Die Gartenlaube (1860)/Heft 30

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[465]

No. 30. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Sigrid, das Fischermädchen.
Novelle von Theod. Mügge.
(Fortsetzung.)
6.

Am nächsten Morgen wurde Clas von seiner Mutter aufgerüttelt, und sie sprach zu ihm: „Du darfst nicht länger liegen. Herr Schiemann ist spät noch selbst hier gewesen, daß Du gleich in der Frühe bei ihm sein sollst.“

Clas sprang auf und rieb sich die Augen. „Gut,“ sagte er, „doch lange soll er mich nicht mehr so commandiren. Die Stelle soll er jetzt herausgeben und ein neu sechsrudrig Boot dazu; hab’ ich das, so will ich mein eigener Herr sein.“

„Der ist so hart wie ein Stein,“ sagte Grete. „Versprechen thun die Herrn viel, aber halten ist nicht ihre Sache.“

Clas lachte. „Ich will ihn schon kriegen!“ antwortete er. „Hab ich erst Haus und Boot, so sagt Gullik auch nicht Nein, und Sigrid ist’s zufrieden.“

„Hör’ an,“ sagte Grete, „ich will Dir was vertrauen. Die hat’s noch immer mit dem Thorkel, ich weiß es gewiß. Gestern Abend, da Du fort warst, schlich ich Dir nach, und wer stand an dem Fenster von Gullik’s Kammer? Der Lotterbub’ war es. Er sprang davon, aber ich kannte ihn doch.“

„Hat er mit Sigrid gesprochen?“ fragte Clas.

„Ich weiß es nicht. Ich ging darauf zu Gullik hinein, aber wußte nicht recht, ob ich’s ihm sagen sollte, was ich gesehen. Sigrid habe ich den ganzen Abend über gut bewacht und viel Schlechtes erzählt, was die Leute von Thorkel sagen.“

Clas lachte noch mehr. „Das hast Du nicht mehr nöthig,“ rief er, „hast es auch nicht nöthig, Sigrid zu bewachen. Laß sie nur an’s Fenster laufen und umhersuchen, sie wird ihn nimmer finden.“

„Warum wird er nicht zu finden sein?“ fragte Grete und machte große Augen.

„Nun!“ sagte Clas bedächtig, „ich meine nur so. Weil das Teufelsvieh, der Hund, fort ist, wird er auch fortbleiben.“

Grete grinste ihn an und sah falsch unter ihren grauen Haaren hervor; aber Clas legte seine feste Hand auf ihre Schulter und sprach an ihrem Ohre: „Schweig stille. Eher soll diese Hand verlahmen, ehe der wieder an Gullik’s Haus kommt. Darauf verlaß Dich und frag nicht mehr.“

So ging er hinaus, und Grete sah ihm vergnügt nach. Sie setzte sich an’s Feuer, und aus ihrer kleinen schwarzen Pfeife stiegen dicke Dampfwolken auf. Was hatte Clas gethan? Den stolzen Thorkel niedergelegt, daß er nimmer wiederaufstand? – „Recht! recht!“ kicherte sie, „so ist Friede im Hause, Clas. Es ist eine feine Stelle am Torsfjord, wirst gut da wohnen.“

Als Clas nach Molde kam, fand er, daß Herr Schiemann ihn schon erwartete und ziemlich ungeduldig war. „Warum kommst Du so spät?“ fuhr er ihn an. „Hast Du zu viel getrunken, daß Du nicht früher aufstehen konntest?“

Clas hatte große Lust, grob zu werden, allein er unterdrückte dieselbe. Die Wahrheit, was er in der Nacht gethan, mochte er auch nicht sagen, aber er sagte: „Nimm’s nicht übel, Herr, ich hatte noch spät einen weiten Gang abzumachen; hoffe wohl, daß Du damit zufrieden sein wirst.“

„So?“ sagte Schiemann und sah ihn an. „War’s etwa, um nach dem Landstreicher zu sehen?“

„Ei ja!“ versetzte Clas, „es könnte wohl so sein.“ Er riß den Mund weit auf, faßte in sein blaues Halstuch und kniff die Augen zusammen.

„Wo ist er denn?“ fragte der Kaufmann.

„Kann’s nicht sagen, Herr,“ grinste Clas, „meine jedoch, er ist fortgereist.“

„So?“ sagte Herr Schiemann noch einmal. Darauf setzte er hinzu: „Kommt er nicht wieder?“

„Nein, nein!“ sprach Clas, „ich glaub’s nicht. Er wird keinen Einspruch mehr thun wegen der Stelle, und das sechsrudrige Boot, das Du mir versprochen hast, kannst Du mir immer geben.“

„Du sollst es haben,“ sagte Herr Schiemann, „und auch die Stelle wird Dir nicht entgehen, Clas, sobald wir gewiß sind, daß der Landstreicher sich auch wirklich fortgemacht hat. Gut! gut!“ fuhr er fort, als er die Mienen seines Vertrauten betrachtete, „ich glaube Dir, Mann, wir wollen uns nicht weiter um den Schelm bekümmern. Aber Du sollst Hochzeit halten mit mir an einem Tage, und mein Geschenk sollen Stelle und Boot sein. Also hilf sorgen, daß es bald geschieht, und eben deswegen sollst Du heute nach Otteröe fahren.“

„Oho,“ rief Clas vergnügt über die erneuten Versprechungen, „nach Meldalsgaard, Herr?“

„Ja,“ sagte der Kaufmann. „Was Du im Garten des Pfarrers erhorcht hast, ist richtig. Ich habe dem guten Herrn Jöns kein Wort davon gesagt, er würde sich nur darüber betrüben und ärgern. Als ich aber gestern in’s Pfarrhaus kam, wen fand ich dort? Den alten Horngreb.“

„Die alte Nachteule!“ lachte Clas. „Kam er auf’s Bitten?“

„Er ist ein Spitzbube!“ sagte Schiemann. „Er saß wie ein Heiliger bei dem Pfarrer und hatte ihn ausgefragt, ob er nichts von seinem jungen Herrn gehört habe. Da aber Herr Jöns antwortete, was er vernommen, auch fallen ließ, daß es zum Verkauf [466] des Guts kommen werde, hatte er feierlich versichert, es sei Alles falsch und erlogen. Nimmer werde auch der alte Familiensitz in andere Hände gelangen, möchten diese so gierig darnach sein, wie sie wollten.“

„Ich habe den alten Kerl schon weinen sehen, wenn er davon sprach,“ fiel Clas spottend ein.

„Höre an,“ fuhr Schiemann fort, „ich glaube noch mehr. Der Pfarrer hat auf solch Geplapper nichts gegeben, doch sicher hat es die Jungfrau Else besser angenommen, oder Horngreb hat noch besonders mit ihr gesprochen. Ich weiß es nicht, allein ich zweifle nicht daran, denn ich sah es an ihrem Gesicht und an Allem was sie that. – Und ich will nun wissen,“ fuhr er fort, indem er sich vor Clas stellte, „was der alte Kerl im Sinne hat. Du sollst hinüber fahren und ihn besuchen, sollst ihn ausforschen und mir dann Nachricht bringen. Ich will Nachmittag wieder zu dem Pfarrer, komm dann zum Pfarrhaus herauf und erwarte mich. Um neun Uhr will ich nach Haus, dann sage mir Alles was Du erfahren konntest.“

Er gab ihm noch mehrere Anweisungen, und nach einer Stunde fuhr Clas durch den Sund von Reknös nach Otteröe, das sich quer vor die Mündung des Fjord legt. Das Wetter hatte sich aufgehellt, und die grüne hohe Insel war wolkenklar und glänzte von Sonnenlicht. Wo die Westküste sich umbiegt, sprang eine breite Bucht ein, und in der südlichen Ecke lag dort ein großer Hof, der weit über Land und See schaute. Das Klima ist auf allen diesen Inseln weit milder, als auf dem Festlande; Clas schaute die grünen umbuschten Höhen und sanftfallenden Thäler wohlgefällig an und sagte: „Da liegts, als wär’s ein Königssitz; es kann keiner einen besseren in ganz Norge haben. Da kommt der Bach herunter und friert niemals, der Wald steht zu beiden Seiten, Schnee liegt nirgend hier fest, sie können das Vieh fast das ganze Jahr über im Freien halten, es findet sein Futter. Hei! hätt’ ich’s, kein verdammter Krämer in Molde sollt’ es mir nehmen; aber das vornehme Volk taugt auch nichts, und diesem Meldal, der mit dem Lump, dem –“ er blieb stehen und sprach nicht weiter. An einem Fenster im Hause, dem er sich zugekehrt, war ein Gesicht erschienen und gleich wieder verschwunden. Clas hatte es nicht erkannt, aber es fiel ihm Jemand dabei ein, daß ein Schauder ihm über den Leib lief. Im Augenblick darauf jedoch lachte er, denn da stand es wieder an derselben Stelle und kein ander Gesicht war es, als das des alten Horngreb, das ihn groß ansah.

„Wer soll’s auch anders sein, als die alte Eule!“ murmelte Clas, nickte ihm zu, trat in’s Haus und sogleich auch in die Stube. „Gottes Frieden!“ sagte er. „Du erlaubst es doch, daß ich vorspreche?“

„Setz Dich, wenn Du willst,“ antwortete der alte Mann.

„Ich war in Ageröe,“ fuhr Clas fort. „Es geht gut mit dem Hering, ist frischer Fang.“

„Wir können es brauchen,“ erwiderte der Verwalter.

Clas sah auf den Tisch. Da stand eine Schüssel mit Flachbrod, eine andere mit Butter und geräuchertem Fleisch, auch eine Flasche und Gläser. „Hast Du Gäste gehabt?“ fragte er.

Der Alte sagte trinkend „ja,“ nahm dann die Flasche, schenkte ihm ein Glas Branntwein ein und schob es ihm hin. Clas blickte ihn scharf an und in der Stube umher. Diese war geräumig, die Wände auch mit Tapeten bekleidet, doch zerrissen und verräuchert, die Geräthe alt und verbraucht, das Rohrgeflecht in den schweren Birkenstühlen zerlöchert. Der Verwalter blickte mürrisch unter seinen breiten, ergrauten Augenbrauen hervor. Er hatte einen ehrwürdigen, greisen Kopf. Seine langen grauen Haare, nach hinten gekämmt, ließen die hohe Stirn frei; das ganze Gesicht war voll Falten, und es kam Clas vor, als hätten sich diese vermehrt, der Alte sähe noch trauriger und kummervoller aus, als es sonst schon der Fall war. „Na,“ sagte er, und hob das Glas auf, „Du sollst leben, Vater Olaf! Warum siehst Du so verdrießlich aus?“

„Es macht wohl, weil ich Dich sehe,“ antwortete der alte Mann und blickte finster auf.

„Ei,“ lachte Clas, „was willst Du von mir? Ich bin Dein guter Freund.“

„Behalte Deine Freundschaft!“ sagte Horngreb.

„Sei doch nicht so böse!“ rief Clas und schenkte sich ein neues Glas ein. „Komm, setz Dich her, das ist ein guter Trank. Der Schwarze soll mich holen, wenn ich es nicht gut meine und Dir guten Rath geben will. Willst Du ihn hören?“

„Sprich,“ erwiderte Horngreb und setzte sich.

„Ist’s wahr,“ fragte Clas, „daß Dein Lieutenant mit einem Frauenzimmer fortgelaufen ist, Niemand weiß wohin?“ und schob ein ungeheures Stück Flachbrod zwischen seine Zähne, die es krachend zermalmten.

Horngreb stützte den Kopf in seine Hand; es war Clas, als hörte er lachen. „Lachst Du?“ fragte er und sah sich um.

„Was weißt Du davon?“ rief der Alte und fuhr auf. „Mach Dich fort!“

„Sachte, sachte!“ sprach Clas bedächtig, „ich meine es gut. Heiß mich nicht gehen. Bald wirst Du selbst gehen müssen, wenn Du nicht klug bist. Meldal’s Hof kommt zum Verkauf, die Klage liegt fertig beim Landrichter, Herr Schiemann hat fast alle Schuldbriefe angekauft. Es wird nicht Winter werden, so ist der Gaard sein Eigenthum.“

„So schnell wird’s nicht damit gehen,“ brummte der Alte und schlug seine Augen nieder.

„Ja, ja!“ rief Clas, „aber es soll Dir nichts schaden, wenn Du willst. Ich will’s machen, daß Schiemann Dich in seinen Dienst nimmt. Gefällt es Dir?“

Es trat ein Schweigen ein, bis Horngreb endlich langsam sagte: „Warum nicht? Wenn er Herr hier wird, will ich sein Diener sein.“

„Das ist ein Wort!“ rief Clas, „Du kannst Dich darauf verlassen. Er kann Dich brauchen und wird gut bezahlen, wenn Du treu bist.“

„Das will ich sein,“ sprach der alte Mann.

„So komm nach Molde und sprich selbst mit ihm, er wird es gerne sehen und Dich gut aufnehmen. Weißt Du nichts von dem Erik Meldal? Hat er nicht an Dich geschrieben?“

Horngreb schüttelte den Kopf.

„Warum gingst Du gestern zu dem Pastor?“

Der Alte schwieg stille, endlich sprach er mit seiner harten Stimme: „Niemand will von ihm wissen, auch die nicht, die sonst thaten, als sollte ihre Liebe von Ewigkeit sein.“

„Oho,“ lachte Clas höhnisch auf. „Sie haben Dich nicht gut aufgenommen, wie ich merke; das geht so her in der Welt und steht schon in der Bibel: Wer da hat, dem wird gegeben. Das ist ein feiner Spruch, alter Olaf. Hat Schiemann Meldal’s Hof, so hat er auch die Jungfrau Else, und habe ich die Stelle am Torsfjord, so hab’ ich auch die Sigrid.“

„Meinst Du wirklich, daß es so kommt?“ fragte Horngreb.

„So gewiß wir Beide hier sitzen!“ schrie Clas mit einem neuen vollen Glase. „Wir machen an einem Tage Hochzeit, und Du mußt dabei sein. Hurrah hoch!“ Indem er dies schrie und trank, hörte er wieder ein Lachen, so laut als lachten ihrer mehrere hinter und vor ihm, und da er erstaunt absetzte, sah er daß Horngreb noch beim Lachen war.

„Ja, ja!“ rief der Verwalter, „wenn Else und Sigrid zur Kirche gehen, will ich nicht fehlen. Darauf stoß ich mit Dir an, Clas Gorud; doch habe ich immer gemeint, daß Thorkel Ingolf sich die Sigrid nicht nehmen lassen würde.“

„Weißt Du was?“ begann Clas mit boshaften Augen. „Er soll sie haben, wenn Erik die Else bekommt. Meinst Du nicht?“

„Das mein’ ich!“ rief der Alte, und sie lachten Beide und nickten sich zu, als wären sie einverstanden. Darauf rückte Clas noch näher und schrie: „Der Eine paßte immer zum Anderen, darum sollen sie beisammen bleiben; wir aber wollen gute Freunde sein und wollen zusammenhalten und einander beistehen.“

Nach einer halben Stunde schien ihr Bündniß abgeschlossen und dem Clas gewiß, daß der Verwalter Alles thun würde, was man von ihm verlangte. Daß er von Erik Meldal nichts wußte und nichts hoffte, hatte er ihm wiederholt, auch daß er dem Herrn Schiemann dienen würde, wenn dieser ihn haben wollte. Zuletzt noch sagte er: „Gleich kann ich nicht nach Molde kommen, aber bald soll’s geschehen, und wenn Herr Schiemann mich dann nehmen will, kann er mich bekommen. Das aber möchte ich ihm gleich rathen und auch Dir rathen, Clas: wartet nicht länger mehr, er bei den, Pastor, Du bei Gullik. Sie sind euch Beiden gewogen, ich weiß es, und der ist ein Narr, der Fluth und Wind verpaßt, denn Niemand weiß, wann sie wiederkommen.“

„Meiner Seele!“ rief Elas erfreut, „das ist ein guter Rath. Daran sehe ich, daß Du es ehrlich meinst, auch Herr Schiemann wird es erkennen. Heute noch soll er wissen, wie Du gesinnt bist, und jetzt noch ein Glas, dann lebe wohl, Olaf Horngreb, es soll Dir nicht leid thun, daß ich bei Dir war.“

[467] „Nein, nein!“ versetzte der Verwalter, „ich hoffe auch, Du sollst mit mir zufrieden sein.“

So schieden sie in bester Freundschaft; als Clas sich aber von dem Hause entfernte, hörte er drinnen wieder das Gelächter und mußte mit lachen. „Wart, Du alter dummer Kerl,“ sagte er, „Dir wird das Lachen bald vergehen. Ist Alles abgethan, wirft Schiemann Dich doch hinaus, und wenn Einer hier Meier sein soll, so will ich es sein und kein Anderer.“

Clas blieb in froher Laune, besuchte noch ein paar Bekannte, that groß mit seinen Aussichten und seinem Ansehen bei dem reichen Kaufmann und kam zurück, als der Abend schon dämmerte. Er hatte noch manches Glas getrunken, und als er in seinem Boote an Gulliks Haus hinfuhr, sah er Sigrid vor der Thür sitzen.

„Heida!“ schrie er hinaus, „geht’s Dir gut, Sigrid?“

„Es geht gut,“ nickte sie und lachte.

„Soll ich zu Dir kommen?“ fragte er.

„So komm!“ rief sie hinab.

Gleich war er oben, und da saß sie wieder bei einem Netze.

„Nun mußt Du den Knäuel fortwerfen und mit mir sprechen, klein Sigrid,“ sagte er, „ich habe Dir viel zu erzählen.“

„Was ist es, Clas?“ fragte sie.

„Ei, Du Wetterding!“ schrie er, „thust Du, als wüßtest Du es nicht? Bin ich nicht Clas Gorud? Gleich komm her und rück nicht fort. Sieh dort nach dem Torsfjord hin, da sollst Du wohnen. Binnen vier Wochen ist Alles dort mein und Du auch.“

„Schrei nicht so,“ sagte Sigrid. „Mein Bruder ist eingeschlafen, es geht heut um vieles besser. Aber er könnte aufwachen.“

„Laß ihn,“ sprach Clas, „ich hab’s mit Dir zu thun. Ein sechsrudrig Boot wird dort liegen, andere dazu, und wer weiß, was dann weiter geschieht in kurzer Zeit. Wer weiß, ob’s nicht besser ist, Verwalter in Meldalsgaard zu sein. Was sagst Du dazu?“

„Mir gefällt es,“ antwortete Sigrid.

„Und möchtest mich gleich heirathen? Wie?“

„Ich möchte wohl, Clas,“ sagte sie, ihre Augen lustig aufschlagend, „aber –“

„Was hast Du?“

„Ich fürchte mich.“

„Wovor?“

„Hast Du nicht gehört, was Thorkel gesagt hat?“

„Thorkel? haha!“ lachte er gewaltsam auf. „Verdammt soll er sein und sagen – sagen – was war’s?“

„Der Seehund würde Dich fressen!“

„Mich nicht, sei sicher, doch ihn – ihn! Komm her, klein Sigrid, ich laß Dich nicht.“

Da schnarchte und schnaufte es unter dem Netze, und ein mächtiger grauer Kopf klappte seine weißen Zahnreihen auf. Mit einem Satze stand Clas drei Schritte weit, stier blickend mit weit aufgerissenen Augen und sprachlos. Aber Sigrid drückte ihre Hände in die Seiten, verbarg ihr Lachen und rief, als seufzte sie vor Kummer: „Ich sagte es ja, Clas, warum hörst Du nicht? Er frißt Dich auf, also kann es nicht sein.“ Indem sie dies sagte, stieg ihr Vater die Steine vom Ufer herauf; eben war er in seiner Jolle dort gelandet. Er sah den Hund und sah Clas, blickte finster auf Beide, darauf seine Tochter an.

„Wo kommt der Hund her?“ fragte er rauh. „Da ich heute früh abfuhr, war er nicht da.“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Sigrid, „doch als ich aus der Thür trat, da Du fortwarst, lag er auf der Schwelle naß im Sonnenschein.“

In des Fischers Gesicht rührte sich keine Miene. „Geh hinein,“ sagte er zu Sigrid und wandte langsam den Kopf. Darauf, als die Thür geschlossen, sprach er zu Clas: „Wohin hattest Du ihn gebracht?“

„So wahr mir Gott helfe!“ versetzte Clas, „ich brachte ihn in den Langfjord und – und – wenn’s kein höllischer Teufel ist, so weiß ich nicht, wie er zurückkommen konnte.“

Gullik Hansen drehte sich um, ging in sein Haus und warf die Thüre zu. Ein paar Minuten stand Clas unentschlossen, seine Augen hefteten sich auf den Hund, der ihn unverwandt ansah, und jetzt fiel ihm Alles ein; er konnte es nicht fassen. Mit scheuen Blicken sah er sich um, des Hundes Kopf schien immer größer und dicker, die Augen immer feuriger zu werden. Rasch sprang er hinab und eilte schnell davon.

Als es aber finster geworden war, kam die alte Grete und ging in Gulliks Haus. Sie setzte sich an des Fischers Heerd und sprach mit ihm. Er war noch kummervoller: der Fang war wieder schlecht gewesen, er hatte seine Boote draußen gelassen mit seinen Männern in der Bucht von Ageröe und kehrte in der Jolle allein zurück, vielleicht, daß es ohne ihn sich besserte. Der Knabe aber, mit dem’s am Tage besser gegangen, lag nun wieder im Fieber und in Betäubung. Er hatte ihn nicht gekannt, sondern sprach irre.

„Weil der Neck und der Fluch nicht von Dir lassen wollen,“ sagte Grete, „sonst wär’s anders; weil sie den Hund Dir in’s Haus zurückgeschickt haben, liegt der Junge im Krampf. Ehe Du den Hund nicht los bist, kommt nichts Gutes. Jetzt mußt Du ihn selbst fortschaffen, gleich morgen, noch ehe es hell wird. Fahre mit ihm hinaus nach Haröe’s Klippe Onen. Da gibts tiefe Löcher zwischen den Felsen, das sind Hexenlöcher, darin wohnen die Meertrollen. Dort hinein wirf ihn; darin muß er umkommen. Hörst Du?“

„Ich hör’s,“ murmelte Gullik.

„Noch Eines,“ sagte Grete und faßte ihn beim Arm, „darauf merke. Ehe Du ihn hinabstößt, nimm Dein Messer und stich ihm die Augen aus.“

„Nein, nein,“ schüttelte sich der harte Mann, „das kann nicht sein.

„Es muß sein,“ sprach Grete, „sonst kommst Du nicht frei, und Anders –“ In dem Augenblick drang aus der Kammer ein Schrei, und der bekümmerte Vater sprang auf und ging hinein. Grete schaute ihm nach und rief: „Mach’ Dein Messer scharf, sonst ist es vorbei mit ihm.“

Um die neunte Stunde stieg Clas zu dem Pfarrhofe hinauf und blieb seitwärts stehen, wo nach der Kirche hin mächtige Steine lagen. Dort setzte er sich nieder, knöpfte seine Jacke dicht zu, zog den Kragen über die Ohren und steckte die Hände in die Taschen, denn es war kalt geworden. Ein feiner, feuchter Nebel, durch den doch einzelne Sterne glänzten, wurde vom Wasser herauf in die Luft getrieben. Clas saß still und wartete. Er sah hinab nach Gulliks Haus und konnte das Licht darin erkennen. Dabei dachte er an Sigrid, und ein grimmiges Lachen lief durch sein Gesicht. „Ich will Dich doch haben,“ murmelte er, „und dann will ich Dich demüthig und folgsam machen.“ Dann fiel ihm wieder der Hund ein; er hatte seiner Mutter Grete, erschrocken wie er war, Alles erzählt, aber sie hatte ihn getröstet. Das Band am Sack mußte aufgegangen sein, vielleicht war auch keines darum geknüpft gewesen, Clas wußte es nicht. Da das Vieh in der Tiefe lag, hatte es sich befreit; Seehunde können lange unter Wasser bleiben. So war er entkommen und fand den Weg zurück. Aber von Thorkel wußte Niemand, der war verschwunden. Grete hatte eben von einem Nachbar vernommen, daß eine Fischerjolle aufgefunden wurde, auf den Steinen von Vedöen, halb voll Wasser. Morgen würde es Sigrid auch wohl erfahren und mehr dazu, daß Thorkel die Jolle geliehen, und dann – Clas stemmte seine Arme auf seine Kniee und lachte boshaft in seine Hände. „Was geht es mich an?“ sagte er, „mag sie weinen, wenn sie will; sie wird schon aufhören, und dann ist der Schandbube vergessen.“

In dem Augenblick schreckte er auf. Ein dunkler Schatten glitt an dem Pfarrhause hin. Er kam vom Garten her; wo es in die Tiefe hinunter ging, war er verschwunden. Clas hatte Schritte gehört und anfangs gemeint, es sei Herr Schiemann, dann aber wußte er nicht, was wahr oder falsch sei. Es brauste in seinem Kopfe wie ein Donner, um ihn her schwebten schreckliche Gesichter. Er sah eines, blaß und naß, langer Seetang hing daran nieder, darunter weit offene stiere Augen. Er konnte sich nicht bewegen, obwohl es ihm immer näher kam, immer schrecklicher wurde. Da ging die Thür im Pfarrhause auf, und ein heller Lichtschein flog über den Platz, gerade auf Clas, fort waren die Gespenster.

„Gute Nacht, bester Freund! Träumt recht viel Schönes, Jungfrau Else, und morgen erzählt es mir, ich verstehe mich auf die Auslegekunst!“ rief Herr Schiemann an der Thür und nahm dort Abschied.

Und Clas rieb sich die Augen, reckte seine mächtigen Schultern, ballte die Fäuste und sprach: „Das ist Alles Quark, meine Mutter hat Recht. Wer todt ist, kommt nicht wieder. Neckt’s mich noch einmal, so schlag ich’s in den Grund.“

„Bist Du da, Clas?“ fragte Herr Schiemann.

„Ja, Herr,“ antwortete dieser.

„Bringst mir gute Nachricht?“

[468] „Steht Alles gut, Herr.“

„Nun, so komm und fahr mich über,“ lachte der Kaufmann, „mit mir steht es auch gut. Ich glaube, Du wirst nächstens in dem neuen Boote am Torsfjord sitzen.“




7.

Als der Morgen dämmerte, stieg Gullik Hansen in sein kleines Fahrzeug und stieß rasch vom Ufer ab. Nur einmal warf er die Augen nach seinem Hause hinauf und zog sie scheu zurück, sah nach vorn hin, wo unter der Ruderducht wiederum ein Sack lag und darüber sein dicker Friesrock. Dann setzte er die Segelstange ein und blickte nach den Trolltinden hinauf. Von dort her kam der Windzug. Nachdem er die Leinen geordnet und den Kloben in den Haken gehängt, ließ er das Segel ausrollen und griff nach den Schoten. Die Jolle lief leise in den Canal von Otteröe, sie lief mit der Ebbe mehr als mit der schwachen Luftbewegung. Grämlich vor sich niederschauend, saß Gullik lange Zeit, denn es war ihm schwer ums Herz; ein schlimmer Gang, den er vorhatte.

Mitten im Canal frischte der Wind ein wenig auf, das Boot zog rascher an der Insel Mien vorbei, dann lag breites Wasser vor ihm, jenseit eine lange Kette niederer Felseilande, die einen granitnen Wall gegen die brandenden Wogen des atlantischen Meeres bilden. Die Nebel flogen hier rasch in grauen langflatternden Streifen und Fetzen über das Wasserbecken. Der Wind trieb sie vor sich her ins Meer hinaus, aber über der langen Felsenlinie hingen sie schwer und dunkel und bildeten eine düstere Bank, aus welcher da und dort ein kahler, schwarzer Kopf aufragte. Zur Linken hoch am Himmel lagen die Trolltinden im hellen Sonnenschein; das Tagesgestirn kam leuchtend über dem weißen Doppelkegel des Romsdalshorns hervor und überfunkelte den ganzen Kranz der Hochlandsgipfel mit seinen Strahlen.

Wenn Gullik Hansens Herz nicht so beschwert gewesen, hätte er sich wohl an diesem edlen Gottesmorgen freuen mögen. Da er weiter hinauskam, glänzte die Sonne auch warm über ihm und sein Boot und spielte mit den kleinen hüpfenden Wellen, die zu glitzern und zu flüstern und zu lachen begannen. Fische sprangen auf und zeigten ihre silbernen Seiten. Die Möven und die Meerschwalben schrien über ihm und schwirrten freudig um seinen Mast; schwarze Alken mit rothen Kämmen saßen auf den Klippen, schlugen mit ihren Flügeln und sonnten sich; alle Thiere empfanden neues Leben, das Wetter wurde besser – da fiel des Fischers Blick auf den Sack unter seinem Rock, der bewegte sich auch und schob sich zur Seite – er wandte seinen Kopf schnell davon fort und sah nach Otteröe hin, um nichts mehr von dem Sack zu sehen.

Die Insel hat hohe Küsten, und wo die Meldalsbucht sich öffnet, sprang ein Vorgebirge scharf in die See hinaus. Dort standen zwei Männer und schauten auf die Jolle, die ihren Weg quer über nach Sondöe nahm. Die Entfernung war schon weit, Gullik konnte die Leute nicht erkennen, aber er meinte, daß der Eine davon der alte Horngreb sein müsse; der Andere schien ihm jung und groß und trug einen Mantel, den der Wind flattern ließ. Ueber Gullik kam ein Gedanke, bei dem er seine Augen noch mehr anstrengte, aber er schüttelte endlich doch den Kopf. Er kannte den jungen Erik Meldal gut genug, seinen Vater hatte er noch besser gekannt. Es war ein wackerer Herr gewesen, niedere Leute hatten ihn immer gern gehabt, und Gullik dachte mit Kummer daran, wie das alte Geschlecht herunter gekommen sei und nun sein Gut dem reichen Herrn in Molde zufallen sollte. Das war ein harter, schlauer Handelsmann, freilich klug und niemals ein Verschwender. Es mochte ihn keiner gern, aber er konnte commandiren, denn jeder fürchtete ihn, und in Molde machten es ihm die anderen Herren nach, er gab den Ton an. In den alten Familien war ein großmüthig Wesen: mochten manche auch stolz und hochfahrend sein, so saugten sie doch arme Leute nicht aus, wie die Handelsherrn. Diese drängten und zwackten, suchten nur ihre Vortheile, und jemehr sie zur Herrschaft gelangten mit ihren Speculationen, Landkäufen und Waldkäufen, um so geringer wurden die Verdienste der Fischer und Arbeiter.

Gullik Hansen fühlte daher bei seiner Vorstellung über den Fremden dort oben den Wunsch, daß es Erik Meldal sein möchte; aber wo sollte der herkommen, und wenn er es wäre, was konnte es helfen? Das Gut war doch einmal schwer verschuldet, die Schuldbriefe hatte Herr Schiemann: wo sollten Mittel herkommen, die zu bezahlen? Dann dachte Gullik daran, was Clas Gorud ihm erzählt, was dem bevorstand und was ihm selbst durch Clas und dessen Freundschaft an Vortheilen zuwachsen sollte. Da fiel ihm sein ganzer Kummer wieder ein. Es fiel ihm Sigrid ein und der liederliche, falsche Thorkel, von dem er wohl früher gedacht, er sollte sein Mädchen haben, sie sollten ein Paar werden. Aber Thorkel hatte über seinen Vater Schande und Tod gebracht, und der Erbe von Meldal war nicht besser denn er. Und Anders lag krank auf den Tod, und in dem Seehund steckte ein Hexenfluch, der ihn unglücklich machen sollte. Der Knabe war munter gewesen lange Zeit, doch so wie er Thorkel von seiner Thür gewiesen, so wie dieser gerufen: „Mag es Dich nie gereuen!“ war das Unglück gekommen.

Anfangs wohl hatte der Fischer gezweifelt, ob Thorkel es ihm angethan, aber nach und nach wurde der Aberglaube mächtiger. Es gab Zaubersprüche und böse Menschen, die solche Künste verstanden. Thorkel hatte in seiner Sache sich an solche gewandt oder kannte solchen Bannfluch, und die alte Grete verstand sich darauf. Sie wußte, daß der Hund aus dem Hause müsse, der Hund, der Thorkels Geschenk war, den der Knabe liebte und Sigrid. Und wäre der Teufel nicht dabei gewesen, wie konnte das Thier den Weg ins Haus zurückfinden? Darin mußte es doch stecken. Der Hund mußte fort, es mußte so geschehen, wie Grete es geboten, und indem er grimmig auf den beweglichen Sack schaute, preßte er seine Zähne zusammen und sagte mit Festigkeit: „So soll es sein und nicht anders. Wenn das Kind gesund wird, soll Sigrid Clas heirathen. Habe wohl nimmer gedacht, diesen zum Schwiegersohn zu nehmen, aber er ist ehrlich, und wenn er die Stelle am Torsfjord hat und ein sechsrudrig Boot, ist nichts mehr zu sagen. Er kann mir auch Vortheile verschaffen bei dem Herrn Schiemann, was aber kann ein solcher Landläufer, wie der, den ich mit Recht aus dem Hause warf?“

Nach dieser Rechtfertigung lockerte Gullik sein Segel, denn der Wind wurde stärker und blies mehr nördlich. Das Boot flog jetzt rasch auf die Felsen von Sondöe los und dann daran vorüber in’s Meer hinein, wo ganz außen noch eine hohe Klippe aus dem Wasser ragte: das war Onen, wohin Gullik wollte. Nach beiden Seiten in der Ferne gab es schwarze Punkte auf den Wellen, das waren Fischerboote, die dort ihren Fang trieben, aber Gullik lief mit seinem Fahrzeug in einen kleinen Einschnitt am Felsen, deren es viele gab, und dann sprang er auf die Steine, zog die Jolle weit hinauf, ergriff den Sack und trug und schleppte ihn mit Mühe bis auf die Höhe der Klippe.

(Schluß folgt.)




Deutsche Bilder.
Nr. 4.
Schill und seine Reiterzüge.
Von Schmidt-Weißenfels.

Man kennt die traurige Geschichte von Jena und Auerstädt, die Geschichte des Zusammenbruchs von Friedrich des Großen Monarchie; man kennt diese wohlthätige Bluttaufe des preußischen Staats, wenn man auch heute noch immer nichts daraus gelernt hat. Der alte Tick machte damals bitteres Fiasco, die alte Gottesgnädiglichkeit ward sehr prosaisch heimgesucht, die großen Herren mit ihren großen Worten zogen kleinlaut, oftmals feige wie ehrlose Buben von dannen. Das erste Beispiel hundsföttischer Gesinnung gab Erfurt, und nur zu bald folgten ihm die meisten anderen Festungen Preußens mit ihren alten Commandanten. Spandau ergab sich, Küstrin ergab sich, Stettin öffnete einer Schwadron Franzosen – am 29. Oktober 1806, vierzehn Tage nach der Jenaer Schlacht – die Thore, Magdeburg, die Erzfestung, capitulirte, Glogau capitulirte, Breslau capitulirte, Brieg und das feste Schweidnitz capitulirten – kaum daß man hier und da nur den ernstlichen Versuch eines Widerstandes gemacht, nirgends, wo

[469]

Schill’s Heldentod in Stralsund.

[470] ein echter Heldenmuth dem Feinde Achtung eingeflößt hätte. „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“; diese berüchtigte Mahnung des Berliner Commandanten fand ihre Seitenstücke: die großen Herren glaubten damals noch, sie wären die wahre Vorsehung und das Volk verstände gar nichts, hätte sich gar nicht darum zu kümmern, was um es und mit ihm geschehe.

So war’s auch in Colberg, der alten pommerschen Festung. Da commandirte der alte Oberst Lucadou, ein griesgrämiger Officier aus des großen Fritz Schule, gewissenhaft bis zur Pedanterie, ein echter Exercirgeneral, aber ohne Energie und Kenntniß der Bedeutung der geschehenen Ereignisse. Kamen die Franzosen vor seinen Platz, so wollte er schon mit ihnen die Sache ausmachen, darum brauchte sich die Bürgerschaft nicht zu beunruhigen, sie hatte sich gefallen zu lassen, was der Herr Oberst bestimmen würde. Ja, da kam er bei den Colbergern schlecht an! Die hatten den alten verwetterten, kreuzfesten Nettelbeck an ihrer Spitze, und der hatte ihnen den Standpunkt klar gemacht. Die Bürger sollten sich bewaffnen, die Schanzen wieder in Stand setzen, sie im Nothfall mit vertheidigen, so verlange es die Noth und die Ehre von Colberg; worauf Herr von Lucadou gar grimmig die ehrbaren Bürger anschnauzte und sie daran ermahnte, daß Ruhe ihre erste Pflicht sei. Er sei dazu da, hier in Colberg zu commandiren, und er wisse, was er zu thun habe; die Bürger möchten bei ihrer Pfeife Tabak bleiben und sich um seine Angelegenheiten nicht scheeren.

Brummig und mit langen Nasen gingen sie ab; nur Nettelbeck ließ sich nicht einschüchtern und organisirte auf seine Hand die Vertheidigung der Festung, so viel Lucadou auch wettern und fluchen mochte. Der Lieutenant von Schill bestärkte sie in ihrem Vorhaben getreulich; er hatte auch ganz andere Begriffe, als sein Herr Oberst, und kümmerte sich schier wenig um ihn. Es war ein schmucker, prächtiger Dragonerofficier, der bei Auerstädt tapfer gefochten und, der Gefangenschaft glücklich entronnen, in Colberg eine Zuflucht gefunden hatte. Ihn liebte Alt und Jung, denn er war ritterlich von außen und von innen und ein ganz eigenthümlicher Geist, der nicht in die Schablone der damals gang und gäben Officierstournüre paßte. Lucadou hatte ihn schon längst auf dem Strich, denn Schill spielte den Lieutenant auf eigene Rechnung. Mit etlichen seiner Reiter pflegte er die Colberger Umgegend zu durchstreifen, oft weithinaus in’s Land, entführte bedrohte Cassen, Pferde, Waffen, trieb den Franzosen Transporte von Schlachtvieh ab, und kamen ihm hin und wieder kleine Streifcorps von Franzosen in den Weg, so hieb er muthig drein und sie fast immer gehörig zusammen. Patriot durch und durch und ein phantastischer Kopf dabei, lockte ihn die Gefahr und Kühnheit solcher Handstreiche zu Unternehmungen, aus denen ihn oft nur sein Muth und seine Geistesgegenwart retteten. Schon manches Mal war er deshalb hart mit Oberst Lucadou, den diese Streifzüge ohne seinen Auftrag erbittert hatten, zusammengerathen; aber Schill, eigensinnig und von seinem Geist erfüllt, war nach wie vor in’s Land gezogen mit seinen zwei, drei Dutzend Reitern und hatte seine Thaten verübt. Da schickte ihn denn eines Tages Lucadou in Arrest. Nun aber stieg’s den ehrsamen Bürgern zu Kopfe. Ihnen war Schill der echte rechte Soldat, dessen wagnißvoller Muth dem ihrigen mehr entsprach, als die mattherzige Superklugheit Lucadou’s. Sie liebten ihn, wie Jeder denn bald das Kühne und Hochherzige liebt; sie rückten, der stramme Schiffscapitain Nettelbeck vorauf, dem Commandanten auf’s Quartier, und der mußte wohl oder übel den Lieutenant Schill wieder frei lassen.

Es war ein Triumph für den kühnen Reitersmann und spornte seinen Ehrgeiz und damit seine Verwegenheit bedeutend an. Es zog sein Name ruhmvoll durch das Land; Freiwillige kamen und schlossen sich ihm an, und er streifte mit ihnen umher, verübte mit ihnen Thaten, welche durch ihren tollen Heroismus so unendlich gegen die Schlaffheit der preußischen Kriegführung im Ganzen abstachen. In der Nacht vom 7. zum 8. Decbr. überfiel er z. B. mit zehn Reitern und ebensoviel Infanteristen eine fünfzig Mann starke Colonne und nahm ihr Gepäck, ihre Waffen und Vorräthe weg. So etwas zündete überall, wohin die Kunde drang, neuen Muth und neues Leben; solche unerschrockene Männer – ach, hätte man nur deren in den Festungen gehabt, anstatt der alten Officiere mit ihrer souverainen Verachtung alles dessen, was keinen bunten Rock trug! Hätte man deren nur mehr an der Spitze gefunden, als es mit dem Kriege begann!

Und trotzdem, daß an Rettung kaum noch zu denken war – denn die preußische Armee war theils kriegsgefangen, theils versprengt – richtete sich an diesem einzelnen kühnen Parteigänger doch momentan die Hoffnung der Besseren auf. Noch waren ja die Russen da, um Napoleon zu bekämpfen; noch sammelte man ja in Preußen die Rudera der Armee – wenn man einen Mann von solchem Glück und solcher Kühnheit wie Ferdinand von Schill unterstützte, wie leicht, daß sich dann das Blatt noch wendete! Und so zogen die Tapfersten und Abenteuerlustigsten nach Colberg, um unter Schill zu dienen, mit ihm Thaten zu vollbringen, die schon im Munde des ganzen Volkes lebten. Ja, am 12. Januar ermächtigte ihn eine königliche Cabinetsordre sogar, in Pommern ein Freicorps zu organisiren und nach Ermessen der Umstände und in Uebereinstimmung mit der Commandantur zur Deckung des Landes mitzuwirken. Man kann sich denken, wie schwer dies den Obersten Lucadou ärgerte. Kopfschüttelnd, als begreife er nicht, welche Ideen man sich von solchen „zusammengelaufenen Haufen“ mache, ließ er zuletzt die Dinge, wie sie gingen; er ließ den Nettelbeck gewähren, so lange es nicht in der Festung geschah – denn da wollte er allein befehlen –, er ließ die Bürger nach Herzenslust vor den Wällen schanzen und Schill seine Züge unternehmen.

Gerade zu jener Zeit rückten die Franzosen in stärkeren Haufen nach Pommern, um auch hier tabula rasa zu machen und Colberg zu nehmen. Schill hatte wohl Leute genug, aber ihre Bewaffnung war schwer zu ermöglichen, besonders da Lucadou nicht eine Säbelklinge aus dem Colberger Arsenal herausgab. Man bekam zum Glück aus Stralsund Gewehre, Säbel, ein paar Kanonen, und den verschiedenen überfallenen Franzosencorps nahm man auch ein gut Theil Waffen ab. So war es Schill denn in merkwürdig kurzer Zeit gelungen, ein kleines Bataillon Infanterie, ein paar schwache Schwadronen, eine Jägercompagnie und etwas Artillerie zu formiren. Damit ging’s denn hinaus, drauf auf den Feind. Tagtäglich liefen Nachrichten von den tollen Thaten des Schill’schen Freicorps ein, manchmal freilich auch üble. So hatte Schill, von Verwegenheit geblendet, sich auf ein starkes Corps Franzosen bei Naugardt geworfen (17. Febr.) und war dort in sehr herber Weise zurückgeschlagen worden. Aber solche mißlungene Unternehmungen standen doch weit hinter dem Eindruck zurück, den die Kühnheit dieses Reitersmannes überall hervorgerufen, und wurden überdies nur zu bald und zu oft von glänzenden Erfolgen des Freicorps vergessen gemacht. Da sank keines Einzigen Muth, wenn’s einmal fehlschlug, und die Leute hingen mit unendlicher Liebe an ihrem Führer, der in Tapferkeit und Ausdauer mit seinen Officieren freilich das beste Beispiel gab. Wohin er befahl, da zog die lustige Schaar mit; durch’s Feuer liefen die Kerle, als seien sie gefeit, Schill selbst immer mit dem Säbel dazwischen, fechtend wie ein Löwe.

Ende Februar 1807 hatten die Franzosen Colberg umzingelt. Nun wußte Lucadou gar nicht, wie er sich zu benehmen hatte, und in Wirklichkeitleiteten Nettelbeck und Schill die Vertheidigung des Platzes. Lucadou wollte still abwarten, was die Franzosen unternehmen würden; Schill aber, der brennende Geist, der rückte fast allnächtlich über die äußersten Werke Colbergs hinaus und überfiel die als schwach erkannten Stellungen des Feindes. So bereitete er ihm, unterstützt von der Colberger Besatzung, am 21. März bittere Verluste, und am 12. April lieferte er ihm ein hitziges Gefecht, welches in eine vollständige Niederlage der Franzosen auslief. Es waren dies immerhin bedeutende Erfolge, insofern, als durch diese reichen Verluste die Franzosen abgehalten wurden, zu einer energischen Belagerung zu schreiten, der Muth und das Vertrauen der Colberger sich dadurch erhöhte und zwei Monate Zeit gewonnen ward, wodurch das Schicksal des Platzes sich entschied. Denn während Schill mit seinen Reitern, überdrüssig der Lucadou’schen Bedenken und Widerspenstigkeit, nach Schwedisch-Pommern aufbrach, um dort wirksamer aufzutreten, kam Gneisenau an Lucadou’s Stelle und setzte die Vertheidigung Colbergs mit einer Energie und Umsicht in’s Werk, welche seinen Namen weit berühmt machte. Mit unendlichem Heroismus hielt er die vom Mai ab energisch betriebene Belagerung aus; er und Nettelbeck waren Tag und Nacht auf den Beinen, mitten in dem furchtbaren Bombardement, welches das fast aller Vorwerke beraubte Colberg vom 1. Juli an zu erleiden hatte. Der endliche Untergang war unvermeidlich; da erschien, im höchsten Drange des Kampfes und der Noth, als der entscheidende Sturm schon vorbereitet war, ein preußischer Officier und brachte die Nachricht vom Waffenstillstande. Colberg [471] war gerettet, und die zwei Monate, während welcher Schill’s Heldenmuth die Franzosen beschäftigt und auf ihre Vertheidigung als Belagerer angewiesen, hatten dies Resultat ermöglicht. Es war eine glänzende Waffenthat, die Vertheidigung von Colberg, um so glänzender, als sie allein dastand, keine andere preußische Festung ähnlich gehandelt hatte. Das belehrte wohl darüber, daß Muth und Tapferkeit auch unter ungünstigen Umständen zu siegen wissen, daß die Ehre nicht im Rock, sondern im Herzen lebt, daß auch der Bürger seine Stelle haben soll, wenn sich’s um’s Wohl des Landes und seines Heerdes handelt. Aus der feigen Klugheit und Unterwürfigkeit jener Zeiten hebt sich diese Waffenthat einzig groß hervor, und Gott sei Dank, daß sie innig mit dem Volk verbunden ist.

Nach dem Tilsiter Frieden und der Reduction des preußischen Heeres wurden die vier Reiterschwadronen, welche Schill sich gebildet und die er geführt, als Husaren ausgerüstet und erhielten den Namen des „zweiten brandenburgischen Husarenregiments“. Der Inhaber dieses neuen Regiments ward Ferdinand von Schill, den der König außer der Reihe in Anerkennung seiner hervorragenden Tapferkeit zum Major erhoben hatte. Die Infanterie, welche er geführt und die größtentheils in Colberg geblieben war, wurde in ein leichtes Bataillon umgewandelt und durfte zur ehrenden Erinnerung an seinen einstigen Chef den Namen „Bataillon Schill“ fortführen. Ja, eine andere Auszeichnung ward der tapferen Schaar dadurch zu Theil, daß der König verfügte, sie solle zuerst in die von den Feinden geräumte Hauptstadt ihren Einzug halten; stand sie ja doch mit ihrem Schill als die erste Truppe der preußischen Armee da, was Bravour, Muth, Ausdauer, Ruhm und Beliebtheit, ja Enthusiasmus beim Volke betraf.

Aus Pommern herunter rückte diese neugeformte Truppe nach Berlin. Es war ein Triumphzug; in jedem Weiler, jedem Dorf, in jeder Stadt empfing lauter, stürmischer Jubel den Reitersmann Schill und seine Schaar. Blumen und Kränze flogen ihnen entgegen, Ehrenpforten waren ihnen errichtet, stundenlang ging das Volk in Begeisterung unter Klang und Sang mit ihnen, bis die Bewohner des nächsten Ortes kamen, um sie einzuholen. Am 10. December 1808 fand der feierliche Einzug in Berlin statt. Fast zwei Jahre lang hatten hier die Franzosen regiert, und keine preußische Uniform war dort, wo sie sonst mit zur Decoration des Straßenlebens gehörten, gesehen worden. Der Enthusiasmus des Volks war unbeschreiblich. Man denke sich diese Berliner, die mit Leib und Seele an ihre Soldaten gewachsen sind, von denen, wie Rahel schreibt, „Jeder bis auf die albernste Demoiselle wußte, was gut marschiren, aufsitzen und dergl. war“, welche ohne preußische Soldaten nie gewesen, beim Wiederanblick derselben nach zweijähriger Entbehrung Ströme von Freudenthränen vergossen.

Und nun kamen ja zu allererst die Schill’schen Truppen, deren Thaten in Aller Munde lebten, welche von der Bevölkerung mit Verehrung und Stolz genannt wurden, für welche alle Frauen in Entzücken schwärmten. Unermeßlicher Jubel begrüßte sie, als sie einrückten unter ihrer frischen, lustigen Jagdmusik; die Begeisterung für die tapfere Schaar und ihren Führer vermischte sich mit der Freude, von dem verhaßten Anblick des Feindes befreit zu sein, und ein Taumel des Jubels empfing sie, der nahe an Abgötterei grenzte. Man illuminirte am Abend die Stadt und gab Freikomödie, Festmahle und Bälle. Ueberall, wo Schill erschien, im Theater, in den Salons, auf der Straße wurden ihm Huldigungen bereitet; es ward ein Cultus mit ihm getrieben, der auf diesen phantasiereichen, lebhaften Geist betäubend wirken mußte. Seine ganze Erscheinung rief überdies zu solchen Huldigungen auf – kein Soldat, der schöner, imponirender sein konnte, als Schill, diese martialische und doch so liebenswürdige Erscheinung mit ihren feurigen schwarzen Augen und umhüllt von der malerischen Husarentracht. Er war damals 36 Jahr alt und der berühmteste Mann in Preußen, getragen von der Gunst seines Königs, von der Verehrung der Soldaten und der Bevölkerung. Wohlwollend und freundlich, mäßig in seinen Bedürfnissen, großmüthig und freigebig, dabei jungblütig, rasch und lebhaft – wie konnte es fehlen, daß er der Abgott des hoffenden Volks ward? Man beschrieb sein Leben, seine Thaten; man erzählte überall von ihm und seinen Streichen, man verkaufte Portraits von ihm an allen Orten, das mußte wohl eine solche Natur zu einer Ueberschätzung ihrer Kraft verleiten. Wohl sagte er damals, betroffen über den Rausch der Huldigungen, dem er unaufhörlich begegnete: „man macht zu viel aus mir;“ aber die Versuchung trat zu stark an ihn heran, er begann sich als den zu fühlen, den die patriotische Begeisterung der Welt in ihm sah, er wiegte sich in Unruhe und phantastischen Unternehmungen und dies mit einem Starrsinn, der wohl an seine ungarische Abstammung mahnte. Dabei benutzte er seine herrliche Gabe populärer Beredsamkeit bei allen Gelegenheiten, um den erwachenden Patriotismus zu schüren, auf die nahe Zeit der Befreiung des Vaterlandes hinzuweisen.

Wohl gab es Engherzige unter seinen Cameraden, die mit Neid und Scheelsucht auf den jungen Helden blickten; wohl Solche, die von seiner Selbstüberschätzung und lebhaften Neigung zu kecken Handstreichen Unheil für ihn und die geheim betriebene Sache der Erhebung fürchteten; aber im Allgemeinen war er ausgesprochener Liebling und wurde für denjenigen Mann gehalten, dem demnächst die Leitung der Nationalerhebung zufallen werde. Selbst ein Gneisenau, dem Schill ohne Willen einen Theil des Ruhmes der Vertheidigung von Colberg entführt hatte, schrieb damals über ihn: „Mag die Welt immerhin glauben, daß er Colberg vertheidigt hat, für den Staat ist das desto besser. Schill ist noch jung und kann der großen deutschen Sache noch wichtige Dienste leisten, durch seine Popularität und seinen allverbreiteten Namen können noch schöne Dinge gethan werden; wir müssen daher solchen verherrlichen, so viel wir können.“ Und zu Schill sagte er selbst einmal: „Fahren Sie fort, die Gemüther zu erfrischen, wo das Blut etwas stocken will. Meine treue Mitwirkung für Ihre Pläne sage ich Ihnen von Herzen zu.“ Aehnlich sprach sich Scharnhorst in einem noch ungedruckten Brief an ihn aus. „Sie sind auf einem guten Posten,“ heißt es darin, „und die Zeit ist nahe, wo wir auf kräftige Handlungen rechnen müssen. Haben Sie ein gutes Auge auf die Dinge in Oesterreich; der Krieg wird dort ganz wahrscheinlich noch in diesem Jahre (1809) ausbrechen, vielleicht schon zum Frühjahr. Wir müssen alsdann überall fertig sein, um den kleinen Krieg zu unternehmen, und auf Sie rechne ich dabei am meisten. Es wäre gut, wenn Sie sich alsdann Magdeburgs zu bemächtigen suchten und Mitteldeutschland insurgirten. An Theilnahme wird es Ihnen unter der dortigen Bevölkerung nicht fehlen. Doch warten Sie das Zeichen ab und übereilen Sie nichts.“

Wie merkwürdig, wie folgenschwer! Scharnhorst selbst weist dem kühnen Officier das Ziel, dem er bald darauf nachstrebte und das er verfehlen sollte, weil er den wohlgemeinten Rath, nichts zu übereilen, vergaß und, über die Wirklichkeit der Dinge im Irrthum, sich nur seinen patriotischen Täuschungen hingab!

(Schluß folgt.)




Zur Berichtigung irriger Ansichten.
Die Testamentsscheu und der wissenschaftliche Tod.

Das Testament zu machen, verabsäumen und verweigern nicht blos Solche, die in Folge blödsinnigen Aberglaubens fürchten, daß durch die Niederlegung des Testamentes dann ihr Tod eiligst heraufbeschworen werde, sondern auch die, welche (meistens aus Bequemlichkeitsliebe) meinen, daß es bei ernstlichem Krankwerden schon noch Zeit genug sei, auf Anrathen des Arztes die letzten Verfügungen zu treffen. Gerade als ob ein Mensch nicht in jedem Augenblicke dem plötzlichen Tode (aus äußern und innern Ursachen) ausgesetzt wäre, und als ob bei der scheinbar leichtesten Krankheit nicht gegen alles Vermuthen des Arztes ein tödtliches Ende eintreten könnte! Ganz abgesehen davon, daß es äußerst inhuman und grausam ist, einem Kranken durch Erinnern an’s Testamentmachen gewissermaßen sein Todesurtheil zu verkünden.

Kurz, es ist unverständig und gewissenlos, ja oft geradezu sündhaft, wenn Jemand, der vor seinem Tode zum Wohle seiner Angehörigen oder anderer Mitmenschen noch Bestimmungen und Verfügungen zu treffen hat, diese nicht bei Zeiten trifft und zwar so, daß sie auch rechtskräftig sind. Wenn es Manche für hinreichend [472] halten, ihren letzten Willen nur im Schubkasten für die Angehörigen zu hinterlassen, so irren sie und können in den meisten Fällen, zumal wenn unmündige Erben mit in Betracht kommen, die Vollziehung ihres Willens total vereitelt sehen. Alles also, was man vor seinem Tode zu besorgen hat, das besorge man so zeitig und ordentlich als möglich, damit man für alle Fälle gesichert und für das Sterben gehörig vorbereitet sei.

Wie oft ist es nicht schon vorgekommen, daß Wohlhabende, auf deren Tod nur lachende (nicht selten ganz unwürdige) Erben sehnlichst warteten, diejenigen ihrer Getreuen, die ihnen Jahre lang die größten Opfer, selbst an Gesundheit, brachten, in der größten Noth hinterließen, nur weil sie ihr Testament, welches sie zu Gunsten ihrer aufopfernden Freunde zu machen gedachten und versprachen, zur richtigen Zeit gesetzlich niederzulegen vernachlässigten. Daß solchen herz- und rücksichtslosen, undankbaren Subjecten kein gutes Andenken über das Grab hinaus folgen kann, versteht sich wohl von selbst. – Wie mancher Geldprotze, der in Folge seines irdischen Thuns nach seinem Tode gar nicht fortzudauern verdiente, wünscht sich bei der nachkommenden Menschheit durch Gründung von Humanitäts-Einrichtungen wenigstens eine Namens-Fortdauer zu schaffen, allein seine Testamentsscheu vernichtet seinen Namen mit der Hand voll Erde, die von den das offene Grab Umstehenden auf seinen Sarg geworfen wird. – Ich selbst würde mich sicherlich vor Aerger im Grabe noch herumdrehen, wenn ich bei meinem Begräbniß hinter meinem Sarge (natürlich in der Leichenkutsche) eine schwarzbefrackte Homöopathen-Deputation einherschreiten sähe, welche das mir im Jahre 1849 wegen allopathischer Arzneiungläubigkeit vom homöopathischen Centralvereine ausgestellte Diplom als Mitglied der homöopathischen Heilkünstler-Societät auf weißem Sammtkissen einhertrüge, was ich mir doch durch rechtzeitige Niederlegung meines letzten Willens verbitten konnte. – Also nochmals: hübsch zeitig und ordentlich testirt!

Was nun den „wissenschaftlichen Tod“ betrifft, so soll darunter das von Aerzten als sicher vorher gesagte und in Bälde eintretende Sterben eines Kranken verstanden werden. Es ist dies ein Tod, den schon viele, zur Zeit noch im besten Wohlsein Herumwandelnde vor Jahren gestorben sind, wie ja auch eine uralte, vormeidingersche Anekdote beweist, die einen Arzt zu einem ihn ansprechenden Spaziergänger ganz ärgerlich sagen läßt: „Mein Herr! Sie sind für mich wissenschaftlich todt.“ Vor Monaten hatte nämlich jener Arzt diesem Manne, der damals lebensgefährlich krank schien, voreiliger Weise nur noch wenige Stunden zum Leben gegeben. – Es ist gräßlich unwissenschaftlich, wenn ein Heilkünstler bei kranken Personen die Zeit des Todes mit nur einiger Sicherheit voraussagt, zumal wenn diese Zeit wohl gar auf Jahre hinausgestellt wird. Es ist ferner eine ganz nichtswürdige Verleumdung, wenn man einem gebildeten Arzte nachsagt, daß er Patienten in’s Gesicht erklärt habe, sie hätten nur noch so und so lange zu leben, ganz abgesehen von der Inhumanität, ja Rohheit, welche eine solche Erklärung in sich trägt. Nur unwissenschaftliche Charlatane, die sich wichtig machen wollen, werfen mit Todesbestimmungen um sich herum, der gelehrte Arzt weiß, daß bei den allermeisten Krankheitsprocessen, selbst wenn schon der Tod im Anzuge zu sein scheint, doch noch Heilung oder wenigstens eine ganz unbestimmte Fortdauer des Lebens möglich ist. Beispiele mögen dies bestätigen; vorher sei aber noch erwähnt, daß Kranke, die von unwissenden Aerzten aufgegeben wurden, gar nicht selten unter der Behandlung von Charlatanen und Homöopathen gesunden, und zwar deshalb, weil die Naturheilkraft (s. Gartenlaube 1855, Nr. 25) scheinbar unheilbare Krankheitsprocesse zu heilen oder doch unschädlich zu machen vermag. Natürlich schreibt dann der urtheilslose Laie und Quacksalber die Heilung dem angewendeten Hokuspokus und nicht der Naturheilkraft zu.

Vom Schlagflusse (s. Gartenl. 1855, Nr. 19) heimgesucht zu werden, ist allerdings nicht gerade wünschenswerth, allein wie viele vom Schlage Getroffene, die tagelang bewußtlos, röchelnd, halbseitig gelähmt dalagen, sind nicht schon nach wenigen Wochen wieder wie die Gesündesten einhergegangen, und es ist ihnen nicht einmal zur Ader gelassen worden! – Ueberhaupt ist bei allen das Gehirn in seiner Thätigkeit störenden Krankheiten, welche mit Kopfschmerz, Bewußtlosigkeit, Sinnesstörungen, Irrereden, Krämpfen und Lähmungen auftreten, niemals die Hoffnung auf Genesung zu verlieren, zumal bei Kindern nicht. Wie sich die Aerzte bei vielen Leiden hinsichtlich des Wesens, Verlaufs und Ausgangs derselben täuschen können, so ist dies gerade bei Hirnleiden am leichtesten möglich. Und daher kommt es denn auch, daß die so beliebte Hirnerweichung mehr in den Köpfen der Aerzte, als in denen der Kranken spukt. Wie wenige kleine Kinder bei sogen. Hirnkrämpfen an der vom Arzte mit Blutegeln und Calomel verfolgten Hirnentzündung leiden, ist ganz erstaunlich.

Das Nervenfieber oder der Typhus (s. Gartenl. 1856, Nr. 10) bringt bisweilen den Kranken, nachdem derselbe tage- und selbst wochenlang phantasirte und seines Bewußtseins gänzlich beraubt war, in einen Zustand, wo er zu seinem Glücke keine Medicin mehr schlucken kann, im Bette zusammengerutscht, fast puls- und athemlos, eben sterbend erscheint. Und doch stirbt er nicht, ja, selbst auch dann nicht, wenn der Typhus zum Ueberflusse noch von einer Lungenentzündung begleitet wird und der Typhöse sich brandig aufgelegen hat. Hier denkt dann der Arzt wie Goethe’s Mephistopheles „und läßt’s am Ende gehn, wie’s Gott gefällt.“ In den meisten Fällen wär’s freilich besser, wenn die Aerzte nicht erst am Ende, sondern gleich vom Anfange der Krankheit an so dächten.

Bei der Lungenschwindsucht (s. Gartenl. 1855, Nr. 15), selbst wenn schon ein ziemlicher Theil der Lungen total verloren gegangen ist und der bleiche, bluthustende Kranke bis zum Skelet abgezehrt, mit einem Beine im Grabe steht, kann doch noch ein Stillstand des Leidens und (auch ohne Leberthran, Hundefett, Heringsmilch, Salzbrunnen und schwedische Heilgymnastik) eine solche Aenderung im Befinden des Patienten eintreten, daß dieser, wenn auch etwas kurzathmig und zeitweilig vom Husten geplagt, doch dick und munter noch ein langes Leben verlebt. Ja, er hat dann dabei sogar den Vortheil, daß er von einer Menge anderer Krankheiten unangefochten bleibt.

Von Wassersucht (s. Gartenl. 1857, Nr. 25) bis zum Platzen Geschwollene, die schon nahe daran waren, in ihrem eigenen (innern, Lungen-) Wasser zu ertrinken, gaben manchmal plötzlich, und zwar ohne Arznei genommen zu haben, durch Nieren und Haut (mit Harn und Schweiß) soviel Wasser von sich, daß sie wieder auf’s Trockne kamen und trotz des Uebels, von welchem die Wassersucht nur ein Symptom war, doch ziemlich fidel noch eine hübsche Weile fortlebten. Es sind demnach die wassersüchtig geschwollenen Beine nicht gleich als „Reisestiefeln in’s Jenseits“ anzusehen.

In den verschiedenen Entzündungen (s. Gartenl. 1855, Nr. 36), zumal edler Organe, wie des Herzens, der Lunge, des Gehirns u. s. w., hält oft der bedeutenden Ausbreitung und Heftigkeit der Krankheit wegen auch der ruhigste und vorsichtigste Arzt eine Rückkehr des erkrankten Organs zur Gesundheit fast für unmöglich, und doch weiß die Naturheilkraft nicht selten die Entzündung sammt ihren Folgen gänzlich zu tilgen oder doch für längere oder kürzere Zeit unschädlich zu machen.

Rückenmarks-Verzehrung, – aber die echte, nicht die, mit welcher junge Männer sich und die Aerzte quälen, wenn sie mit Gewissensbissen bei zeitweiligem Schmerze im Kreuze etwas knickbeinig einher bummeln, – ist gar nicht so selten auch dann hinter dem Rücken der Aerzte noch vollständig verschwunden, wenn bei halbgelähmten Beinen die Harn- und Stuhlentleerung in die größte Unordnung gerathen war. Also mögen auch die Rückenmärker mit Hahnentritt die Hoffnung auf Kräftigung ihres Pedals durch die gütige Mutter „Natur“ nicht aufgeben, selbst wenn die Aerzte nur vom Bade Gastein noch Hülfe erwarten.

Wollte ein Arzt selbst bei den furchtbarsten Verletzungen genau bestimmen, ob und wann der Tod eintreten muß, so könnte er sich sehr oft in seiner Vorhersage blamirt sehen, denn was in Verstümmelungshinsicht ein Mensch aushalten kann, das grenzt geradezu an’s Unglaubliche und läßt sich auf dem Schlachtfelde oder in Invalidenhäusern am besten begreifen. Daß Arme und Beine von Kanonenkugeln weggerissen werden, Flintenkugeln durch Brust oder Leib hindurchdringen, der Schädel gespalten wird, die Gedärme zum aufgeschlitzten Bauche heraushängen u. s. f., und schließlich der junge Blessirte doch noch ein uralter Invalide (leider Gottes nicht selten mit der Drehorgel) wird, ist gar nichts Seltenes. – Ob das aber wohl dem Verstande und Gemüthe des Menschen Ehre macht, daß er fortwährend auf Entdeckung von raffinirten Menschen-Verstümmelungs-Apparaten ausgeht?

Und was ist nun dieses langen Aufsatzes kurzer Sinn? Der Arzt ist fast nie im Stande, den Tod eines Kranken oder Verletzten mit nur einiger Sicherheit zu bemessen.
Bock.

[473]
Australien und die australische Race.
Von Fr. Gerstäcker.

Es sind in letzter Zeit wieder eine Menge von Gerüchten aufgetaucht, daß neue fruchtbare wasserreiche Strecken im Inneren Australiens entdeckt wären; ja die Zeitungen phantasirten sogar von einem mehrere englische Meilen breiten Strome, den man dort gefunden haben wollte; kein Blatt gab aber an, wohin er strömte, woher er kam.

Es sind das lauter Märchen, die sich auf ein Minimum reduciren, und sämmtliche neue Entdeckungen laufen höchstens darauf hinaus, daß noch einige Stellen im Inneren, und nicht zu weit von der Küste entfernt, gefunden sind, wohin ein paar Stationsbesitzer ihre Schafheerden treiben können, denn mit der dortigen Nahrung, die gerade die Schafe abweiden, mit dem im trockensten Sandboden wachsenden, sehr saftigen pjgsface und Satzbusch, können diese Thiere auch vollständig das ganze Jahr ohne Wasser bestehen, während die Schäfer in der „Regenzeit“ zum Trinken wie Waschen genug haben, und sich in der trockenen Saison das Waschen abgewöhnen.

Es gibt Leute in Deutschland wie England, die noch immer die Hoffnung haben, daß in dem ungeheueren Inneren des Landes wichtige Entdeckungen für die Colonisation gemacht werden würden – aber es sind nur solche, die das Land nicht von eigenem Beschauen kennen, und die Zeit wird lehren, daß all ihre Hoffnungen vergebens waren.

Die Erforschung des inneren Australiens hat in der That etwas ungemein Aehnliches mit der Untersuchung und Auffindung der Nordwest-Passage um Amerika – sie ist von rein geographischem Interesse, und wird schwerlich je den geringsten Nutzen für das Land selber bringen. Von der Wasserarmuth jenes ungeheueren Landes hat der Fremde nämlich nur selten einen Begriff und denkt deshalb immer, daß solch ein weites Terrain, das seinen Flächenraum nach Tausenden von Quadratmeilen zählt, auch noch hie und da ein kleines Paradies in seinem Inneren bergen könne, ohne daß man bis jetzt etwas davon entdeckt habe.

Es ist unmöglich, denn zu einem Paradies gehört Wasser, und ein Strom kann im Innern Australiens nicht existiren, weil weder ein Platz da ist, wohin er fließt, noch woher er kommen kann. Australien hat überhaupt nur einen Fluß, der fortwährend fließendes Wasser hält, den Murray, denn selbst der Murrumbidgee, nach ihm der größte und ein in der Regenzeit bedeutender Strom von mehreren hundert Schritten Breite, besteht außer der Regenzeit nur aus einer Kette von Wasserlöchern, zwischen denen man überall hin mit trockenem Fuß gehen kann. Ebenso ist es mit Hunter’s River, auf dem allerdings Dampfboote laufen, aber in der trockenen Jahreszeit nur so weit die Wirkung der Meeresfluth reicht. Darüber hinaus schwindet er ebenfalls zu Wasserlöchern zusammen. Das Nämliche ist es mit dem aus dem Innern kommenden und sich in den Murray ergießenden Darling, das Nämliche mit dem Torrens und allen anderen Flüssen Australiens, einige kleine Bergbäche abgerechnet, die aus den sogenannten australischen Alpen kommen.

Diese australischen Alpen sind die höchsten Berge des Landes, und von ihnen aus geht kein einziger Strom nach dem Inneren, der nicht genau bekannt wäre und im Meere ausmündete, und aus dem Inneren kommen nur jene furchtbaren und heißen Winde, die das sichere Zeichen einer Wüste sind. Wie wenig aber selbst in diesem Inneren auf die Regenzeit zu rechnen ist, davon gab jenes Jahr, in dem ich Australien besuchte (1851), den sichersten Beweis, da am Murray in sechzehn Monaten kein Tropfen Regen gefallen war, und auf der ganzen ungeheueren Strecke kein einziger Grashalm mehr wuchs. Nur in der Nähe der Berge hatte es geregnet.

Jenes Land habe ich in dem 4. Bd. meiner Reisen (J. G. Cotta’sche Buchhandlung) genau beschrieben und damals selber die Gegend besucht, die unmittelbar an dem bedeutendsten Strom des ganzen Continents liegt. Aber selbst dort mußte zu den nächsten Schafstationen, die nur wenige Miles vom Strome entfernt lagen, das Trinkwasser für die Schäfer in Fässern hinausgefahren werden, und dicht am Strome begannen schon die dürren Mullayhügel, die sich wellenförmig in das Innere ausdehnten, und vom Strom ab nicht einmal die Spur eines selbst trockenen Flußbettes zeigten. Der Regen, der dort fiel, wurde auch im Nu von dem Boden aufgesogen und konnte nicht einmal in der Regenzeit eine Rinne bilden. Daß hie und da im Inneren des Landes noch höhere, vielleicht mit Büschen dicht bestandene Strecken liegen, die in der Regenzeit Wasser und Gras, und in der trockenen Jahreszeit Salzbusch und pigsface für die Schafe haben, will ich nicht bestreiten, und mehr verlangen die Schafzüchter auch nicht; für diese gäbe es also in der That noch hie und da ein Terrain, auf dem sie sich ausbreiten könnten, aber daß ein großer Strom, daß ein fruchtbares Land im Inneren bis jetzt entdeckt wäre, ist ein Märchen, und wird ein Märchen bleiben noch für Jahrhunderte lang. Daß es sich nämlich später ändern könnte, ist möglich, denn in Australien steht die wunderbare Thatsache fest, daß sich das Wasser mehrt. Im Adelaide-District ist es in der That schon in den letzten zehn Jahren geschehen, und im Lyndock-Valley, dem fruchtbarsten District in der Nähe Adelaide’s, das einen prachtvollen Ackerboden hat, ist das Wasser in den letzten Jahren so augenfällig gewachsen, daß es sogar einen kleinen See oder Teich gebildet. Möglich, daß das durch irgend eine uns unbekannte Naturkraft, vielleicht durch Hebung des Bodens selber, mit den Jahren noch bedeutender würde.

Eben so irrige Begriffe bestehen über den Ursprung der australischen Eingeborenen, die es mich drängt, zu berichtigen, in soweit ich sie selber nach eigener Anschauung kennen gelernt habe.

Die Eintheilung des Menschengeschlechts überhaupt, wie sie Blumenbach hingestellt hat, ist meiner Meinung nach ungenau, und ich will suchen es zu beweisen. Ich nehme allerdings fünf verschiedene Menschenracen an, wie Blumenbach, aber in anderer Eintheilung, und scheide sie nicht in die kaukasische, mongolische, malayische, äthiopische und amerikanische, sondern in die kaukasische, mongolische, äthiopische, amerikanische und australische, denn die australische ist kein Mischlingsstamm von Malayen und Aethiopiern, während die Malayen selber unter keiner Bedingung eine eigene und selbstständige Race bilden können.

Wir haben eine Anzahl von Menschen, die sich die größte und höchst unnöthige Mühe geben, zu beweisen, daß wir Alle, wie wir den Erdboden bewohnen, von einem einzigen Menschenpaar abstammen, und es geschieht dies einzig und allein nur, um ihrer Meinung nach die Worte der Bibel aufrecht zu erhalten. Das Merkwürdige ist, daß sie dabei von ihrer eigenen Quelle im Stich gelassen werden, denn die Bibel sagt nicht allein nirgends ausdrücklich, daß Adam und Eva die einzigen Menschen gewesen wären, sie spricht nur von den ersten, sondern sie bestätigt auch mit klaren, gar nicht anders zu deutenden Worten, daß außer der Familie von Adam und Eva auch noch andere Menschen existirt haben, indem Kain, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte, „in ein anderes Land ging und ein Weib nahm“. Das alte Testament liefert uns auch nur die Geschichte jenes Erdtheils, der den damaligen Bewohnern bekannt war; sie konnte eben nichts weiter liefern, und wir wären thöricht, mehr davon zu verlangen. Für jenes Ländergebiet und also für die kaukasische Race überhaupt mögen wir denn auch immer Adam und Eva als erstes Menschenpaar beibehalten. Da wir die damalige Zeitrechnung nicht kennen, liegt nicht der geringste Grund vor, jene Angabe zu bezweifeln. Aber außer Asien existirte auch schon damals die übrige Welt, und es wird Niemand kühn genug sein zu behaupten, daß sie Jahrtausende leer gestanden habe.

Mit den Erfahrungen, die wir bis jetzt gesammelt, gibt uns die uns umschließende Natur nicht allein die feste Ueberzeugung, sondern sogar die Gewißheit, daß, wenn nicht die Thiere und Pflanzen von der ersten Möglichkeit ihres Bestehens an gleichmäßig über alle Länder vertheilt wurden, wenigstens verschiedene Centralstellen bestanden haben, von denen aus sie sich in der Nachbarschaft und dem ihnen zusagenden Klima verbreiteten. Der Eisbär und Zobel ist ebenso wenig in einem warmen Klima erschaffen worden und später, mit den dortigen Verhältnissen unzufrieden, nach seiner behaglich kalten Eisregion ausgewandert, wie der australische Gumbaum, mit all den zahlreichen Arten der Banksias, aus Asien stammt, wo nicht einmal die Spur einer ähnlichen Vegetation gefunden wird.

[474] Die Kraft, die jene Thiere erschuf, hat auf das Wunderbarste in ihrer kunstvollen Bildung auf jedes ihrer Bedürfnisse Rücksicht genommen, und dürfen wir da glauben, daß sie dieselben nicht auch gleich der Stelle zugetheilt hätte, auf der sie später hausen – auf der in vielen Fällen sie nur allein existiren konnten? Wie wäre im anderen Fall – von den übrigen Thieren gar nicht zu reden – ein Tiger z. B. aus dem Paradies nach Süd-Amerika gekommen? Zu Wasser sicher nicht, und zu Land hätte er die Eisregion durchwandern und die Behringsstraße durchschwimmen müssen. Die Kraft aber, die einen Elephanten und Tiger, einen Eisbär und Walfisch, ein Känguruh und einen Strauß schuf, die ein Kameel in die Wüste, eine Gemse auf die zackigen Grate der Alpen, ein Flußpferd in die Moräste Afrika’s setzte, war auch im Stande den Menschen dort zu erschaffen, wo er sich eben heimisch fühlen konnte. Im anderen Fall müßten wir außerdem annehmen, daß alle jene entlegenen Welttheile Jahrtausende lang ihre für das Menschengeschlecht so werthvollen Gaben nutzlos getragen und vergeudet hätten, ehe sie zufällig von ein oder dem anderen Wanderer entdeckt und langsam bevölkert wären.

Weit natürlicher und ihrem Zweck entsprechend stellt sich uns aber die Bevölkerung des Erdballs dar, wenn wir verschiedene Centralstellen annehmen, deren Beweis wir auch in der verschiedenen Körperbildung und Farbe, wie in der ganzen geographischen Eintheilung der Erdkugel finden. Die Frage ist nur jetzt, wie viele solcher Centralstellen bestanden haben müssen, und hierin gibt uns unsere jetzige Kenntniß des Erdballs den besten und sichersten Anhaltspunkt, indem sie uns lehrt, daß wir mit gutem Gewissen wenigstens fünf annehmen dürfen. Schon Cuvier erkennt keine malayische Race an und theilt das Menschengeschlecht in Kaukasier, Mongolen und Aethiopier – die amerikanische Race als eine Unterabtheilung der Mongolen, die Malayen als eine eben solche der Kaukasier betrachtend. Er wie Blumenbach gehen über die australische Race flüchtig weg, indem sie jene Stämme als Mischlingsrace von Malayen und Aethiopiern abfertigen – aber sie haben Beide darin Unrecht.

Die malayische Race kann vor allen Dingen gar kein Haupt- oder Urstamm sein. Sie hat überhaupt in der Geschichte keinen Anhaltspunkt, keine eigentliche Heimath, und nur Vermuthung ist es, daß sie von Sumatra stamme. Viel wahrscheinlicher bleibt es dagegen, daß sie ihre Entstehung dem ersten Seeverkehr zwischen mongolischen und kaukasischen Stämmen verdankt, und bis auf den heutigen Tag sind die Malayen ein unternehmendes, seefahrendes, aber auch vollkommen unstätes und wanderlustiges Volk geblieben, das sich auf fast allen Inseln des ostindischen Archipels, wie an allen Küsten festsetzte und die dort vorgefundenen Eingeborenen in’s Innere jagte. So finden wir auf Borneo, Luzon, Sumatra, Java und wie die Inseln alle heißen, verschiedene Völker im Inneren, wie an der Küste, so verschieden in der That, daß sie sogar in ihrer Sprache nicht die geringste Aehnlichkeit haben.

Die Küstenbewohner, wenn sie nicht das unvermischte Gepräge des Stammes tragen, den wir nun einmal Malayen nennen, tragen jedenfalls deutlich ihre malayische Abstammung. Die alten Stämme aber, die in die Berge flüchteten, als die Eroberer ihre Küsten überschwemmten, werden von ihnen Orang Gunung oder Bergmenschen genannt. Es ist allerdings immer eine mißliche Sache, Autoritäten wie Cuvier und Blumenbach gegenüber eine eigene Meinung zu haben. Nach dem aber, was ich selber von der Welt gesehen, hat sich mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß beide Naturforscher die australischen Eingeborenen wie das australische Land nicht gründlich genug kannten, wenn sie jenen Stamm als eine Mischlingsrace von Aethiopiern und Malayen bezeichneten. Ich meinestheils halte die Australier, so gut wie die Kaukasier und Aethiopier, für einen ganz entschieden echten Urstamm, wie denn Australien jedenfalls einen jener Centralpunkte bildet, der seine eigenen Exemplare von Thier- und Pflanzenarten für sich bekommen hat, und dem wir nicht den geringsten Grund haben die Menschen abzusprechen.

Wichtig ist hierbei, vor allen Dingen eine falsche geographische Eintheilung zu berichtigen, die noch in manchen Schulen und auf vielen, selbst neueren Landkarten ihre Vertreter wie Unterstützung findet. Ich meine die Eintheilung, welche, als fünften Welttheil unter dem Namen Australien oder Oceanien, das eigentliche Neu-Holland mit sämmtlichen Inseln der Südsee und Neu-Seeland, oft sogar mit einem Theil des ostindischen Archipels zusammenwirft und ihm, der Bequemlichkeit wegen, den Namen Oceanien gibt. Diese Zusammenlegung ist vollkommen falsch, und die Engländer, mit der Natur jener einzelnen Inseln aus eigener Anschauung bekannt und vertraut, rechnen schon seit langen Jahren sämmtliche Südsee-Inseln – selbst Neu-Seeland nicht ausgeschlossen – zu einem besonderen und sechsten Welttheil, den sie Polynesien nennen.

Zu Australien oder Neu-Holland (der Name Australasia, der auch vorkommt, ist ein Unding, und etwa gerade so, als ob ich sagen wollte Amerikanisch-Europa) kann nur Van-Diemensland gezählt werden und vielleicht noch die Süd-Küste von Neu-Guinea; aber selbst Neu-Guinea gehört schon weit mehr dem ostindischen Archipel wie Australien an, und dieser ostindische Archipel, wie auch die Inseln des stillen Meeres, ist an Menschen, Thieren und Pflanzen von Australien so verschieden, wie Europa von Afrika. Mit Australien haben diese Inseln alle auch nicht die geringste Aehnlichkeit, und Australien bildet deshalb für sich ein eigenes, selbstständiges Land – mit einem Wort einen eigenen Welttheil und einen jener Centralpunkte unserer Erdkugel.

Um nun wieder auf die Eingeborenen Australiens zurückzukommen, so hat man sich bis jetzt außerordentlich wenig Mühe gegeben, ihre Abstammung zu ergründen. Die verschiedenen Naturforscher sagten: Der australische Eingeborene hat eine schwarze Hautfarbe und weiches lockiges Haar – folglich stammt er von Malayen und Aethiopiern ab. – Folglich stammt er aber, gerade aus diesem Grund, nicht von diesen beiden Völkern ab, denn alle Nachkommen der äthiopischen Race, wenn sie sich nicht wenigstens dreifach mit einer anderen gemischt hatten, haben das mehr oder weniger wollige Haar, haben jene bestimmten Zeichen an den Fingernägeln, haben die sammetartige Haut, vorstehende Backen und aufgeworfene Lippen – was Alles dem Australier fehlt.

Eine Mischlingsrace von Aethiopiern und Malayen haben wir an der Ostküste Madagaskars, aber es ist noch Niemandem eingefallen zu behaupten, daß zwischen den Malegassen und australischen Schwarzen auch nur die geringste Aehnlichkeit herrsche. Doch wir brauchen wahrlich nicht bis Madagaskar zu gehen, um den Beweis zu finden, daß die Aethiopier Australien nicht bevölkerten. Ja ich bezweifle sogar, daß je ein Neger seinen Fuß auf australischen Boden setzte, bis in neuerer Zeit Einzelne auf Schiffen der Weißen dorthin gebracht wurden.

Die Aethiopier sind überhaupt kein Volksstamm, der sich weit über die See hinüber ausgebreitet hätte, und nur die unmittelbar in der Nähe des afrikanischen Continents liegenden Inseln, wie Madagaskar, die Comoren, die Inseln des grünen Vorgebirgs und einige andere, wurden von ihnen erreicht. hätten sie aber weite Seereisen gen Osten unternommen, so brachte sie der günstige Monsuhn viel leichter zu den schönen Inseln des ostindischen Archipels. Dort finden wir jedoch keine Spur von ihnen, und das soviel weiter entlegene Australien mit seinen dürren Sandwüsten und wasserarmen Küsten – gerade am trostlosesten im Norden und Westen – sollten sie so bevölkert haben, daß jede Spur eines anderen Stammes verwischt wäre? Es ist das nicht gut zu glauben, und mit einem Wort nicht wahr.

Die Bewohner von Sumbaya, Timor wie der kleineren benachbarten Inseln des ostindischen Archipels besuchen allerdings im günstigen Monsuhn die australische Nordküste, um in der außerordentlich fischreichen Torresstraße dem Fischfang obzuliegen. Sie vermeiden aber so viel als möglich den Continent selber, der vielen dort hausenden bösartigen Stämme wegen, und halten sich auf den kleinen, durch jenen klippenreichen Canal zerstreuten Inseln auf. Trotzdem aber, daß sie alljährlich diese Reise machen, hat sie das öde, heiße, wasserarme Land noch nie verleiten können, sich dort niederzulassen, und daß sie mit den australischen Wilden in gar keiner Berührung stehen, dafür gibt schon die Thatsache den sichersten Beweis, daß die Letzteren nichts in ihrem Besitz haben, was von den Malayen abstammen könnte. Was sollten diese auch von Leuten eintauschen, die sich kaum selber das Leben fristen können und nichts auf der Gotteswelt besitzen, als ihre einfachen hölzernen Waffen, Wurfspeere und Harpunen?

Wollten wir dann auch wirklich annehmen, daß sich ein Theil von ihnen, vielleicht aus dem Unterland vertrieben, oder durch Schiffbruch an die Küste geworfen, dort niedergelassen hätte, so würden sie erstlich keine Aethiopier dort gefunden haben, und dann wären sie immer noch von dem übrigen Theil Australiens durch [475] die große Sandwüste abgeschnitten geblieben. Ganz unnähnlich den verschiedenen Inseln des Archipels finden wir aber in ganz Australien nur ein Volk, und zwar vom äußersten Norden bis zum Süden, im öden Innern, wie an allen Küsten, das weder mit den Malayen, noch den Bewohnern der Südsee-Inseln die geringste Aehnlichkeit in Sprache, Sitten, Religion, Gebräuchen, Sagen und Waffen hat. Auf den Boden wanderte auch kein anderer wilder Stamm, der auf das angewiesen blieb, was ihm die Natur selber bot, ein, denn nicht einmal wilde Früchte finden wir in dem Lande, ausgenommen an der Nordküste eine Pflaumenart. Nein, ein Volk, das diese salzigen wasserarmen Einöden bewohnt, mußte auch von Anfang an dafür erschaffen werden, oder hätte es nun und nimmer ausgehalten.

Noch jetzt erhalten sich auch die Australier rein, und wie man überall bei den Stämmen, die mit den Weißen seit Jahren in nächster Berührung stehen und keinen anderen „Handelsartikel“ für sie haben, als ihre Frauen und Mädchen, nie ein Kind von Mischlingsblut findet, weil sie es jedesmal nach der Geburt gleich tödten, so hat sich auch kein anderer Stamm mit ihnen vermischt, wie sie denn auch noch weniger ihren Ursprung von einem anderen ableiten.

In Afrika allerdings bewohnen die Nachkommen der kaukasischen Race, die Einwanderer aus Arabien und Kleinasien – die Mauren – noch jetzt die Wüste Sahara, oder wenigstens die darin liegenden Oasen, aber sie fanden zuerst, wie sie erobernd das Land betraten, eine fruchtbare Küste, weite, wasserreiche Districte, an denen sie sich festsetzen, von denen sie sich ausbreiten konnten, und unterwarfen dabei die Eingeborenen oder trieben sie in’s Innere zurück. So finden wir, wie in Afrika die Abkömmlinge der kaukasischen Race die ganze Nordküste, den größten Theil der Ostküste bis Nubien hinunter und auch einen kleinen Theil der Westküste bevölkerten, und während der eigentliche Urstamm des Landes, die äthiopische oder Negerrace, im Innern unverfälscht blieb, war im Süden oder Südosten auch dieser Theil des Landes den Eroberungen der malayischen Völker ausgesetzt, von denen wahrscheinlich die Kaffern in ihrer Vermischung mit den Negern abstammen.

Für Asien und Europa dürfen wir ebenfalls die auffällig von einander unterschiedene mongolische und kaukasische Race annehmen, die dort, wo sie zusammenstieß, die unzähligsten und verschiedenartigsten Vermischungen hervorrief, trotzdem aber in den Grenzvölkern ihre Spuren zurückließ, wie denn auch z. B. die Slaven wahrscheinlich ihren Ursprung einer mehrfachen Verschmelzung dieser beiden Racen verdanken.

Die amerikanische Race steht ebenfalls selbstständig in dem ungeheuren Continent, denn schon die Farbe derselben verräth, daß sie nicht von Asien gekommen sein kann, wenn auch der Uebergang über die Behringsstraße sonst sehr leicht möglich gewesen wäre. Die amerikanische Race zeigt uns aber auch, wie die Farbenveränderung des Menschen unter einer heißen Zone gar nicht stichhaltig sei, auf welche sich Jene immer stützen, die den Neger gern von Adam und Eva ableiten möchten. Mit nur geringem Unterschied in ihren äußeren Formen, aber mit ein und derselben dunkelkupferbraunen Haut bevölkert dieser Stamm den ganzen ungeheueren Continent, von den nördlichen Eisregionen durch die heiße Zone bis zu dem in Schnee begrabenen Feuerland, und mit derselben Hautfarbe, mit der der Pescheräh über seinem dürftigen Feuer kauert, oder der in sein Büffelfell gehüllte Blackfoot und Sioux auf Schneeschuhen das Wild verfolgt, läuft der Botokude unter seinen Palmen in Brasilien herum. Die Bewohner der heißen Zone hätten allerdings jenem Glauben der Farbenveränderung nach dunkler werden können, als die asiatischen Stämme waren, aber wie steht es dann mit den Bewohnern des hohen Nordens und Südens, denen Eis und Schnee doch schwerlich die verbrannte Hautfarbe geben konnte?

Der amerikanische Stamm bildet also, wie das auch schon die abgeschiedene geographische Lage seines ganzen Landes auf den ersten Blick zeigt, eine auch vollkommen selbstständige Race, wie Amerika auch wieder seine nur ihm eigenthümlichen Pflanzen und Thiere hat, und als wenigstens einer jener fünf Centralpunkte des Erdbodens betrachtet werden muß. Ob nun die Südsee-Inseln, die zum großen Theil erst in späteren Jahren durch das Wachsen der Koralle entstanden, von Amerika oder Asien ihre Bevölkerung erhielten, bleibt sich vollkommen gleich, und meiner Meinung nach wurden sie von beiden Theilen besetzt: vom Westen her durch die unternehmenden seefahrenden Stämme der Malayen, vielleicht auch mit von Australiern, und vom Osten durch die amerikanischen Indianer, die mit ihren leichten Fahrzeugen, nur erst einmal vielleicht durch einen Sturm aus dem Bereich der Land- und Seewinde gebracht, von dem Passat und der dort steten Meeresströmung schon ganz von selbst jenen Inseln zugetrieben wurden. Jedenfalls haben diese ihre Vegetation von Amerika erhalten, denn die Meeresströmung setzt zwischen den Wendekreisen entschieden von Ost nach West.

Wie ich also der festen Ueberzeugung bin, daß Gott den amerikanischen Wilden auch für das Land schuf, das er noch bis zum heutigen Tag bewohnt, wie der Stamm der Neger allein in Afrika heimisch war, wie der Kaukasier aus dem Grenzland zwischen Asien und Europa stammt, und dem Mongolen die ungeheueren Strecken des östlichen Asiens zur Wiege gegeben wurden, so finden wir ebenfalls in den australischen Stämmen eine besonders jenem Lande vollkommen eigenthümliche Race, die weder dem Malayen, noch weniger aber dem Aethiopier für ihren Ursprung zu danken hat, sondern auf dem Boden, auf dem sie lebt, mit dem Känguruh zugleich erschaffen wurde.


Die Fata Morgana in der Wüste.[1]
Schilderungen aus dem westlichen Nordamerika.
Von Balduin Möllhausen.

In den fernen, fernen westlichen Regionen, wo der wolkenlose Himmel sich in selten getrübter Klarheit über endlose Grasfluren und unabsehbare, dürre Sandwüsten wölbt, wo der einsame Wanderer die Richtung seines Weges nach der getreuen Magnetnadel oder nach den leitenden Gestirnen wählt, und vergeblich nach einer Unterbrechung der weitgeschweiften Linie des Horizontes späht, wo kein Baum oder Strauch, kein Hügel oder Berg das müde, irrende Auge grüßt, da schafft die Fata Morgana, bald lockend und fesselnd, bald neckend und peinigend ihre trügerischen Bilder.

Schon in der Frühe beginnt sie ihr launenhaftes Spiel, denn wenn die Sonne, das nächtliche Dunkel verdrängend, sich leise dem Rande der Wüste nähert, dann entstehen im gerötheten Osten, wie von unsichtbaren Händen erbaut, zauberische Paläste, malerische Städte, schlanke Obelisken und regelmäßige Denkmäler, wie sie die kühnste Phantasie nicht wunderlicher zu entwerfen vermag. Es sind dies die verschobenen Formen von Berg, Hügel und Wald, welche, zu ferne, um über den Horizont emporzuragen, sich in den oberen Luftschichten spiegeln.

Wie nun allmählich die Sonne höher steigt, verändern und verkleinern sich die bizarren Außenlinien, und die luftigen, aber scharf abhebenden Bilder erbleichen, ähnlich scheidenden Träumen oder den aus süßem Duft gewebten Palästen der Elfen in den Zaubermärchen. Eilen dann die ersten Lichtstrahlen blitzend über die weite Ebene, so verschwimmen sie endlich ganz im sonnigen Aether, und es zeigt sich dem Wanderer die Prairie wie ein grün schimmerndes Meer, die gelbe Sandwüste aber wie das starre, schreckenerregende Bild des Todes. – Wenn dunkele Schatten noch auf der Ebene ruhen, der Thau vereinzelte Halme perlenähnlich beschwert und den abgekühlten Sand leicht befeuchtet, dann schüttelt der kundige Wüstenreiter den Staub aus seiner Decke, sattelt sein [476] geduldiges Thier, und die erfrischenden Morgenstunden zur Reise benutzend, zieht er mit verdoppelter Eile dahin. Verwunderungsvoll schaut er hinüber nach den Städten und Schlössern, deren Zinnen ihm so einladend winken und den baldigen Aufgang der Sonne verkünden; er kennt die Erscheinung und berechnet die Tagereisen, die ihn noch von den schattigen Wäldern und aufstrebenden Bergen trennen, welche zwar noch tief unter dem Horizont liegen, deren Vorhandensein ihm aber die Luftspiegelung verräth. Sein Begleiter, ein eingeborener Sohn der Steppe, wendet keinen Blick von den phantastischen Formen und flüstert auf geheimnißvolle Weise: „Das ist Manitou, der uns zur Geduld mahnt und uns die goldenen Wigwams in den seligen Jagdgefilden zeigt.“

Höher steigt die Sonne; tausendfach brechen sich die Strahlen in den glatten, buntfarbigen Kieseln, welche den Boden mosaikartig bedecken, und schmerzhaft berührt der verstärkte Glanz das von allen Seiten geblendete Auge; mit gesenkten Häuptern ruhen die Männer im Sattel, und mit gesenkten Häuptern schreiten die Thiere dahin, wie im Vorgefühl der Qual, welche ihnen durch die sich steigernde Sonnengluth und den sich mehrenden Durst droht. Die Reiter vermeiden es zu sprechen, der letzte Trunk aus der Kürbisflasche wurde ja schon vorsichtig in der Frühe geschlürft, und wer weiß, wo und wann sie wieder auf Wasser stoßen werden, denn ringsum, so weit die Blicke reichen, ist kein Zeichen wahrnehmbar, von welchem man auf die Nähe einer Quelle schließen könnte; selbst die tröstende Luftspiegelung, die von fernen Wäldern und Bächen erzählt, ist verschwunden, und an ihre Stelle tritt die peinigende Luftspiegelung, welche in Afrika’s Sandsteppen so bezeichnend „Durst der Gazelle“ genannt wird.

Fata Morgana in der Wüste.

Freundlich winkt in der Ferne eine kleine Wasserfläche, dürrer Sand faßt dieselbe zwar ein, doch doppelt lieblich spiegelt sich dafür der blaue Himmel in den klaren Fluthen, die, wie von einem sanften Lufthauch bewegt, leicht gekräuselt erscheinen. Aufmerksam schauen die Reisenden hinüber, aufmerksamer noch beobachten sie das Benehmen ihrer Thiere, doch diese, vom Instinct geleitet, verfolgen unbeirrt mit gesenkten Köpfen ihren mühevollen Weg und achten des Wassers nicht, welches, gleichen Schritt mit ihnen haltend, neckisch vorauseilt. Höher steigt die Sonne und fast senkrecht fallen die brennenden Strahlen auf den heißen Sand. – Plötzlich beginnt der See sich nach allen Richtungen hin auszudehnen, und buchtenähnlich, wie beim Austreten großer Gewässer, erstrecken sich die Fluthen in weitem Halbkreise um die Wanderer. „Das ist das Gespenst der Wüste,“ sagt der weiße Reiter zu seinem rothhäutigen Gefährten. „Es ist der böse Geist, der uns zu martern gedenkt,“ antwortet dieser, „er ladet zur Rast ein, um uns zu verderben, aber seine Mühe ist vergeblich, selbst unsere Thiere glauben ihm nicht.“

Der schmale Landstreifen, der den umfangreichen See vom Horizont trennt, schwindet immer mehr, zerreißt endlich ganz, und wie auf dem ewigen Ocean, so schweift der Blick über eine Wasserfläche, welche in weiter Ferne mit dem sonnigen Aether zusammenfällt. Die erhitzte Atmosphäre bebt und flimmert, und wie mit regelmäßigem, gleichförmigem Wellenschlag bewegt sich der See; Meile auf Meile legen die Reiter zurück, und eben so schnell weicht vor ihnen der trügerische Wasserspiegel. Der Sand knirscht unter den beschlagenen Hufen und keuchend dringt der Athem aus der beengten Brust; sonst herrscht Todtenstille überall; die Natur scheint wie ausgestorben, und außer einigen goldbeschwingten Laufkäfern, die flüchtig über den losen Sand eilen, zeigt sich kein Leben in dieser niederdrückenden Einsamkeit. Da tauchen plötzlich aus dem Wasser, in nicht allzugroßer Entfernung, zwei unförmliche Gestalten auf; man könnte geneigt sein, dieselben für halbversandete Sphinxe zu halten, wenn sie nicht durch mancherlei Bewegungen Leben und eigenen Willen verriethen. Scheinbar schwimmend nähern sie sich mit gewaltigen Stößen einander und trennen sich dann wieder, und deutlich spiegelt sich ihr umgekehrtes Bild in den klaren zitternden Fluthen. Jetzt, wie durch Zauber, verwandeln sich die Sphinxe in breite, plattgedrückte Schwimmvögel, die bald mit verlängerten, bald mit verkürzten Hälsen auf dem Wasser einherschreiten. [477] Mit jedem Augenblick nähern sich die Reiter den wunderlichen Geschöpfen, und wie sich ihre Stellung zu denselben verändert, so verändern diese ihre merkwürdigen Formen, denn nachdem sie zu beinahe unsichtbaren Punkten zusammengeschrumpft sind, beginnen sie wieder in die Höhe zu schießen und zu wachsen, bis sie langgereckten, spindeldürren Kranichen gleichen. Die beiden Kraniche reißen mitten auseinander, und es erscheinen deren vier, von welchen zwei auf den Köpfen stehen, auf ihren hoch hinaufreichenden Füßen ihre eben so langbeinigen Doppelgänger tragen und deren kleinste Bewegung genau nachahmen. Das Wasser scheint unter den gespenstigen Bildern fortzugleiten, und nach wenig Schritten erblicken die Reisenden zwei hungrige Krähen, die sich bei ihrer Annäherung von dem glühend heißen Sande erheben und verdrießlich krächzend über sie hinflattern. „Das sind die bösen Geister,“ sagt der Indianer, „aber sie lauern vergeblich auf unser Fleisch.“

Sein Gefährte nickt, und schweigend verfolgen sie dann wieder ihre staubige Straße. Mechanisch halten sie die Augen auf einige Wildspuren geheftet, welche, an den runden Aushöhlungen in dem losen Sande kenntlich, in derselben Richtung stehen. Eine Bewegung der Thiere veranlaßt die Reiter aufzuschauen, und sie erblicken in geringer Entfernung eine schöngezeichnete Antilope, die sich eben erhoben hat und sie neugierig betrachtet. Die Büchsen gleiten in die Hände, doch wie im Bewußtsein einer annähernden Gefahr, eilt das anmuthige Thier in langen Sprüngen dahin. Nach kurzem Lauf erreicht es den See; das Wasser hemmt nicht seinen flüchtigen Fuß, aber wie ein muthwilliger Kobold verändert und verdoppelt es seine Gestalt in der nächsten Minute. Sich hin- und herschwingend wachsen die beiden über einander hängenden schattenähnlichen Figuren, nach einigen vergeblichen Versuchen der Vereinigung, fest zusammen, und sich ausreckend zur langhälsigen Giraffe und zusammensinkend zur unbeholfenen Schildkröte, eilt die Antilope unaufhaltsam dahin. Plötzlich versinkt sie in den Wellen, Kopf und Hals ragen noch hervor, doch auch diese verschwinden, wie bei Ertrinkenden erscheinen noch einige Male die äußersten Spitzen der Ohren und des Geweihes auf der Oberfläche, und auf vielen Quadratmeilen durch nichts unterbrochen, zittert und bebt das trügerische Wasser in seiner gewöhnlichen neckischen Weise. Stunden verrinnen, ermattet folgen die Thiere dem fliehenden See, der sich wie spielend ausdehnt und verkleinert und beständig seine niedrigen Ufer verschiebt; Inseln tauchen auf und verschwinden wieder; ein schmaler Landstreifen begrenzt zeitweise den Horizont, und stromähnlich schießen zuweilen Wasserstrahlen nach verschiedenen Richtungen hin.

Die Sonne senkt sich, schräger fallen die Strahlen, häufiger werden die Inseln, weniger das Wasser, bis endlich nur noch hin und wieder kleine Pfützen die mattgelbe Sandfläche zieren; doch auch diese zergehen, und ungestört liegt sie wieder da in ihrer traurigen Oede und Einsamkeit, die nackte, schreckliche Wüste.

„Ich wollte, das Wasser wäre nicht mehr ferne,“ sagt der weiße Reiter zu dem braunen, indem er mitleidsvoll den bestaubten und von Schweiß triefenden Hals seines geduldigen Thieres klopft.

„Eh’ die Sonne sinkt, werden wir dort sein,“ antwortet dieser, und stumm reiten sie dann wieder neben einander hin.

Da spitzen die Thiere plötzlich die Ohren, schnaubend stoßen sie den heißen Athem durch die weitgeöffneten Nüstern und ohne durch Peitsche oder Sporen aufgemuntert zu sein, beschleunigen sie ihre Schritte. – Nichts verkündigt dem Auge des Menschen die Nähe des Wassers, die Thiere aber haben es erkannt, neues Feuer blitzt aus ihren Augen, und so leicht eilen sie dahin, als ob keine Last ihre Rücken beschwerte. Eine Stunde später trinken Reiter und Thiere aus einer spärlichen aber klaren Quelle, welche in einer Thalsenkung den sandigen Boden in geringem Umkreise befeuchtet. Etwas Gras, untermischt mit dornigen, krautähnlichen Stauden, fesselt die Thiere besser, als es die langen Fangleinen vermöchten, und nach kärglichem Mahl aus der gefüllten Satteltasche lagern sich die Wanderer, um sich nach mühevoller Reise des erquickenden Abends und der nächtlichen Ruhe zu erfreuen. Die Sonne versinkt; schnell geht die Dämmerung in Dunkelheit über, tiefer Schatten bedeckt Alles, was das Auge unsanft berühren könnte, und gestattet es der regen Phantasie, sich mit Bildern reicherer Zonen zu umgeben; aber von mildem Licht übergossen erglänzt das sternenbesäte Firmament und erzählt und zeugt von der genauen Befolgung streng vorgeschriebener Gesetze.




Ein einsames Herz.
Von F. Brunold.

Der Leichenwagen hielt vor der Thür. Die alten Frauen, die, wie bei den Trauungen vor den Kirchen, bei jedem Leichenbegängniß vor den Häusern sich aufhalten, standen auch hier, die Hände unter der Schürze, um sich wie immer, über Jedes ihre Bemerkungen laut und ungehindert mitzutheilen. Sie warfen einen Blick auf den Leichenwagen und sagten: „Es ist der große! Also keine kleine Leiche!“

„Ja!“ sagte die Eine, „dort kömmt auch Geheimraths Kutsche angefahren.“

„Und der Herr Rechnungsrath von neben an,“ sagte eine Andere, „hat sogar seine Orden vorgebunden und den neuesten Frack angezogen. Man sollt’s nicht meinen!“

„Und nun sehe Einer die Blumenpracht!“ sagte die Dritte. „Sollt’ man nicht glauben, die Dinger wüchsen jetzt wie die Grashalme auf allen Plätzen? Und wir haben doch erst April im Kalender, wo eben die Rosen und Schmucklilien nicht wie Gras wachsen. War das ein Anblick!“

In diesem Augenblick fuhren wieder mehrere elegante Kutschen vor, in denen, wie man sah, reiche und vornehme Herren saßen. Auch der Prediger kam und ging in das Haus. Mehrere Damen, in tiefe, schwarze Gewänder gehüllt, blühende Myrthen und andere herrliche Blumen in der Hand, folgten bald darauf. Alle schritten sie mit dem unverkennbarsten Zug der tiefsten Trauer die Treppe hinauf zur Wohnung, wo die Leiche stand.

„Wer ist gestorben?“ frug eine schöne blühende Frau. „Wohl ein junges Mädchen, das oben im Sarge liegt?“

„Nicht jung! nicht hübsch mehr!“ hieß es. „Die droben liegt, war eine arme Nähterin – und jung? – Nein! jung war sie schon lange nicht mehr!“

Die Frau schwieg, sie schien nicht mehr reden zu wollen, sie ging in das Haus hinein und schlich sich langsam, leise, gefolgt von etlichen Anderen, die Treppe hinauf, bis sie endlich vom Flur aus durch die offene Thür den Sarg sehen konnte, wie auch im Nebenzimmer die Leidtragenden, die sich anschickten, die Rede des Geistlichen zu vernehmen. Die Frauen waren gerade noch zu rechter Zeit gekommen. Man war im Begriff den Sarg zu schließen – noch ein Blick, der letzte, war ihnen vergönnt.

Und da lag sie nun in weißem Sterbekleide in dem schwarzen Schrein, der überaus reich mit weißen Kanten, Spitzen und Bändern garnirt war, die volle, blühende Myrthenkrone auf dem Haupt, umschlungen von einem Kranz von Camelien und weißen Rosen. Die Hände ruheten gefaltet auf der Brust, auf der sonst nichts weiter lag als ein kleines, schmuckloses, goldenes Kreuz, das an einem einfachen, weißseidenen Bande vom Halse niederhing. – Der Sarg wurde geschlossen. – Es war geschehen! Die Frauen und Jungfrauen, die jungen lieblichen Kinder, die im Nebenzimmer geweilt, kamen und legten ihre duftenden Blumen, ihre Kränze auf den Sarg, sodaß derselbe wie unter einer Blüthendecke begraben lag. Die Rede des Geistlichen begann. Und während derselbe in einfach rührender Weise der Geschiedenen dachte, während die Umstehenden sich der aufrichtigen Thränen des Schmerzes und der Wehmuth nicht enthielten, ging den Einzelnen das Leben der nun in dem Herrn Ruhenden in Bildern und Zügen der Erinnerung vorüber.

„Weißt Du noch?“ flüsterte eine Dame in schwarzer Robe, an deren Seite zwei herrlich schöne Kinder weinend standen, ihrer Nachbarin zu, „weißt Du noch?“

Und die Andere nickte leise und sagte traurig: „Ich weiß es wohl!“


Wie hatte einst der Frühling des Lebens, der Lenz der Natur der Verstorbenen entgegengelacht! Ihr Vater war Beamter des großen königlichen Instituts, dessen Säulen des Portals, dessen reichgeschmückte Giebelwand jetzt noch die breite, prächtige Straße daher [478] leuchtet. Sie war ein wahrhaft schönes Mädchen, sie gehörte zu jenen Wesen, von denen die Sage geht, daß ein Engel bei ihrer Geburt die Augen ihr geküßt habe und dadurch die anfangs schwarzen in dunkelblaue umgewandelt, während das Haar seine glänzende Rabenschwärze behielt. Ihr Anblick hatte etwas bezaubernd Anziehendes, und dieser Anblick wurde schöner und schöner, je mehr sie sich zur Jungfrau entwickelte, je mehr ihr inneres und äußeres Leben sich entfaltete.

Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß die jungen Männer, die vorübergingen, die am Fenster Sitzende bewunderten, und daß manch’ Einer von ihnen sich zu der aufbrechenden Mädchenrose hingezogen fühlte. Und als die Liebe nun durch ihre Seele zog, als sie meinte, Den gefunden zu haben, dem ihr Herz jubelnd entgegenflog, da war ihr Leben ein einziger Wonnegesang. Sie jubelte dies Glück nicht aus in Wort und Blick, aber ihr ganzer Körper schien durchgeistigt vom Hauch der Liebe, ihr Körper schien Engelsflügel bekommen zu haben – und in ihrer Brust schienen unzählige Lerchen einen Wettgesang anzustimmen.

Und als dennoch, wenige Monden darauf, diese Liebe zu Grabe getragen werden mußte, als er, der Treue geschworen, diese Treue brach, ihr Ringlein ihr wiedergab – hat sie nicht laut geschrieen, geklagt und die Hände gerungen; sie hat nur wochenlang still gelegen, wie in Todesschlaf versenket. Und als sie endlich zu neuem Leben erwachte, wußte man es, daß der Engel, der die Augen ihr geküßt – der Engel der Schmerzen gewesen war.

Bald darauf trat ein neues Unglück ein. Der Vater starb. Und wie es bei solchen Beamtenfamilien meist der Fall zu sein pflegt, daß, wenn der Gatte die Augen schließt, auch die Sorge und Noth, die bisher das kaum nothdürftig ausreichende Gehalt von Monat zu Monat fern gehalten hat, klar zu Tage tritt, so war es auch hier der Fall. Das Amt war kein bedeutendes gewesen, Vermögen nicht gesammelt worden. Die Dienstwohnung mußte verlassen werden, und Mutter und Tochter zogen in eine bescheidenere, als sicheres Einkommen nur die Pension genießend, die der Beamtenwittwe von Staatswegen zu Theil wurde.

Ein anderes Mädchenherz wäre dem Schmerze erlegen. Ihr stählte der Schmerz den Charakter, die innere Lebenskraft. Es war ein bescheidenes Stübchen, das Mutter und Tochter von jetzt ab ihr eigen nannten. Alles Ueberflüssige, alles Entbehrliche war verkauft worden. Sie lebte von nun ab für die Mutter; sie arbeitete für sie. Und als Letztere weinend die Hände auf ihr Haupt legte, sagte sie in ruhigem Ernst:

„Beklage mich nicht! Ich habe des Lebens schönstes Glück genossen; ich habe das Diadem der Freude getragen – und so will ich auch die Schattenseite von diesem Dasein dulden. – Es kommt ja nicht darauf an, wie lange man ein Glück genießt, sondern nur, daß man überhaupt von Gott gewürdigt wurde, es zu genießen. – Ich habe geliebt, treu, herzinnig, mit ganzer Kraft meiner Seele; ich werde dieser Liebe nicht für einen Augenblick uneingedenk bleiben, ich werde mich derselben nimmer schämen; aber an das Licht des Tages soll dieselbe niemals wieder treten. – Und wenn ich heut, zum ersten Mal nach seinem Scheiden, von dieser Liebe zu Dir, Mutter, spreche, so laß es auch das letzte Mal gewesen sein! – Ich will und werde diese Liebe niemals verleugnen; nein, offen will ich es bekennen: Ich habe ihn herzinnig lieb gehabt, wie nur ein Herz das andere lieben kann – aber sprechen davon laß uns nimmer wieder. Ich bin glücklich gewesen. Dieses Glück war zu groß, zu schön für mich; und um desselben willen vergebe und vergesse ich die Schmerzen, die sein Scheiden mir bereitet hat. Möge die Erinnerung an mich nie den Frieden seiner Seele trüben.“

Sie schwieg; – und niemals wurde des Gegenstandes wieder mit Worten gedacht. Keine der Bekannten, keine der Freundinnen erwähnte jemals dieser Liebe wieder. Sie wußten es Alle, daß sie diese Liebe noch immer verschwiegen in der Brust trug, daß sie aber auch zugleich dieselbe nicht durch ein profanes Wort entheiligt oder geschmäht wissen wollte. Den eigentlichen Grund, weshalb diese Herzen sich schieden, hat Niemand erfahren, sie hat ihn mit in’s Grab genommen.

Nur manches Mal in tiefer Nacht,
Wenn Alles ringsum schlief,
Ist sie aus bösem Traum erwacht,
Und seufzte schwer und tief.

Und unbewußt der Lippe leis’
Entfuhr ein Name dann
Indeß vom Auge fiebernd heiß
Einsam ’ne Thräne rann.

Sie hat gelebt, geschafft, gearbeitet für die Mutter. Und als diese, sie segnend, starb, blieb sie in dem Stübchen wohnen, das sie bislang inne gehabt – und schaffte und arbeitete mehr denn zuvor – für sich, für ihren Unterhalt. Kamen die Freundinnen, die Bekannten und baten, diese oder jene Unterstützung nachzusuchen, diese oder jene Hülfe anzunehmen, die ihr gut thun würde, da der Mutter Pension ja nun auch seit dem Tode derselben nicht mehr ausgezahlt würde, so schüttelte sie ernst das Haupt und sagte: „Nein, nein! nicht betteln! Der Staat hat genug zu ernähren; ich kann arbeiten; ich werde und will Niemand zur Last fallen.– Was thut’s, daß ich von früh auf bis spät in die Nacht hinein werde die Nadel führen müssen? Ich danke es meiner guten Mutter, daß sie mich das Nützliche, das Brauchbare lernen ließ, daß sie mich an ernste, ausdauernde Thätigkeit gewöhnte. – Ich werde nicht mehr, wie in jungen Jahren, am Clavier sitzen und singen können, aber meine Lieblingslieder kann ich mir noch immer, wie ehedem, bei der Arbeit summen. Was thut’s, daß ich nicht mehr Blumen und Bilder zeichnen kann, die ja doch im Ganzen genommen werthlos waren? Ich sticke dafür jetzt die schönsten Blumen und Arabesken in Tüll und Mull, und meine Gedanken sticke ich eben mit ein. Freilich! meine lieben Bücher, meinen Schiller, meinen Lessing, werde ich nicht mehr lesen können – ich muß meine Augen schonen. Doch sind sie mir deshalb gänzlich verloren? Wird die Recha des Nathan mir nicht immer gegenwärtig bleiben? Wird Schiller’s Louise, seine Maria, seine Thekla, seine Bertha mir nicht, wie sonst, zu Herzen sprechen? – Was ich liebte, das Gute, vergesse ich nimmer, nur das Böse suche ich aus meinem Gedächtnisse zu verbannen.“

Und nach einer Weile setzte sie, ein wenig schalkhaft lächelnd, hinzu: „Fürchtet auch nicht, daß ich in der Mode werde gänzlich zurückbleiben! Ihr wißt, ich hielt von jeher auf guten Stoff zu meinem Anzuge – und der veraltet immer weniger leicht, als solch unsolider Firlefanz. Ihr sollt in mir keine Vogelscheuche finden – die Euch die Gäste vertreibt, so ich einmal Euch zu besuchen komme.“ Das sprach sie Alles so sanft, so ruhig mild lächelnd, daß man ihr nicht zürnen konnte, aber daß man sie auch lassen mußte, wie sie war, wie sie blieb, wie sie sein wollte. ––

Und sie war und blieb einsam, still für sich, auf sich selbst bauend, sich selbst vertrauend. Die Jahre kamen und gingen. Ihre Freundinnen wurden verheirathet, sie wurden glückliche Mütter – und schickten nun, wenn sie nicht selber kommen konnten, ihre Kinder von Zeit zu Zeit zu der Freundin, die sie nicht vergessen hatten, die sie selbst noch zu besuchen kamen, hin und wieder, wie ehedem, da sie noch jung waren, da die Tage des Schmerzes, der Einsamkeit noch nicht gekommen waren. Sie selber klagte nie, sie blieb sich immer gleich, gleich mild, gleich freundlich, den Kindern eine liebe gute Tante, zu der sie gern gingen, zu der die Mütter sie gern sendeten.

Der Geheimrath, der drüben, ihr gegenüber, seit einiger Zeit in der theuren Wohnung wohnte, sah ihr Licht noch spät in der Nacht schimmern, wenn er von seinen Acten aufblickte oder aus fröhlicher Gesellschaft spät nach Hause kam. Er fand sie immer schon auf, still am Fenster nähend sitzen, wenn er früh des Morgens aufstand und zu seinem Tische ging. Er kannte sie, ihr Leben – er hatte sie von Jugend an gekannt. Sein Vater war Director des Instituts gewesen, an welchem der ihrige seine bescheidene Unterstelle gehabt hatte. Er gedachte des schönen, blühenden Mädchens, mit dem er sich als Knabe fröhlich durch den Garten getummelt hatte, dem er später als Jüngling so manche kleine Aufmerksamkeit erwiesen hatte, dessen Liebesleben den äußeren Umrissen nach ihm nicht unbekannt geblieben war. Jetzt sah er nun das alternde, einsam drüben am Fenster sitzende Mädchen, dessen Leben einst so glücklich, so heiter, sorgenlos zu werden versprach. Er konnte es nicht lassen, es drängte ihn, er mußte zu ihr gehen, er mußte sehen, wie es ihr ginge.

Und sie erkannte ihn gleich, sie erröthete ein wenig, als sie ihn eintreten sah. Aber es war nur einen Augenblick, und die flüchtige Scham, die sie empfand, daß sie in so beschränkten Verhältnissen dem gegenüber stehen mußte, der sie einst wohl anders wieder zu sehen erwartet hatte, war überwunden. Sie kam seiner offenen Güte, seiner Freundlichkeit herzlich entgegen. Sie wies seine angebotene Hülfe nicht zurück, aber sie nahm dieselbe auch nicht an.

[479] „Ein einzeln stehendes weibliches Wesen bedarf wenig,“ sagte sie.

„Und wenn Sie älter werden?“ sprach er und blickte sie dabei voll Wehmuth und Theilnahme an.

„Ja, freilich,“ sagte sie und fuhr sich dabei mit der Hand über die noch immer schöne Stirn, „wer möcht’ gern alt werden! und wir Frauenzimmer am wenigsten, und doch nimmt das Alter keine Rücksicht, es kommt – und oft recht fühlbar.“

Doch als er nun dringender fragte: „Haben Sie jemals an diese Ihre Zukunft gedacht? Haben Sie einen Plan? Bitte, sprechen Sie!“ da schaute sie ihn an mit den blauen, von dem Engel geküßten Augen und sagte: „Ich denke immer, Gott wird mein Gebet erhören und mich früher von der Welt nehmen, ehe diese Hände, diese Augen aufhören, ihren Dienst zu versehen. Doch freilich, Gottes Wege sind wunderbar! So hab’ ich also auch den Fall bedacht. Und damit Sie sehen, daß ich Ihr freundliches Entgegenkommen in vollstem Maße zu schätzen weiß, will ich Ihnen sagen, was ich meine, und Sie sollen mir dazu behülflich sein, damit geschieht, was ich wünsche. Nein, nicht gerade was ich wünsche, aber was ich doch als Nothwendigkeit betrachte, wenn mich Gott nicht früher abrufen sollte. Blicken Sie zum Fenster hinaus, von drüben herüber glänzen uns die Giebel des Magdalenenstiftes entgegen. Das ist ein Zufluchtsort für ältere Damen. Dort möchte ich mein Leben beschließen. Wollen Sie für mich die geeigneten Schritte dazu thun?“

Der Geheimerath blickte auf das einst so blühende Mädchen, er gedachte ihrer Schönheit, ihrer Jugend – und nun ihres Wunsches, ihrer Zukunft. Ein schmerzliches Gefühl zog durch seine Brust; er konnte nicht sogleich antworten – er mußte schweigen.

Sie sah seine Bewegung, sie wußte, was in ihm vorging, und sprach daher weiter, unter wehmüthigem Lächeln: „Es berührt Sie eigen, daß ich meine Zuflucht in ein Stift der Barmherzigkeit, oder wenn Sie wollen, in ein Spital nehme. Der Name schreckt mich nicht. Und meinen Grundsätzen, mich, so lange es geht, mit eigener Kraft durch die Welt zu bringen, werd’ ich dadurch nicht untreu. Anstalten der Art werden von Bittgesuchen bedeutend heimgesucht, sodaß unter Vielen es nur Wenigen gelingt, die Aufnahme zu erreichen. Wollen Sie deshalb für mich schon jetzt die geeigneten Schritte thun? Ich thät’ es selbst, aber ich denke, ein Mann in Ihrer Stellung findet weniger die Thüren und Herzen verschlossen, als es mit einem unbedeutenden Frauenzimmer der Fall sein würde. Wollen Sie?“

Der Geheimrath mußte unwillkürlich die Hand der Bittenden ergreifen, und er sagte in einiger Hast, wie voll Freude: „Gewiß will ich das thun!“ Zögernd jedoch setzte er hinzu: „Aber wissen Sie auch, daß eine bedeutende Summe zum Einkauf in die Stiftung nöthig ist?“

„Ich weiß es!“ sagte sie ruhig, als sie sah, daß der Geheimrath in seiner Rede inne hielt, „und daß ich dies weiß, macht es eben, daß mir die Aufnahme in dies Stift besonders wünschenswerth ist. Ich mag umsonst, aus Gnad’ und Barmherzigkeit, nicht Aufnahme finden. Zahle ich, wenn auch wenig, bin ich gleichsam dort, wie auf Leibrenten!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die französischen Orpheonisten in London. So dicht das englische Insel-Land auch an Frankreich sich mit seiner breiten Basis anlehnt, kann es doch nichts Verschiedeneres geben, als diese Gallier drüben und diese Anglosachsen hier. Haben sie doch auch Jahrhunderte lang theils wirklichen Krieg mit einander geführt, theils auf Kriegsfuße gelebt. Und auch neuerdings rüsten sie sich in gegenseitiger, diplomatisch gebrauter Entrüstung. Am 24. Juni paradirten 25,000 Mann Londoner Freischaaren vor der Königin im Hyde Parke. Ganz England bedeckt sich mit solchen freiwilligen Rifle-Corps, weil man sich ernstlich und gründlich vor einer französischen Invasion fürchtet, auch nachdem die Diplomaten beider Völker nach mehrjähriger „Alliance“ noch einen ganz besondern Friedens- und Freihandels-Vertrag geschlossen haben. Wer herrscht jetzt in Europa? Man sage nicht: Hier Dieser, dort Jener. Es gibt nur Eine herrschende Macht, das von Napoleon ausschwitzende, über ihm schwebende Fatum allseitigen, alle Herrscher beherrschenden Mißtrauens, die Nemesis der letzten 10 Jahre, als deren Personification wir den grauen oder schwarzen Mann in Paris anzuerkennen haben. Dieses allseitige Mißtrauen begleitete auch die große Sänger-Mission aus Frankreich. Der aus 200,000 Mitgliedern bestehende, über ganz Frankreich verbreitete Sängerbund der Orpheonisten (nach Orpheus, dem antiken Meister der Töne, so genannt) sandte in fünf Dampfschiffen und mit Extra-Eisenbahnzügen über 3000 seiner besten Sänger herüber nach London in den Krystall-Palast, dazu die rothen, gelbgestreiften „Guides“, das vollkommenste Orchester, das je existirt haben soll. Sie feierten durch ihre Gesänge und Töne in einem dreitägigen Gesangsfeste einen beispiellosen Triumph vor dem nach Tausenden zählenden englischen Publicum, das ihnen einen in England ebenfalls unerhörten Enthusiasmus zeigte, wie ihn Engländer wohl kaum je gefühlt haben.

Und doch munkelt das Mißtrauen, diese beinahe 4000 lustigen, singenden Franzosen in England seien nichts als eine Art trojanisches Pferd, wie es die Griechen einst als Friedenszeichen in das belagerte Troja sandten. Riskirte der Krystall-Palast die schweren Kosten, 4000 Franzosen aus allen Theilen Frankreichs nach Dieppe zusammenzubringen, sie von da aus in fünf Expreß-Dampfschiffen nach Newhaven, von hier durch Expreß-Eisenbahnzüge nach London zu fördern und hier mindestens acht Tage lang zu logiren und zu beköstigen, – etwa 20,000 Pfund Auslage? Unmöglich, sagt das Mißtrauen, zumal da Napoleon mit großer Bereitwilligkeit seine „Guides“ gleichsam zugab. Der Krystall-Palast hat allerdings schon über 18,000 Pfund riskirt, um das Händelfest zu Stande zu bringen, und dabei just 18,000 Pfund Reingewinn gemacht. Warum hätte er nicht mit der berühmtesten und großartigsten aller musikalischen Körperschaften eine ähnlich kostbare Specülation wagen sollen? Wir unsererseits weisen den sonst überall in Diplomatie und Politik herrschenden Popanz des Mißtrauens aus dem Kreise der lustigen, friedlichen Orpheonisten, die sich den Teufel um den Menschen scheeren, für den nie eine Leyer erklang, nie ein Orpheus in die Saiten griff, und aus dem sonnigen Feentempel des Krystall-Palastes, wo die Directoren zwar immer großartig und scharf speculiren, aber eben deshalb gewiß nie auf den Gedanken kamen, aus der jetzigen Politik Geld zu machen.

Wir sind plötzlich mitten im Feste. Doch nein, erst müssen wir diesen ungeheueren Halbmond von Orchester, diese Auserwählten der großartigsten musikalischen Schöpfung und Organisation, vorstellen. Vor etwa funfzehn Jahren fing ein Deutscher in Paris, den die Franzosen Wilhem schreiben (jedenfalls entstellt), an, Singvereine in Schulen und Gemeinden zu gründen. Er aber starb unter unglücklichen Versuchen. Eugéne Delaporte, Organist in der Hauptkirche zu Sens, Schüler und Erbe des Wilhem’schen Planes, wanderte eines Tages mit einem Stock und einer Reisetasche hinweg von seiner Orgel, seinem Brode, seiner Familie, von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf in Frankreich, Singvereine und „Choral-Gesellschaften“ gründend. So wanderte, schuf und organisirte er unter den mannichgaltigsten Hindernissen vier Jahre. Dann kam Hülfe und Gunst von Obrigkeiten und künstlerischen Berühmtheiten. Jetzt gibt’s in allen größern Städten und selbst in unansehnlichen Dörfern Frankreichs Orpheon-Gesellschaften, zusammen über achthundert mit 40,000 ordentlichen und 200,000 „Auxiliar“-Mitgliedern. Sie singen und üben Liebe und Freundschaft gegen einander und arme Menschen. Bereits über zwei Millionen Francs haben sie für letztere ersungen und vertheilt. Paris ist deren Mittelpunkt und Delaporte noch deren geliebtes, allverehrtes Haupt. Als er unten im Orchester erschien, am 20. Juni um 3 Uhr, vor mehr als 10,000 Köpfen des höheren englischen Publicums, wurde er von seinen Sängern mit einer wahrhaften Wuth enthusiastischer Begeisterung, mit Freudenschrei, geschwungenen Kopfbedeckungen aller Art und Notenblättern empfangen.

Dumpf rauschende, seidensäuselnde, notenblätterig raschelnde, erwartungsvolle Stille. Plötzlich auflebendes, schnell anschwellendes Gelächter mit Jubelruf und Händegeklatsch. Was ist’s? In einer der Passagen unten zwischen den zehn Schillinge à Person placirten Tausenden windet sich schnell und graciös aalartig ein agiler kleiner Franzose mit einem irgendwo geraubten Stuhle, von einem Kellner verfolgt, der ihm den Stuhl mit Gewalt wieder abnehmen will. Der Franzose siegt und triumphirt fliehend, den Stuhl geschickt aus der einen in die andere Hand sichernd, schlüpfend, tanzend, gleitend vor dem verfolgenden, plump und vergebens zutappenden Engländer, der, obgleich mit Gesetz und Recht auf seiner Seite, aber „auf beiden Händen links“, eclatant und unter gloriosem Gelächter total geschlagen wird. Der Franzose tanzt mit dem Stuhle bis zu seiner Dame, pflanzt diese darauf und winkt dem Verfolger mit allerliebster, graciöser Unverschämtheit, sich zurückzuziehen. Dieser zieht sich zurück, so verlacht und so verschämt mit eingebogenen Leibrocksflügeln, wie ein geprügelter Köter mit eingeklemmter Ruthe. – Eine ganz unbedeutende und doch ganz ungeheuer charakteristische Scene. Wie ich vorher und nachher bemerkte und es durchweg schlagend auffiel, zeichneten sich diese allerliebst schmutzigen, leger liederlich, sogar oft ärmlich gekleideten, kleinen, schwatzenden, lärmenden, braunen und bronzenen, frechen Franzosen, Kinder eines geknechteten Staates, durch das allerfreieste Benehmen vor den freien, durch Etikette und Vatermörder, durch sociale Aengstlichkeit und Langstieligkeit geknechteten, kleinlauten, ängstlich reinlichen, weißgewaschenen, sorgfältig gebürsteten, am Hinterkopfe gescheitelten, backenbartstarrenden Engländern aus. Das Rauchen, an unzähligen Stellen des Krystall-Palastes strict verboten, war ihnen überall erlaubt, weil sie die Leichtigkeit und Courage hatten, dem Gesetze zu trotzen. Sie schwatzten und sprangen überall umher wie personificirte Anarchie. Und die Engländer waren außer sich vor Freude über diese Blüthen der Volkssouverainetät, die sie zum ersten Male von diesen Kindern des Tyrannenstaares kennen lernten.

Sie sangen. Dreitausend auserwählter Männerstimmen. Ich kann nicht sagen, was und wie sie sangen. Ich bin kein Musikkenner, aber noch nie haben Engländer ihr „God save the Queen“ so glorios, so deutlich, so wirksam vernommen, und über ihr „Veni, Creator“ Mozarts und dessen „O Isis und Osiris“ jauchzte Alles, was da gekommen war. Sie sangen theils ohne, theils mit Orgel-, theils mit „Guides“-Begleitung, immer [480] triumphirender, immer erwärmender, in Begeisterung erhitzender. Ach, und „der kleine Rekrut“ von Kücken und das Mendelssohn’sche „Lebewohl!“ und andere heimische Klänge hier in gloriosester Meisterschaft, zwei feindliche Völker verbrüdernd, triumphiren zu hören, das war ein Genuß für ein deutsches Ohr und ein deutsches Herz, für welchen ich alles Heimweh und Weh der Heimath vergaß und vergab.

Tiefste Stille, fernes, fernes Trommeln, sich nähernd, anschwellend, Anbrausen der Heeresmacht zum Sturme, hitziger Kampf, Weichen, Fliehen, allmähliches Absterben des Geräusches der Flucht und der Trommeln – Todtenstille. Aufbrechendes Erdbeben mit einem so furchtbaren Knattern und Klirren, als brächen alle Millionen Scheiben des Krystall-Palastes in Billionen Scherben. Was ist das? Beifallssturm über „La Retraite“ von Laurent de Rillé, einem Mitgliede, ein Sturm nach dem andern, immer ärger, immer fanatischer, bis dieses unerhörte Meisterstück von Pianissimo, Crescendo und neuem Absterben zum Pianissimo mit 3000 Stimmen wiederholt wird. – Mohr, der deutsche Director des besten Orchesters in der Welt, der „Guides“, mit seiner „Giralda“, „Oberon“, „der Tag des Herrn“ von Kreutzer – doch nichts mehr davon. Wir sind am Schlusse. Ueber 10,000 Engländer und Engländerinnen, sonst so kaltblütig respectabel, springen auf. Die Lüfte zittern von Jubelgeschrei, und bunte Wolken von Hüten, Mützen, Taschentüchern, gefranzten Sonnenschirmen wallen über ihren Häuptern. Die 3000 Franzosen erwidern dies von oben mit viel mehr Lärm und Enthusiasmus, und singen „God save the Queen“ noch einmal, noch schöner, noch feuriger. Beide Völker bombardiren mit Beifalls-Attacken hin und her und mischen sich draußen zum großen Fontainen-Schauspiel enthusiastisch durcheinander. So hab’ ich die Engländer nie gesehen. Alte, eingewurzelte Feindschaft zwischen den beiden Völkern? Sie schießen sich vielleicht eines Tages wieder gegenseitig todt, aber nicht als Engländer und Franzosen, sondern als politisirte Bestien lügnerischer Diplomaten.




Ein weibliches Opfer politischer Rachsucht. Nachdem im Januar 1799 in Neapel die kurzdauernde parthenopäische Republik war errichtet worden, konnte dieselbe nach erfolgtem Abzug der französischen Armee unter General Championnet sich gegen die von Calabrien heranziebende „Glaubensschaar“ unter dem Cardinal Ruffo, welche die Sache des nach Sicilien geflüchteten Königs verfocht, und von der See aus durch englische Schiffe unterstützt ward, nicht lange mehr halten, zumal in der Hauptstadt selbst die königliche Partei, im Geheimen thätig und wenig entmuthigt durch die vereinzelten Erfolge und das anscheinende Glück ihrer politischen Gegner, gewaltige Umtriebe machte. Ein Glashändler hatte eine große Menge Lazzaroni angeworben, die ohne Vorliebe für die eine oder die andere Partei, um Gewinnes und der Beute willen, die Sache des Thrones zu unterstützen schworen. Ein anderer Einwohner, Namens Tanfano, stand an der Spitze eines zahlreichen Complots und verabredete mit dem Hofe in Sicilien, dem genannten Cardinal und den andern Häuptern der königl. Banden das Nothwendige zu einer Schilderhebung im Innern. Er erhielt Geld zum Vertheilen unter seine Leute, hatte Waffen und alle zum Zweck einer Gegenrevolution dienliche Mittel in Bereitschaft. Am gefährlichsten von allen diesen Verschwörungen war jedoch die des Schweizers Backer, der seit längerer Zeit zu Neapel lebte und mit mehreren königlich gesinnten Familien verwandt, auch persönlich den Bourbonen sehr ergeben war.

Dieser unterhielt mit den Officieren der feindlichen Schiffe geheime Verbindungen und machte mit ihnen aus, daß ein sicilianisch-englisches Geschwader an einem Feiertage, wo das Volk seinem Vergnügen nachgeht und nichts thut, Bomben in die Stadt werfen sollte. Wenn dann die Truppen nach den Hafenbatterien und Castellen eilen müßten und in der Stadt keine Wachmannschaft bliebe, so könnten die vorbereiteten Aufstände mit Leichtigkeit und Glück bewerkstelligt, die Empörer, d. h. die Häupter der Republik, niedergemacht, ihre Häuser in Brand gesteckt und mit einem Schlage zugleich Rache genommen und die Regierung gestürzt werden. Nachdem auf diese Art Alles fest bestimmt worden, bezeichneten die Verschworenen Thüren und Mauern der Häuser, welche zerstört oder verschont werden sollten, auf verschiedene Weise, wie es bei ihren verruchten Zusammenkünften war beschlossen worden. Weil nun oftmals Leute von beiden Parteien unter einem Dache wohnten oder in einer Familie lebten, theilten sie insgeheim Sicherheitskarten aus. Eine von diesen gab der Hauptmann Backer, ein Bruder dessen, der an der Spitze des Complots stand, der Louise Sanfelice, in die er sterblich verliebt war, und zugleich einen Wink über die Gefahr, indem er ihr erklärte, welchen Gebrauch sie von der Karte zu machen habe.

Das Mädchen dankte ihm und nahm die Karte, aber nicht für sich, sondern gab sie dem Geliebten ihres Herzens, der als eifriger Anhänger der Republik und Officier in der Nationalgarde sicherlich zu einem Opfer der Verschwörung ausersehen war. Der junge Mann, Ferri mit Namen, entdecke der Regierung, was er von dem Complot wußte, wies die Karte vor und nannte die hierbei Betheiligten, stolz auf sein Mädchen und sich, des Vaterlandes Retter zu sein. Die Sanfelice ward vorgeladen und in’s Verhör genommen. In der größten Verlegenheit darüber, daß ihr Liebesverhältniß so offenkundig geworden und die Sache zur Anzeige gekommen, sowie auch wegen der Strafen, die es zur Folge haben mußte, hoffte sie durch aufrichtige Erzählung des wahren Sachverhalts bei den Richtern Nachsicht und Entschuldigung zu finden, und sagte Alles, was sie wußte, mit alleiniger Verschweigung des Namens desjenigen, von welchem sie die Karte erhalten, und der bestimmtesten Erklärung, daß sie lieber sterben, als undankbar den mitleidsvollen Freund, der sie retten wollte, verrathen würde. Man hatte aber schon genug an dem, was man gehört, und besonders an den Schriftzügen und Siegeln auf der Karte, um die Häupter der Verschwörung zu entdecken, die eingekerkert wurden und bei denen man Waffenvorräthe und noch andere Papiere fand, sodaß man völlig die Fäden der Verschwörung in die Hände bekam und dieselbe unterdrücken konnte und die Sanfelice, welche von der öffentlichen Stimme nur Tadel und Verachtung fürchten zu müssen geglaubt, hieß jetzt eine Mutter des Vaterlandes, eine Retterin der Freiheit.

Indeß nur zu bald schlug die Stunde des Untergangs der neuen Republik, deren Häupter ihrer Rolle wenig gewachsen, ohne Menschenkenntniß, großentheils idealistische Schwärmer oder zu rechtschaffen waren, um tüchtige Revolutionsmänner zu sein. – Als die Kämpfe mit den Royalistenbanden der Hauptstadt immer näher rückten, und fast das ganze Land schon in die Gewalt der Glaubenstruppen gekommen war, wurden die beiden Brüder Backer und drei andere Verhaftete, welche das Revolutionsgericht verurtheilte, im Castelnuovo erschossen. Eine grausame Execution, da sie, in den letzten Stunden der republikanischen Regierung vollzogen, als abschreckendes Beispiel nichts mehr nützen kennte!

Als nach dem Sieg der königlichen Sache die Reaction ihr grausames Rachewerk begonnen, aller Gerechtigkeit Hohn gesprochen, dreißigtausend Bürger eingekerkert, ein Staatsgerichtshof gegen die sogenannten Hochverräther aus den feilsten Sclaven des Despotismus errichtet wurde; als dieser schon in Folge königlicher Cabinetsbefehle eine große Zahl der Anhänger oder Diener der Republik vom Civil- und Militairstande auf dem Schaffot hatte sterben lassen: begann auch der Proceß gegen die Sanfelice, die zur Entdeckung der Backer’schen Verschwörung Anlaß gegeben.

Ihr Geliebter, Ferri, war vor dem Feinde geblieben oder nach Frankreich entflohen, und die Anverwandten der beiden hingerichteten Backer forderten die Staatsgerichte und den Hof zur Rache auf. Nicht zufrieden mit dem Blut, das für das bourbonische Königthum in Strömen geflosen, wollten sie auch noch um ihrer Familie willen Opfer fallen sehen. Das unglückliche Mädchen ward in einen schauerlichen Kerker geworfen, in Gemäßheit des Gesetzes, das Jeden für des Todes schuldig erklärte, der zu Gunsten der Republik seine Unterthanenpflichten verletzt hatte, und ihre Hinrichtung nur darum aufgeschoben, weil sie heimlich vermählt und guter Hoffnung zu sein behauptete. Das Gericht erhielt deshalb aus Palermo einen Verweis vom König mit dem Bemerken, die Angabe der Sanfelice sei eine Erdichtung und die Sachverständigen seien hinter’s Licht geführt worden. Als jedoch eine abermalige Untersuchung den Ausspruch derselben bestätigte, mußte das Mädchen auf Allerhöchsten Befehl nach Sicilien gebracht und von den königlichen Leibärzten daselbst untersucht werden. Hier ward indeß ihre Schwangerschaft außer allen Zweifel gesetzt und die Unglückliche sofort in den Kerker zurück geführt, um aus der Welt geschafft zu werden, sobald ihr Kind das Licht derselben erblickte.

Nicht lange danach wurde die königliche Familie durch die Geburt eines Thronerben erfreut, den die Gemahlin des Prinzen Franz (Großvater des jetzigen Königs Franz II.), Marie Clementine, gebar, und der nach seinem Großvater „Ferdinand“ getauft wurde. Es war ein frommer Gebrauch in dieser Familie, daß bei Gelegenheit einer solchen Geburt die erlauchte Wöchnerin eine dreifache große Gnade sich vom Könige erbitten durfte. Um aber desto eher auf Erhörung rechnen zu können, und zu zeigen, wie sehr ihr die Erfüllung angelegen sei, that die Prinzessin anstatt dreier Bitten nur eine einzige, zu Gunsten der unglücklichen Sanfelice, welche einige Tage zuvor im Gefängniß entbunden worden, aber noch nicht kräftig genug war, um die Reise nach Neapel auszuhalten, wo das Todesurtheil an ihr vollstreckt werden sollte. Man steckte ein Papier, welches ein Gnadengesuch derselben und die Fürbitte der Prinzessin enthielt, in das Wickelkissen des kleinen Prinzen, damit der König es sehen sollte. Als dieser seine Schwiegertochter besuchte, und heiter und lächelnd das Kind, dessen Schönheit ihn vergnügte, auf den Armen hielt, bemerkte er wirklich das Papier und fragte, was es wäre. „Es ist ein Gnadengesuch“, sagte die Wöchnerin, „und zwar ein einziges, nicht dreifaches, so sehr wünsche ich von dem gütigen Herzen Eurer Majestät dasselbe erfüllt zu sehen.“ – Immer nech freundlich fragte er: „Für wen denn?“ – „Für die unglückliche Sanfelice.“ Sie wollte noch mehr sagen, allein das Wort erstarb ihr im Munde bei dem finstern Blick des Königs, der seine Stirn runzelte und mit Heftigkeit das Kind wieder auf das Bett seiner Mutter legte oder vielmehr hinwarf und, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer verließ, auch mehrere Tage lang nicht mehr wiederkam.

Seine Strenge, die Verschmähung ihrer Fürbitte, das Unglück der armen Gefangenen entlockten der Prinzessin schmerzliche Thränen. Ihre Bitte erinnerte blos den König an die Unglückliche, welche denn auch, kaum genesen, nach Neapel gebracht und auf dem Victualienmarkt, dem gewöhnlichen Hinrichtungsplatz, enthauptet wurde. Das Publicum nahm gerührten Antheil an dem traurigen Schicksal eines jungen, schönen Mädchens aus angesehener Familie. Von Kummer und Elend waren ihre Züge entstellt, und tiefe Furchen hatte das Leiden in die Wangen der Unglücklichen gegraben, deren einziges Verbrechen die Rettung der Hauptstadt von Mord und Brand gewesen. Wie hart, wie über alle Maßen schrecklich mußte sie büßen für dasjenige, was sie aus Liebe gethan!



Für „Vater Arndt“

4 Thlr. 7 Ngr. Ertrag einer Sammlung in Paris – 10 Ngr. Berger in Waldenburq – 2 Thlr. R. in Frankenhausen – Aus Graz in Streiermark 7 fl. in folgenden Beiträgen: Dr. F. G. 1 fl. – A. W. 1 fl. – F. W. 1 fl. – J. W. 1 fl. – F. Sch. 1 fl. – L. Sch. 1 fl. – W. V. 1 fl. - 28 Thlr. 2 Ngr. (56 Mrk.) Einige Verehrer des Vater Arndt in Petersburg – 10 Thlr. Fünfte Sammlung der Turnzeitung – 3 Thlr. Ein größerer Kreis von Schülern in Halle mit dem Motto: „Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas“.

Ernst Keil.


Schach. Aufgabe Nr. 2. Weiß am Zuge setzt in vier Zügen matt. Stellung: Weiß. K. b 4. D. g 5. S. c 1, g 6. Schwarz. K. d 4. T. d 1. S. a 4. B. c 4.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Fata Morgana, Kimmung, Luftspiegelung oder Mirage, wird erzeugt durch die Berührung ungleich erwärmter, mithin ungleich verdichteter Luftschichten und ist eine Art Gesichtstäuschung, die uns in der Ferne oder an dem Himmel verschiedene Bilder, wie Thürme, Thiere, Schiffe etc. zeigt, die in Wirklichkeit gar nicht an diesem Ort vorhanden sind, sondern vermöge einer besonderen Brechung der Lichtstrahlen von anderen Stellen dorthin gezaubert werden. Dergleichen Erscheinungen wiederholen sich in allen Erdtheilen, wo sich große Ebenen befinden, und wo sich die sehr ruhigen, erwärmten und daher verdünnten unteren Luftschichten nur langsam mit den oberen, dichteren mischen.