monate lang gar nicht mehr aufgeht, dann beginnt der Magiker seine Zauberkünste.

Land und Wasser liegen, nicht zu unterscheiden, unter der blendenden schweigenden Decke des Schnees. Ein Weißes Leichentuch mit Todtenstille auf viele Hunderte von Meilen nach allen Richtungen. Nicht ein einziges im Winde rauschendes Blättchen, kein nackter Strauch, keine Spur des ärmsten Mooses, nicht ein einziges Zeichen von Leben, so weit das Auge dringen, das Ohr horchen kann. Tod und Trostlosigkeit der starrsten Kälte scheinen allein zu herrschen. Aber der Tod ist Leben, ist selbst die energischste Arbeit, Leben zu erzeugen. So wird auch hier absoluter Tod die mächtigste Anstrengung, es leben, leuchten, kämpfen und arbeiten zu lassen. Zuweilen flittert und flickert ein blasses, gelbes Licht am Horizonte auf und haucht einen magischen Widerschein über den weißen, lautlosen Tod grenzenloser Eisflächen. Es verschwindet, und Mond und Sterne gießen ihr schönstes Licht herab, es schreitet mit silbernen Schritten über die Höhen der Eisberge und gleitet mit schweigenden Küssen über die schlummernden Ebenen.

Und was fängt dort an zu bauen, von Innen und Unten herauf zu bauen? Gletscher thürmen sich auf wie durch vulkanische Kraft und gestalten sich zu Mauern und Wänden und spitzigen Kuppeln. In kühnen, wundervollen Bogen wölben sie sich auf zu der felsigen Küste, und auf der Ebene stellen sie sich zu luftigen Kolonnaden zusammen, wie zu Säulengängen alter egyptischer Riesentempel. Es sind keine todten Steine, es pulsirt Leben in diesen gigantischen Säulen und Wällen. Geisterhaftes, geheimnißvolles Licht von Doppel- und dreifachen, durch ungeheuere Farbenbogen vereinigten Sonnen zuckt und zackt durch die Himmel und blitzt herab auf die Eisbauten, und zahllose glühende Sterne flimmern hindurch. Die Eisberge glühen in azurnen und silbernen Flammen, und der rosig überhauchte Schnee blitzt zuweilen freudig auf, während der Himmel feine elektrischen Telegraphen und Lichtschriften herabspielen läßt. Licht und Leben kämpfen überall mit Finsterniß und Tod. Dann und wann breitet sich ein geisterhafter schweigender Schimmer über den ganzen Gesichtskreis, als wollte Auferstehung durch die Nacht des Todes brechen. Tiefe, starke Schatten ruhen neben glänzenden Höhen, wie der bittere Tod dem Sterbenden süße Hoffnungen eines künftigen Lebens einflößt, um sein Auge ruhig zum letzten Schlummer zu schließen.

Wenn endlich die lange Nacht wirklich zusammen schwindet und sich für den langen Tag zurückzieht, bricht auch diese Zauberei des polarischen Winters mit zusammen und aus. Nun stürzen sich schäumende, donnernde Ströme von den Höhen der Eisberge, und die wild auftriumphirenden Wogen des polarischen Oceans zerbrechen krachend ihre schweren, eisigen Fesseln, von denen sie so lange gebunden waren. Ungeheuere Fluthen, viele Geviertmeilen übertosend, reißen sich los, donnernd und jeden Widerstand niederwälzend nach allen Seiten. Gigantische Eisgebirge, unterminirt von freiheitsdurstigen Wassern, zittern und dröhnen, ehe sie mit furchtbarem Getöse ihre hohen weißen Häupter in den dunkeln Ocean stürzen. Die siegenden Wogen springen auf in triumphirender, weißen Schaum zum Himmel spritzender Freude, so oft sie einen solchen Feind stürzen und sich ersäufen sehen. Die Eisschlösser zerfallen zu den malerischsten Ruinen, die langen Arkaden zerbröckeln zu unförmlichen Haufen, die feenhaften Lichter erlöschen eins nach dem andern, und die ganze brillante Zauberwelt schmilzt zusammen, wie ein Traum beim Erwachen.

Dies sind die oberflächlichen Wunder nordpolarischen Lebens.

Größere bergen sich unter der Oberfläche, wahre Wunder, deren Lösung der forschende Menschengeist seit Jahrhunderten versuchte. Um und durch die Erde wallen fortwährend geheimnißvolle Geisterströme. Sie fallen und steigen wie Ebbe und Fluth des Meeres. Sie dringen in das Herz der Erde und empfangen ihre Pulsschläge daher. Sie wohnen gern in – Eisen und wo sonst noch? Sie schreiten auf unsichtbaren Wegen durch die Lüfte, durchdringen und umschweben jede Pflanze, jedes Leben, zünden die Nordlichter und färben die Finger Aurora’s rosig. Sie sind, wenn nicht Mütter, so doch Träger des Lichts auf Erden und in der Sonne. Was dem Alchemisten früherer Zeiten Liebe und Feindschaft unter den Erdkörpern war, ist uns jetzt Magnetismus, Elektricität, Chemismus. Wenn wir nur genau wüßten, was das nun wieder wäre? Der Geist des Magnetismus hat seine Heimath im unerreichbaren Norden.

Um die Küsten des großen Polar-Oceans strecken sich weit und breit Länder und Inseln, neun Monate oder länger, aber immer mit Schnee und Eis verschlossen. Hier wächst keine Pflanze, kein Baum. Nur in dicht umschützten Thälern wagen sich einige armselige Blüthen und Beeren rasch hervor. Graue Moose und sammetne Cryptogamen nehmen aber die wenigen Sonnentage wahr und bedecken die starrsten Felsen und die Ufer riesiger Ströme mit weichen Teppichen. Ein breiter Gürtel solcher Moosteppiche umschlingt die Taille des Nordpols, besternt mit zackigen Felsen, gemustert durch dunkele Sümpfe und Moräste. Diese Oeden würden lebensunfähig sein, wenn sie nicht durch zahllose Heere und Heerden von Rennthieren schon Leben hätten, und diese die eigentliche Lebensquelle ganzer Menschenracen wären. In den todtesten Wüsten ist die Fülle und Kraft und Energie des Lebens gerade am Wundervollsten. Wenn der Polarwinter am grausamsten und die Stürme am wüthensten, eilen diese graubraunen, hirschartigen Heerden in unabsehbaren Reihen und eisenbahnschnell nach den südlicheren Gegenden immergrüner Fichten, und die Berglappen dazu, welche mit ihren Heerden und Hütten wahrhaft wie die Zugvögel leben. Es ist ein nobles Schauspiel, diese unzähligen Schaaren wohlgestalteter, kräftiger Thiere mit deren graciös gewundenen Geweihen hoch in der Luft, so daß sie in der Ferne wandernden, laublosen Wäldern gleichen, über ungemessene Strecken mit ihren wohlgeschützten Hufen dahin knattern zu sehen und zu hören. Und wie sie sich im lustigsten Uebermuthe einander jagen und wie auf Schwingen über die schneebedeckten Steppen fliegen! Haben sie endlich nach hundertmeiligen Reisen den sichern Schutz des Waldes erreichn, stehen sie oft stundenlang still und bewegungslos, wie Theile des Waldes, dicht an einander gepreßt, um sich zu wärmen. Nach dem Sturme und erwärmt vertheilen sie sich in neuer Lebenslust, und wissen den Baumrinden und den aufgekratzten Moosen Nahrung abzugewinnen. Sie haben die feinste Witterung und wissen genau, wo Moos ist, und sollte es noch so tief verborgen und unzugänglich sein. Mit ihren mächtigen Hufen arbeiten sie sich oft sechs bis acht Fuß in den Schnee hinein und finden immer, was sie suchten und witterten. So leben sie bis der Frühling naht, ihr grimmigster Feind, nicht der nahende, sondern oft plötzlich in Millionen von Bremsen und Stechfliegen über sie herstürzende Frühling. So wie sie nur das fernste Summen eines solchen Feindes hören, fliehen sie in Schaaren zu Tausenden unaufhörlich nach dem Norden zurück. Aber nicht selten werden sie von ganzen, schwarzen Wolken dieser Feinde eingeholt und überfallen. Diese legen ihre Eier in deren Haut, Nasenlöcher, Gaumen, und werden so auf ihrer Flucht zu Hunderten zerstochen und in todte Beulen und Geburtsstätten neuer Insekten verwandelt. Erst im Norden sind sie wieder sicher und finden neue Felder unabsehbaren Mooses, von dem sie sich zuweilen förmlich mästen. Aber auch die den Insekten entgangenen Eilwanderer erreichen nicht alle ihre Reiseziele. Beim Durchschwimmen der großen, breiten Flüsse werden sie von Tungusen und Samojeden überfallen, durch wildes Geschrei erschreckt und durch einander gehetzt, so daß sie sich mit ihren Geweihen verwickeln und rathlos und verwirrt dem Schlachtmesser verfallen. Gierig stößt der listige Tunguse seinen Fellkahn unter diesen Wirrwarr und durchsticht sie mit den zugespitzten Knochen früher gefallener Collegen zu Hunderten, um alle seine Bedürfnisse daraus zu befriedigen, oder er wirft ihnen Schlingen über’s Geweih, zieht sie an’s Ufer und zähmt sie mit wunderbarer Schnelligkeit, so daß sie seinen Fellschlitten schneller über die Ebenen ziehen, wie bei uns ein Eisenbahnzug läuft. Die Entkommenen werden auf ihren Wanderzügen nicht selten noch von Wölfen und Eisbären überfallen, die ihre Pfade, von denen sie nimmer abweichen, kennen und ihnen dort auflauern. Tungusen und Samojeden, Lappen und Esquimaux treiben mit Rennthierprodukten und kostbaren Pelzwerken nicht selten Handel bis zu tausend Meilen weit entfernten Grenzen der Civilisation, über welche sie mit ihren Rennthierschlitten hinfliegen, bis sie in Amerika oder [227] Sibirien einen Handelsort erreicht haben. So eine Reise dauert oft sechs Monate auf weglosen Steppen ohne Spur von Leben und Lebensunterhalt. Aber er stirbt so wenig, wie sein Thier. Wie letzteres kratzt er Nahrung aus der Erde, die scheinbar nichts enthält. Er ist in seiner Weise pfiffiger, schärfer, erfinderischer, als unsere größten Genies.

Ganze, zahlreiche Nationen um die Gestade des Polarmeeres herum leben ausschließlich von Rennthieren und Nichts. Ohne das Rennthier wären die nördlichen ungeheuren Länderstrecken von Amerika und Asien für Menschen unbewohnbar. Von diesem Kameele der Nordwüsten leben einige Millionen Menschen. Selbst die Fische sind nur durch das Rennthier zugänglich. Es liefert Köder und zieht den fern vom Meere verkrochenen Lappen und Finnen blitzschnell zu den Gestaden, wo die kurze Sommerperiode ihm Fische für’s ganze Jahr liefert, mit denen beladen er in seinem fliegenden Baumstamme, beschwingt vom Rennthiere, zwischen seine Felsen und zu seiner öligen, gelben Familie zurückkehrt. Sie fahren und reiten auf Rennthieren, sie melken ihre Rennthiere und rufen sie beim Namen, den jedes hat und dem jedes gehorcht, und gebrauchen in ihrer sonst bitterarmen, krächzenden Sprache 76 liebe Namen für ihr geliebtes, unerläßliches Rennthier im Allgemeinen, ohne die individuellen Taufnamen.

Zu den wunderlichsten Bewohnern dieser geheimnißvollen Gegenden gehört ein Thier, das in Wirklichkeit „weder Fisch noch Fleisch“ ist, mit dem selbst die Herren Naturforscher nicht viel anzufangen wissen und dem die Seefahrer und Küstenbewohner die verschiedensten Namen gegeben haben, wie Seekuh, Seepferd, Seelöwe, obgleich es weder mit einer Kuh, noch einem Pferde, noch einem Löwen irgend eine Aehnlichkeit hat. Besser ist der andere Name Seeelephant, am häufigsten aber der Name Wallroß. Das Thier ist zwar ein recht plumpes Geschöpf, von der Größe eines richtigen Ochsen, aber harmlos wie ein guter Bürger; zwar sehr häßlich, aber gesellig, liebenswürdig, heiter und muthwillig; zwar mit einer sehr harten Haut, aber mit einem gar weichen Herzen begabt, das Liebe und Freundschaft in höherem Maße fühlt, als Tausende von Menschenherzen. Wie das vielverbreitete und wohlbekannte „gute Thier“, der Philister, nur dann wüthend wird, wenn man ihm an den Geldbeutel greift oder ihn in seiner Bequemlichkeit stört, so wird das harmlose, liebenswürdige Wallroß nur dann kampflustig, grausam und blutgierig, wenn man sein gutes Herz verletzt, wenn man seine lieben Kleinen anzutasten wagt oder sich an seinen Freunden vergreift. Und seine Freunde sind alle Wallrosse. Die eigenen Leiden erträgt es mit exemplarischer Resignation. Greift das grausamste Geschöpf auf Erden, der Mensch, ein harmloses Wallroß an, so springen die andern aus Ruhe oder Schlaf auf oder unterbrechen ihre Spiele auf dem Eise, um dem Verfolgten zu Hülfe zu eilen. Eine solche Scene zeigt die Abbildung. Die Mannschaft des Schiffes Trent fühlte Langeweile und einige Matrosen erhielten die Erlaubniß, in einem Boote den Versuch zu machen, einige Wallrosse zu fangen, die sie in der Ferne auf dem Eise und in dem Wasser bemerkten. Es gelang ihnen, Eins zu überrumpeln und zu harpuniren. Aber kaum hatte es einen Schmerzenslaut von sich gegeben, so streckten sich überall aus dem Wasser dicke Köpfe mit langen Hauern und von allen Seiten kamen Wallrosse racheschnaubend dem Verunglückten zu Hülfe. Sie drängten nach dem Boote der Feinde, hieben mit den mächtigen Hauern in die Planken desselben, um es zu zertrümmern, oder packten die Schiffer, um sie mit sich in das Meer hinabzuziehen. Dazu brüllten oder tobten sie in schauerlicher Weise. Die Angegriffenen wehrten sich mit Spießen, Beilen oder Gewehren so gut sie konnten; aber an der Stelle eines erschlagenen Wallrosses traten immer wieder neue Kämpfer, und die Männer wurden endlich vom Morden müde und sie würden zuletzt den wüthenden Thieren haben unterliegen müssen, wenn man ihnen nicht von dem Schiffe Hülfe in andern Booten gesandt hätte.

Und ein Kampf mit einem Wallroß ist etwas Fürchterliches. Das Thier ist wegen seiner dicken zähen Haut nicht leicht verwundbar; es besitzt eine ungeheure Kraft; seine spitzen schweren Hauer zerreißen und zermalmen, was sie berühren, und sein Muth ist so groß, daß selbst der fürchterliche Eisbär, mit dem es eine entfernte Aehnlichkeit hat (wie unser Bild mit dem berühmten Eisbärenkampfe von Biard in der Schletter’schen Sammlung in Leipzig) ihm meist unterliegen muß.

Die Wallrosse, die, wie gesagt, sehr gesellig sind, zeigen sich manchmal in Heerden von Hunderten und es sieht possirlich genug aus, wie diese plumpen Geschöpfe auf großen Eisflächen liegen oder mit einander spielen; noch possirlicher, wie eine ängstliche Wallroßmutter ihr kalbsgroßes zartes Kleine vor irgend einer Gefahr bergen will, dasselbe unter den linken Arm (d. h. die linke Vordertatze) nimmt, so mit ihm fortläuft, dann kopfüber mit ihm sich in das Wasser stürzt.

Man jagt die Wallrosse ihres Thranes, namentlich aber ihrer Hauer wegen, die noch härter sind als Elfenbein und zu verschiedenen Arbeiten verwendet werden. Mittelst dieser Hauer klettert das Thier an hohen Eisfelsen hinauf, wie es sich derselben auch als Stütze bedient, um auf glatten Eisflächen sich fortzuhelfen.

Wovon die großen Thiere leben, weiß man eigentlich noch nicht recht genau; sie fressen Seegras, das ist gewiß, sie sollen aber auch, wie die Holländer, eine große Vorliebe für die Häringe haben, und große Mengen dieser überall verfolgten Fische verzehren.

Davon leben und existiren die Wallrosse. Aber jenseits der nördlichsten amerikanischen Küsten, wo der Schnee nie thaut und nie etwas Naturleben sich versucht, leben noch Menschen. Kapitain Roß entdeckte im nördlichsten Theile der Baffins-Bay auch einen Menschenstamm von 200 Seelen, die niemals etwas von noch andern Menschen gehört und gesehen und ihre armselige Höhle zwischen Felsen für die ganze bewohnte Erde hielten, alles Uebrige für eine ewige Masse von Eis. Sie hatten keine Erinnerungen, keine Traditionen, keine Gesetze, kein Mein und Dein, kaum Bewußtsein und nur einige kindische, grunzende Beschwörungsformeln ließen auf einen Keim früheren Glaubens und Ahnens schließen.

Bis zum Nordpol selbst ist’s aber von den äußersten Grenzen, wohin bis jetzt Menschen drangen, noch eine kleine Ewigkeit weit. Wie sieht’da aus? Es ist nicht desto kälter, je näher man dem Pole kommt. Wenn’s nun gar am Pole selbst sehr warm wäre, könnten da noch Menschen wohnen, mehr und glücklichere, als die in ganz Europa. Vielleicht findet man noch eine Chaussee dahin. Einstweilen wollen wir uns mit der bekannten, noch sehr unbekannten Erde begnügen und schließlich unsern alten Schulfreund Friedrich Körner in Halle, der neulich vom Südpole schrieb, grüßen.
H. B.




Wie sind die Speisen nahrhaft, verdaulich und auch billig zuzubereiten.

Daß der menschliche Körper zum Leben und Gesundbleiben der fortwährenden Zufuhr nicht blos aller derjenigen Stoffe bedarf, aus welchen er aufgebaut ist, sondern auch solcher, durch deren Verbrennung sich im Blute Wärme entwickelt, ist eine ausgemachte Sache und deshalb muß auch unsere Nahrung gerade wie die den Säugling ernährende Milch, außer Wasser und Kochsalz, stets die gehörige Menge an Eiweißsubstanzen (Albuminaten), Fett und Stärke- oder Zuckerstoffen enthalten, wenn sie zuträglich sein soll (s. Gartenlaube 1856. Nr. 3). Wohlhabende genießen bei ihrer verschiedenartigen Fleisch- und Pflanzenkost in der Regel die genannten Stoffe in hinreichendem Maaße; dagegen steht gewöhnlich bei Unbemittelten, die weit mehr an pflanzliche, wie an thierische Nahrungsmittel gewiesen sind, die Menge der einzelnen dieser Stoffe nicht im richtigen Verhältnisse zu einander und hauptsächlich sind es die Eiweißsubstanzen, von denen die Nahrung des Armen zu wenig besitzt. Man hat für jeden Tag als die geringste Quantität von den einzelnen Stoffen angegeben: bei anstrengender Lebensweise: 10 Loth Eiweißsubstanz, 3 Loth Fett, 34 Loth Stärke und 1 Loth Salz; bei mäßiger Anstrengung: 9 Loth Albuminat, 31/2 Loth Fett, 32 Loth Stärke und 1 Loth Salz; bei ruhigem Verhalten: 7 Loth Albuminat, 2 Loth Fett, 28 Loth Stärke und 1 Loth Salz.

Es ist mehr als zu bekannt, in welchem drückenden Nothstande die arbeitende Klasse in ganz Deutschland binnen 4 Jahren versunken [228] und stecken geblieben ist, welche bedeutende Unterstützungen von Seiten der Regierungen und Gemeinden nöthig gewesen sind, um diese Noth nur einigermaßen zu mildern, wie enorm sich die Preise der Nahrungsmittel gesteigert haben, wie Einschränkung, theilweises Hungerleiden, Verarmung, Bettelei, Beanspruchung der Armenkassen, vermehrte Verbrechen, Ueberfüllung der Straf- und Versorgungshäuser, Abmagerung, allerhand Krankheitsformen fortwährend zunehmen. Die Armuth ist seitdem auf einen ganz verkehrten Weg gerathen, sich zu ernähren; man behilft sich mit Surrogaten, – weil die wirklich kräftigen Eßwaaren scheinbar zu theuer kommen, – bestehend zumeist aus Kaffeeschlempe und Kartoffelmattsch. Unsere erzgebirgische Bevölkerung wie die in andern Fabrikdistrikten ist sichtbar herabgekommen, völlig welk, entkräftet und Grund sattsam gelegt zu Krankheiten, Siechthum und Hungertyphus. Wer keine Kräfte hat, kann auch nicht arbeiten, am allerwenigsten Eisenbahnarbeiter werden. Welch ganz anderes und geregeltes Verfahren dagegen besteht in öffentlichen und Staatsanstalten, Strafhäusern u. s. w., wo überall Gesundheit und wohlgenährte Personen anzutreffen. Dies ist ein greller Abstand gegen den Zustand der freien Arbeiter. Solchen zu erleichtern, ist zwar seither viel gethan worden mittelst Unterstützung durch abgegebene Gemüse um die Hälfte des Werthpreises, Errichtung von Speiseanstalten, Zuschüssen aus dem Gemeindeseckel, allein derartiger Beistand kann doch immer nur vorübergehend sein. Wohlfeilheit läßt sich noch lange nicht erwarten, und deshalb sind wir gezwungen, das, was Wissenschaft und Erfahrung in Bezug auf wohlfeile Herstellung einer nahrhaften Kost bis jetzt bewährt gefunden haben, im gewöhnlichen Leben richtig zu verwenden.

Was nun 1) die Nahrhaftigkeit der Nahrungsmittel betrifft, so müssen sie, wenn sie gehörig nahrhaft sein sollen, durchaus jene oben und in Gartenlaube Jahrg. 1856. Nr. 3 genannten Nahrungsstoffe enthalten; deshalb ist zu allererst bei der Speisung nach der Gegenwart jener Stoffe zu trachten. – 2) Wohlfeil werden die Speisen durch Einkauf und Bezug im Großen aus erster Quelle, wie in ausgedehnten Speiseanstalten; Mischung eines billigeren Gegenstandes mit einem kostspieligeren und Benutzung der kleinsten Theile; am theuersten kommt Kaffeelutsche und Kartoffelbamms, wie wir später sehen werden. Niedrigster Aufwand bei größter Consumentenzahl; die Menge bringt’s. 3) Zweckmäßig, möglichst in gleicher Menge und reiner Beschaffenheit, öfters wechselnd nach Jahreszeit, Temperatur und Oertlichkeit, niemals dieselbe Speise an einem Tage wiederkehren lassend, stets den gahren Zustand für Genuß beobachtend, wo thunlich, alles in Fleischbrühe durch Dampf gekocht. – 4) Zuträglich, nach einer gewissen Norm verabreicht, das Mengeverhältniß richtig innegehalten, mit Natur, Zusammensetzung und Eigenschaften dieser Substanzen innig vertraut, solche darnach beschickt (s. Küchenregeln). – 5) Gesund, nach Vorschrift und Erfahrungsregeln in Stoffen fehlerfrei, als gute Nahrungsration für Jedermann (außer Gourmands) nach einem gewissen Volumen dienlich hergestellt, der Verdauung angepaßt.

Mit Rücksicht auf vorstehende Sätze und Einreihung von Fleisch, Fett, Butter und Oel, wollen wir nun als das Resultat langjähriger Erfahrung folgende Tabelle als vielfach erprobte Richtschnur zur Bereitung einer kräftigen Hausmannskost für Arbeiter mittheilen, nach welcher die Speisen nicht nur vollständig sättigend, consistent und wohlschmeckend ausfallen, sondern auch am besten und billigsten herzustellen sind. Kein Kochbuch giebt hierüber so sichere Kunde nach Kopfzahl und Gewicht.

Es ist das Mengenverhältniß auf 10 Köpfe berechnet und zwar nach Zollgewicht, weil dieses bald in ganz Deutschland maaßgebend sein wird.[1]

A.Zu Suppen früh und Abends.
Suppe von Mehl: 1 Zollpfd. Gerstmehl oder Mais- und andere Mehlsorten, 3/5 (Dresdner) Kanne Milch oder statt deren 1/10 Zpfd. Butter. Diese Quantitäten geben 10 Portionen und 1 Portion enthält 7/6 Dresdner Kanne.
Suppe von Gerst- oder Haidegrütze, von Weizen- oder polnischem Gries, Reis oder Nudeln: 1 Zpfd. von jedem im einzelnen Fall. Als Mache an jede Sorte: 1/10 Zpfd. oder 10 Hectas Schmelzbutter, wie bei Mehlsuppe, daran auch einige Suppenkräuter, als Kerbel, Petersilie, Ampfer, Löffelkraut etc.
Hafergrützsuppe: 8/10 Zpfd. Brot; Schwarzbrotsuppe: 21/2 Zpfd. Brot, 1/2 Zpfd. Gerstmehl; Rahmsuppe: 5 Kannen gute Milch, 21/2 Zpfd. Brot; Wurstbrühsuppe: 10 Kannen frische Wurstbrühe, 21/2 Zpfd. Brot; Biersuppe: 3 Kannen Bier, 2 Kannen Kovent, 2 Zpfd. Brot, 1/2 Zpfd. Mehl; Koventsuppe: 5 Kannen Halbbier, 1 Kanne Milch, 2 Zpfd. Brot (zu beiden soviel Ingwer als nöthig); Fleischbrühsuppe: 1 Zpfd. Rindfleisch, 3 Zpfd. Brot (letzteres leicht geröstet) oder Korngries.
Zwiebelsuppe: ¼ Metze Zwiebeln, 2 Zpfd. Brot, etwas Einbrennemehl.
Kartoffelsuppe: 1 Metze Kartoffeln, 1 Zpfd. Brot, etwas Pfeffer und Zwiebeln.
Rumford’sche Suppe: ½ Metze Zwiebeln, ½ Zpfd. Perlgraupen, ½ Zpfd. Brot, ½ Zpfd. Erbsen, 1/5 Kanne Essig, 2 Hände voll Möhren, Porré, Sellerie, etwas Häringslake.
Kürbissuppe: ½ Stück großen Kürbis, 3/5 Kanne Milch, 1 Zpfd. Brot, den nöthigen Ingwer dazu, gestoßen.
Französische oder grüne Suppe: 2½ Kanne Fleischbrühe, 3/10 Zpfd. Einbrennemehl, 1 Teller voll gewiegte Suppenkräuter; hierzu besonders die kleinen Wurzeln von Sellerie, Petersilie und allerlei Gemüsearten.
Kaffee: 10 Hect. gebrannter guter Kaffee, 5 Hect. Surrogat von Runkeln, Möhren oder Cichorie, 3/5 Kanne Milch. 10 Portionen à 3 Schaalen voll. Als Imbiß noch Weißbrot, Semmel, Wecken u. dgl. Kuchen.
NB. Wenn in Hotels 1 Loth auf 1 Portion gerechnet wird, so fällt dieser hier immer noch stärker aus, als gewöhnliche Lutsche.
Maismehlkuchen: 1½ Zpfd. Maismehl, 2 Eier, 4/10 Zpfd. Syrup (amerikanisches Frühstück, s. am Schluß B.)

Anmerkung: Rumfordsuppe kann füglich auch als Mittagsspeise dienen. – Kaffee und Kartoffeln in der Schale, letztere als Suppe, verlangen nebenbei außergewöhnlich viel Brot zur Sättigung, kommen deshalb am theuersten. – An alle Suppen das nöthige Salz, auch Kümmel, Ingwer, und grüne, saftige, passende Kräuter in frischem Zustande gewiegt. Kleine Wurzeln (gewöhnlich weggeworfene Schwänzchen), von Petersilie, Kerbelrüben, Sellerie, Lauch, Meerrettig, Rüben, Hafer- und Zuckerwurzeln an fast alle Arten mit weich zu kochen.

B. Mittagsgerichte
Breiartig dick; auf 10 Köpfe, die Portion zu 1 Dresdn. Kanne.
1) Trockene Gemüse:
Weiße Bohnen, Erbsen, Linsen: 5 Zpfd. zu jedem Gericht einzeln genommen, als Zusatz noch ½ Zpfd. Mehl zum Einbrennen, 3/10 Zpfd. oder 30 Hect. Speck; an Linsen 3/5 Kanne Essig, an Bohnen 1/5 Kanne Essig, doch kann dieser auch wegfallen, dafür gehörige Menge Zwiebeln.
Graupen, grob, fein und gerissen. Gries von Weizen, Dinkel und Buchweizen, Hafer- und Haidegrütze, Hirse, Mais in Gries- und Mehlform, Nudeln (erfurter), Reis, dergl. mit Maingries gemischt, dergl. mit Erbsen- oder Bohnenmehl: 2½ Zpfd. von jeder Sorte einzeln zu 1 Gericht; zu allen noch als Mache: 6/10 Zpfd. = 60 Hectas gutes Rindfleisch, gehackt und knochenfrei, in der gewonnenen Fleischbrühe die vorstehenden Gemüse gekocht; an das Fleisch einige Lorbeerblätter, Möhren, Zwiebeln, Sellerie etc.; das Fleisch muß Tags vorher gekocht sein, um die Brühe benutzen zu können.
Mehlknöpfe: 1½ Zpfd. Weizenmehl No. II., 3 Eier, ½ Kanne Milch, 1/10 Zpfd. Butter, 1/2 Zpfd. Weißbrot, 1 Zpfd. Reis, 1 Zpfd. Mehl aus Erbsen oder Bohnen, s. Reis; etwas Zwiebeln in dieser Butter gebraten beigegeben.
Milchmus: 3 Zpfd. Weizenmehl, 5 Kannen gute Milch, 3/10 Zpfd. Schmelzbutter; Butter zerlassen, zuletzt eingerührt.
Gebackenes Obst: 2¼ Metzen von drei Sorten gemengt, als: Aepfel, Birnen, Pflaumen; sogenanntes schwarzsaures Essen herzustellen, wenn blos gleiche Menge Pflaumen gekocht, entkernt, durchgeschlagen und mit 1/10 Zpfd. Zimmt, Citronenschale und Lorbeerblättern angemacht werden; dazu gehört Schweinefleisch als Zukost.
2) Grüne Gemüse
(von jedem für sich).
Grünkraut (besteht aus Kresse, Mangold, Melde, Salat, Kohl, Petersilie, Spinat, Ampfer und Rübenblättern, Rapunzeln etc.), Braun- und Grünkohl, Petersilie, Spinat: 1/3 Korb à ¾ Dresdn. Scheffel, 1 Zpfd. Gerstenmehl zum Einbrennen, 6/10 Zpfd. Rindfleisch. – Weißkraut (zu Weißkraut und Kohlrüben etwas Kümmel), Wirsing: von jedem 1/3 Schock = 20 Häupter. – Grüne Bohnen, Kartoffelstückchen (zu sauren Kartoffeln noch besonders 2/5 Kannen Essig, einige Lorbeerblätter und saure Gurken), Kohlrabi, Kohlrüben, Möhren, Pastinak, grünen Obst (Aepfel, Birnen, Pflaumen; zu Obst kein Fleisch, sondern 3/10 Zpfd. zerlassene Schmelzbutter); von jedem 2 Metzen. – Weiße Rüben: 2½ Metzen; 3/10 Zpfd. Einbrennemehl und 6/10 Zpfd. Fleisch von Rind oder Schöps.
Sauerkraut: 8 Dresdner Kannen, 8/10 Zpfd. Einbrennemehl; Kartoffelbrei: 2 Metzen Erdäpfel, etwas Zwiebeln, 3/10 Zpfd. Speck zu jedem.
Kartoffeln mit Meerrettig: 11/5 Mtz. Erdäpfel, 1/20 Schock starker Meerrettig; mit Möhren: 1 Mtz. Erdäpfel, 1 Mtz. Möhren; mit Kohlrüben: 1 Mtz. Erdäpfel, 1 Mtz. Kohlrüben; mit Pastinak: 1 Mtz. Erdäpfel, 1 Mtz. Pastinak; mit Weißkraut: 1 Mtz. Erdäpfel, ¼ Schock Weißkraut; mit Sauerkraut: 1 Mtz. Erdäpfel, 5 Kannen Sauerkraut; mit Zwiebeln: 1 Mtz. Erdäpfel, ¾ Mtz. Zwiebeln; mit Kohl: 1 Mtz. Erdäpfel, 1/6 Korb Kohl; Graupen: 1 Mtz. Erdäpfel, 11/5 Zpfd. Graupen, 3/10 Zpfd. Einbrennemehl, 6/10 Zpfd. Fleisch; an Sauerkraut und Kohl paßt besser 3/10 Zpfd. Speck als Fleisch.

[229] :Kartoffeln mit Erbsen: 1 Metze Erdäpfel, 21/2 Zpfd. Erbsen, 1/4 Zpfd. Mehl, 3/10 Zpfd. Speck. – Grüne Bohnen mit dergl.: 1 Metze Bohnen, 21/2 Zpfd. Erbsen, 1/4 Zpfd. Mehl, 3/10 Zpfd. Speck.

Spinat mit Maismehl: 1/2 Korb Spinat, 2 Zpfd. Maismehl, 1/4 Zpfd. Gerstenmehl, 6/10 Zpfd. Fleisch. – Petersilie mit Erbsenmehl: 1/20 Korb Petersilie, 2 Zpsd. Erbsenmehl, 1/4 Zpfd. Gerstenmehl; 6/10 Zpfd. Fleisch. Dazu das nöthige Gewürz oder Küchenkräuter.
3) Besondere (Lieblings-) Gerichte sind mancher Orten:
Dampfnudeln: 1 Zpfd. Weizenmehl II., 1/4 Kanne Rahm, 5 Eier, 4 Löffel dicke Hefen, 3/10 Zpfd. Butter, etwas Muskatnuß und Zucker.
Eierkuchen: 1 Zpfd. Weizenmehl II., 21/3 Kanne Milch, 10 Eier, 2 Zpfd. Semmel, 3/10 Zpfd. Butter.
Klöße: 2 Zpfd. Weizenmehl II., 1 Metze Erdäpfel, 3/10 Zpfd. Speck, 1/2 Zpfd. Semmel, 3/10 Zpfd. Butter zu Sauce.
Kürbisbrei: 5 Stück kleine Kürbis, 2 Kannen Milch, 3/10 Zpfd. Butter, 3/10 Zpfd. Hirse, etwas Ingwer.
Polenta-Auflauf: 2 Zpfd. Maisgries, 2 Kannen gute Milch, 3/10 Zpfd. Butter, etwas Zitronenschale oder gewiegte Schalotten.
Gedämpfte Aepfel: 2 Metzen grüne Aepfel, 1/4 Metze Zwiebeln, 3/10 Zpfd. Schweinefleisch, 1/10 Zpfd. Semmel.
In jeder Gegend giebt es sogenannte Leibessen, welche nach obigem Maßstab zusammengesetzt werdn können.
4) Salate.
Staudensalat: 1/3 Korb oder 20 grüne Salatköpfe, 1/10 Zpfd. Speiseöl, 1 Kanne Essig. Zwiebelröhren, Salz.
Krautsalat: 1/4 Schock Rothkraut, 3/10Zpfd. Speck, 1 Kanne Essig. – Gurkensalat: 1/4 Schock Gurken, 1/10 Zpfd. Tafelöl, 1 Kanne Essig. – Kartoffelsalat: 13/4 Metze Erdäpfel; Bohnensalat: 13/4 Metze grüne Bohnen; Selleriesalat: 13/4 Sellerieknollen; zu jedem 1/10 Zpfd. Tafelöl, 1 Kanne Essig; an jedes 6 Hectas Pfeffer oder gepulverte Küchenkräuter, als Thymian, Basilikum, Bohnenkraut, Lavendel etc.
Rothe Rübensalat: 13/4 Metze Rübenknollen, 1/10 Zpfd. Kümmel, 1 Kanne Essig.
C. Zur Abendkost.
1) Suppe wie früh Morgens nach Auswahl.
2) Kartoffeln in der Schale: 2 Metzen, 3/10 Zpfd. Butter, etwas Kümmel und Ingwer; auf 10 Personen.
3) Die vorbeschriebenen Salate.
4) Kaltschale für die warme Jahreszeit.
Bierkaltschale: 8 Kannen Bier, 8 Kannen Kovent, 2 Zpfd. Brot, 4/10 Zpfd. Syrup.
Koventkaltschale: 7 Kannen Halbbier, 2 Zpfd. Brot, 4/10 Zpfd. Syrup.
Heidelbeerkaltschale: 5 Kannen Heidelbeeren, 1 Zpfd. Brot, 5 Kannen Milch. :Wasserkaltschale: 1 Kanne Himbeeren, 2 Zpfd. Brot, 1/6 Kanne Essig, 7 Kannen Wasser.
Ferner als Zukost zu Butterbrot gut eingetheilt: saure Gurken, Rettig, gesottene Eier, Ragout, Quarkkäse, grünes Obst, feingeriebenen Meerrettig, gehackte Zwiebeln, Brunnenkresse, Kerbel etc. gehörig vermengt oder (nicht zusammenpassend) für sich allein.

Den Kostenpunkt betreffend. Wenn der Scheffel Roggen 5 Thaler kostet, so kommt 1 Portion Frühsuppe nach obenstehendem Mengeverhältniß höchstens auf 3 Pf., 1 Portion Mittagsessen auf 61/2 Pf., 1 Portion Abendgericht auf 31/2 Pf., alle 3 Tagsmahlzeiten circa durchschnittlich 13 Pf. zu stehen, d. h. ohne Feuerungsmaterial und Zubereitungskosten. 11/2 Zpfd. gutes hausbacknes Brot in großen Lieferungen 13 Pf.

Billigkeit der Nahrung scheint eine sehr einfache Forderung zu sein, und doch ist diese Billigkeit nicht einfach nach dem Kostenpunkte, sondern nach mehrerlei sehr wesentlichen Eigenschaften der Nahrungsmittel zu beurtheilen. Niemand schafft sich einen Tuchrock an, der nicht wüßte, daß das billigste Tuch sehr leicht durch seine geringe Dauerhaftigkeit das theuerste werden kann. Es ist fürwahr nichts thörichter, als wenn man blos von der Billigkeit spricht. Sind zwei Nahrungsmittel in dem oben erörterten Sinne gleich nahrhaft, dann wird man für einen kräftigen Magen dem billigsten den Vorzug geben. Was hilft aber der vielleicht doppelt so geringe Preis, wenn eine Speise einer andern, doppelt so viel kostenden, vierfach an Nahrhaftigkeit nachsteht? Wer diese Weisheit für überflüssig hält, denke nur an die Kartoffeln. Gerade diese und der Kaffee sind am theuersten, weil zu beiden der Sättigung willen unglaublich viel Brot verwüstet wird.

Wohlfeil, verdaulich, gut aufgeschlossen und sehr kräftig bei wenig Gewürz werden die Speisen nur durch Kochen mittels Dampf in verschlossenen Gefäßen[2], Doppelkesseln ähnlich dem Papin’schen Topfe, in welchem die Dämpfe zwischen den Wänden wirken und nicht (wie in der leipziger Speiseanstalt) in die Speisen unmittelbar hineinströmen, wodurch allzeit gehörige Gahre, Zusammenhalten aller kräftigen Stoffe, – weil sich nichts verflüchtigen kann, – reiner Geschmack und völlige Aufschließung erzielt wird. Auch finden die Koch- und Heiz-Gas-Apparate von Elsner sehr viel Anklang in Berlin; mit gehöriger Sorgfalt gehandhabt, bieten sie die sparsamste und angenehmste Feuerung. – Behufs zweckmäßiger Zubereitung folgen später zur Kostensparniß die wichtigsten „Küchenregeln.“

Fr. W. Grünee, Oeconom in Zwickau.


Unsere Erde aus der Mond-Perspective.

Unabsehbare Haufen von Maculatur sind geschrieben und gesprochen worden über die bloße Frage, ob der Mond bewohnt sei oder nicht. Professoren der Weisheit und des Unsinns haben darüber allein mehr zu sagen gewußt, als über[WS 1] das ganze Universum. Sie ließen den Mond nie ungeschoren. Auch als die Mondkälber und andere phantastische „Seleniten“ wegen Mangels an Luft, Wasser und Atmosphäre überhaupt verschwanden, behielt man ihn stets mit besonderer Vorliebe im bewaffneten Auge. Man maß die Höhe seiner Berge, die Tiefe seiner Höhlen, die Breite seiner Ebenen und quälte ihn überhaupt so, daß man stets an den alten Lucian erinnert wird, in welchem Luna, wie früher der Mond als Dame hieß, dem Menippus klagt, daß irdene Philosophen stets an ihr herumguckten und Maß nähmen, als wollten sie ihr ein neuen Ballkleid zum ewigen Himmelstanze um die Erde machen. Neuerdings ist das viel ärger geworden, und es giebt gelehrte Herren, welche mit den Mondmeeren ohne Wasser vertrauter sind, als mit dem Flusse, an welchem ihre Stadt liegt.

Was wird der Mond jetzt dazu sagen? Um etwas zu sagen, müßte er freilich sprechen können. Und er steht jetzt wissenschaftlich als das schweigsamste Schrecken von Gestalt und ewiger Todtigkeit da. Aber um so freier können wir ihn mit Geschöpfen der Phantasie bevölkern. Archimedes verlangte nur einen Punkt im Weltenraume, um von da aus die ganze Erde aus ihren Angeln zu heben. Man sieht daraus, was ein Standpunkt ausmacht. Die geringste Veränderung desselben giebt der Welt oft eine ganz neue Physiognomie. Man braucht sich blos auf einen Berg zu stellen, einer Aussicht den Rücken zukehren, sich zu bücken und die Aussicht durch die Brille der Beine umgekehrt anzusehen, um sich zu überzeugen, wie neu, wie malerisch etwas, das man vielleicht schon zwanzig Mal ohne Rührung angeguckt, blos durch diese allerdings nicht sehr malerische Veränderung des Standpunktes werden kann.

Wir unsererseits versuchen hiermit eine etwas kühnere Umkehr des Standpunktes. Haben wir so lange Mondsucht von der Erde aus gespielt, können wir nun die Erde einmal vom Monde aus ansehen. Wir stellen nun also plötzlich auf einen jener furchtbaren 12 bis 16000 Fuß hohen, abgebrochenen, drohenden, unzugänglichsten, oft senkrecht abgeschnittenen Berge am untern Ende der den Erdbewohnern zugewendeten Mondscheibe. Kein Wassertropfen, kein Lüftchen, kein Laut, kein Grashälmchen um uns, blos tiefe Schluchten, drohende Rachen steiler Abgründe, Ebenen mit Labyrinthen zerrissener Höhlen, überstreut mit ungeheuern kahlen Blöcken. Es ist Mittag. Die Sonne steht über uns am kohlpechschwarzen Himmel, da wir unsere geliebte Himmelsbläue nur der Reflection und dem Bruche des Lichtes in Luft und Wasserdampf verdanken, der Mond aber weder von Luft, noch von Wasser etwas weiß. Die Sonne scheint deshalb auch öde und kahl, strahlenlos aus dem schwarzen Universum. Wir vermissen alle Farben und Tinten des Lichtes, alle warmen und kühlenden Athmungen der lieben Erde, die wir verlassen haben.

Gerade vor uns, zwischen dem Horizont und dem Himmel direct über uns begegnet unserm staunenden Blicke ein ungeheurer wie der Mond in unserm Tageslichte schwach erleuchteter Planet, eingehüllt in einen wehenden, unruhig wogenden Schleier von Licht und Schatten, ungefähr 14mal größer, als uns auf der Erde der Vollmond erscheint. Er geht nicht auf und unter, sondern steht [230] ruhig in seinem unruhigen Schleier, um welchen die Sternenwelt kreis’t. Der wehende Schleier nimmt unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Dunkele Flecke und phantastische Lichtgestalten wehen und winden sich in ihm umher, aufleuchtend, eindunkelnd, fliegend, aufquellend, untertauchend, als ob eine helle, lichte, leuchtende Masse stets vom dunkeln Grunde auftauche und sich muthwillig auf der Oberfläche umherjage. Die Sonne fängt an sich zu senken. Der Schleier glüht hier und da in Flammen auf, anderswo reißt er auseinander, um uns das Gesicht des Planeten zu zeigen, das aber immer wieder auf phantastische Weise eingehüllt und verschleiert wird.

Dieser riesige Planet mit dem wunderbaren Schleier wird „Erde“ genannt. Gelehrte Seleniten oder Mondbewohner haben längst bewiesen, daß dieser Planet, unsere Erde, unbewohnt, unbewohnbar sei. „Die Erde,“ sagt ein gelehrter Professor der Hauptmondsternwarte, der zu mir heraufgeklettert ist (obgleich ich ihn nicht recht sehen kann, da er weder Luft, noch Wasser enthält, und sich auch in unerklärlicher Weise ganz anders verständlich macht, als durch luftgetragene Worte) „die Erde, welche wir tagtäglich so nahe vor uns beobachten, ist der unbeständigste, unsolideste aller Planeten, ein ewiges Revolutioniren und Umwälzen. Er besteht aus Unbeständigkeit, aus einer kochenden Masse, die nie zur Ruhe kommen kann. Nichts als Sturm, Confusion[WS 2] und Veränderung. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn diese stets kochende, siedende Masse eines Tages über- und auseinander liefe. Einige Gelehrte unseres Mondes haben behauptet, es könnten in diesem ewigen Wirrwarr von Licht und Schatten lebendige Wesen leben. Ich habe aber die Unmöglichkeit dieser Annahme längst unumstößlich bewiesen. Wo und wie sollten lebendige Wesen auf der Erde existiren? Auf dem untern, dunkeln Elemente dieses Sterns, den wir manchmal durch den zerreißenden Schleier bemerken? Absurd! Sie würden zerschmettert, ertränkt, erstickt werden von diesem ewig kochenden und brausenden Außen-Elemente. Die geringe Masse des reinen, ruhigen Weltäthers, in welchem wir hier zu Lande auf dem Monde leben und welcher sie durch die Risse in ihrem Schleier erreichen könnte, kann durchaus nicht hinreichen, dort Leben zu erhalten. Würden lebendige Wesen auf der Erde nicht außerdem ununterbrochen von den aufkochenden Stürmen und Dünsten mit in die Höhe gerissen und dann niedergeschmettert werden? Collegen von mir haben die Hypothese aufgestellt, die Erdwesen könnten vielleicht in dem unruhigen Außenelemente selbst leben. Darin könnten sie allerdings unsern himmlischen Aether eher erreichen und athmen, aber wo und wie könnten sie jemals in dieser ruhelosen, unhaltbaren Substanz Ruhe und festen Boden finden, einer Substanz, die gar nichts Substantielles hat, ununterbrochen zerreißt und von elektrischen Feuern durchzuckt wird? Deshalb ist jeder vernünftige Mondbewohner längst mit mir überzeugt, daß die Erde unbewohnt, weil unbewohnbar sei.“

Ich war vollkommen von der so nachgewiesenen Unbewohnbarkeit der Erde überzeugt, bis ich daran dachte, daß ich selbst ein Landsmann derselben sei, mit einem Körper unten, den ich, Gott sei Dank, zu Hause gelassen hatte, um als Phantasie und Gedanke nicht weiter durch diesen rheumatischen und sich leicht erkältenden Cadaver genirt zu werden. Aber die Beweise von der Unbewohnbarkeit der Erde waren ziemlich eben so gut als unsere für die Unbewohnbarkeit den Mondes. Wir sagen: kein Leben auf dem Monde, weil keine Luft, kein Wasser; die Mondbewohner: kein Leben auf der Erde, weil lauter Luft und Wasser, durch welche das Lebenselement des Mondes, der unverfälschte Weltäther, nicht hindurchdringen kann und Luft und Wasser immer zerstörend durcheinanderwüthen. Ich bekümmerte mich weiter nicht darum, und da ich dem astronomischen Professor des Mondes wegen zurückgelassener Sprachwerkzeuge und als bloßer Phantasiereisender ohne Paßkarte nicht antworten konnte, gab ich mich sofort dem herrlichen Licht- und Farbenweben unseres Erdendunstkreises hin.

Dieses ewige Schleierflattern um das Antlitz der Erde im schwarzen Himmelsraume ist unendlich schön und erhaben. Ein weißer Fleck steigt auf und gießt sich nach allen Seiten in tausenderlei phantastischen Metamorphosen in die Weite und Breite, verduftet in dünne, halb durchsichtige Wölkchen, die jeden Hauch des Sonnenlichtes begierig aufnehmen und in farbigen Verklärungen widerstrahlen. Jetzt verschwindet das ganze Luft- und Lichtgewebe wie ein Trugbild der Fata Morgana und macht langen, gehauchten Streifen von Luft und Schatten Raum, die in rechten Winkeln nach den Axen der Erde strömen und einen Gürtel bilden wie wir sie ähnlich an andern Planeten bemerken. Es sind große Dunstmassen, gejagt von den Passatwinden. Ihr leuchtender Strom geht von Nordosten nach Südwesten. Dazwischen bemerken wir andere leuchtende Dunstströme auf den Flügeln der indischen Moussons, tropischer und Polarwinde, die über einander hinweg in entgegengesetzten Richtungen vom Aequator nach den Polen, von den Polen nach dem Aequator jagen.

An jedem Ende der Axe, dem Süd- und Nordpole, flimmern große, leuchtende Flecke auf, die in Größe und Leuchtkraft je nach den 365 jährlichen Umdrehungen der Erde um ihre Axe zu- und abnehmem. Die Abnahme an dem einen Pole ist der Gewinn des andern, doch hält sich die leuchtende Weißheit am südlichen stets glänzender und größer als am nördlichen. Aber zwischen beiden Lichthäuptern der Kugel schiebt sich die Dunkelheit stets hin und her, sechs Monate ab-, sechs Monate zunehmend, eine stets interessante Augenweide und Verwunderung der Seleniten.

Dieses ununterbrochene Duelliren des Licht-Ormuz’ von den Polen her, gegen den finstern Ahriman in der Mitte mit dem Aequator gleichsam als Barriere oder als vertheidigte Position ist der Widerschein den Kampfes zwischen Winter und Sommer. Die weißen Hauben an den Polen sind die Eis- und Schneekappen des ewigen Winters. Der Planet Mars zeigt genau dasselbe Phänomen.

Jetzt hat die Sonne die Grenze unseres Mond-Horizontes erreicht und fällt plötzlich ohne Morgen- und Abendroth in den schwarzen Abgrund des Himmels, uns im starrsten Schweigen zurücklassend. Der große Mond des Mondes aber, unsere Erde, wirft ein herrliches, glorioses Licht auf unsern starren Felsen und auf die todten Schrecknisse umher, vierzehn Mal stärker als Vollmondlicht, von einer vierzehn Mal größeren und tausend Mal schöneren Scheibe ununterbrochener dissolving views. Die Seleniten bekommen das unverschleierte Gesicht ihrer großen, in Licht und Farben kämpfenden Erde selten unverschleiert zu sehen. Aber wir haben diese Nacht Glück, und das Gesicht der Erde verklärt sich wie ein überhauchter Spiegel, den man sorgfältig abwischt und entsendet einmal ausnahmsweise eine klare Fluth ruhigen, unverschleierten Lichtes auf uns und weit um uns her über die schweigende Schreckensgestalt des kleinen Mondes. Wir verfolgen die phantastischen Linien, welche das feste Land von dem ungeheuern Meeresspiegel trennen, entdecken Inseln und errathen in den Lichtkernen des festen Landes mit verschiedenen Graden von Helligkeit und Verschwimmung Gebirgszüge mit ihren Spitzen und unterscheiden an verschiedenen Farben, wie auf einer colorirten Landkarte, Erdtheile, deren Färbung durch physikalische Gestaltung bedingt wird.

Lambert in Berlin stellte schon im vorigen Jahrhundert die Behauptung auf, die Erde müsse, von andern Planeten aus gesehen, in einem grünlichen Lichte erscheinen wie Mars uns etwas roth ansehe. Am 14. Februar 1774 beobachtete er einen olivenfarbigen Schein im Mondlichte als Reflex von unserer Erde, doch hat man seitdem wohl nicht wieder ähnliche Reflexe beobachtet. Die vorherrschende Meeresoberfläche und das von grünen Wäldern bedeckte Südamerika könnten eine bestimmte Farbentinte der Erde im Weltenraume allerdings erklären; aber die Tinte, in welche verschiedene Theile der Erde zuweilen gerathen, hält nie Farbe. Ein Mondbewohner behauptete z. B., ein besonders geflickt und buntscheckig aussehender Theil in der Mitte Europa’s habe im Frühlinge vor acht Jahren eine schwarz-roth-goldene Tinte bekommen, welche aber seitdem bald wieder schwarz geworden sei. Doch glaube er, daß auch diese Farbe – nicht in der Wolle gefärbt sei. – Ah, welch’ ein langgestreckter Streifen, der sich nach rechts dreht! Das südliche Ende der neuen Welt, Südamerika. Langgestreckter Schatten, durchwoben mit Lichtstreifen, diese besetzt mit funkelnden Brillanten, den Cordilleren und Anden mit den Vulcanspitzen 19000 Fuß hoch, geschildert von Humboldt. Der Streifen mit dem Cirkel antarktischen Schnees zieht sich zurück, und auf der andern Seite steigt ein ungeheuerer dunkler, theils grünlicher, theils bläulicher Fleck auf und verbreitet sich ewige Stunden lang beinahe über die ganze Scheibe. Der grünliche Hauch unterscheidet sich bedeutend von dem leichteren Grün Südamerika’s. Südlich gießt er sich über die ganze Scheibe aus, besäet mit kleinen, grünen Flecken: der große stille Ocean, überstreut mit Inseln. [231] Es kommen zwei große Flecke, dicht aneinander herauf: Neu-Seeland und Australien. Im Norden des letzteren eine Menge verschiedener grünlicher Flecke in allerlei Gestalt und Größe: Neu-Guinea, Borneo, Sumatra, Molukken, Philippinen u. s. w. – der asiatische Archipelagus. Während dem hat sich im Norden nicht weit vom Pole her ein gräulicher Flecken ausgebreitet und beinahe in westlicher Richtung den Aequator erreicht: Asien, nördlich grau, kalt, einförmig. Die sibirischen Steppen – im Centrum weiß glitzernd, von zwei langen, noch weißeren Gebirgsketten eingerahmt, eine silberne Zone vom Südwesten nordöstlich ausstreckend: die Jablonoi-, Altai- und Himalaya-Gebirgsformationen, die Cabi-Wüste im peträischen Arabien als silberner Gürtel auslaufend. Die alte Welt ist sonach durch einen strahlenden Sand- und Wüstengürtel in zwei beinahe gleiche Hälften getheilt. Die Wüsten von Nubien, Libyen und Sahara scheinen Fortsetzungen dieses Gürtels. Gerade unter diesen Silberstreifen schimmern blaßgrün China, Indien, Birmanien, Mongolien und Tibet. Dieses Bild dreht sich allmälig ab, bis das ungeheuere Afrika den Mittelpunkt der Scheibe einnimmt, umgeben vom großen Ocean, wie von einer dunkelgrünen Schlange. Ueber den Wüsten Afrika’s ein graugrünlicher phantastischer Fleck, das mittelländische Meer, und darunter innerhalb der bizarrsten Grenzlinien ein kaum bemerkbares Vorgeschiebe Asiens, das wir Europa nennen, trotz seiner Kleinheit Sitz und Mittelpunkt aller Wissenschaft, Kunst und Kultur, die Gesetzgeberin der Erde. Hiermit sind wir an der äußersten Grenze der alten Welt westlich angekommen und haben also eine Umdrehung unserer verdrehten Erde an uns vorübergehen lassen. Aber es wird nun auch höchste Zeit, daß wir unsere Mondspitze verlassen. Es ist entsetzlich kalt, so daß ich selbst als Phantasie friere, und schon kommt die Sonne wieder, die ohne Vorbereitung gleich mit 80 Grad Reaumur, also der Temperatur des kochenden Wassers, anfängt. Die gloriose Erdscheibe erblaßt, Europa und Afrika gehen unter und nur der große Ocean füllt die ganze erblassende Oberfläche. Amerika beginnt wieder aufzusteigen; aber nun stürzen sich auch mit neuer Lebenslust Dünste und Lichter und Schatten über das Gesicht der Erde und spielen in den abenteuerlichsten Schleierfalten und Shawltänzen durch einander. Wir stürzen uns sehnsüchtig aus dem schweigenden Schrecken des Mondes herab in dieses tolle, lustige, unerschöpflich phantasiereiche Haschen und Jagen von Wolken, Lichtern, Schatten, Farben und Formen, in diesen ewig lebendigen und Leben quellenden Dunstkreis unserer geliebten Erde, ohne uns daran zu kehren, daß der Mondprofessor und mancher Polizei-Regent steif und fest behaupten, die Erde könne und dürfe kein Leben dulden. Sie hat ihren Kopf für sich und zwar einen sehr großen mit tausenderlei lustigen Einfällen darin.





Noch eine Wanderung durch Deutschland in London.

Zugesandte Billets riefen uns neulich zu einem Concert in den hochfashionablen Hanover-Square-Saal (Hanover Square Rooms), die uns zunächst in Verlegenheit setzten, da wir zweifelten, aus unserer Garderobe so viel Putz und Perlen zusammenzufinden, wie die Engländerinnen bei solchen Gelegenheiten tragen (ich spreche mehr im Interesse meiner Frau). Doch entschlossen wir uns endlich zur ökonomischen Einfachheit, die nach einem Sprunge aus den Kreisen, welche nicht viel Wahl in ihrem Kleiderschranke haben, plötzlich als Krone des Geschmacks in den gewähltesten Cirkeln herrschend wiederkehrt. Nur die geldreiche, geschmacksarme, große vornehme Menge trägt künstliche Blumenausstellungen, Posamentier- und Juwelierläden auf Köpfen und Schultern, dazu hellste Blondinen das schreiendste, modige Scharlach- und Ziegelroth auf Burnus und Shawl, olivenfarbig reflectirende Brünetten mattes Blau, so daß man nichts Prachtvolleres und Geschmackloseres im Verein sehen kann, als in einem englischen Concertsaale oder in den Logen eines Westend-Theaters. Offenbar erregten wir mit unserer völlig decorationslosen, den Umständen und dem Teint entsprechenden Einfachheit nicht geringes Aufsehen unter des dichtgedrängten Perlen-, Blumen- und Juwelenkopsen der vornehmen Concertgesellschaft, und ich wette darauf, daß wir für schwindelnd hochgestellte Personen gehalten wurden. „Siehst Du,“ sagte ich zu meiner Frau, „hättest Du Dein lebensgefährliches Attentat auf meime kränkelnde Kasse ausgeführt und einen modigen, rothen englischen Concertmantel und einen entsprechenden Kopfbesatz gekauft, säßen wir hier tiefgesunken unter dem modesklavischen, vornehmen Pöbel. Jetzt sitzest Du hier mit Deinem natürlichen Haarschmuck, Deinem kettenfreien Halse, beneidet durch Lorgnetten und Operngucker wegen Deiner erhabenen Stellung im Leben, auf welche ich, wenn ich wollte, vom ersten besten Gentleman hier 100 Pfund Sterling geborgt bekäme.“ Wir lachten herzlich über diesen Einfall, der nicht nur wohlfeil, sondern mit einem direkten Profit verbunden war, welchen nur der Gatte und Familienvater als Krankenpfleger einer stets an die Vergänglichkeit allen Irdischen erinnernden Kasse zu würdigen weiß. Als nun die Deutschen im Concerte, Herr und Madame Weiß, Madame Rudersdorf, Herr Rabich von der weimarischen Kapelle und deutsche Compositionen, vorgetragen von Engländern und Engländerinnen, einen Triumph nach dem andern feierten und sehr oft wiederholt werden mußten, sagte ich zu meiner Frau: „Siehst Du, auch deutsche Kunst siegt hier, nicht blos Deine deutsche Einfachheit im bloßen Dasitzen und Zuhören.“ Das Concert, um 8 Uhr beginnend und in ununterbrochener Hetzjagd von Orgel, doppeltem Fortepiano, Violine, Soli’s, Duetts, Terzetts, Quartetts, Posaune u. s. w. bis nach Mitternacht um 1 Uhr sich zur Höllenqual für die erschöpften Nerven ausdehnend, war nur in dieser endlosen Massenhaftigkeit ächt Englisch, in seiner künstlerischen Schönheit aber sowohl der Leistungen als der Compositionen wesentlich Deutsch, triumphirend Deutsch. Ich will nicht von Herrn und Madame Weiß und Madame Rudersdorf sprechen, sondern nur die hier zum ersten Male erschallende, Todte zur Auferstehung rufende, berühmte Virtuosen-Tenor-Posaune des Herrn Rabich aus Weimar als ein Kunstereigniß bezeichnen, als welches es sich geltend machen wird, da sich wirklich Todte von ihr auferwecken ließen, und verschlossene Kunsthallen und Anerbietungen dem Meister öffneten. Herr Rabich hat sein Instrument seit 25 Jahren mit ununterbrochenem Eifer und mit zunehmender Liebe und Hingebung studirt und mit einem kräftigen, lebhaften, tiefen Gemüth (ohne welches kein Instrument zum wirklichen Kunstorgan wird) Töne und Melodien darin gefunden, die nur ihm gehorchen, und bald als Ton des Weltgerichts schmettern, bald in der zartesten, gehauchten, kaum hörbaren Weichheit noch tiefer in das Herz hineingreifen, als der Donner den jüngsten Gerichts, das sich dann wieder aus diesen Blechröhren hervorstürzt. Man erfährt und fühlt hier erst wieder die Gewalt und Schönheit des wirklichen, beseelten Tons, der in der neuesten musikalischen Richtung durch allerhand Schnörkel und Künstelein, durch einen „schollernden“ und „pickernden“ Klimperkasten in jedem Hause verschüttet und verwahrlost ward. Die Schönheit des Tons läßt sich nicht mit Worten sagen, eben so wenig wie die Schönheit der Helena im Homer, der deshalb ihre Wirkungen schildert. Wir machen’s eben so. Das glänzende, dichtgedrängte Publikum beklatschte Alles von 8 Uhr Abends an bis 1 Uhr des Morgens, aber sie sprachen, husteten, schnupften, rückten und rührten sich dazwischen. So wie Rabich seine Posaune angesetzt hatte, entstand Todtenstille, so daß man den wie ein einsames Veilchen verduftenden Hauch eines Tones bin zu seinem letzten Verstummen bis in die fernsten Winkel des Saales vernehmen konnte und kalte Gesichter warm wurden und ausdrucklose Gesichter zu sprechen anfingen. Diese Todtenstille hielt noch einige Secunden nach dem letzten Tone an, dann kam das Publikum erst zur Besinnung und stürmte auf und schrie aus tausend Kehlen encore, encore! (was das englische da capo ist). Jenny Lind’s Stimme ist bekannt. Rabich spielte einem hiesigen Componisten eins seiner Lieder in dessen Hause, wo es auch Jenny Lind gesungen hatte. Bei Jenny Lind hatte er sich bedankt, dem Rabich fiel er mit den Augen voller Thränen um den Hals, so wie er ihm das Lied geblasen. Rabich hat hier wirklich Todte auferweckt und er wird auf sehr hohes Verlangen damit fortfahren.

Zugesandte Billets riefen uns neulich in’s Panoptikon, das wir früher schon einmal geschildert haben, sich aber seitdem durch deutsche Elemente sehr bereichert hat und sichtlich von Deutschen vor einem Bankerotte gerettet wird. Für das prachtvoll ausgestattete photographische Departement fand es keinen geeigneten Photographen, so daß es eine allgemeine Preisbewerbung ausschrieb. Das Comité bekam Legionen von Einsendungen von den photographirenden Legionen Englands, erkannte aber den Preis einem Deutschen in Frankfurt, Herrn Professor Fink zu, den es demnach berief. Herr Fink hat das photographische Departement des Panoptikon bereits zur vollkommensten Anstalt in London erhoben, und einige neueste Erfindungen (z. B. durchsichtige Photographieen, nach Art der Lithophanien als Dekorationen an Fensterscheiben sehr in Aufnahme) technisch so fein ausgebildet, daß Niemand mit ihm concurriren kann. In der musikalischen Abtheilung giebt es viel schlechte Musikanten und Sänger, und nur einen guten Clavierspieler, einen Deutschen. Auch das Quartett ist gut. Es besteht aus zwei Deutschen, einem Italiener und einem Engländer. Aber dabei blieb die Mißverwaltung der Panoptikon-Direktoren mit ihrem Nepotismus eben so groß, wie die im Staate überhaupt. Man sann auf Mittel, das Publikum wieder heranzuziehen, und fand endlich in einer spanischen Quartett-Gesellschaft im Kostüm das siegreichste Zugmittel.

Die Billets luden uns ein, diese Spanier zu hören. Sie traten auf die Estrade des Theaters vor der großen Orgel in malerischer Nationaltracht, schwarzbärtig, rothshawlig, mit breitkrämpigen Hüten, die einzige Dame mit den brennenden Farben in Mieder und Besatz des kurzen Rocks, die Herren riesig, Einer goliathisch. Mit einem freudigen Schreck empfing das Publikum die ersten Töne. Gesang, bloßer, reiner Gesang, frisch, gewaltig, sprudelnd, neckisch, leidenschaftlich, jetzt als Fuge kämpfend, dann in die einfachsten, bekanntesten, lieblichsten deutschen Volksmelodien versöhnt zusammenfließend. Wie kommen deutsche Volksmelodien in die Kehlen dieser spanischen Riesen? Wo kommen die Riesen in dem verkommenen Spanien her? Ich hätte sie eher für Spandauer als für Spanier gehalten. Ja, sagte mir ein Deutscher, der sie kannte, es sind eigentlich keine Spanier, sondern Basken. Also da capo. Bravo, ihr frischen, kräftigen Basken! Bravo und encore und Basken! stürmte es aus allen Etagen und Winkeln den Hauses. Sie mußten da capo singen und sangen den ganzen Abend allein, sangen blos, und nur die große Orgel machte den Schluß. Das kalte englische Publikum, stark mit deutschen Gesichtern und Stimmen gemischt, war Feuer und Flamme über diese [232] Basken, die sich hernach während der dissolving views in Civil unter das Publikum mischten. Ich bekam den riesigen Basken in meiner Nähe stark in den Verdacht, daß er weniger ein Baske, als ein Berliner oder Bunzlauer sei. Ein zweiter baskischer Riese, der sich zu ihm stellte, erinnerte mich unwillkürlich an das frankfurter Viertel in Berlin, and als sie gar zusammen Deutsch sprachen, fragte ich ihn ohne Weiteres, ob wir uns in diesem Leben nicht schon vor dem cotbusser Thore in der Nähe der Hasenheide in Berlin begegnet wären. Freilich! Was half das Läugnen? Kurz, die berühmten baskischen Spanier erwiesen sich alle als Deutsche; blos die Dame ist eine Französin, aber eine deutsche Französin aus dem Elsaß. Sie machen als Spanier mit ihren frischen, kräftigen Stimmen und den deutschen Volksmelodien beispiellos brillante Geschäfte im Panoptikon. Ich verdenke ihnen das spanische Nationalkostüm nicht, da die Deutschen keins haben, und selbst die Uniformen, woran man das höhere Deutschland erkennt, an jeder Grenze sich in ein paar Dutzend uniformirten Ständen nach allen Richtungen des Regenbogens und der Zuschneidescheere verlieren.

Aus dem Panoptikon ist es nicht weit nach den beiden größten deutschen Buchhandlungen Londons, D. Nutt und Williams und Norgate. Ersterer hat seine Diener und Arbeiter und Arbeitsstunden erweitern müssen, um die sich von Tage zu Tage steigernde Arbeit, das Bedürfniß der deutschen Literatur in England zu befriedigen, einigermaßen zu bewältigen. Doch können Arbeiter und Diener nicht so schnell eingelernt werden, als das Geschäft mit sich bringt, so daß man das ganze große Haus fortwährend in Aufregung übertriebener Arbeit findet. Williams und Norgate haben ihre beschränkte Räumlichkeit zu einem großen Hause mit einer weiter Buchhalle vergrößern müssen.

Von älteren, neuern und neuesten deutschen Vereinen in London kann ich gar nicht reden, da ich jeden Augenblick von andern und noch neueren höre. Im Westend, in der City, im Ostende, überall deutsche Vereine und Kneipen. Ich will im Mittelpunkte stehen bleiben, bei Kerb in Cliffords-Inn-Passage, Fleetstreet bei Temple bar, wo seit einigen Wochen sich jeden Sonnabend eine „deutsche Discussions-Gesellschaft“ versammelt, bestehend aus Literaten, Kaufleuten, Künstlern, Mechanikern u. s. w. mit stets frischem Zuwachs, da Jeder, der hinkommt, sofort Mitglied ist und es bleibt, bis er wieder fortgeht. Diese Liberalität verdankt die Gesellschaft den englischen Discussions-Clubs. Deutsche Vereine, als solche, haben immer gern etwas Staatspolizeiliches und machen die Mitgliedschaft von Paragraph So und So abhängig (die eigentliche Staatspolizei kann sie dieser Concurrenzmacherei wegen auch nicht leiden). Ich will dieses jüngste Produkt des gesteigerten deutschen Lebensgefühls in London noch nicht schildern, es ist eben noch zu jung. Aber auf eine charakteristische Erfahrung, die ich darin gemacht, muß ich aufmerksam machen. Es trat in den bisherigen Discussionen kein politischer Parteistandpunkt hervor. Demokraten, Aristokraten, Republikaner, Constitutionalisten, Monarchisten – Alles todt! nichts wie eine politische und eine volkswirthschaftliche Partei, Politiker und Naturalisten. Erstere machen das Heil der Welt noch von politischen und diplomatischen Künsten abhängig, letztere behaupten, daß diese Künste der Natur- und Kulturnothwendigkeit gegenüber immer bedeutungsloser werden und die Macht über den Gang der Weltgeschichte auf Eisenbahnen und Dampfschiffen, in Waarenballen und an elektrischen Drähten bereits verloren haben. Der Gegensatz zwischen den Politikern und Naturalisten ist ein sehr lebendiger und interessanter, und giebt mehr Bürgschaft für das Gedeihen der deutschen Discussionsgesellschaft, als wenn sich blos politische Parteien etwa über die beste Form der Freiheit, über die Pflicht der Friedens-Konferenzen oder eines europäischen Kongresses (falls er zu Stande käme) und dergleichen in die Haare fielen.

Auch von deutschen Zeitungen und Zeitschriften in London ist die Rede. Die großen deutschen Buchhändler gehen mit einem Plane zu einer deutschen Monatsschrift um. In andern Kreisen arbeitet man an einer wöchentlich erscheinenden deutschen Zeitung. Die beste Bürgschaft für eine deutsche Presse in London sind zwei wöchentlich erscheinende deutsche Blätter, welche im Ganzen so miserabel sind, daß sich deren Bestehen nur durch das dringende Bedürfniß, daß überhaupt etwas Deutsches geboten werde, erklären läßt.

Hier mag es bemerkenswerth erscheinen, daß sich auch in einem wohlfeilen englischen Zeitungs-Organe, dem täglich zwei Mal in einem großen Folio-Bogen erscheinenden „Morgen- und Abendstern“ („Morning Star[WS 3] und „Evening Star“) ein deutsches Element geltend macht. Die Redaction des ausländischen Theils mit Original-Correspondenzen ist einem deutschen Literaten übergeben worden.

Von der steigenden Bedeutung des industriellen und merkantilen deutschen Elements in London ließe sich viel sagen. Vielleicht berichtet darüber eine kundigere Feder. Ich erwähne nur, daß mir neulich ein englischer City-Kaufmann selbst nachwies, daß die reichsten und bedeutendsten Kaufleute im Mittelpunkte des Welthandels, der City von London, Deutsche seien und englische Firmen nur als Compagnien, nicht als einzelne Geschäftsleute, größer seien.

Politische Leute und Zeitungen kitzeln sich und Andere mit der Vorstellung, daß Diplomaten in Paris den holden Frieden zwischen Osten und Westen wieder hergestellt hätten oder wenigstens dieses Kunststück noch fertig kriegen würden. Das ist politische Schwärmerei, an der kein wahres Wort ist. Der Friede zwischen Osten und Westen kann nur durch Deutschland hergestellt werden und wird fortwährend hergestellt durch den steigenden Einfluß der deutschen Kultur und Bevölkerung in England und Rußland. In beiden Ländern reicht sie bereits vom Throne durch alle Kulturphasen hindurch bis herab zum Schuster und Schneider. Deutschland vertritt bereits persönlich in aller Welt den Zusammenhang der Kultur, die Gemeinsamkeit der Völker-Interessen, und wird thatsächlich einmal den ewigen Frieden herstellen und verbürgen.




Blätter und Blüthen.

Gute Antwort. Als der Minister von Herzberg den Statistiker, damals hessischen Professor Dohm zu Kassel, in den preußischen Dienst ziehen wollte, und ihm die erste Audienz vor Friedrich dem Großen verschaffte, warnte er ihn, sich nicht durch die durchdringenden Blicke oder durch auffallende Fragen des Monarchen aus der Fassung bringen zu lassen. Die erste, die dieser that, lautete so: „Sag’ Er mir ’mal, wo fängt die Geschichte an?“ Wie auf den Blitz der Donner, erfolgte die Antwort des besonnenen Gelehrten: „Da, wo die Fabel aufhört!“ Er hatte bei Friedrich sein Glück begründet und trat als geheimer Finanzrath in nähere Berührung mit seinem Protector. Wie viel der König, der Staat und die Wissenschaft dadurch gewann, lehrte die Folge.




Der unschuldige Dieb. Wegen Börsendiebstahls angeklagt stand neulich ein unschuldiger Junge vor dem Magistratsgericht zu London. Sein Vertheidiger rettete ihn durch Nachweis, daß der Kläger nicht darauf schwören konnte, er habe die Börse auch wirklich eingesteckt, als er sein Haus verließ. „Ich selbst,“ so schloß er seine Vertheidigung, „dachte, als ich heute früh mein Haus in Russel-Square Nr. So und So verließ, meine Uhr eingesteckt zu haben; doch besann ich mich nachher und weiß gewiß, daß ich sie in meinem Schlafzimmer auf der rechten Seite habe hängen lassen.“ Jetzt entstand Unordnung und Lärm unter den Zuhörern und der Richter rief „Ordnung.“ Eine Viertelstunde nach diesen Worten fuhr eine Droschke im vollen Carrière vor dem Hause des Vertheidigers in Russel Square vor. Ein junger Herr sprang heraus, klopfte wüthend, und verlangte im Namen des Herrn rasch die goldene Uhr von der rechten Seite seines Schlafzimmers. Das Dienstmädchen gehorchte eiligst, und der junge Herr ging eiligst mit der Uhr davon. Er begegnete noch einer zweiten Droschke, aus welcher ebenfalls ein junger Herr sprang, eiligst an demselben Hause klopfte und dieselbe Uhr forderte. „Ist schon geschickt worden,“ sagte das Dienstmädchen verwundert, bis eine dritte Droschke vorfuhr, aus welcher der freigesprochene Dieb sprang und dieselbe Uhr forderte. Jetzt ging dem Mädchen ein Licht auf; sie schrie: „Haltet den Dieb!“ Er wurde gehalten, war aber wieder unschuldig, da ihm, wie er hernach erfuhr, zwei seiner glücklicheren Collegen, die bei allen öffentlichen Verhandlungen wegen Diebstahls eifrige Zuhörer bilden, zuvor gekommen seien, obgleich er dem Droschkenführer doppeltes Fahrgeld versprochen habe.


Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig erscheint seit Anfang vorigen Jahres:

Illustrirte Landwirthschaftliche Dorfzeitung.
Herausgegeben
unter Mitwirkung einer Gesellschaft praktischer Land-, Haus- und Forstwirthe
von Dr. William Löbe.
Wöchentlich ein ganzer Bogen mit vielen Illustrationen. – Preis vierteljährlich 1/3 Thaler.

Die Landwirthschaftliche Dorfzeitung erscheint jede Woche in einem ganzen Bogen größtes Octav auf feinstem Velinpapier mit vielen Abbildungen. Sie enthält größtentheils Originalmittheilungen über alle Zweige der Land- und Hauswirthschaft, der landwirtschaftlichen Gewerbe and Naturwissenschaften, Aufsätze belehrend-unterhaltenden Inhalts; Recensionen neu erschienener landwirthschaftlicher Schriften, eine sorgfältige Auswahl land- und hauswirthschaftlicher Neuigkeiten, ein sehr mannigfaltiges und interessantes Feuilleton und die Productenpreise. Die Landwirthschaftliche Dorfzeitung ist bei ihrer großen Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit, bei ihrer glänzenden äußern Ausstattung und ihren zahlreichen Abbildungen die wohlfeilste landwirthschaftliche Zeitschrift, die sich selbst der weniger bemittelte Landwirth halten kann. Auch für Frauen bietet die landwirthschaftliche Dorfzeitung größtes Interesse.


Zur Beachtung!
Wiederholt ersuchen wir die Herren Mitarbeiter der Gartenlaube, alle Beiträge direkt an den Verleger, Hrn. Ernst Keil in Leipzig, einzusenden.
Die Redaktion der Gartenlaube. 

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. 1 Zoll-Centner = 100 Zoll-Pfund = 1071/36 leipz. Handelspfund = 50 Kilogramme. - 1 Zollpfund = 100 Hectas = 341/5 Lothgewicht. - 1 Hectas = 9/25 Loth, 1 Loth = 31/5 Hectas. - 1 Gramme = 1/4 Quart, 1 Killogramm = 1000 Gramme oder 21/6 Handelspfund; wonach sich die Zuthat auf 10 und 1 Portion leicht berechnen und umwandeln läßt.
  2. Der hierzu nöthige Apparat, Aufschlag etc. ist bei der Redaction der Gartenlaube zu erfahren.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: üher
  2. Vorlage: Contusion
  3. Vorlage: Horning Star