Die Gartenlaube (1866)/Heft 47

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[729] No. 47.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


4. Die Werbung.

Am nächsten Morgen war Rosel mit Tagesanbruch wieder auf und besorgte ihre Geschäfte wie gewöhnlich – aber wie bleich das sonst so frische Mädchen heute aussah und was für große glänzende und ernste Augen es hatte! Bärbel drückte es fast das Herz ab vor Neugierde, um sie zu fragen, was sie gestern Nacht in der Ruine gesehen – denn gesehen mußte sie etwas haben – aber sie wagte es nicht, obgleich sie sonst auf ganz freundlichem Fuße mit ihrer jungen Herrin stand. Diese kam ihr heute gar so feierlich, so außergewöhnlich vor, daß sie Alles that, was sie ihr nur an den Augen absehen konnte, und ihre Arbeit noch nie im Leben so flink und aufmerksam verrichtet hatte wie heute.

Wie ein Lauffeuer hatte sich indessen das Gerücht in der Stadt verbreitet, die Rosel aus dem Burgverließ sei um Mitternacht in der alten Ruine gewesen und habe dort zum Zeichen ihres Wagnisses einen Zweig aus dem Burghof abgeschnitten. Die jungen Fremden hatten auch richtig ihren Weg dorthin noch vor Tag angetreten und waren schon zum Frühstück mit der Nachricht zurückgekehrt, daß der abgeschnittene Zweig wirklich unter dem Tisch fehle und das beherzte Mädchen jedenfalls ihre Wette gewonnen habe. Natürlich fanden sie sich auch gleich früh im Burgverließ ein, um das Nähere aus Rosel’s eigenem Mund zu hören, denn das geheimnißvolle Wesen und besonders das bleiche Aussehen des Mädchens von gestern Abend hatte sie nur noch neugieriger gemacht. Doch Rosel ließ sich heut’ Morgen vor keinem Menschen sehen. Um halb neun Uhr aber nahm sie ihr Tuch und schritt, um den offenen Weg über die Straße zu vermeiden, durch den Garten hinaus und einen Pfad entlang, der zu der Hellenhofer Chaussee hinüberführte. Dieser folgte sie wieder, wie gestern Abend, bis der Fußweg rechts nach der Ruine abbog. Dort an den Büschen erwartete sie Bruno.

Der junge Mann sprang ihr freudig entgegen und rief, die Hand nach ihr ausstreckend: „O, wie gut und lieb es von Dir ist, Rosel, daß Du gekommen bist; wie sehnsüchtig habe ich Dich erwartet! – Aber um Gottes willen, Kind, wie bleich siehst Du aus? Bist Du krank, Rosel?“

„Nein, Bruno,“ sagte das arme Mädchen ruhig, indem sie den Kuß duldete, den er ihr auf die Lippen drückte, „mir fehlt nichts – im Körper wenigstens – aber auf dem Herzen liegt mir ’was, recht schwer und bleiern, und nur um Dir das zu sagen, bin ich heraus gekommen.“

„Was hast Du, Herz?“ fragte der junge Mann besorgt, „ist der Vater wieder rauh mit Dir gewesen? O, habe nur noch eine kurze Weile Geduld, denn bald wird Alles gut werden. Gestern Abend erhielt ich noch eine recht freudige Kunde.“

„Nein, Bruno“ unterbrach ihn ruhig das Mädchen. „Der Vater hat wohl gezankt, als er Dich bei mir im Hof gesehen, allein nicht mehr als immer, und das hätt’ ich mir auch nicht sehr zu Herzen genommen, trug ich’s ja für Dich.“

„Meine gute Rosel!“

„Aber was Anderes ist geschehen, Bruno,“ fuhr das Mädchen fast tonlos fort, „etwas Anderes, das ich Dir nicht vertrauen kann und darf, so gern ich’s auch möchte, und das – das mich zwingt, Dir heute – Lebewohl zu sagen für immer –“

„Rosel!“ rief Bruno erschreckt.

„Mißversteh’ mich nicht,“ sagte Rosel, während sie ihm die Hand, die er gefaßt hatte, überließ; „ich habe Dich noch so lieb wie früher – ja vielleicht noch lieber,“ setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, „und hätte auch Deinetwegen Alles ertragen, Noth und Sorge mit Lust und Freuden, doch es hat nicht sein sollen – ich darf Dir nicht mehr angehören, und – wenn Du mich ein klein wenig lieb hast – so fragst Du mich nicht einmal weshalb.“

„Aber Rosel,“ sprach Bruno bestürzt, „nicht einmal fragen soll ich, weshalb? wo mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele steht, ja während ich Dir gerade heute mit Jubel entgegenkam, denn ich kann Dir jetzt die frohe Kunde bringen, daß sich meine Aussichten mit Einem Schlage gebessert haben. Gestern Abend noch, als ich Dich zuletzt sprach, war mir das Herz zum Brechen schwer, und ich machte mir sogar selber Vorwürfe, Dein Geschick an das eines Armen fesseln zu wollen, der, ohne Vermögen, nicht einmal einen Platz hatte, wo er sein noch so kümmerliches Brod verdienen konnte. Das hat sich jetzt wunderbar rasch geändert, und wie ein Unheil selten allein kommt und immer noch andere im Gefolge mit sich bringt, so ist es ja auch gewöhnlich mit dem Glück. Als ich Dich gestern verließ und mir wieder und wieder ausmalen mußte, wie trostlos meine Aussichten im Leben seien, war mir so weh zu Muthe, daß ich viel lieber in den Rhein gesprungen wäre, um dem Elend mit einem Mal ein Ende zu machen. Aber wenn die Noth am größten, ist auch die Hülfe am nächsten, und wie ich endlich nach Hause und zu meiner Mutter zurückkehrte, fand ich einen großen, mit einem Dienstsiegel verschlossenen Brief vor, in dem mir angezeigt wurde, daß ich endlich meine Beförderung zum Actuar am hiesigen Criminalgericht erhalten habe.“

[730] „Beim Criminalgericht!“ stöhnte Rosel und zog erschreckt ihre Hand aus der seinen.

„Nun, Herz, darüber hast Du doch nicht zu erschrecken,“ lachte der junge Mann, „denn es sichert ja unsere ganze Zukunft; aber das nicht allein – meine Mutter hatte am nämlichen Tage auch gute Kunde über einen in unserer Familie schon seit langen, langen Jahren geführten Proceß erhalten, der ein kleines Vermögen betrifft und bis dahin unsere sämmtlichen Mittel fast aufgezehrt hat. Jetzt sind wichtige Dokumente aufgefunden worden, die unser Recht ganz außer Zweifel stellen und eine für uns günstige Entscheidung bald, recht bald hoffen lassen. Die Einwendungen, die Dein Vater bis jetzt also gegen unsere Verbindung – und vielleicht mit Recht – geltend machen konnte, fallen nun ganz, und schon in kurzer Zeit hoffe ich Dich heimzuführen, mein süßes, liebes Kind. Aber stehe nicht so todt und traurig bei der frohen Kunde da, mein Rosel; mir schnürt es sonst das Herz zusammen. Was hast Du nur, Mädchen? Du siehst mich ja so scharf und forschend an, als ob ich Dir plötzlich ganz fremd geworden wäre – oder Du am Ende gar meinen Worten nicht glaubtest. Hab’ ich Dich je belogen, Rosel?“

„Nein,“ hauchte das Mädchen, indem es plötzlich, wie scheu, den Kopf abwandte, „Dir glaub’ ich schon Alles, was Du sagst – Alles, denn Du bist gut und brav und ich – will zu Gott beten, daß er Dich einst so glücklich macht, wie Du es verdienst –“

„Und liegt das nicht in Deiner eigenen Hand, mein Herz?“ sagte der junge Mann, indem er sie lächelnd an sich zog. „Sieh’ mir nur wieder so froh und vertrauensvoll in’s Auge, wie Du es früher in schwererer Zeit gethan, und ich verlange ja nicht mehr vom lieben Gott, denn er hat mir da seinen Himmel schon auf der Erde gegeben.“

Rosel litt, daß er sie an sich preßte, ja sie lehnte selbst ihr Haupt wie müde an seine Schulter – aber es war nur ein Moment; dann wand sie sich wieder, nicht hastig, aber entschlossen, aus seinem Arm, und ihm voll in’s Auge sehend, während in dem ihrigen eine große Thräne glänzte und es vollständig füllte, sagte sie ernst: „Und doch muß es sein, Bruno; doch muß ich heute – jetzt – für immer von Dir Abschied nehmen und kann Dir nicht angehören.“

„Rosel, sprich nicht so!“ rief Bruno ängstlich. „Deine Worte klingen wie aus einem Traume heraus – so fremd und kalt, als ob sie gar nicht aus Deiner eigenen Seele kämen, und Dein Blick hat dabei etwas so Eisiges, daß er mir bis in’s innerste Mark hinein schneidet. Was ist denn seit gestern Abend so Entsetzliches geschehen, daß Du in den paar Stunden wie verwandelt bist? Hättest Du doch endlich den Plänen Deines Bruders nachgegeben?“

„Den Plänen meines Bruders?“ rief das Mädchen voller Verwirrung.

„Der Dir die Verbindung mit seinem Compagnon, dem jungen arroganten Menschen, aufnöthigte?“

„Eine Verbindung mit dem?“ sagte Rosel schaudernd, „eher springe ich selber in den Rhein.“

„Aber was sonst kann Dich so bewegt, so Deinen ganzen Sinn geändert haben?“

„Frage mich nicht, Bruno, frage mich nicht meinet-, nein auch Deinetwegen. Ich darf und kann Dir die Gründe nicht, angeben, die mich zwingen, so und nicht anders zu handeln, wenn ich auch darum selber elend werden müßte. Nur Eines glaube mir: so treu wie ich Dir jetzt bin und immer war, so treu will ich Dir ewig bleiben, aber – ich werde nie heirathen. Was ich zu tragen habe, es soll allein geschehen, und nun leb’ wohl, Bruno. Halte mich nicht zurück; ein längeres Zusammensein mit Dir könnte mich wahnsinnig machen und zur Verzweiflung treiben, denn schon jetzt fühle ich es, wie die verrätherischen Worte nach den Lippen drängen. Leb’ wohl – schütze Dich Gott!“ Sie warf sich an seine Brust, umschlang ihn mit ihren Armen und preßte heiße Küsse auf seine Lippen; dann riß sie sich los von ihm – gewaltsam, als er sie noch länger festhalten wollte, und floh wie ein gescheuchtes Reh den Pfad hinab, der auf die Straße führte.

Bruno’s erster Gedanke war freilich, ihr zu folgen, aber aus den Büschen heraus erkannte er unten auf der Straße Menschen – was mußten die denken, wenn er hinter dem fliehenden Mädchen her geeilt wäre! Das Beste war, ihr Zeit zu lassen, daß sie die Stadt wieder allein erreichte, doch Abschied auf Lebenszeit hatte er nicht von ihr genommen und heute selber wollte er ihren Vater aufsuchen und ihm seine verbesserten Lebensaussichten vorlegen, denn von ihm ging – wie er nicht anders glauben konnte – jedenfalls der plötzliche Widerstand des Mädchens aus.

Langsam stieg er indessen zu der lange nicht besuchten Ruine empor; die frische Luft da oben that ihm wohl und lange lag er dort unter der epheuumrankten Mauer und schaute träumend hinab auf das friedliche Bild der kleinen Stadt, die mit ihren altersgrauen Dächern und rauchenden Schornsteinen zu seinen Füßen lag. Allein es ließ ihm keine Ruhe, denn nicht freundliche Gedanken waren es, die durch seine Seele zogen. Rosel – was um Gotteswillen konnte dem sonst so charakterfesten Mädchen durch den Sinn gefahren sein, daß es plötzlich über Nacht solche Idee gefaßt und sich und ihn unglücklich machen wollte?

Er stand auf und wanderte durch das alte Gemäuer, um der Gedanken ledig zu werden, aber es gelang ihm nicht. Selbst die steile, gefährliche Treppe kletterte er hinauf – vergebens. Aus der ganzen prachtvollen Aussicht heraus suchte und fand er nur das eine Haus, in dem sie wohnte, und seufzend stieg er die Stufen wieder hinab, um nach der eigenen Heimath zurückzukehren.

Rosel hatte inzwischen lange die Stadt erreicht und hörte, als sie das Haus, das sie auf demselben Wege wieder betrat, auf welchem sie es verlassen, daß ihr Vater auf sei und schon nach ihr gefragt habe. Er war in der Schenkstube gewesen, wo er von den zahlreich versammelten Gästen das nächtliche Abenteuer seiner Tochter erfuhr, und Bärbel flüsterte ihr, wie sie nur die Küche betrat, leise zu, sie möge sich vor dem Vater in Acht nehmen, der sei ‚fuchswild‘ geworden, als er von ihrem nächtlichen Spaziergange gehört.

„Es wird nicht so arg sein,“ hatte Rosel ruhig gesagt, während sie langsam die Treppe hinauf und in ihr Zimmer stieg, um sich das etwas wirr gewordene Haar frisch zu ordnen.

Kaum war sie damit zu Ende, als sie ein Geräusch an ihrer Thür hörte, und wie sie sich danach umdrehte, stand ihr Vater auf der Schwelle und sagte finster:

„Höre, Rosel, was hast Du denn die Nacht für dumme Streiche gemacht, he? Was soll denn das heißen? Schickt sich das für ein ehrbares und gesittetes Mädchen, wie Deine Mutter Dich, wie ich Dich erzogen habe?“

„Ich, Vater?“ sagte Rosel und sah den Mann fest und starr an.

„Ja, Du!“ sagte der Vater noch immer störrisch, aber ein eigenes, unbehagliches Gefühl beschlich ihn bei dem starren Blick. „Bist Du nicht bei Nacht allein in den alten Burghof der Wildenfels gelaufen?“

„Ja, Vater,“ sagte Rosel ruhig, „ich war oben.“

„Und wann?“

„In der Nacht, Vater.“

„Aber zu welcher Stunde?“

„Bleibt sich das nicht gleich?“

„Hm, ja, aber weshalb willst Du’s nicht sagen?“

„Ich will’s schon sagen, Vater. Es schlug gerade hier drunten in Wellheim zwölf Uhr, als ich die letzten steinernen Stufen hinaufstieg.“

„Und blos ’um einen Zweig abzuschneiden,“ rief der Vater erbost aus; „es ist wirklich zu toll für ein junges Mädchen, bei Nacht den einsamen, öden Weg zu machen.“

„Ich war nicht allein, Vater,“ sagte Rosel, ohne noch ihren Blick von ihm zu wenden, an dem der seine ebenfalls wie gebannt hing.

„Nicht allein?“ rief der Vater schnell, „und wer war bei Dir?“

„Gott,“ sagte das Mädchen, und ein schwerer Seufzer entrang sich dabei ihrer Brust.

„Schnack,“ rief der Alte unwirsch und blickte scheu zur Seite, „das heißt den Uebermuth auf’s Höchste getrieben, und wie leicht hättest Du ein Unglück nehmen können!“

„Auf der alten Burg, Vater?“ lächelte Rosel, aber die Worte klangen so unheimlich und der Vater, der sich vorgenommen haben mochte, sie tüchtig auszuzanken, wandte seinen Aerger einer anderen Seite zu.

[731] „Der alte Narr, der Bäckermeister, hätte auch ’was Gescheidteres thun können als Dich da hinauf zu hetzen; aber ich habe ihm meine Meinung schon gesagt. Und der Registrator war gleichfalls dabei und hat’s gelitten?“

„Er konnt’ es nicht hindern.“

„Und weshalb haben sie mich nicht geweckt?“ rief der Alte, „ich hätt’s gehindert, das sei versichert.“

„Du schliefst schon so lange, Vater,“ sagte das junge Mädchen und sah ihn dabei wieder mit ihrem stechenden Blick an, „daß sie Dich gewiß nicht stören wollten.“

Paul Jochus blickte eine Weile vor sich nieder, er wollte noch etwas sagen, das war gewiß, aber er brachte es nicht über die Lippen, und sich plötzlich auf seinen Hacken herumdrehend, verließ er das Zimmer und warf die Thür in’s Schloß, daß die Scheiben klirrten.

Rosel kam den ganzen Tag über nicht in die Wirthsstube, so oft die Gäste auch nach ihr frugen, und der Vater ließ sie auch still gewähren; es war ihm selber recht, daß sie dem neugierigen Volk keine Rede stand. Er selber aber war desto geschäftiger heute in dem Raum, in dem er sich sonst nur dann und wann blicken ließ, und bediente seine Gäste auf das Sorgsamste. Ueber Mittag war die Stube ziemlich leer geworden und Paul Jochus hatte eben seine Mahlzeit an einem der Tische allein verzehrt und seinen Schoppen Wein dazu getrunken, als Bruno von der Haide in’s Zimmer trat und, auf den Wirth zugehend, ihn um eine kurze Unterredung unter vier Augen bat.

„Mein lieber Herr Von,“ sagte Jochus finster, ohne von seinem Platz aufzustehen, „ich glaube, wir können uns Beide die Mühe sparen, denn ich weiß wahrscheinlich schon, was Ihr Begehr ist.“

„Möglich, Herr Jochus,“ sagte der junge Mann ernst, „aber doch vielleicht nicht ganz. Es hat sich nämlich so viel in meinen Verhältnissen geändert, daß eine Verständigung dringend geboten ist; ich bitte Sie nur um wenige Minuten Gehör und die Entscheidung ist dann immer noch in Ihre Hand gegeben.“

Jochus schüttelte den Kopf. Es lag ihm indessen selbst daran, den ihm lästig werdenden Bewerber abzufertigen, was er hier, in offener Wirthsstube, nicht gut thun konnte; darum stand er auf, trank den Rest seines Weines aus und sagte:

„Na, so kommen Sie meinetwegen. Da drüben in der Stube sind wir ungestört, aber ich muß Sie von vorn herein bitten, es kurz zu machen. Sie sollen dann auch nicht lange auf meine Antwort zu warten brauchen.“

Damit ging er, von dem jungen Mann gefolgt, hinüber in die „gute Stube“ und Bruno theilte ihm hier mit wenigen Worten nicht allein die Aussicht auf das bald zu erlangende Vermögen mit, wozu der alte Jochus ungläubig lächelnd den Kopf schüttelte, sondern auch seine gestern erhaltene Bestätigung als wirklicher Actuar beim hiesigen Criminalgericht, ein Posten, der allerdings noch immer wenig genug Gehalt einbrachte, doch eine sichere Staatscarrière in Aussicht stellte und dabei genügte, mit mäßigen Ansprüchen eine Frau zu ernähren.

Das spöttische Lächeln hatte sich aus dem Gesicht des Wirths verloren, als ihm der junge Mann den Beruf nannte, dem er von jetzt ab angehören würde, und er sagte, freundlicher, als er bis dahin noch je mit ihm gesprochen:

„Ei, sieh’ einmal an, Actuar beim Criminalgericht, also doch eine feste Stellung und nicht mehr das ewige Herumvagabundiren – und die Rosel ist Ihnen wirklich gut?“

Bruno seufzte recht aus vollem Herzen auf und sagte scheu:

„Bis gestern Abend noch war ich von ihrer innigen Liebe überzeugt, und glücklich in dem Gedanken, heute Morgen aber –“

„Heute Morgen? Wo haben Sie denn das Mädel heute Morgen schon gesprochen?“

„Sein Sie mir nicht böse, Herr Jochus, und auch der Rosel nicht, daß wir hinter Ihrem Rücken gehandelt, aber ich – ich mußte sie sprechen, ich mußte ihr sagen, was mir auf dem Herzen lag, und da – haben wir uns heute Morgen, um neun Uhr, es war schon heller lichter Tag und viele Menschen auf der Straße – am alten Burgweg gefunden.“

„Am alten Burgweg – so?“ sagte der Wirth, „und was meinte die Rosel da?“

„Sie war ganz verändert; sie sah todtenbleich aus und die Augen lagen ihr tief in den Höhlen.“

„Sie wissen, was das tolle Mädchen die Nacht für einen Streich gespielt hat?“

„Ich weiß es, jetzt wenigstens, heute Morgen noch nicht, oder ich würde sie darum gefragt haben, doch das kann sie nicht so aufgeregt haben, sie hätte mir es sonst gewiß gestanden.“

„Und was sagte sie weiter?“ frug der Wirth, aufmerksam werdend.

„Daß sie mir nicht mehr angehören könne und daß wir uns auf Nimmerwiedersehen trennen müssen.“

„Hm, und hatten Sie ihr vorher von Ihrer festen Anstellung gesagt?“

„Alles, aber ich konnte mir ihr sonderbares Benehmen nicht erklären, sie erschrak vielmehr darüber, als daß sie sich gefreut hätte.“

„Sie erschrak?“

„Ich kann mich getäuscht haben, jedenfalls befand sie sich in einer fürchterlichen Aufregung und versicherte mir dabei unter heißen Thränen, daß sie mir die Ursache ihres Betragens nicht erklären könne und dürfe.“

„Nicht dürfe – hm,“ brummte Jochus, „das ist allerdings wunderbar, und gestern Abend sagte sie nichts davon?“

„Keine Silbe, sie war ganz Liebe und Vertrauen und tröstete mich selber auf die Zukunft, der wir fröhlich entgegenharren müßten.“

Der Wirth ging zur Thür, öffnete sie halb und rief nach Bärbel, der er den Auftrag gab, Rosel herunter zu schicken, der Herr von Haide sei da. Indessen stand Bruno am Fenster und starrte hinaus, während der Wirth mit untergeschlagenen Armen im Zimmer auf und ab ging. Jedoch das Mädel kam nicht wieder und den Beiden wurde die Zeit lang. Endlich, als der Wirth schon noch einmal nach ihr rufen wollte, steckte die Bärbel den Kopf in die Thür und sagte: „Sie will nicht,“ drückte sie dann in’s Schloß und ging wieder an ihre Arbeit.

„Sie will nicht?“ wiederholte Paul Jochus erstaunt und blieb mitten in der Stube stehen.

Bruno hatte sich rasch umgeblickt, als sich die Thür öffnete; jetzt seufzte er aus tiefster Brust und flüsterte:

„Ich habe es fast gedacht – Gott nur weiß, was sie plötzlich gegen mich eingenommen haben kann – ich begreife es nicht.“

„Und hat sie Ihnen gar keinen Grund angegeben?“ frug der Wirth plötzlich und blieb vor dem jungen Mann stehen, „besinnen Sie sich einmal, gar keinen Wink nach irgend einer Richtung?“

„Keinen,“ sagte dieser kopfschüttelnd, „keinen wenigstens, den ich verstanden habe oder verstehen konnte, denn ihre Worte klangen dunkel und unheimlich; sie könnte und dürfte mir nicht mehr sagen, als daß wir scheiden müssen – scheiden für immer – das war Alles.“

„Hm,“ brummte Jochus, dessen Gesicht eine düstere Färbung angenommen hatte, mit festzusammengezogenen Brauen, „weiß der Henker, was dem Mädchen durch den Kopf gefahren sein kann, denn eigenwillig ist sie, wie der helle Teufel, und man hat oft seine liebe Noth mit ihr. Aber lassen Sie mich mit ihr reden, Herr von Haide – und ich denke, wenn Sie die Anstellung bekommen – wir wollen einmal sehen, es macht sich ja doch vielleicht noch Alles, und das Mädel vergißt vielleicht bis dahin auch die Grillen.“

„Wenn wir sie nur jetzt bewegen könnten, mich noch einmal anzuhören!“

„Jetzt ist nichts zu machen,“ sagte Jochus kopfschüttelnd, „erst muß ich selber noch einmal mit ihr sprechen. Sie kommen dann vielleicht einmal wieder vor oder ich schicke auch zu Ihnen hinüber.“

„Sollte es nicht am Ende doch mit ihrem nächtlichen Gang in Verbindung stehen?“ warf Bruno ein; „ich würde mir gar nichts weiter darüber gedacht haben, aber –“

„Ach was,“ lachte der Alte, doch das Lachen klang etwas erzwungen, „sie ist ja keiner Menschenseele unterwegs begegnet, na, und daß ihr kein Gespenst erschienen ist, ich dächte, darüber brauchten wir Zwei uns nicht zu beunruhigen. Ein dummer Streich war’s immer, und ich habe ihr auch schon tüchtig den Text darüber gelesen, denn für ein junges Mädel paßt es sich nicht, auf solche Art zu prahlen und bei Nacht und Nebel in der Welt herumzulaufen.“

[732] „Sie hatten sie geneckt,“ sagte der junge Mann, „und bei ihrem Ehrgefühl gepackt; sonst hätte sie’s auch sicher nicht gethan.“

„Nun, es ist jetzt vorbei,“ sagte der Vater, „und nicht mehr zu ändern, geschieht aber hoffentlich nicht wieder.“

„Und Sie wollen mit ihr reden, Herr Jochus?“

„Ich habe es Ihnen versprochen, heute noch, oder wenn es heute nicht gehen sollte, spätestens morgen früh. Wir wollen sehen, was sich thun läßt, ein merkwürdiges Mädel ist’s freilich, mein lieber Herr Actuar, und einen Trotzkopf hat sie, wie keine Zweite.“

„Aber die Rosel ist so gut, so brav!“

„Das ist sie, ja,“ sagte Jochus und sah vor sich auf den Boden nieder, „gerade wie ihre selige Mutter, deren ganzen Charakter sie auch geerbt hat; arme Clara, wenn sie leben geblieben wäre!“

„Ich gehe jetzt, Herr Jochus,“ brach der junge Mann ab, „und überlasse Ihnen das Weitere. Wenn Sie mir aber erlauben, frage ich morgen Abend, falls ich zurück sein sollte, wieder bei Ihnen an, denn ich muß heute noch nach Hellenhof auf das Obergericht und weiß nicht, ob ich bis dahin wieder hier zurück sein kann.“

Der Wirth antwortete ihm nicht; er nickte nur, ganz in seine Gedanken vertieft, leise vor sich hin, ja, er bemerkte kaum, wie der junge Mann das Zimmer und das Haus verließ.


5. Vater und Tochter.

Rosel hielt sich den ganzen Tag auf ihrem Zimmer. Sie sei nicht recht wohl, ließ sie dem Vater sagen, der später noch einmal Bärbel zu ihr hinaufschickte. Gegen Abend kam ein Arbeiter und brachte die beiden großen Orangenstöcke vom Bäckermeister Bollharz. Rosel nahm aber die Stöcke nicht an; sie wollte sie nicht haben und beauftragte den Mann, der sie brachte, sie hinüber zum Registrator zu fahren, der auch ein großer Blumenfreund war. Er sollte nur eine Empfehlung von ihr ausrichten, sie bäte ihn, die Stöcke, ihr zum Andenken, zu behalten.

Paul Jochus hatte indessen keine Ruhe unten im Haus. Bald saß er, ganz gegen seine Gewohnheit, in der Wirthsstube hinter einem Schoppen Wein, bald lief er hinaus zu seiner Kelter, um nach der Arbeit zu sehen. Einmal war er auch sogar schon auf dem Wege nach Hellenhof gewesen, aber wieder umgekehrt, denn das eigenthümliche Benehmen des Mädchens ging ihm im Kopf herum, und er mußte mit ihr sprechen, um endlich zu erfahren, was es eigentlich bedeute.

Hätte er ein gutes Gewissen gehabt, so würde es ihn wohl wenig gekümmert haben, denn er ließ ja sonst Rosel immer ziemlich unbekümmert ihren eigenen Weg gehen, aber so quälten ihn tolle und, wie er sich immer noch einreden wollte, unmögliche Vermuthungen, quälte ihn ein unbestimmter Verdacht, und über den mußte er mit ihr in’s Reine kommen, denn die Gewißheit war immer noch besser als dieser drückende Zweifel, der ihn nicht mehr ruhen und rasten ließ.

Entschlossen kehrte er nach Hause zurück und stieg ohne Weiteres zu Rosel’s Zimmer hinauf, an das er klopfte.

„Wer ist da?“

„Ich bin’s, Rosel, ich muß ein Wort mit Dir sprechen.“

„Mir ist nicht recht wohl, Vater; der Kopf brennt mir so.“

„Ich geh’ gleich wieder fort, aber ich muß Dir etwas sagen.“

Einen Moment war Alles ruhig darin, dann wurde der Riegel zurückgeschoben, und Rosel stand, ihren Vater erwartend, mitten in der Stube.

Sie war völlig angekleidet, hatte auch nicht auf dem Bett gelegen, was vollständig unberührt in dem kleinen Alkoven stand, aber sie sah leichenblaß aus, und die Augen waren ihr noch vom vielen Weinen roth.

Der Vater streckte ihr die Hand entgegen, die sie zögernd nahm, und sagte dann mit weit mehr Herzlichkeit im Ton, als er lange zu ihr gesprochen:

„Was fehlt Dir, Kind? Wenn Du krank bist, weshalb schließt Du Dich ein und lässest nicht Jemanden zu Dir, der Dich pflegen kann?“

„Ich bin nicht krank, Vater.“

„Aber Du sagtest selber, daß Du Kopfschmerzen hättest, und siehst recht blaß und leidend aus. Vielleicht steckt Dir etwas Anderes in den Gliedern, und ich will lieber nach Doctor Bauer hinüberschicken, damit der einmal nachsieht.“

„Nein, Vater,“ sagte das junge Mädchen bestimmt, „das ist nicht nöthig, der Doctor kann mir nicht helfen.“

„Der Doctor kann Dir nicht helfen? – und wer sonst?“

Das Mädchen schwieg und sah scheu vor sich auf den Boden nieder, endlich sagte es so leise, daß die Worte kaum zu dem Ohr des Vaters drangen:

„Kein Mensch kann mir helfen, Vater.“

„Hm! das ist eigenthümlich,“ brummte der Wirth, der nicht recht wußte, was er darauf erwidern sollte. Er nahm seinen Hut ab, den er bis jetzt noch aufbehalten, und stellte ihn auf den Tisch, „kein Mensch kann Dir helfen? das wär’ ja – das wär’ ja was recht Curioses, wenn Einem etwas fehlte, ohne daß man sterbenskrank ist, wobei einem kein Mensch helfen könnte. Darf ich’s denn erfahren, oder weißt Du’s am Ende selber nicht, Rosel, und hast Dir vielleicht irgend eine tolle Schrulle in den Kopf gesetzt?“

Das Mädchen schwieg wieder; es war augenscheinlich, daß sie im Innern mit sich rang, und mit der rechten Hand hielt sie ihr Herz, als ob es ihr weh thäte.

„Ich will Dir was sagen, Rosel,“ fuhr der Vater, dem das Schweigen peinlich wurde, fort, „daß Du den Weg gestern Nacht gemacht, war ein dummer Streich. Du hast Dich dabei erkältet, aus der heißen Stube in die kalte Nachtluft mit Deinem dünnen Kleid und dann nachher noch die Aufregung dazu, dort hinein in das alte, öde Gemäuer zu gehen, von dem so viel Mordgeschichten erzählt werden, das Alles mußte Dich angreifen und das Gescheidteste wäre gewesen, Du hättest Dich gleich zu Bett gelegt und warm zugedeckt und lieber den Tag darin ausgehalten. Aber was ich Dir sagen wollte, heute Mittag war – war der junge Herr Von bei mir, Du weißt schon. Weshalb bist Du nicht herunter gekommen, als ich Dich rufen ließ?“

„Weil ich schon Abschied von ihm genommen habe, Vater,“ sagte leise die Tochter.

„Du hast Abschied von ihm genommen?“ frug der Wirth erstaunt, „aber um Gotteswillen, weshalb denn? Da mag ein Anderer aus dem Mädel klug werden! Gestern Abend noch wart Ihr ein Herz und eine Seele, und heute Morgen –“

„Dazwischen lag die Nacht, Vater!“

„Die Nacht? und was hat er da gethan? Bist Du ihm draußen auf Deinem Wege begegnet?“ frug der Wirth rasch.

(Fortsetzung folgt.)




Eine Frauen-Universität.


Nach der Stellung der Frauen im häuslichen und öffentlichen Leben schätzt man am richtigsten den geistigen und sittlichen Bildungsgrad eines Volkes. Nicht die wenn auch noch so hohe Entwickelung der männlichen Kraft allein, sondern das harmonische Zusammengehen und gegenseitige Beleben und Erheben der männlichen und weiblichen Geister führt zur höchsten Bildung und zum reinsten Menschenglück. Es ist kein geringes Zeichen für den ursprünglichen sittlichen Gehalt des Germanenthums, daß es von je durch die Würdigung der Frauen sich vor allen Nationen der alten und neuen Zeit hervorthat; betrug doch schon bei den Alemanen das Wehrgeld bei dem Mord einer Frau doppelt so viel, als bei einem Mannesmord. Mit der Würdigung muß stets die Bildung des weiblichen Geschlechts gleichen Schritt halten, damit die Frauenverehrung eine wohlbegründete bleibe, nicht zu romantischer Spielerei ausarte. Dies ist vor Allem eine Forderung unserer Zeit, die überall auf der Basis des Rechts neu bauen und auch dem weiblichen Geschlechte „neue Bahnen“ des Berufs auf diesem festen Grunde eröffnen und sichern will. Dazu gehören aber vor Allem neue Bahnen des Unterrichts und die Erziehung zu höherer, als der bisher einzig auf das Haus berechneten Bildung. Wo wir Derlei eröffnet sehen, werden wir unsere Aufmerksamkeit hin wenden müssen, und dies geschieht in nachstehendem Artikel, [733] der uns zu einem ersten Versuch führt, den Bildungsgang der Frauen den akademischen Weg betreten zu lassen, und zwar geschah dies bei unseren germanischen Stammverwandten in Nordamerika.

Man fährt von New-York den Rhein der neuen Welt, den gewaltigen Hudson mit seiner Naturromantik, aufwärts, um nach Poughkeepsie zu gelangen, das unweit vom rechten Ufer des Stromes liegt. Die nicht mehr ganz junge Stadt zählt ungefähr fünfzehntausend Einwohner. Beliebt es uns, als rüstigen Fußgängern, eine etwa dritthalb englische Meilen lange Strecke trefflichen Wegs gegen Südost lustwandelnd zurückzulegen, so tauchen am Ende desselben vor unseren immer freudiger staunenden Augen die geschmackvollen Steinglieder eines Prachtbaus auf, eines städtischen Palastes mitten in der grünen lachenden Freiheit, umgeben von einzelnen anderen Gebäuden, denen man ihre Abhängigkeit vom Hauptbau auf den ersten Blick ansieht. Den Weg zum Hauptgebäude versperrt uns ein einfaches Wohnhaus, die Pförtnerwohnung.

Das Vassar-College.

Wir begehren Einlaß, erhalten die Erlaubniß zum Durchgang und stehen nun vor unserem Bilde, vor dem „Vassar-College“, in welchem wir die erste Hochschule für das weibliche Geschlecht in der neuen und vor der Hand in der ganzen Welt begrüßen; eine Frauen-Universität, die durch den Ausspruch des Staates selbst das Recht besitzt, in den Wissenschaften, die sie lehrt, Doctordiplome zu ertheilen. Was in Deutschland der Flug der kühnsten Frauenwünsche noch nicht erreichte, hier ist’s vollendete That.

Aus dem Munde des Pförtners erfahren wir, daß das isolirte Gebäude zur Linken hinter dem Hauptgebäude, das sich durch seine hohe Kuppel auszeichnet, die Sternwarte, und das zur Rechten die Reit- und Turnhalle der weiblichen Akademiker ist. Der Hauptbau hat eine Länge von fünfhundert Fuß; die an beiden Enden desselben hervortretenden Flügel sind je sechsundfünfzig Fuß breit und einhundertfünfundsechszig Fuß tief; der Mittelbau mit dem Thurm hat eine nach der Rückseite vortretende Tiefe von einhunderteinundsiebenzig Fuß. Dieses kolossale Gebäude enthält im Ganzen vierhundertsiebenundneunzig Räume, nämlich außer etwa vierhundert Wohn- und Schlafzimmern für die Schülerinnen der Anstalt eine Capelle mit siebenhundert Sitzplätzen, eine Bibliothek, eine Gemäldegalerie, ein Naturaliencabinet, dann die Unterrichtszimmer und Hörsäle, die Wohnungsräume des Präsidenten und Directors, der Professoren und Lehrerinnen, der Matronen und Haushälterinnen, ferner die nöthigen Küchen, Waschräume, Badezimmer, Bäckerei, Wohnungen für die Dienerschaft und die Geschäftszimmer für die Verwaltung der Anstalt. Das ganze Gebäude wird durch Dampf geheizt, durch Gas erleuchtet und durch eine Wasserleitung mit allem nöthigen Wasser versorgt. Letztere Einrichtung ist zugleich dazu benutzt, das Hauptgebäude so gut wie feuerfest zu machen. Sehr sinnig ist die Einrichtung der Wohnungen der Schülerinnen. Es münden nämlich je drei Schlaf- und zugleich Arbeitszimmer in ein gemeinschaftliches Wohnzimmer, so daß jedes der drei je zusammenwohnenden Mädchen sich zurückziehen oder mit den Colleginnen zusammenkommen kann, wie es will.

Der Morgen vereinigt alle Mitglieder der Hochschule in der Capelle zu einem kurzen Gottesdienst; eine treffliche Orgel von zweiundzwanzig Registern begleitet den Gesang. Der Tag gehört den Studien, dem gemeinsamen Mahle, den leiblichen Uebungen und dem Genuß der die Anstalt umgebenden Natur. Nach dem Abendessen versammeln sich die jungen Damen abermals zu einem kurzen Gebet und dann zu vertraulicher Unterhaltung über weibliche Angelegenheiten unter dem Vorsitz der Principalin der Anstalt. Männlicher Besuch ist dann ganz ausgeschlossen. Dagegen schließt der allgemeine Gottesdienst an den Sonntagnachmittagen alles confessionelle und Sectenwesen aus, eben weil unter den Zöglingen und Genossen der Anstalt alle Confessionen und Secten vertreten sind.

Das Leben der jungen Akademikerinnen kann sich allerdings nicht der akademischen Freiheit deutscher Studenten erfreuen; es herrscht vielmehr echt englische Strenge der Aufsicht bei allem Comfort der äußern Umgebung. Keine der jungen Damen darf ohne Erlaubniß fremde Besuche empfangen und keine sich ohne Begleitung einer Lehrerin in die nahe Stadt Poughkeepsie begeben oder überhaupt die Umgrenzung des College überschreiten. Selbst Verwandte werden zum Besuch nur im allgemeinen Besuchzimmer [734] zugelassen, in welchem immer eine Lehrerin die Aufsicht über alle Vorgänge führt.

Was nun die Lehrkräfte und Lehrgegenstände betrifft, so finden wir in dem Facultätsverzeichniß einen Professor der Philosophie, einen Professor alter und neuer Sprachen, eine Lehrerin der griechischen Sprache, drei Lehrerinnen der lateinischen Sprache, einen Professor der englischen Sprache und Rhetorik, eine Lehrerin der englischen und französischen und zwei Lehrer der französischen Sprache, einen Professor der Mathematik, Naturlehre, Chemie, einen Professor der Naturgeschichte, Geologie, Mineralogie und dazu noch einen Lehrer und vier Lehrerinnen der Mathematik und Chemie, eine Professorin der Astronomie, eine Professorin der Physiologie, einen Professor der Musik (einen Deutschen, Eduard Wiebe, dem wir die Mittheilung der Notizen über diese Hochschule verdanken) mit sieben Hülfslehrerinnen, einen Professor der Malerei und des Zeichnens, einen Director der Reitschule und eine Lehrerin der Gymnastik oder Turnlehrerin.

Einen weiteren Einblick in das Wesentliche dieser Frauen-Universität gewinnen wir durch einen Besuch der wissenschaftlichen und Kunstsammlungen und Bildungsanstalten. Wir finden ein sehr reichhaltiges Cabinet voll wohlgeordneter naturgeschichtlicher Gegenstände, ein gutes chemisches Laboratorium; eine Bibliothek, welche vor der Hand allerdings vorzugsweise aus „Werken zum Nachschlagen“, also Lexiken und Encyklopädieen aller Art, besteht, für deren Vermehrung aber jährlich tausend Dollars ausgesetzt sind; ferner eine Gemäldegalerie, die größtentheils in Italien und den Niederlanden aufgekauft wurde; die Sternwarte, deren geschmackvolles Gebäude wir bereits sahen, ist mit einem Aequatorial-Teleskop (mit einem Objectivglas von zwölf Zoll Durchmesser), einem Transitcirkel, einem Chronograph, allen Instrumenten für meteorologische Beobachtungen und kleineren Apparaten für den Alltagsgebrauch ausgestattet und gilt schon jetzt als eine der vollkommensten astronomischen Anstalten Nordamerika’s. Nicht weniger sorgfältig ist das Conservatorium für Vocal- und Instrumentalmusik bedacht; hier ist das Classensystem eingeführt, welchem dreißig Pianos zur Verfügung stehen. In der Reithalle werden stets vierundzwanzig treffliche Pferde gehalten, und in der mit dieser verbundenen Turnhalle sehen wir die rüstigen Damen, in den sogenannten „Bloomerdreß“ gekleidet, mit Geschmack und Gewandtheit alle dem weiblichen Geschlechte entsprechenden gymnastischen Uebungen ausführen.

Auf unserem Gange von der Sternwarte zur Reit- und Turnhalle sind wir auch an der Gasanstalt vorüber gekommen, die vierhundert Fuß vom Hauptgebäude angelegt ist und von welcher aus Gas-, Dampf- und Wasserröhren von einundzwanzig englische Meilen Länge das College durchziehen. Außerdem gehören zum Eigenthum der Hochschule noch ein Eishaus, das schon genannte Wasserspeisungshaus, Farmgebäude für den wirthschaftlichen und landwirthschaftlichen Theil der Anstalt und das Pförtnerhaus, vor dem wir nun wieder stehen, um mit einem Blick noch einmal diese großartige Stiftung zu bewundern.

Stiftung? Ja, nicht eine Staats- oder städtische Gründung haben wir vor uns, sondern dies Alles ist die That eines einzigen Mannes, eines einfachen Bürgers von Poughkeepsie im Staate Newyork.

Matthew Vassar – das ist der Name dieses Mannes – gehört zu den in Nordamerika nicht seltenen Industrie-Größen, die mit nichts als einem hellen Kopf, muthigem Herzen und zwei gesunden Händen das Land betraten und mit diesem ureigensten Capital den Grund zu großem Reichthum legten. Vassar kam als Knabe mit seinen armen Eltern nach Amerika. Die Familie mußte sich mit ihrer Hände Arbeit ernähren, und selbst die Kinder trugen nach ihren Kräften dazu bei. Sobald Matthew den Knabenjahren entwachsen war, strebte er in echt amerikanischer Weise nach Selbstständigkeit. Er arbeitete und sparte rastlos, bis er eine kleine Summe erschwungen hatte, die es ihm möglich machte, allerlei kleine Handelsgeschäfte auf eigene Faust zu betreiben. Nach manchem Jahr harter Mühen und Entsagungen gelang es ihm, in Poughkeepsie, eine Ale-Brauerei im bescheidensten Maßstab anzulegen. Um diese Zeit verheirathete er sich. Er selbst war der Brauer, seine Frau hielt in einem Kellergeschoß einen Schank, und wenn einmal ein ganzes Faß seines Ales verkauft wurde, so trug er es selbst auf den Schultern dem Abnehmer in’s Haus. Das Geschäft gedieh, die Brauerei erweiterte sich und wurde endlich ein wahrhaft großartiges Etablissement, das seinen Besitzer zu einem der reichsten Männer seiner Stadt erhob. Noch heute genießt Vassar die Früchte seines Fleißes als rüstiger Greis von fünfundsiebenzig Jahren.

Der Gedanke, vom Ueberfluß seines Glücks einen würdigen gemeinnützigen Gebrauch zu machen, scheint ihm bei einem Besuche seiner englischen Heimath gekommen zu sein. Er bestimmte am 18. Jan. 1861 für die Gründung seiner Akademie die Summe von 408,000 Dollars (ungefähr 570,000 Thaler). Trotz des Bürgerkriegs konnte die Hochschule am 21. September 1865 feierlich eröffnet werden. Und so lebhaft war die Theilnahme der amerikanischen Frauenwelt für dieses erste Ehrenhaus höchster Bildung, daß am Weihetage dreihundert Schülerinnen ihren Einzug in dasselbe hielten.

Nach dem Wunsch des Stifters soll die Hochschule keinen financiellen Gewinn abwerfen, sondern nur sich selbst erhalten können. Da nun jede Schülerin jährlich dreihundert und fünfzig Dollars an die Anstalt entrichtet, so war schon mit der ersten Anzahl derselben, die eine Jahreseinnahme von über hunderttausend Dollars abwarf, die Erfüllung jenes edlen Wunsches gesichert. Aller Einnahme-Ueberschuß soll stets nur zur immer weiteren Vervollkommnung der Hochschule verwendet werden.

Ist auch der erste Zweck dieser Stiftung nicht, gelehrte Frauen, sondern, nach Vassar’s Ausspruch, „gute Gattinnen, gute Mütter und wohlerzogene Damen“ zu bilden, so wird doch von selbst das Streben der mit so wissenschaftlichen Mitteln ausgerüsteten Anstalt zu dem zweiten Zweck hinführen, in gewissen Zweigen der Gelehrsamkeit auch die Frauen auf die Stufe zu erheben, die ihnen natürliche Begabung und sittliches Bedürfniß anweist. Wir haben dabei zunächst zwei Fächer im Auge: die Astronomie und die Medicin. Für erstere spricht Alexander von Humboldt selbst den Frauen eine höhere Begabung als den Männern zu, weil in ihnen der Farbensinn am höchsten ausgebildet sei. Daß es zweitens eine immer lauter auftretende Forderung der Sitte ist, für Frauenkrankheiten auch Frauen zu wissenschaftlichen Heilerinnen heranzuziehen, darüber wird in der gesammten Frauenwelt nur eine Stimme sein.

Die erste Frauenhochschule ist auf dem freien Boden Amerika’s erstanden; trotzdem wagen wir den Ausspruch, daß die erste Stätte wahrhaft wissenschaftlicher Frauenbildung in Deutschland ihren Boden finden wird. Der Geist, die Strebekraft dazu hat sich bereits Bahn gebrochen, die Befähigung zum würdigsten öffentlichen Auftreten hat die große Frauen-Versammlung zu Leipzig auf das Erhebendste dargethan, und wenn erst unser Vaterland durch harten Männerkampf innere Festigkeit und Ordnung errungen, dann wird es auch an den Mitteln nicht mehr fehlen, den deutschen Frauen die „neuen Bahnen“ in Leben und Wissenschaft zu eröffnen, die ihr hoher innerer Werth sich längst verdient hat.[1]

Fr. Hofmann.



[735]
Der geschichtliche Fiesco.
Nach urkundlichen Quellen von Julius Bacher.
(Schluß.)


Als sich die Ruhe in der Versammlung wieder eingestellt hatte, begann Fiesco mit der ihm eigenen Beredsamkeit ihnen ein Bild der unerträglichen Gewalt des alten Doria und des Ehrgeizes Gianettino’s, sowie der Zärtelichkeit des Kaisers für diese Familie zu entwerfen, indem er nicht unterließ, ihnen die Gefahren zu zeigen, welche daraus für ihre Person und die Freiheit des Vaterlandes hervorgehen müßten, da es keinem Zweifel unterläge, daß unter diesen Umständen Gianettino zur Regierung gelangen und alsdann nicht nur alle Freiheiten unterdrücken, sondern daß derselbe auch bemüht sein würde, die Obergewalt in der Republik in seiner Familie erblich zu machen. „Jetzt, meine Freunde,“ fuhr Fiesco mit feuriger Beredsamkeit fort, „steht es in Eurer Macht, diese ungerechte Herrschaft zu stürzen und die Freiheit Eures Vaterlandes auf einem festen Grunde aufzubauen und für alle Zeiten dauernd zu sichern. Die Tyrannen müssen niedergestoßen werden. Ich habe zu diesem Zweck die wirksamsten Maßregeln getroffen. Meine Genossen sind zahlreich. Ich kann mich im Nothfall auf Alliirte und Beschützer verlassen. Zum Glück sind die Tyrannen ebenso sicher, wie ich vorsichtig gewesen bin. Ihre stolze Verachtung ihrer Mitbürger hat allen Argwohn und jede Besorgniß aus ihrem Herzen verbannt, welche sonst die Verbrecher scharfsichtig zu machen pflegt, die Rache, die sie verdienen, voraus zu sehen, und schlau, sich dagegen zu verwahren. Sie werden nun den Schlag fühlen, ehe sie eine feindliche Hand über sich vermuthen. Laßt uns also hinaus stürmen und durch ein edles Unternehmen, das fast mit keiner Gefahr verbunden ist und einen sichern Erfolg verspricht, unser Vaterland befreien!“

Diese Worte, mit dem unwiderstehlichen Feuer einer von einem großen Unternehmen erfüllten Seele gesprochen, riefen in der Versammlung die beabsichtigte Wirkung hervor. Fiesco’s Vasallen, die gewöhnt waren, ihrem Oberherrn in Allem blindlings zu folgen, antworteten mit helltönenden Beifallsbezeigungen; ebenso alle von Fiesco herbeigezogenen Abenteurer, sowie Diejenigen, welche sich in mißlichen Verhältnissen befanden und denen die mit dem Aufstande verbundene Unordnung sichere Aussicht auf Gewinn und Bereicherung gewährte. Die angeseheneren und besonneneren Genuesen, denen das Unternehmen frevelhaft und darum verwerflich erschien, wagten, durch die Uebermacht in Schrecken gesetzt, dennoch nicht, ihre Stimme dagegen zu erheben.

Nachdem Fiesco sich auf diese Weise die Zustimmung und den Beistand der Versammelten zu seinem Unternehmen gesichert zu haben glaubte, entwickelte er den Plan, nach welchem dasselbe ausgeführt werden sollte, und da die nahende Nacht dazu bestimmt war, ließ er seine Gäste bis dahin reich bewirthen. Während dessen war er bemüht, ihren Muth durch eine beredte Zusprache zu erheben, indem er vorsichtiger Weise in ihrer Mitte blieb, um einer etwaigen Sinnesänderung bis zum Erscheinen der festgesetzten Stunde vorzubeugen.

So kam denn die für die Doria und deren Freunde so verhängnißvoll werdende Mitternacht des 2. und 3. Januars 1547, und ehe Fiesco die letzten Befehle an die Versammelten richtete und ihnen die Thore öffnen ließ, ging er, von der Wichtigkeit der nahenden Stunde und der vorauszusehenden Gefahren gedrängt, seiner von ihm zärtlich geliebten Gattin ein Lebewohl zu sagen. Dieselbe war aus dem edeln Hause der Cibo und durch Schönheit und Tugend vor Vielen ihres Geschlechtes ausgezeichnet.

Obgleich der Graf vorsichtig seine Gemahlin bestimmt hatte, sich in einem von den Höfen entfernten Theil des Palastes aufzuhalten, indem er als Grund dafür eine den Genuesen zu veranstaltende Festlichkeit bezeichnete, so hatte das ungewohnte und geräuschvolle Treiben dennoch ihre Aufmerksamkeit erregt und sie trotz der bezeichneten Veranlassung dazu mit einer gewissen Besorgniß erfüllt, da sie niemals vorher eine so große Menge Leute aus so verschiedenen Classen in ihrem Palast versammelt gesehen hatte, und sie war darum auf den nahe liegenden Gedanken gerathen, es müßten sich mit der vorgeschützten Festlichkeit noch irgend andere und gefährliche Zwecke verbinden. Eine solche Voraussetzung schien ihr um so mehr gerechtfertigt, als auch ihr Gemahl in der letzten Zeit eine sonst an ihm nicht bemerkte Aufregung und Zerstreutheit verrathen hatte, die er, wie ihr nicht entgangen war, vor allen Menschen zu verbergen sich bemühte. Von dem heißen Wunsch erfüllt, von ihrem Gemahl Aufklärung über die Vorgänge in dem Palast zu erhalten, hatte sie ihn zu wiederholten Malen, jedoch vergebens, zu sich bitten lassen; erst als die Glocken von Genua’s Thürmen die Mitternacht ankündigten, sollte ihr Verlangen befriedigt werden; wenige Augenblicke darauf trat Fiesco bei ihr ein. Seine Erregung, die er trotz seiner großen Willenskraft Angesichts der nahenden blutigen Stunde nicht mehr zu verbergen vermochte, schien ihre schlimme Voraussetzung zu bestätigen, und von Liebe und Sorge um ihren Gemahl erfüllt, warf sie sich an seine Brust und bat, ihr nichts zu verhehlen.

Der Graf glaubte ihr seine Pläne nicht länger verschweigen zu dürfen und theilte ihr daher dieselben mit. Ein tödtlicher Schrecken bemächtigte sich ihrer bei der Vorstellung eines so blutigen Unternehmens, und von den übelsten Ahnungen über den Ausgang desselben übermannt, suchte sie den heiß geliebten Gemahl durch Thränen und Bitten davon zurückzuhalten. Umsonst strebte Fiesco sie zu beruhigen und zu trösten; von der Ueberzeugung erfüllt, daß der Aufstand ihrem Gatten zum Unheil gereichen müßte, ließ sie von Bitten und Flehen nicht ab und gerieth endlich in Verzweiflung, als Fiesco trotz alledem dennoch auf seinem Vorsatz beharrte. Einer Ohnmacht nahe legte er sie auf eine Ottomane, indem er ihr zurief: „Leben Sie wohl! Entweder sehen Sie mich nie wieder, oder morgen soll Alles in Genua zu Ihren Füßen liegen!“

Mit diesen stolzen und zuversichtlichen Worten eilte er, ihre Ohnmacht benutzend, aus dem Zimmer und befand sich wenige Minuten darauf in der Mitte der Verschworenen. Ohne Zögern ertheilte er nun die nöthigen Befehle. Eine Abtheilung der Verschworenen erhielt den Auftrag, sich nach den verschiedenen Thoren der Stadt zu begeben und sich derselben zu bemächtigen; eine andere sollte die bedeutendsten Straßen und festesten Plätze besetzen, während sich Fiesco selbst vorbehielt, den Hafen, in welchem sich Doria’s Galeeren befanden, also das gefahrvollste Unternehmen, anzugreifen. Die Genuesen ahnten nicht, daß ihre nächtliche Ruhe in einer so unerhörten Weise gestört werden sollte, während Fiesco’s Palast die gefährlichen Ruhestörer wohlbewaffnet und voll Muth entließ. Ohne den geringsten Widerstand zu finden, gelang es ihnen, einige Thore in raschem Ueberfall zu nehmen, die noch übrigen indeß nur nach einem hitzigen Gefecht mit der Besatzung derselben. Kurze Zeit darauf waren die Genuesen, von dem ungewohnten Treiben, dem Geschrei der Verschwörer und Angegriffenen aufgeschreckt, erwacht und aus ihren Häusern geeilt, um die Ursache des ersteren kennen zu lernen. Sie fanden Straßen und Plätze mit Bewaffneten angefüllt und zogen sich, das Uebelste befürchtend, sogleich in ihre Wohnungen zurück, in banger Erwartung des Ausganges dieses nicht geahnten Ueberfalls.

Während dessen war Fiesco mit Verrina und einer Anzahl der auserlesensten Soldaten nach dem Hafen geeilt. Verrina erhielt den Befehl, mit der Galeere, welche Fiesco angeblich zu einem Feldzug gegen die Türken bemannt hatte und die nun in dem Hafen neben Doria’s Schiffen lag, die Mündung des letztern zu verstopfen, um die Möglichkeit einer Flucht von der Stadt aus zu verhindern, da es ja darauf ankam, sich der beiden Doria zu bemächtigen. Denn die Galeeren Doria’s waren bis auf die angeketteten Rudersclaven unbemannt, ebenso abgetakelt und vermochten daher keinen Beistand zu leisten.

Der Name eines so beliebten Mannes, wie Fiesco, begeisterte Viele aus dem Volk, man griff eilig zu den Waffen und reihte sich mit dem Rufe „Fiesco und Freiheit“ den Verschworenen an, während der zu der Partei des Doria zählende Adel sich in seine befestigten Paläste zurückzog, um sich vor einer Plünderung zu sichern. Bald drang der Tumult und das Losungsgeschrei der Verschworenen in Doria’s Palast, und Gianettino, der mit seinem Großoheim in demselben wohnte, verließ eilig sein Lager, im Glauben, der Tumult sei Folge eines unter den Schiffsleuten ausgebrochenen Aufstandes, sammelte [736] er einige Bewaffnete, um sich nach dem Hafen zu begeben und die Ruhe daselbst wieder herzustellen. Um dahin zu gelangen, mußte er jedoch durch das Thomasthor gehen, das unglücklicherweise bereits von den Verschworenen eingenommen worden war, und kaum betrat er dasselbe, als sich die Letzteren in äußerster Wuth auf ihn und seine Begleiter stürzten und ihn und diese ermordeten. Dasselbe Schicksal hätte auch den alten Doria erreicht, wenn Hieronymus Fiesco, ein Bruder des Grafen, den von diesem erhaltenen Auftrag, Doria in seinem Palast zu überfallen und niederzumachen, ausgeführt hätte. Fiesco’s Bruder scheint jedoch im Geheimen gleichfalls selbstsüchtige Absichten gehegt zu haben; ob dieselben zugleich feindselige gegen seinen Bruder oder nur eigennützige gewesen sind, läßt sich schwer ermitteln, eine Thatsache jedoch ist es, daß er den von seinem Bruder erhaltenen Befehl nicht vollzog, mit seinen Truppen den Palast Doria’s nicht überfiel und Andreas während dieser Zögerung die Nachricht von der Natur des Aufstandes, dem Tode seines Neffen und der ihm selbst drohenden Gefahr erhielt und zugleich so viel Zeit gewann, sich auf ein Pferd zu werfen und so sich durch die Flucht zu retten.

Dadurch daß Hieronymus den von seinem Bruder erhaltenen Befehl nicht vollzog, sollte der so bedächtig vorbereitete Aufstand wirkungslos werden, und es ist in der That schwer zu begreifen, warum sich Schiller ein so bedeutsames Moment für den Ausgang seines Drama’s hat entgehen lassen können, da dasselbe dem Schauspiel eine viel tiefere Wirkung hätte verleihen müssen und er, treu der Geschichte, Fiesco’s Unternehmen an dem Verrath von dessen Bruder hätte scheitern lassen.

Die Nachricht von Doria’s Flucht war einigen Senatoren zu Ohren gekommen, und von der Ueberzeugung erfüllt, unter den obwaltenden so höchst gefahrvollen Verhältnissen zur Rettung der Stadt ebenso rasch als entschlossen handeln zu müssen, vereinigten sich erst einige und waren muthig genug, sich in dem Palast der Republik zu versammeln. Hier fand eine Berathung über die zu ergreifenden Mittel gegen den Aufstand statt. Man machte den Vorschlag, auf die Straße zu eilen und die zerstreuten Soldaten zu sammeln, mit welchen man alsdann die Verschwörer angreifen wollte. Der Vorschlag wurde angenommen, und es gelang in der That, eine nicht unbedeutende Anzahl Truppen zu sammeln, mit welchen man bald darauf einen sich ihnen entgegenstellenden Haufen Verschworener angriff.

Sie wurden jedoch mit nicht unbedeutendem Verlust zurückgeschlagen und glaubten nun nichts Besseres thun zu können, als sich mit einer so mächtigen Partei, der sie nicht zu widerstehen vermochten, zu verbinden. Man kam also überein, Einige aus ihrer Mitte an Fiesco abzusenden, um zu vernehmen, unter welchen Bedingungen er ihre Unterwerfung anzunehmen für gut finden würde.

Während dieser Vorgänge, die dem Unternehmen Fiesco’s einen glücklichen Ausgang verhießen, hatte Letzterer sich mit Hülfe seiner Truppen der Galeeren Doria’s bemächtigt. Nach diesem so wichtigen Erfolge erachtete er es für zweckmäßig, seinen Freunden in der Stadt mit seinen Truppen rasch zu Hülfe zu eilen, um den Aufstand zu beenden und seine Macht zu befestigen. Schon hatte er den Befehl zum Abmarsch gegeben, als am Bord der Admirals-Galeere ein lautes Getümmel entstand; Fiesco, darüber bestürzt und in der Besorgniß, die Galeerensclaven hätten sich befreit und die Besatzung auf den Schiffen angegriffen, eilte wieder zurück, um sich nach den Schiffen zu begeben. Und hier ereilte ihn die Nemesis. Das Bret, welches von dem Ufer aus auf das Schiff gelegt worden war, schlug, als er allen Andern voraus und nur von Verrina gefolgt hastig darüber forteilen wollte, um. Von seiner schweren Rüstung niedergezogen, sank er tief in die Wellen und war so rettungslos verloren. Verrina, der nur allein das schreckliche Ende seines von ihm bewunderten Freundes, an dessen Dasein sich alle seine Hoffnungen für die Zukunft knüpften, mit Entsetzen wahrgenommen hatte, ohne daß er zur Rettung desselben auch nur das Geringste hätte thun können, behielt Besinnung genug, die bedeutsamen Folgen zu erkennen, welche aus dem Bekanntwerden von Fiesco’s Tode für das Unternehmen hervorgehen mußten, und theilte daher nur einigen seiner Freunde das Geschehene mit, indem er ihnen zugleich anempfahl, gegen Jedermann darüber zu schweigen, bis der Aufstand zu Ende geführt, eine Einigung mit den Senatoren zu Stande gekommen wäre und sie die Macht in Händen hätten.

So wichtig und den Umständen angemessen diese Maßregel auch war, sollte dieselbe jedoch wiederum an dem verrätherischen Benehmen von Fiesco’s Bruder, Hieronymus, scheitern. Der Letztere war nämlich zu Verrina und den übrigen Anführern mit einer Truppenabtheilung gestoßen, nachdem er die Flucht des alten Doria, den Tod Gianettino’s erfahren und den Dogenpalast hatte besetzen lassen, und es wurde ihm im Vertrauen der Tod seines Bruders mitgetheilt und das strengste Schweigen darüber empfohlen; aber statt durch das unglückliche Ende seines Bruders niedergeschlagen zu werden, wurde dadurch vielmehr seine Selbstsucht und Eitelkeit geweckt. Der Gedanke erwachte in ihm, sich statt seines Bruders die Gewalt in Genua anzueignen. Niemand von den Verschworenen ahnte seine geheimen Absichten.

Endlich erschienen die Senatoren und fragten nach Fiesco, den sie zu sprechen wünschten, und Verrina war eben im Begriff denselben mitzutheilen, daß sich Fiesco noch auf den Schiffen befände und ihm den Auftrag ertheilt habe, mit ihnen in seinem Namen zu unterhandeln, als Hieronymus, zum großen Erstaunen aller Anwesenden, vortrat und statt seiner mit kindischer Eitelkeit antwortete: „Ich bin jetzt die einzige Person, der der Titel eines Grafen von Lavagna gebührt, und mit mir allein haben die Senatoren zu unterhandeln.“ Diese wurden dadurch auf das Höchste überrascht, allein sie erriethen, was vorgefallen sein mußte, und erkannten den großen Vortheil, den ihnen der Tod des so mächtigen und verehrten Anführers gewähren mußte. Statt daher ihre Unterwerfung anzuzeigen, änderten sie ihre Sprache und machten bedeutende Forderungen, und zwar lediglich in der Absicht, durch die hingezogenen Verhandlungen Zeit zu gewinnen, damit ihre Anhänger so viele Truppen zusammen bringen konnten, um den Palast der Republik zu vertheidigen und den Aufstand wirkungslos zu machen.

Dieses Verhalten sollte mit Erfolg gekrönt werden und zugleich den Aufstand gänzlich scheitern lassen. Die Verschworenen nämlich, durch den Tod ihres angebeteten Anführers betäubt und entmuthigt, verzweifelten an dem guten Ausgang des Unternehmens und waren um ihr eigenes Wohl bedacht, das, behielten die Senatoren die Macht, sehr gefährdet war. Ueberdies hatten sie kein Vertrauen zu Hieronymus, der sich als ein unbesonnener Jüngling gezeigt hatte und seinen Bruder nicht zu ersetzen befähigt war. Auch war die Verschwörung, wie wir erfahren haben, so außerordentlich geheimnißvoll betrieben worden, daß der größere Theil der Genuesen erst jetzt damit bekannt wurde und für die Theilnahme also nicht genugsam vorbereitet war. Der Mann, dem sie ihr Vertrauen geschenkt hätten, war dahin, und diejenigen, welche ihm gefolgt waren, kannten wiederum die Mitverschworenen nicht und ebensowenig Fiesco’s eigentliche Pläne.

Unter den darin Eingeweihten befand sich überdies kein einziger Mann, der durch sein Ansehen und seine Klugheit einen Anspruch auf Fiesco’s beabsichtigte Stellung hätte machen können; die Seele also, welche die Verschworenen belebt hatte, fehlte, und so entsank ihnen der Muth, das Unternehmen fortzuführen. Die feigsten der Verschworenen schlichen sich im Schutz der Dunkelheit nach ihren Häusern und hofften auf diese Weise unbekannt zu bleiben, während sich Andere durch eine zeitige Flucht vor der ihnen drohenden Strafe zu retten bemüht waren. Als der Tag anbrach, war von den Verschworenen keine Spur mehr in Genua. Die Stadt war und blieb auch am folgenden Tage ruhig; keiner der so kühnen Aufrührer ließ sich blicken, und nur einige Merkmale von Gewaltthätigkeiten verriethen den Aufstand der vergangenen Nacht. Während dieser Vorgänge hatten die Anhänger Doria’s diesem Nachricht von dem Ausgange des Aufstandes gegeben und ihn zugleich dringend ersucht, schleunigst nach Genua zurückzukehren, um die Ruhe und seine eigene Macht daselbst wiederherzustellen.

Doria hatte in der Nähe Genua’s eine Zufluchtsstätte gefunden, und von der Liebe zu seinem Vaterlande erfüllt, war er sogleich entschlossen, dem Verlangen seiner Freunde nachzugeben. Der etwa in Genua’s Mauern auf ihn lauernden Gefahren nicht achtend, kehrte er gegen Abend wieder nach der Stadt zurück, von den Genuesen mit lautem Jubel empfangen. Niemand dachte daran, ihn seiner Würde zu berauben oder eine Aenderung der Regierungsform oder Gewalt zu verlangen; mit seiner Rückkehr war auch Genua’s Friede zurückgekehrt.

Bald darauf begannen die Untersuchungen gegen die Theilnehmer [737] der Verschwörung. Und auch in diesem Falle bewährte sich auf’s Neue die Großmuth und der Edelsinn Doria’s; denn trotz der auf ihn herabbeschworenen Gefahren und trotz des Unglücks, das ihn durch den Mord seines Neffen betroffen, dessen verstümmelten Körper er vor sich liegen sah, bewahrte er dennoch so viele Milde und Mäßigung, daß er das von dem Senat über die Verschworenen gefällte Urtheil, Tod und Einziehung ihrer Güter, in Verbannung milderte und sich dadurch auf’s Neue die Bewunderung seiner Mitbürger erwarb. Nachdem der Senat auf diese Weise die Ruhe und Sicherheit in der Republik wieder hergestellt hatte, theilte er dem Kaiser, dem Schutzherrn Genua’s, die näheren Umstände des Geschehenen mit.

Kaiser Carl war über eine so seltsame und unerwartete Begebenheit höchlich erstaunt. Sein Scharfblick erkannte aber sogleich, daß Fiesco lediglich durch einen ihm von außen zugesicherten Beistand den Plan zu der Verschwörung ersonnen haben müßte. Er täuschte sich darin nicht und erhielt bald die gewisse Nachricht, daß der Herzog von Parma und selbst der Papst Fiesco’s Plan unterstützt hätten. Besorgt, es könnte der Krieg durch den König von Frankreich auf’s Neue in Italien angefacht werden, schob er die gegen den Kurfürsten von Sachsen und den Landgrafen von Hessen beabsichtigten Unternehmungen noch hinaus, und so war Fiesco’s Verschwörung der Grund, daß Deutschland noch für einige Zeit von dem Einmarsche der kaiserlichen Truppen verschont blieb. Dies war auch die einzige Wirkung, die Fiesco’s so wohl überlegtes und vorbereitetes Unternehmen hatte. Der Name Fiesco’s verfiel der Verachtung. Seine Güter wurden eingezogen und Hieronymus büßte seinen Verrath durch ewige Verbannung. Andreas Doria bekleidete die Würde eines Dogen noch mehrere Jahre, doppelt hochgeachtet und geliebt von seinen Mitbürgern. Sein Andenken lebt noch heute in Denkmälern, die man ihm errichtet hatte, und die Geschichte nennt ihn den Vater seines Landes und den Wiederhersteller von Genua’s Freiheit.




Der Dampf auf der Flucht.


Der jüngste und hoffentlich letzte deutsche Bruderkrieg ist nicht nur vor allen großen Kämpfen vor ihm ausgezeichnet durch die Sturmeseile seines Verheerungsgangs und sein rasches Ende, sondern er hat auch ganz neue Kriegsbilder an’s Licht gebracht durch den ehernen Fuß, den er auf die von Dampf und Elektricität getragenen Verkehrsmittel der Gegenwart zu setzen suchte. Das erste Flammenzeichen desselben loderte mit der strategisch gebotenen Zerstörung der Riesaer Elbbrücke auf. Mit gieriger Zunge schlug die gewaltige Lohe aus dem zusammenstürzenden Balkengefüge des stattlichen Bauwerkes zum abendlichen Himmel empor und darüber hin wälzte sich der schwarze Qualm gleich einer gewitterschweren Wolke, dem Laufe des herrlichen Flusses folgend. Prasselnd und zischend stürzten die lodernden Holzstreben in die Fluthen, daß der weiße Gischt hoch auf zum brennenden Trümmerwerke spritzte. Unten aber, im Strombette, kämpften die Wellen mit rauschender, drängender Gewalt gegen das niedergeschmetterte dämmende Gebälk an, während der dadurch stromaufwärts gestaute Wasserspiegel das ganze grauenvoll-prächtige Bild in schauerlichem Abglanz wiedergab.

Nacht ist’s geworden. Beim Flammenscheine der brennenden großen Elbbrücke konnte man am Abend des 15. Juni in der elften Stunde eine Abtheilung preußischer Husaren bemerken, welche schnurgerade auf den Riesaer Staatsbahnhof losritten, dort einen der Bahnbeamten herbeiholten, von den Pferden sprangen und beim trüben Lichte einer Laterne in den verschiedenen Maschinen- und Reparatur-Gebäuden herumtappten, um Locomotiven und Wagen zu annectiren. Aber der Bahnhofsinspector, ein vorsichtiger Mann, hatte Wagen und Maschinen bereits nach Chemnitz schaffen lassen. Als noch die Husaren vergebens jeden Winkel durchspähten, da horch, ein Pfiff! was war das? Rasch stürzten die Reiter aus den Gebäuden und siehe da, der „Hercules“, die letzte neugierige Maschine, welche um jeden Preis die Fremden beschauen wollte, verschwand mit lautem Pfeifen im Dunkel der Nacht.

Diesem ersten Auftreten der Kriegsfurie folgten ein paar Tage Ruhe. Die preußische Armee, ihren rechten Flügel an die Elbe gelehnt, drang nach Böhmen vor und schien nach dem westlichen Theil der sächsischen Bahnen nicht mehr zu fragen. Man suchte auf ihm den Verkehr so lange wie möglich offen zu halten und ließ ihn nur in dem Maße aufhören und sich zurückziehen, je nachdem die Preußen vorrückten. Als diese jedoch am 17. Juni Waldheim besetzten, fand der im selben Augenblick im Bahnhof einlaufende Personenzug es angezeigt, eilig zurück nach Chemnitz zu fahren, ohne sich in nähere Bekanntschaft mit den blauen Gästen einzulassen. Dieser Vorfall und eine Menge anderer beunruhigender Nachrichten zeigten nur zu deutlich, welchen Gefahren in diesem Kriege vor Allem das gesammte Eisenbahnmaterial ausgesetzt sei. Man begnügte sich nicht mit dem Aufreißen der Schienen und Zerstören der Brücken und Viaducte, sondern man bemächtigte sich sofort aller Transportapparate, von der Locomotive bis zum letzten Kohlenwagen. Ebendeshalb brachte man in Chemnitz noch am selben Tage mehrere große Wagen- und Locomotiven-Züge nach Glauchau und Zwickau in Sicherheit. Am 18. Juni aber, wo der Feind ganz nahe an die Stadt streifte, war nicht mehr zu säumen; was Hände hatte, griff zu, um lange, lange Züge zu formiren, die mit drei bis vier starken Maschinen bespannt zum Thore hinaussausten. So kamen zweiundvierzig Locomotiven und viele Hundert Wagen gen Zwickau. Es war Abend sieben Uhr geworden und zwei Maschinen schleppten den letzten von Gößnitz kommenden Zug in den geräumten Bahnhof, die wenigen verwegenen Reisenden stiegen aus, die zwei Locomotiven waren eben im Begriff zu drehen, um rasch wieder zurückfahren zu können, als mehrere Beamte mit der Schreckensbotschaft daher rannten: „Preußische Soldaten stehen draußen vor dem Bahnhof und sperren den Ausgang!“ Das war schon so gut wie gefangen, eine schlimme Geschichte! Aber die beiden Führer des „St. Egidien“ und der „Augustusburg“ verzagten nicht, der Riesenkraft und Vogelschnelle ihrer bestaubten Rosse konnten sie vertrauen und nöthigenfalls durch ein ganzes Regiment reiten, ohne aus dem Schritt zu kommen. Rasch stürmten sie dem Ausgange zu und richtig, dort standen die flinken Husaren, den Säbel in der Faust, auf dem rettenden Geleise, sie wichen nicht vom Platze, während zum Ueberfluß eine ungeheure aufgeregte Menge Volks die Reiter umringt hatte, hin und her wogte und mit größter Spannung den Dingen entgegensah, welche kommen mußten. Jetzt waren die Locomotiven dicht vor den Reitern. Was wird noch werden? fragte man sich. Alles hielt den Athem an, man sah im Geiste den wilden Kampf, die Klingen funkelten, man horchte auf den ersten Schuß – da öffneten sich plötzlich auf beiden Maschinen Abstoßhähne und Schnelldampfer zugleich, der Dampfpfeifen schrille, durchdringende Schreie ertönten und ein wahrer Höllenspuk hub an. Bald waren beide schwarze Riesen in Dampf gehüllt und drangen unbekümmert um Säbel und Pistolen unter Freunde und Feinde hinein. Entsetzt wich Alles den verderbenbringenden Rädern aus, die Pferde bäumten und sprangen zitternd bei Seite, scheu und unruhig gemacht, ließen sie den erschrockenen Reitern keine Zeit ihre Waffen zu gebrauchen. Die Bahn war frei, und wie ein Ungewitter brausten die beiden Renner dahin, „daß Kies und Funken stoben“. Die preußischen Husaren sind gewiß verwegene Burschen, die sich schon mit aller Welt herumgehauen haben, und ihr Ahnherr Ziethen war ein Reitersmann par excellence gewesen, aber solchen Gegnern wäre auch er aus dem Wege gegangen! Er wird euch vergeben, ihr kecken Reiter, und es ganz in Ordnung finden, daß ihr von jeder Verfolgung der „geflügelten Rosse“ abstandet.

Die beiden muthigen Rosselenker hörten den Sturm des Beifalls nicht, der ringsumher losbrach; ohne Ruhe und Rast flogen sie über die geschiente Fläche nach Glauchau. Die Eile war gerechtfertigt, preußische Patrouillen hatten sich auf dem Wege dahin sehen lassen und jeden Augenblick konnte man die Schienen aufreißen; wohlbehalten gelangten sie indessen nach Glauchau und ihr sauve qui peut trieb Alles, was Räder hatte, in die Flucht nach Zwickau.

[738] Alle diese Zusammentreffen mit den preußischen Streifcorps trugen jedoch immer nur den Charakter des mehr Zufälligen an sich, die Hauptgefahr für die sich in Zwickau immer mehr aufhäufenden Transportmittel der sächsischen Bahnen drohte von einer ganz anderen Seite, der Schlag, welcher dagegen geführt werden sollte, war gut ausgedacht und zeigte, wie bald darauf der ganze Krieg, daß Preußen wie überall eine genaue Kenntniß aller einschlagenden Verhältnisse sowohl, wie aller wichtigen Punkte besaß.

Wenn man die Karte zur Hand nimmt, so sieht man, wie die Eisenbahn von Chemnitz über Zwickau führt und sich bei Werdau der Linie anschließt, welche Baiern oder Hof mit Leipzig verbindet. Von letzterem Schienenwege geht dann im Voigtlande bei der kleinen Station Herlasgrün eine andere, aber nur eingleisige Bahn links ab nach Eger oder Böhmen. Der Punkt nun hinter Werdau, wo die beiden Hauptlinien, welche von Leipzig und Chemnitz nach Böhmen und Baiern führen, zusammenlaufen, heißt die Werdauer Curve. Wurde sie vom Feinde besetzt, so war den in Zwickau massenhaft aufgefahrenen Wagen und Locomotiven die Flucht abgeschnitten. Und wie nothwendig diese Flucht eines so außerordentlich starken Transportmaterials war, sollte sich schon am 19. Juni zeigen. Dieselbe Landwehr, welche am frühesten Morgen dieses Tages (nach drei Uhr) ihren gemüthlichen Leiterwageneinzug in Leipzig hielt (vergl. Gartenlaube Nr. 28), besetzte damals sofort den sogenannten „Baierischen Bahnhof“ oder westlichen Staatsbahnhof und das Telegraphenbureau, stellte Posten aus, nahm alle noch vorhandenen Locomotiven (die meisten waren bereits nach Reichenbach in Sicherheit gebracht) sammt Wagen in Beschlag und bemächtigte sich des Frühzuges, welcher um vier Uhr vierzig Minuten nach Reichenbach abzugehen hat[WS 1] und schon reisefertig da stand. Nachdem der Führer der Expedition fertig war, d. h. Alles, was er vorgefunden, für erbeutet erklärt hatte, was bekanntlich sehr schnell geht, wurde eine zweite Maschine requirirt, um zur größeren Sicherheit, natürlich unter militärischer Bedeckung, dem von der Landwehr schon besetzten Zuge voranzufahren. So schnell aber auch das Alles vor sich ging, zwei edle Stunden waren dennoch verflossen, ehe das Abfahrtssignal ertönte; es schlug sechs Uhr, als der Zug die Halle verließ um das großartigste Dampfroß-Wettrennen zu beginnen. In Zwickau fühlte man die Nähe der großen Gefahr, so wie man zuweilen die Nähe eines hinter unserem Rücken befindlichen Menschen empfindet, ohne ihn zu sehen und zu hören. Auch war es von der Leipziger Seite her viel zu ruhig gewesen, als daß dies nicht Verdacht erregen mußte. Noch in der Nacht vom 18. zum 19. Juni lösten sich daher aus den großen dichtstehenden Wagenreihen lange Züge ab, von mehreren Schleppern (Maschinen mit großen Cylindern und also auch größerer Kraft) zugleich gezogen, darunter ganze Trupps Locomotiven, und fuhren ohne Aufenthalt nach Reichenbach i. V. Hier schon verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft der Preußen in Leipzig – und als ob sie wie ein Sturmwind in die Feuer der Kessel gefahren wäre, tobte plötzlich ein nie gesehenes Leben durch alle Dampfrosse mit ihren endlosen Wagenreihen – und fort ging’s auf der Bahn nach Hof.

Neunzehn Locomotiven mit mehreren hundert Wagen tobten dahin. Da spannt die Göltzschthalbrücke weit über tausend Ellen lang sich über den Abgrund, nur wenige Thürme Deutschlands erreichen die Höhe, auf welcher sonst die friedlichen Züge sorgfältig signalisirt und in gemildertem Laufe dahin ziehen, – aber heute rast es, wie die ganze Hölle selbst, mit felserschütterndem Toben immer näher und näher. Was ist das Stampfen, Schnauben und Wiehern der Rosse vieler Regimenter gegen diesen Wagendonner und dieses die Luft zerschneidende Pfeifen der Angst von solchen Rennern! Die Leute im Göltzschthale werden ewig an jene Nacht denken! Aus dem Schlafe aufgerissen, sprangen sie aus den Betten und liefen in’s Freie und schauten um sich, denn sie hörten zuerst nur ein Rauschen, wie wenn gewaltige Wasserfluthen heranwogen! Aber schaut nur dort oben, es funkeln feurige Augen, jetzt Pfiff auf Pfiff – es ist also doch ein Zug und kein Wolkenbruch, der das Toben zwischen Himmel und Erde verursacht. Ja, es war ein Bahnzug, aber welch ein Zug! Staunenden Auges konnten sie beim Zwielicht des Dämmermorgens die über die wundervolle Brücke dahinrollende endlose Wagenburg mustern. Welche mächtige, dicke Dampfsäule wälzt sich hinter ihr her, bis sie dort in der Krümmung bei Netzschkau verschwindet! Aber nun folgt Wagenreihe an Wagenreihe, Zug um Zug! Sie kommen von Zwickau. Dort flieht Alles, denn der Feind ist ja schon in Leipzig und naht auf den Flügeln des Dampfes.

Wirklich war der früh von Leipzig abgegangene Landwehrzug währenddem gegen dreiviertel sieben Uhr in Altenburg angekommen, und er fuhr in demselben Augenblicke in die Halle ein, als der trotz alledem ordnungsgemäß von Hof gekommene Postzug eben im Begriff war, pflichtgemäß nach Leipzig weiter zu fahren. Da versah es der in der Halle anwesende altenburgische Officier, welcher die schöne Gelegenheit benutzen wollte, den Postzug zu arretiren. Er machte die Bahnbeamten zu bald auf die drohende Gefahr aufmerksam, indem er den eben aussteigenden Landwehrmännern zurief: „Hierher, Landwehr, hierher! Fest, Landwehr, fest!“ Aber ein Eisenbahnzug läßt sich nicht so leicht halten, wie eine Katze am Schwanze, und dieser wartete dies auch nicht ab, er war zum Thore hinaus, ehe ihn die preußischen Krieger noch recht beschauen konnten, und jagte rechts abschwenkend zurück nach Gößnitz, Crimmitzschau, überall alarmirend, und ebenfalls nach Werdau. Hier stand schon Alles zur Abfahrt fertig, in kurzer Zeit war der dichtbesetzte Bahnhof wie abgekehrt, fünfundzwanzig Locomotiven und lange Reihen Wagen befanden sich abermals auf der tollsten Flucht, und die letzte Maschine fuhr in dem Augenblicke davon, als auf der anderen Seite der dem preußischen Streifzuge vorausziehende dampfende Vorreiter sichtbar wurde.

Jetzt begann ein Rennen, von welchem sich Niemand eine Vorstellung machen kann; die fliehenden Werdauer Züge schlossen sich hinter der Werdauer Curve da, wo die beiden Eisenbahnlinien in eine zusammenlaufen, den letzten flüchtenden Zwickauern an und der Schreckensruf: „Der Feind ist da, er kommt!“ flog unterwegs von Wagen zu Wagen. Die Maschinen arbeiteten, um Vorsprung zu gewinnen, mit aller Kraft, und die Züge rasten dahin mit Windeseile, und zwar jetzt auf beiden Geleisen zugleich und wieder über die Abgründe des Elster- und Göltzschthales auf den schwindelnden Brücken! Die ganze vier Meilen lange Strecke von Werdau bis Herlasgrün war mit fliehenden Zügen und Locomotiven bedeckt; zwei von Hof und von Eger kommende Personenzüge, welche dieser Fluth entgegenkamen, mußten schleunigst umkehren und verkehrt auf und davon fahren, da an kein Halten zu denken war. Alle Ordnung hatte aufgehört, überall die bunteste Reihe, schöne Salonwagen erster und zweiter Classe, Kohlenlowries, Holz-und Postwagen untereinander, hier ein ganzer Zug rußiger Maschinen, Tiger, Bär, Strauß, Wallroß, Giraffe, Nashorn und Gazelle im friedlichen Verein halten sie Schritt, und was für einen Sturmschritt! eins, zwei, drei, vier, und vorbei sind hundert Ellen. Es war eine ganze Armee fliehender Wagen, ein Zug folgte dem anderen in kurzen, wenige Ellen betragenden Abständen: der Lärm der rollenden Räder, die unaufhörlich warnenden Töne der Dampfpfeifen, das Knarren und Schleifen der Bremsen das Krachen und Poltern der Wagen und das Klirren der Ketten, dazu eine dicke, große und schwere Rauchsäule welche von Zeit zu Zeit Alles einhüllte, machte einen großartigen Eindruck. Selbst dem besonnensten Mann wurde unheimlich zu Muthe beim Anblicke dieser brausenden Schaaren, denn bei dem wilden Durcheinander hing das schrecklichste Unglück nur lose über jeder Achse.

Da zog es hin, ein fliehendes Heer, und verkündigte donnernd den Krieg, Ruhe und friedliches Glück schien auf den leeren Wagen aus dem Lande zu ziehen.

Aber o weh! in Reichenbach gerieth die Fluth in’s Stocken, es mangelte plötzlich an Wasser. Der tausend Ellen lange und sehr breite Bahnhof war mit Zügen wie überschwemmt, und die Kraft, welche diese massigen Reihen in Bewegung setzen sollte, schlummerte noch in dem weit entfernten großen Wasserreservoir der Stadt. Es entstand eine unbeschreibliche Unruhe. Nachdem man die ganze Nacht gewacht, gearbeitet und sein Leben in dem gar nicht zu übersehenden Treiben auf den mit hin- und herfahrenden Zügen bedeckten Geleisen oft auf’s Spiel gesetzt hatte, um nur die Wagen noch fester aneinander zu fügen, sollte diese ganze große Wagenburg dennoch in fremde Hände fallen? Nein, man eilt hinaus auf die Höhen, bereit, beim ersten von Werdau kommenden Signal die Schienen aufzureißen, man stürzt nach dem Wasserbehälter und leitet das ganze für die Stadt Reichenbach bestimmte Wasser nach dem Bahnhof; jetzt floß es wieder, Muth und Hoffnung [739] kehrten zurück, denn die Telegraphenarme da oben beim Bahnwärter auf dem Berge, welche den gefürchteten Zug ankündigen mußten, hingen immer noch unbeweglich am Maste herunter und das Wasser rauschte und strömte in die Tender, Rauchsäulen stiegen empor, die Armee fing wieder an zu marschiren, Zug um Zug fuhr ab, immer zwei zugleich nebeneinander, und fort nach Herlasgrün, von da nach Eger. In Herlasgrün aber war derselbe lähmende Wassermangel eingetreten. Viele Züge waren nämlich von ihren Locomotiven mit Anstrengung der letzten Kräfte nach Herlasgrün gefahren worden, in der festen Zuversicht, hier endlich Wasser zu erhalten; es gab auch Wasser, der plötzlich eintretende starke Bedarf erschöpfte indessen bald den geringen Vorrath, – es herrschte überhaupt seit längerer Zeit ein allgemeiner Wassermangel, der sich auf allen Bahnhöfen empfindlich fühlbar machte, – nur wenige Maschinen konnten deswegen ihren Durst löschen und weiterfahren, die größere Anzahl hielt da, aneinander gereiht, und harrte des nassen Elementes. Wohl wurde dies ihnen von geschäftigen Händen in Kübeln, Kannen und Töpfen aus den nächstgelegenen, d. h. ziemlich entfernten, Teichen und Wasserlöchern, Bächen etc. mühsam zugetragen, aber wie viele Kannen verschluckt nicht so ein Tender, ehe es „genug“ heißt!

Diese sich verproviantirenden Züge oder Maschinen versperrten aber den auf zwei Geleisen anstürmenden Colonnen aus Reichenbach den Weg, und die nur mit einem Geleis versehene, dort abzweigende Egerbahn, auf welcher, wie erwähnt, die Flucht weiterging, konnte die anbrausenden Fluthen natürlich nur langsam verschlingen. Eine Stauung trat ein, die immer größere Dimensionen annahm; mehrere Locomotiven, die endlich wieder Wasser erlangt hatten, wandten sich mit ihren Wagen aus diesem Wirrwarr heraus und flohen nach Plauen, um nach Hof zu entschlüpfen, obgleich man die telegraphische Nachricht hatte, an der baierischen Grenze würde, wie bereits angekündigt war, der Vorsicht wegen die Strecke unfahrbar gemacht werden und man könne also schon an der Arbeit sein.

In Plauen angekommen, wird diese letztere Nachricht durch den Telegraphen als bereits geschehen bestätigt. Was nun? Man hängt die Wagen los, läßt sie in Plauen stehen und jagt mit den bloßen Maschinen zurück nach Herlasgrün; einige Maschinen aber sausen hin nach der fünf Meilen entfernten Grenze und treffen die Leute in der besten Arbeit, das Geleis unfahrbar zu machen; beim Anblick der Flüchtlinge baut man jedoch die Strecke schnell wieder und läßt die Versprengten durch. Kaum beginnt aber das Werk der Zerstörung auf’s Neue, als zwei Nachzügler ankommen; soll man schon wieder einhalten? Gewiß, nur nicht warten, und noch einmal baut man dürftig zusammen; die zwei Maschinen rollen darüber hin und sind geborgen!

In Herlasgrün war unterdessen dem Wassermangel nothdürftig abgeholfen worden und der Knäuel begann sich aufzurollen, so daß die von Plauen Zurückkehrenden sich der Hauptarmee anschließen konnten, deren Spitzen bereits in Oelsnitz eintrafen.

In den Städten des Voigtlandes aber, ganz besonders in Adorf, standen die Bürger und Turner mit Spritzen, Schläuchen und Eimern bereit; unermüdlich mit einander wetteifernd, pumpten und trugen sie den so nothwendigen nassen Stoff in die Tender, so daß kein langer Aufenthalt und keine Stockung entstand und der Marsch schnell weiter gehen konnte.

Es war Mittag. In Herlasgrün fing es an wieder ruhiger zu werden; am Horizonte verschwand der letzte Wagen, das Echo der die Thäler durchbrausenden Züge wurde immer schwächer, vereinzelte Rauchschleier zogen an den Fichtenkronen hin und zerflossen in der Luft, endlich war es still. Man hatte nun Zeit, über das so eben Geschehene nachzudenken, denn vorher theilte man die Hast der Züge und konnte ihr Verschwinden kaum erwarten; man schaute sich jetzt ängstlich nach allen Seiten um; aber nein, kein Verstümmelter, kein Unglück, nicht einmal ein zertrümmerter Wagen! War es wirklich möglich, daß Alles so glücklich abgelaufen? Welche unübersehbare Gefahren hatten gedroht bei dem Drauf und Drüber der wuchtigen Massen, dem Unglück war oft kaum auszuweichen gewesen, und dennoch – – Alles glücklich vorüber.

Die einen Tag später nach Zwickau unternommene preußische Expedition, welche vorher bei Werdau auf der Bahn einen tiefen Graben aufgeworfen hatte, überzeugte sich bald, daß Alles entwischt war. Die Kohlenwagen, welche man dort vorfand, kamen noch von den verschiedenen Steinkohlenschächten, wohin sie zur Beladung geschafft worden und dann in der Eile stehen geblieben waren.

Die Hauptarmee des Wagenheers war in Böhmen, in Eger, glücklich angekommen. Den 20. Juni waren daselbst über einhundertundvierzig sächsische Locomotiven und Tausende von Wagen beisammen, denn auch die in Plauen auf der Flucht stehen gebliebenen Wagen wurden einige Tage darauf nachgeholt, indem man an der baierischen Grenze das Geleis herstellte, die Wagen darüberfahren ließ und dann jenes wieder zerstörte.

Sicherlich verdienen die Männer, welche für die Rettung der ihnen anvertrauten Apparate der Bahnen eine solche ganz unberechenbare Gefahr bestanden, unsere Bewunderung so gut, wie die tapfersten Kämpfer im Feuer der Schlacht. Das Glück flog mit ihnen an den Abgründen hin und hielt die Tausende von Rädern treu an den Schienen! Möge dasselbe Glück ihnen den tapfern Dienst auch im Leben des Friedens lohnen!

Die flüchtigen Schaaren sind seitdem mit dem Frieden zugleich in’s Land zurückgekehrt, und der große Durchstich hinter Werdau ist während der Zeit längst wieder ausgefüllt worden, die Züge rollen darüber hin, den friedlichen Verkehr vermittelnd. Auch die Löcher und Durchstiche in Deutschland werden hoffentlich noch ausgefüllt und zwar wiederum durch – die Locomotive, welche die Nationen zusammenführt, weit besser und gründlicher, als dies mittelst Kanonen, Reden und Festessen geschieht.




Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
Nr. 2. Die Krönungsstadt unter dem neuen Adler.


Frankfurt! – Wie der Zug auf dem Main-Weser-Bahnhof anlangt und der Schaffner jenen Namen kurz und schnell in das Coupé wirft, zieht an meiner Seele die ganze tausendjährige Geschichte des großen Gesammtvaterlandes vorüber; und als ich dann später durch die engen vielgewundenen Gassen streife, starren rechts und links mächtige steinerne Zeugen früherer Jahrhunderte auf mich nieder. An der „schönen Aussicht“, einem langen stolzen Kai am rechten Ufer des Mains, erhebt sich das Haus der Carolinger, die alte Sala, welche sich Ludwig der Fromme an der Frankenfurth zum Ruhesitz erbaute. Hier empfing er die Abgeordneten der Slaven und des Dänenkönigs Harald. Hier gebar ihm seine zweite Gemahlin Carl den Kahlen. Hier trauerte er über seine unnatürlichen Söhne, die bald gemeinsam den Vater, bald sich untereinander bekriegten. Hier starb auch Ludwig der Deutsche, unter welchem Franconeford in den Zeitbüchern schon den glänzenden Namen eines „Hauptsitzes des östlichen Reichs“ erhielt. Aus dem alten Königssitze ist ein Bürgerhaus mit Comptoiren und Waarenlagern geworden; seit fast zwei Jahrhunderten im Besitze der Familie Bernus, welcher auch der in der jüngsten ereignißschweren Tagen mehrfach genannte Senator Freiherr von Bernus angehört. Aber von dem alten Palatium zeugt noch immer die ehemalige Hauscapelle mit ihren starken Kreuz- und Erdgewölben.

Die weitere Geschichte Frankfurts und seiner Bedeutung für das heilige römische Reich deutscher Nation sind am besten in einem steinernen Buche zu lesen, das da der Römer heißt, und in hohen Hallen und Sälen, farbigen Wandgemälden und sinnigen Inschriften von der Herrlichkeit einer untergegangenen Welt erzählt, stumm aber beredt erzählt. Also nach dem Römer!

Schon stehe ich an der Pforte. Aber wo sind die rothgekleideten Hellebardirer, die[WS 2] sonst in der weiten Vorhalle feierlich gemessenen Schrittes auf- und abwandelten und vor dem ausgehenden [740] Bürgermeister ihre lange Amtswaffe mit dröhnendem Schalle dreimal kurz hintereinander zu Boden fallen ließen? Sie sind verschwunden und an ihre Stelle blaue Schutzleute getreten. Einer derselben führt mich die mit reich verschnörkeltem Geländer versehene steinerne Kaiserstiege hinauf und übergiebt mich an der Thür des Kaisersaals den Händen eines jungen Mädchens, welches als Tochter des Portiers die Fremdenführerin macht.

Der Kaisersaal, in welchem nach der Wahl des neuen Reichsoberhauptes das Krönungsmahl gehalten wurde, ist mit seinen Kaiserbildern so vielfach beschrieben worden, ebenso wie Ceremonien und Festlichkeiten der Wahl selbst – meisterhaft die letzteren bekanntlich von Goethe – daß ich mit einer neuen Schilderung nicht Eulen nach Athen tragen will. Vom Balcon des Römers zeigte sich der Kaiser nach dem Mahle dem draußen auf dem Römerberge zechenden, schmausenden, jubelnden Volke; von hier aus nahm er einige Tage später von Rath und Bürgerschaft den Eid der Treue entgegen.

Von diesem selben Balcon proclamirte am 8. October d. J. der preußische Civil-Gouverneur Freiherr von Patow die Einverleibung der freien Stadt Frankfurt nebst Gebiet in die preußische Monarchie. – „In diesem altehrwürdigen Kaisersaale,“ sagte meine Führerin plötzlich, „haben preußische Soldaten und Officiere ihre Pfeifen und Cigarren geraucht. Ich bin keine Frankfurterin,“ fuhr sie fort, „aber diese Rücksichtslosigkeit hat mich doch beleidigt.“

Nach diesen Worten öffnete sie eine kunstvoll gearbeitete Thür aus Eichenholz und ließ mich in das Wahlzimmer treten; so genannt, weil in demselben ursprünglich die Kurfürsten oder ihre Botschafter die Kaiserwahl vollzogen. Seitdem aber die Kaiserwahl in der im Dome befindlichen Wahlcapelle vorgenommen wurde, diente das Zimmer als Raths- oder Senatsstube. An dem obern Ende eines Tischchens, auf welchem die Gesetzbücher der Stadt liegen, stehen die Lehnstühle der beiden präsidirenden Bürgermeister, zu beiden Seiten die der Secretaire und davor in einem Halbkreise die Sessel der Senatoren. Mit Ausnahme der Tapete und des Deckengemäldes von Colomba zeigt das Zimmer eine echtrepublikanische Einfachheit und Würde. Auf dem Rondel vor den Bürgermeister-Audienzen liest man die altdeutsche Inschrift, welche sich auch im Senatszimmer zu Lübeck vorfindet: „Eyns mans redde, ein halbe redde, man sal sie billich verhören bede.“ Hier leisteten die neuaufgenommenen Bürger den Bürgereid, und hier fand die regelmäßige Wochensitzung des Senats statt. Während derselben hatten draußen vor der Thür die erwähnten Hellebardirer die Wache.

Bis noch vor wenigen Jahren bestand der Senat aus zweiundvierzig Mitgliedern, die sich in drei Bänke, jede zu vierzehn Inhabern, theilten: Schöffen, Senatoren und Rathsverwandte. Letztere mußten dem Stande der Krämer und zünftigen Handwerker angehören, und nicht selten fanden sich unter ihnen Männer, die, wenngleich es ihnen oft an aller Elementarbildung fehlte, sich dennoch durch Lebenserfahrung und gesunden Verstand auszeichneten und auf die Beschlüsse des Senats einen erheblichen und meist segensreichen Einfluß ausübten. Sie erhielten einen Jahrgehalt von eintausend zweihundert Gulden und konnten nicht auf die zweite Bank vorrücken, während die entsprechend höher besoldeten Senatoren (eintausend achthundert Gulden) allmählich auf die Schöffenbank übergingen, deren Inhaber den höchsten Gehalt (zweitausend vierhundert Gulden) bezogen. Aus den Schöffen wurde alljährlich der ältere Bürgermeister, aus den Senatoren der jüngere erwählt. Dieser letztere war zugleich Polizeiherr und wurde von den Dienern im Römer gewöhnlich „der junge Herr“ genannt.

Dem Senate stand zur Seite das Collegium der Einundfünfziger oder der Bürgerausschuß, welcher als ständige Bürgerrepräsentation, namentlich wenn die gesetzgebende Versammlung nicht saß, alle Maßnahmen des Senats überwachte und unter Umständen modificirte.

Die gesetzgebende Versammlung, deren Functionen schon ihr Name bezeichnet und die mit den andern beiden Körperschaften die souveraine Gewalt theilte, zählte fünfundachtzig Deputirte, darunter zwanzig Senatoren und zwanzig Mitglieder des Bürgerausschusses, während die übrigen fünfundvierzig Abgeordneten von der Bürgerschaft erwählt wurden. In den letzten Jahren hatten endlich auch jüdische Bürger Zutritt gefunden.

Während der Jahre 1848 und 1849, als das deutsche Parlament zu Frankfurt tagte, hatte der Senat in seiner Zusammensetzung eine ausgesprochen gothaische und preußenfreundliche Färbung. Beispielsweise begrüßte er die Wahl König Friedrich Wilhelm’s des Vierten zum deutschen Kaiser mit Frohlocken und beeilte sich, auf dies Ereigniß eine Denkmünze schlagen zu lassen. Später änderte sich das und es kamen österreichische und reactionäre Elemente in den Senat, die man die „Schwarzen“ zu nennen pflegte, bis zuletzt die Demokraten und Republikaner die Oberhand gewannen, zumal diese auch im gesetzgebenden Körper den Ausschlag gaben. Seitdem sahen sich die Gothaer immer mehr verdrängt, und um den Einfluß des Bürgerausschusses, in welchem diese Partei eine letzte Zuflucht gefunden hatte, zu lähmen, beeilte sich der Senat, die gesetzgebende Versammlung, deren Majorität er gewonnen, insofern er ihr immer weitere Concessionen machte, so früh wie möglich zu berufen und so lange als möglich tagen zu lassen. Dieser Bund zwischen Senat und gesetzgebender Versammlung hatte aber auch zur Folge, daß man die Bank der Rathsverwandten allmählich aussterben und für sie keine Ersatzwahlen mehr vornehmen ließ, so daß der Senat schließlich statt zweiundvierzig nur noch zwanzig Mitglieder zählte. In dieser Zusammensetzung hat er vor dem Einmarsch der Preußen seine letzten, oft sehr stürmischen und ausgedehnten Sitzungen gehalten, bis ihn das neue Regiment auflöste. In seiner gegenwärtigen Reorganisation besteht er aus zwölf Senatoren und ist nebst den andern beiden Körperschaften, die etwa noch die Befugnisse von Stadtverordneten in preußischen Städten haben, auf administrative Geschäfte beschränkt.

An den Römer knüpft sich auch die Entstehung und Geschichte der Frankfurter Patricier oder sogenannten Geschlechter, welche durch Jahrhunderte die Stadt beherrscht haben; und in der Auflehnung gegen diese Herrschaft haben die ebenso langwierigen, fast ununterbrochenen und oft blutigen Bürgerunruhen ihren Grund. Man darf sich aber, wie dies im übrigen Deutschland zu geschehen pflegt, unter hiesigen Patriciern keineswegs die gegenwärtig durch Amt, Bildung oder Reichthum angesehensten Bürger vorstellen; im Gegentheil gehören die reichsten Handelsherren und selbst viele Adlige nicht zu den Patriciern, und die höchsten Aemter werden meist von Advocaten und andern Juristen bekleidet. Die alten Patricier dagegen, welche sich auf die beiden sogenannten Häuser Limpurg und Frauenstein beschränken, sind bis auf einen Bruchtheil ausgestorben und selbst von diesen leben die meisten nicht in der Stadt, sondern auswärts.

Der Römer, welcher ein verschobenes, von vier Straßen eingeschlossenes Viereck bildet, ist ein Complex von elf zusammenstoßenden Häusern, deren jedes noch heute seinen besondern Namen führt, von welchen für diesen Zweck nur Laderam, der eigentliche Römer, Löwenstein und Frauenstein zu merken sind. Durch ihre Lage in der Mitte und in dem belebtesten Viertel der Stadt boten dieselben seit dem vierzehnten Jahrhundert die Anhaltspunkte des geselligen Verkehrs. In jenen einfachen Zeiten pflegten die Bürger in geschlossener Gesellschaft den Abend fröhlich beim Becher zu verbringen. Diese Gesellschaften kamen – ähnlich denen, die man noch heutzutage in Frankfurt College nennt, und den bekannten Zünften oder Leisten in den Schweizer Städten – nicht in öffentlichen Schenkstuben, sondern in gemietheten Localen zusammen. Sie hatten ihre bestimmten, vom Rathe bestätigten Ordnungen, ihre Vorsteher hießen Stubenmeister, ihre Mitglieder Gesellen, ihre Versammlungsorte Trinkstuben. In den Zeiten bürgerlicher Kämpfe nahmen ihre Zusammenkünfte einen ernstern Charakter an: sie dienten zur Besprechung städtischer Angelegenheiten, zur Aufrechthaltung oder Erweiterung gemeinsamer Corporationsrechte. Solcher Vereine bestanden mehrere; der wichtigste ist der, welcher sich um 1390 auf dem Römer, damals noch einem Privathaus, zu versammeln pflegte und der allmählich die vornehmsten Bürger, viele Schöffen und Rathsverwandte zu seinen Gesellen zählte. Um 1405 kaufte der Rath den Römer und bestimmte ihn zum Rathhause, worauf die Gesellschaft ihre Trinkstube in das benachbarte Haus Alt-Limpurg verlegte und fortan sich nach diesem nannte. Der nächstbedeutende Verein hieß die Gesellschaft Frauenstein, welche in dem gleichnamigen Hause zusammenkam. Zwei andere Gesellschaften hatten ihre Trinkstuben in den Häusern Laderam und Löwenstein, lösten sich jedoch später auf und ihre Mitglieder vertheilten sich in die andern beiden Gesellschaften. Der Rath erwarb allmählich zum Römer auch die übrigen Häuser, nur Alt-Limpurg gehört noch heute der gleichnamigen Gesellschaft,

[741]

Künstlerneid.
Nach einem Oelgemälde von H. Schaumann in München.

und auf der Eingangsthür links vom Römer liest man noch jetzt: „Zum alten Limpurg“.

Beide Gesellschaften gewannen im Laufe der Zeit großes Ansehen und noch größere politische Macht. Ihre Mitglieder wußten sich der wichtigsten Aemter und einträglichsten Pfründen zu bemächtigen. Bald betrachteten sie sich als geborne Gesetzgeber und den Rath als eine Versorgungsanstalt für ihre Söhne, welche sich schon in der Schule vermaßen: „man dürfe sie als künftige Stadtgötter nicht sauer ansehen.“ Namentlich war dies mit den Limpurgern der Fall, die sich mit dem benachbarten Landadel verschwägerten und sich Junker tituliren ließen. Sie wollten die Frauensteiner nicht mehr als ebenbürtig anerkennen, weil diese noch Handel trieben, und verlangten von den Neuaufzunehmenden eine Ahnenprobe:

Denn wer durch Heurath kommt darein,
Muß achtschildig geboren sein,
Vom Vater und der Mutter her.

Andererseits haben sie sich um das Regiment, Wachsthum und die Geltung der Stadt großes Verdienst erworben. Es waren meist Männer, die zu Padua oder Bologna Rechtsstudien getrieben oder doch sonst ihre Römerzüge und ausgedehnte Reisen in’s Ausland unternommen hatten. Die Reformatoren Luther und Melanchthon fanden auf ihren Reisen nach und von Worms in den Häusern hiesiger Patricier eine ehrenvolle Aufnahme und die neuen Lehren unter Letzteren bald Anhänger. Auch erwiesen sich die Geschlechter, besonders die Familien von Holzhausen und von Glauburg, als geschmackvolle und freigebige Förderer von Künstlern und Gelehrten, unter welchen Frankfurt bis in die neueste Zeit hinein manch bedeutenden Namen aufzuweisen hat.

Dennoch lastete diese Familienherrschaft wie ein Joch auf dem Nacken der übrigen Bürger; Nepotismus und Begönnerung waren in ein förmliches System gebracht und die öffentlichen Gelder und Güter wurden oft ohne Scheu und Scham verpraßt. Daher die ewigen Bewegungen und Unruhen der Zünfte und der Bürgerschaft überhaupt gegen den Rath. Der bedeutendste Aufstand geschah 1614 unter Anführung des Lebküchlers Vincenz Fettmilch und hielt sich fast drei Jahre, endigte aber trotzdem mit der Niederwerfung der Empörer, deren Köpfe man noch zu Anfang [742] dieses Jahrhunderts auf dem östlichen Thurm der Mainbrücke ausgesteckt sah. Indeß hatte das blutige Zwischenspiel die Geschlechter doch eingeschüchtert, und es kam 1616 ein Bürgervertrag zu Stande, wonach sich die Limpurger mit höchstens vierzehn, die Frauensteiner mit höchstens sechs Rathsstellen begnügen sollten. Von hier ab datirt der Verfall der Patricier. Allmählich mehr und mehr aus dem Rathe gedrängt, reclamirten sie jene Rathsstellen beim Reichskammergericht, wo die Streitsache Frankfurt contra Frankfurt eine stehende wurde und die Acten zu Bergen anwuchsen; noch 1817 beim neuerrichteten Bundestag, der sich jedoch für incompetent erklärte. Auf Fürsprache hoher Personen kam ein Vergleich zu Stande und die Stadt erklärte sich bereit, je Einen Limpurger und je Einen Frauensteiner in den Rath aufzunehmen, verwahrte sich aber nachdrücklich gegen ein hieraus etwa zu folgerndes Vorrecht und Präjudiz. Wirklich saß letzter Zeit kein einziges Mitglied der Geschlechter mehr im Senat; nur Ein Limpurger, Herr von Boltog, fungirt gegenwärtig noch als Vorstand der Stadtcanzlei.

Nachdem die Patricier sich so alles Einflusses beraubt sahen, verließen sie, wie erwähnt, großentheils ihre Vaterstadt und traten in fremde Dienste. Aber noch der letzte Staatskalender der weiland Freien Stadt Frankfurt zählt die „Hochadelige Ganerbschaft des Hauses Alten-Limpurg“ und „die Adelige uralte Gesellschaft des Hauses Frauenstein“ – wie er beide Geschlechter, um ihrem Rangstreite gerecht zu werden, sehr diplomatisch titulirt – namentlich auf. Nach diesen Verzeichnissen sind noch sechsundsechszig Limpurger und sechzehn Frauensteiner vorhanden. Unter jenen befinden sich jedoch nur noch dreizehn directe Nachkommen jener Familien, die einst die Stadt regiert, nämlich die Herren von Holzhausen, von Fichard, von Lersner, von Günderrode und von Eysseneck; alle übrigen sind neuere cives mulierarii, nämlich solche, die durch Anheirathung mit eines Ganerben Tochter Aufnahme gefunden haben, darunter auch der ehemalige preußische Bundestagsgesandte, Herr von Sydow, welcher mit einem Fräulein von Stein, einer Verwandten des großen deutschen Staatsmannes, verheirathet ist, und der jetzige preußische Civilgouverneur Freiherr von Patow, dessen Gemahlin eine geborene von Günderrode ist. In ihrer Vaterstadt leben gegenwärtig noch neun Limpurger und sechs Frauensteiner; von den auswärtigen befinden sich die meisten in österreichischen, würtembergischen oder baierischen Staats- oder Militärdiensten. In preußischen Diensten dagegen stehen außer Herrn von Patow noch zwei Limpurger: ein Referendar von Wasmer und ein Lieutenant gleichen Namens; ebenso zwei Frauensteiner: ein Herr von Heyden und ein Freiherr von Malapert, genannt Neufville, beide Officiere.

Wenn man diese Verhältnisse erwägt, darf man sich nicht wundern, daß die hiesigen Patricier stets zu Oesterreich gehalten haben, dem sie vielfach verbunden sind. Noch 1804 verlieh Kaiser Franz der Zweite beiden Geschlechtern ein Ordenszeichen, dessen Kreuz von den Limpurgern an einem weißen, grün geränderten Bande, von den Frauensteinern an einem gelben, schwarz geränderten Bande getragen wird. Es ist daher sehr begreiflich, daß das neue Preußen-Regiment unter den alten Patriciern bisher keine Freunde gefunden hat. Dennoch beruht die durch viele Zeitungen gegangene Nachricht, Herr von Patow habe die seinen Ganerbgenossen zugesandten Visitenkarten wieder zurückerhalten, auf einer Unwahrheit. Wie man mir von zuverlässiger Seite versicherte, haben im Gegentheil die hier lebenden Patricier die Artigkeit des Herrn von Patow umgehend erwidert, allerdings ohne darum mit ihm in weitern Verkehr zu treten; wie sie denn überhaupt und selbst ihren nichtadeligen Mitgliedern gegenüber sich reservirt und abgeschlossen halten.

Wenn also unter den Ueberresten der alten Geschlechter der Mangel an Sympathien für Preußen nicht besonders in’s Gewicht fällt, so ist es dagegen ein Anderes mit der eigentlichen Bürgerschaft, der, wie schon oben gesagt, auch die reichsten Handelsherren, die höchsten Magistrats- und Justizbeamten angehören; wo indeß im Großen und Ganzen die Stimmung nicht viel günstiger ist.

„Wir sind als freie Bürger, als Republikaner geboren,“ sagte mir ein gebildeter Handwerker. „Das bloße Wort ‚Unterthan‘ verletzt unser Selbstgefühl, ob wir auch damit, anstatt wie bisher einem kleinen Gemeinwesen, einer Großmacht angehören. Unzweifelhaft hat Preußen sich große Verdienste um Deutschland erworben, unzweifelhaft gebührt ihm die Führung in Deutschland, aber mußte es denn gerade Einverleibung sein?! Sehen Sie, das demüthigt, das schmerzt!! Unsere Stadt trauert um den Verlust einer vielhundertjährigen Reichsfreiheit, wir fühlen uns gewissermaßen degradirt. Und ich denke, Preußen muß diesen Schmerz ehren, wenigstens dulden. Wir müssen dem Unmuth unseres Herzens Luft machen, wie wir’s frank und frei auch unter der siebenjährigen übrigens sehr humanen Herrschaft des Fürsten Primas, wie wir’s selbst während der Occupation Frankfurts durch den französischen General Custine sonder Furcht und Scheu auf alle Gefahr hin gethan haben!“

Ein Kaufmann äußerte sich folgendermaßen:

„Ich für meine Person,“ sagte er, „habe mich bereits mit der Einverleibung ausgesöhnt, weil ich sie als nothwendig begriffen und weil ich hoffe, das übrige Deutschland wird uns bald nachfolgen, freiwillig nachfolgen. Aber billigen kann ich nicht die Art und Weise, mit der Preußen hier aufgetreten ist. Man hat uns schroff und hart behandelt, weit härter als z. B. Nassau oder Sachsen, als ob Frankfurt vor allen andern Staaten ein Capitalverbrechen begangen. Und was konnte man uns in Summa Summarum vorwerfen? Daß wir nicht preußenfreundlich gesinnt gewesen. Ganz richtig! Aber haben wir etwa Ursache dazu? Ist denn die bloße Gesinnung schon ein Verbrechen? Ich glaube, selbst im juridischen Sinne nicht. Weisen uns nicht auch unsere Beziehungen und Verbindungen, unsere Neigungen und Gewohnheiten, ja schon unsere geographische Lage auf den Süden hin, und das sollte plötzlich ein Verbrechen sein? War es nicht genug an der Einverleibung? Mußte man uns noch durch eine Contribution von fünfundzwanzig Millionen Gulden strafen? Sie war wirklich unerschwinglich, denn die öffentlichen Cassen standen leer, weil wir nur geringe Steuern zahlen, nicht mehr, als die laufenden Bedürfnisse erfordern. Jene Forderung ging daher dem Privatbesitz an den Hals und würde, wirklich ausgeführt, selbst Viele vom Mittelstande ruinirt haben.“

„Nun,“ entgegnete ich, „man hat davon Abstand genommen, man wird sogar die schon gezahlten sechs Millionen im städtischen Interesse verwenden.“

„Wenn’s geschieht, wird auch diese Wunde vernarben. Aber es muß wirklich im Interesse der Stadt geschehen, nicht etwa, wie man schon fürchtet, davon Casernen gebaut werden. – Einstweilen,“ schloß der Sprecher, „werden hier noch zwei Strömungen streng geschieden nebeneinanderlaufen: Frankfurter und Preußen; aber ich hoffe, allmählich werden sie sich mit einander vermischen und vereinen. Wenn’s nämlich die Preußen verstehen!“

„Das wird doch wohl an beiden Theilen liegen.“

Lange nicht so gemäßigt und resignirt äußerte sich ein Kreis von Personen, deren Bekanntschaft ich in einem öffentlichen Locale machte.

„Frankfurt’s Glanz und Reichthum ist gewesen,“ rief ein junger Mann, „für immer dahin! Der Bundestag hat der Stadt jährlich Millionen eingetragen. Der Geldmarkt wird sich nach Stuttgart und Basel ziehen. Die großen Bankiers werden Frankfurt verlassen, vielleicht sogar die Häuser Erlanger und Rothschild, und Rothschild hat die ganze rheinische Industrie in seinen Händen.“

Die Erwiderung auf diese Befürchtungen fiel mir nicht schwer. Die reichen Geldhäuser werden nicht auswandern, wenn sie sich erst überzeugen, mit welchen gewaltigen Mitteln Preußen das Frankfurter Geschäftsleben zu heben im Stande ist. Durch die neue Ordnung gewinnt nicht nur ganz Deutschland, auch jede einzelne Stadt. Und die Frankfurter werden als preußische Staatsbürger einst stolz darauf werden, die erhabene Pflicht, das Vaterland zu vertheidigen, selbst mit zu üben, nicht durch Söldlinge, auf welche die reichen Söhne der Geldbeutel bisher mit Geringschätzung herabsahen.

Frankfurt ist auch nicht durch die Gehalte der Bundestagsgesandten oder durch die von fremden Gesandten verschwendeten Summen groß geworden. Seine Selbstständigkeit und sein Wohlstand beruhen auf festerem und sittlicherem Grunde, sie beruhen auf dem Gewerbfleiß, der rastlosen Thätigkeit und weisen Sparsamkeit, der religiösen Toleranz und Tugend seiner Bürger seit vielen Jahrhunderten, und auf der günstigen centralen Lage der Stadt.

[743] Jeder weiß, was die verfolgten Juden und Reformirten dem hiesigen Gemeinwesen auch in materieller Hinsicht genutzt haben. Diese sittliche Grundlage, diese edlen Bürgertugenden, sowie die centrale Lage können äußerlich nicht genommen werden, sondern sie werden neue und größere Blüthen treiben, zumal wenn Industrie und Handel der Stadt durch eine neue Gesetzgebung an Ausdehnung gewinnen, und der reifende moralische Charakter der wohlhabenden Jugend mehr geschützt und gesichert wird vor dem Mehlthau der benachbarten Spielhöllen. Ueber diese mit meinem Nächsten.




Eine neue Völkerbrücke.


Dem englischen Unternehmungsgeiste sind so viele, vorher für unmöglich gehaltene, und darum nicht geglaubte Wunder gelungen, daß wir ihm gern auch ein Wunder Mosis zutrauen. Wie dieser die Kinder Israel trockenen Fußes durch das rothe Meer führte, wollen die Engländer über den Meeres-Canal, wenn nicht unter- oder innerhalb desselben, eine Eisenbahnbrücke bauen und die Passagiere von beiden Seiten, von Calais wie von Dover, trockenen Fußes und ohne Seekrankheit hinüber und herüber dampfen. Mit ihren Eisenbahnen tief unter oder hoch über London hin, dem Themse-Tunnel, durch welchen sie jetzt eine Eisenbahn legen, ihrer Menai-Brücke, welche Dampfzüge hoch über Schiffsmasten hin und über das wogende Meer nach der Insel Anglesey führt, ihrem doppelt gelungenen atlantischen Kabel u. s. w. werden sie auch Muth und Mittel finden, einen der vielen Pläne zur unmittelbaren Verbindung Englands und Frankreichs per Eisenbahn auszuführen. Die erste Idee dazu ging von Franzosen aus und zwar vor mehr als sechzig Jahren, lange vor der Dampf- und Eisenbahn-Periode, und ist seitdem von Franzosen und Engländern in allen möglichen Formen technisch ausgearbeitet worden, so daß man aus dem reichen Material verhältnißmäßig leicht den besten Plan herausfinden und ausführen kann.

Nach dem kurzlebigen Frieden von Amiens (i. J. 1802), als Engländer und Franzosen sich gegenseitig freundschaftlich besuchten und der liberale Minister Fox beim Consul Bonaparte speiste, machte der französische Ingenieur Mathieu letzterem seine Aufwartung und legte ihm den ersten Plan zur unterseeischen Verbindung Englands und Frankreichs vor. Auf beiden Seiten sollte ein großer unterirdischer Weg nach dem Meere hin so tief hinunter führen, daß ein horizontaler Tunnel beide verbinden könnte. Die Zugänge und der Tunnel sollten massiv gemauert, gepflastert, mit Oellampen erleuchtet, durch ungeheure Eisenröhren von unten über die Meeresfläche herauf ventilirt und so breit werden, daß neben einem doppelten Wege für Fuhrwerke noch zwei für Fußgänger hinliefen. Bonaparte und Fox sprachen darüber sehr angelegentlich und ersterer schlug vor, daß das Riesenwerk auf Kosten beider Staaten ausgeführt werden möge; aber der Friede und diese friedliche Idee wichen bald einem neu ausbrechenden Kriege und der späteren unsinnigen Continentalsperre, wofür England den Feind der Freiheit und des friedlichen Verkehrs endlich auf Elba und Helena einsperrte. Hierauf nahmen zwei andere französische Ingenieurs, Franchot und Tessié de Mottray, den Plan in anderer Weise wieder auf, nämlich in Form einer großen Eisenröhre auf dem Bette des Meeresgrundes hin. Payerne, ebenfalls Franzose, verbesserte den unebenen Meeresgrund, ebnete ihn durch Taucherglocken, unter welchen eine ebene Grundlage gemauert werden sollte, um erst auf dieser einen massiven Tunnel hinzuziehen.

Es folgten eine Menge andere Projecte, zum Theil der unsinnigsten Art, bis endlich der französische Ingenieur Fayer wieder mit einer technisch sehr verständigen und ausgearbeiteten Verbesserung dieses Planes auftrat. Auf Grund von genauen Vermessungen und Peilungen des Meeresgrundes in vier verschiedenen Linien des Dover-Canals construirte er auf dem Papiere einen fünf deutsche Meilen langen, hundertundsechzehn Fuß tief gradlinig unter dem Meere hinlaufenden Eisenbahn-Tunnel mit allmählich auf beiden Seiten des Landes sich hebenden Ausläufen zum unmittelbaren Anschluß an die gewöhnlichen Eisenbahnen. Die submarinen Züge selbst sollten nicht durch Locomotiven, sondern durch Luft getrieben werden. Er verlangt dafür nicht mehr als 80,000,000 Francs, d. h. nicht viel über 3,000,000 Pfund Sterling, weniger, als das kleine neue Dreieck von Eisenbahnen über der City von London und der Themse kostet, und versprach gleichwohl fünfzehn Procent Dividende. Dennoch fand das Project viele Gegner, besonders trat der Engländer Nicol dagegen mit einem eisernen und stark ummauerten submarinen Tunnel auf. Diesen bekämpfte wieder Mr. Austin mit einem dreifachen Tunnel, jeder groß genug für zwei Eisenbahnzüge neben einander.

Noch ehe man sich ordentlich darüber entschieden hatte, überraschte der Franzose Thomé de Gamond 1857 die Welt mit einem prachtvollen Quartbande von zweihundert Seiten und den genauesten colorirten Zeichnungen, um die Ausführbarkeit eines Tunnels zu beweisen, der an Großartigkeit und Originalität der Construction Alles übertrifft, was je zur Verbindung Englands und Frankreichs vorgeschlagen ward. Er beweist zunächst, daß die gebildeten Völker, ungehindert durch Wasser und Berge, zum leichteren Verkehr miteinander unmittelbar verbunden werden müßten, besonders England mit Frankreich, dem übrigen Europa und dem Osten. Zwei der größten Hindernisse dieses beflügelten Verkehrs wurden eben siegreich beseitigt, durch den Suez-Canal von Lesseps und den Mont-Cenis-Tunnel durch die Alpen; das dritte, oder vielmehr erste, hoffe er durch eine Eisenbahn zwischen England und Frankreich zu beseitigen. Nachdem er die Eisenbahn, die hoch über dem Canale von vierhundert ungeheuren Steinthürmen getragen, dann eine Brücke unmittelbar über dem Wasser (mit Ziehbrücken zum Durchlassen der Schiffe) selbst verworfen hatte, trat er mit seinem Submarine-Tunnel und den vom Meere aus auf Wendeltreppen hinunterführenden Eisenbahnen in seinem prachtvollen Werke hervor und wußte Napoleon III. so sehr dafür einzunehmen, daß dieser wissenschaftliche und praktische Männer berief – Engländer und Franzosen –, um die Sache geologisch, technisch und architektonisch näher zu untersuchen. Der Meeresgrund zwischen Calais und Dover wurde also auf’s Neue und zwar in fünf Richtungen sehr gründlich untersucht, wobei sich als beste Linie die vom Cap Grisnez in Frankreich nach einem Punkte zwischen Dover und Folkstone ergab. Wir können hier natürlich nicht auf die Einzelnheiten seines riesigen submarinen Bauwerkes eingehen und wollen nur auf den über dem Meere strahlenden Mittelpunkt desselben hindeuten, nämlich einen zwölfhundert Fuß im Durchmesser großen, dreihundert Fuß hohen oder tiefen, mit dem unterseeischen Tunnel unmittelbar verbundenen Thurm und eine Wendeltreppe darin, nicht etwa für Menschen, sondern für ganze Eisenbahnzüge, um sich hier auf- und abzuwinden und Passagiere und Waaren theils von unten auf dem Meere in bereitstehende Schiffe abzusetzen, theils von oben in den Tunnel hinab und von da nach England oder Frankreich zu führen. Dieser Thurm, von ihm L’étoile de Varne – Stern der Varne genannt – sollte zugleich eine höhere Bedeutung erhalten und „le mariage symbolique des nations“ – die symbolische Verehelichung der Nationen – darstellen.

Die Idee war groß und wunderschön in dem prächtigen Quartbande illustrirt; aber aus der massiven Ehe wurde nichts!

Vier Jahre später trat der Engländer J. F. Smith mit einem ganz anderen Projecte hervor: einer riesigen, schmiedeeisernen Röhre mit Schienen inwendig, die er ungefähr zwölf Yards unter dem Wasserspiegel aufhängen und von Dover bis Calais verlängern wollte. Ankerketten und verschieden angebrachte große, eiserne Stäbe sollten sie festhalten und spirale Treppen an beiden Gestaden den Auf- und Abgang vermitteln. Aber die Sache erschien gleich etwas wackelig und erregte englisches und französisches Kopfschütteln. Nicht viel besser ging es dem gleichzeitig veröffentlichten Plane eines Mr. Chinie, der an beiden Gestaden ungeheure Thürme aufrichten und sie mit den nächsten Landeisenbahnen durch massive Bollwerke verbinden wollte, um die Züge in grader Linie bis über die Thürme zu führen und von da aus durch eine hydraulische Maschinerie bis zum Meeresspiegel herab zu senken und auf ein dazu besonders erbautes langes Schiff mit Schienen auf dem Deck zu führen, welches dann mit Dampf hinüber und [744] herüber getrieben werden sollte. Aber auch diese Idee fand keine Anhänger, führte jedoch zu einem einfacheren Plane desselben Charakters, der die größte Aussicht hat, ausgeführt zu werden.

Aus allen diesen im Laufe der Jahre projectirten Verbindungen der beiden Länder ersehen wir so viel, daß die Idee in allen möglichen Formen über, auf, in und unter dem Wasser versucht und mehr oder weniger technisch durchdacht worden ist, so daß es verhältnißmäßig leicht sein mag, Alles zu prüfen, das Beste zu behalten und auszuführen. Es handelt sich wesentlich nur noch um die Entscheidung über einen unterseeischen Eisenbahn-Tunnel und ein Dampf-Floß, welches die Eisenbahnzüge von beiden Gestaden hinüber und herüber führen soll, so daß sich der Kampf über die verschiedenen Projecte ganz bestimmt in zwei Lager vertheilt. An der Spitze beider stehen berühmte englische Ingenieurs, Hawkshaw und Fowler.

Wer etwa während der letzten schönen October-Tage auf dem Canale zwischen Dover und Calais hinüber und herüber gefahren ist, wird vielleicht zwischen den dampf- und segelbeschwingten Schiffen ein Fahrzeug bemerkt haben, das ohne Dampf und Segel mit der größten Hartnäckigkeit sich gegen die Bewegungen des Windes und der Wogen festzuhalten suchte. In größerer Nähe wird man auch ein eigenthümliches Leben auf dem Deck und nach der Tiefe hinunter bemerkt haben, wie ernste Männer, die Niemand für Fischer halten konnte, eigenthümliche Instrumente an verschiedenen Tauen bald versenkten, bald wieder heraufzogen und den auf dem Meeresgrunde gemachten Fang – keine lebendigen Fische, sondern auf den ersten Anblick allerhand steinigen Schmutz – durch mysteriöse Instrumente genau untersuchten und ihre Forschungen sorgfältig zu Papiere brachten. Dieses Schiff war der Schleppdampfer Nelly unter dem wissenschaftlichen Commando des Ingenieurs Hawkshaw, der durch Erbauung einer über London hinlaufenden ungeheuren Eisenbahn berühmt geworden ist. Er untersuchte den schon vielfach durchforschten Meeresboden zwischen Calais und Dover genauer, als es jemals geschehen ist, und mit den genialsten, zu diesem Zweck besonders erfundenen Instrumenten und Bohrern, welche auf eine für die Laien unbegreifliche Weise oben vom Schiffe aus tief in den harten Kalkfelsenboden des Meeresgrundes getrieben wurden. Auch er will einen Eisenbahn-Tunnel tief unter dem Canale hin mauern und mit Eisen ausfüllen lassen, aber auf eine eigne Weise, deren Einzelnheiten er vorläufig noch für sich behält, so daß im Publicum auch die verschiedensten Gerüchte darüber im Umlaufe sind. Namentlich herrschen die verschiedensten Ansichten über Kosten und Zeit, so daß Einige von zehn Millionen Pfund und zehn Jahren sprechen, während sich Andere bis in das Doppelte hinaus verlieren.

Dadurch verliert die Sache auch in unseren Augen um so mehr Halt, als der Concurrent Hawkshaw’s, Mr. Fowler, der gefeierte Ingenieur der ersten großen Londoner Untergrund-Eisenbahn, mit seinem Projecte viel klarer, faßlicher und gleichsam verführerischer hervortritt. Er will die beiden Gestade und Völker per Eisenbahn auf dem Meere, und zwar durch eine riesige Dampf-Fähre, lebendig verbinden. Solche Fähren im Kleinen, welche ganze Lastwagen über Flüsse setzen, kennt wohl ziemlich Jeder. Fowler will eben solche bauen, nur viele hundertmal länger und vollkommener und zwar in der Form von etwa funfzehnhundert Fuß langen Dampf-Flößen mit ganz ebenen Decks und Schienen darauf. Für diese Dampf-Fähren sollen vor Dover und Calais besondere Docks mit ruhigem Wasser gebaut werden, um sie ungestört von den Meereswogen aufzunehmen und an ganz bestimmten Stellen zu befestigen. Geneigte, bewegliche Uebergangsbrücken oder Platformen mit Schienen darauf sollen die Züge von den Landeisenbahnen her mit diesen Dampf-Fähren unmittelbar verbinden. Um dies deutlicher zu machen, denken wir uns den jetzt alle Abende um neun Uhr von London nach Dover abgehenden großen Post-Eisenbahnzug für Frankreich und den ganzen Continent; er kommt jetzt um Mitternacht in Dover an, wo die Passagiere, die nach Calais u. s. w. wollen, mit ihrem Gepäck in eine barbarische nächtliche Verwirrung heraussteigen und von Gepäckträgern, Hotelagenten und Gaunern oft arg mißhandelt oder wenigstens unverschämt übertheuert werden. Der verdutzte oder ärgerliche Passagier muß dann auf schlüpfrigen Hafendämmen und Treppen, stets in Angst um sein Gepäck, hinunter steigen und sich auf dem Dampfer irgendwie unterzubringen suchen. Der mitternächtliche Wind ist hier auch in der besten Jahreszeit meist unangenehm und mißhandelt die Passagiere während der kurzen Ueberfahrt in der Regel so arg, daß Jeder dem Neptun reichliche Opfer bringen muß, um dann mitten in der vollsten Qual der Seekrankheit in Calais wieder auszusteigen und unter neuen Verlegenheiten, Zeitverlusten, Aergernissen und Kosten vom Dampfer wieder nach der Eisenbahn überzusiedeln.

Alle diese Quälereien würden mit der Fowler’schen einfachen Verbindungs-Maschinerie beseitigt sein. Der in Dover ankommende Zug steigt auf der geneigten Platform hinunter auf die Schienen der Dampf-Fähre, welche dann sofort, ungestört von Wind und Wogen, schnurstracks über den Canal nach Calais hinüberschießt, um den Eisenbahnzug wieder auf die Schienen der aufsteigenden und mit dem Landeisenbahnhofe verbindenden Platform abzugeben, von wo aus man dann sofort auf festem Lande weiterfahren kann, ohne ein einziges Mal durch Aus- und Einsteigen und Uebersiedelung gestört worden zu sein und vom Meere nur etwas bemerkt zu haben, geschweige von einer Seekrankheit. Da der Zug auf der Dampffähre still steht, wird es ganz von dem Belieben der Passagiere abhängen, während der Ueberfahrt auszusteigen, auf dem riesigen Deck hin und her zu spazieren, sich über die Ohnmacht der Meereswogen zu freuen und eine Cigarre dazu zu rauchen, ohne den Damen in dieser frischen Brise unangenehm zu werden. Es wird nämlich mit Sicherheit vorausgesetzt, daß die Dampffähre mit ihrer ungeheuren Last und Länge auch den wüthendsten Stürmen den größten Gleichmuth entgegensetzen und die Reisenden vor jeder Anfechtung einer Seekrankheit bewahren werde. Dies ist wichtiger, als es scheinen mag, da sich ungemein viel Personen, besonders Franzosen und überhaupt Landratten, aus Furcht vor dem Sturme und der Seekrankheit abhalten lassen, einen Calais-Dampfer zu besteigen. Die unmittelbare leichte und wohlfeile Verbindung der beiden Länder und Völker wird den Verkehr von Menschen und Waaren sofort um Hunderte von Procenten steigern und die Jahrhunderte alte Feindschaft derselben, wenn nicht beseitigen, doch ganz wesentlich mildern, so daß wir Alle damit eine neue Bürgschaft für den Weltfrieden gewinnen.

Die Fowler’sche Dampffähre scheint die meiste Aussicht auf allgemeine Annahme und Ausführung zu haben. Es ist, soweit wir es verstehen, die einfachste und billigste Lösung des großen Problems, an welchem sich seit mehr als einem halben Jahrhundert eine Menge sachverständiger Ingenieurs und noch mehr Laien die Köpfe zerbrochen haben. Während die Kosten zur Ausführung aller anderen, zum Theil sehr abenteuerlichen und schwierigen Projecte bis zwanzig Millionen Pfund Sterling und zwanzig Jahre steigen, hat Fowler ausgerechnet, daß er seinen Plan in etwa zwei Jahren für höchstens zwei Millionen Pfund Sterling verwirklichen könne. Das sieht ohne Weiteres glaubwürdig aus; auch können wir uns auf den gewöhnlichsten Flußfähren, welche große Lastwagen übersetzen, ein kleines Bild der Ausführbarkeit dieser lebendigen Völkerbrücke machen: wir brauchen uns die Fähre nur viele hundert Mal größer, das Wasser viel tausend Mal breiter und statt des Lastwagens einen ganzen Eisenbahnzug zu denken. Noch ist es freilich unentschieden, ob die Völkerbrücke auf oder unter dem Meere ausgeführt werden wird, auf eine oder die andere Weise geschieht es aber gewiß sehr bald, so daß wir wohl in kurzer Zeit aus jedem Theile Deutschlands, sogar aus Italien durch die Alpen hindurch mit Dampf, trockenen Fußes und ohne Unterbrechung, nach jedem Theile Englands hinüber und von da eben so leicht herüberfliegen können.
H. B.




Künstlerneid. Die Illustration, welche wir S. 741 unserm Leserkreise nach einem Oelgemälde H. Schaumann’s vorführen, führt uns selbst hinter die Coulissen einer Thierkünstlerbühne, wo so eben ein Affe, ein Pony und ein Pudel sich um einen wahrscheinlich aus den Reihen des dankbaren Publicums empfangenen Lorbeerkranz streiten. Wir werden wohl daran thun, wenn wir dem Künstler eine satirische Absicht unterlegen, denn allerdings wird mit dem Lorbeerkranz, der nur höchste Thaten des Geistes, des Muthes und der Kunst lohnen sollte, oft recht frivol umgesprungen, und ist in der That nur zu wünschen, daß bei all solchen Fällen so ein Hufthier zur Hand sei, das, wie hier der Pony, wenigstens den rechten Gebrauch von den Blättern des Kranzes zu machen weiß. H. Schaumann gehört derzeit zu denjenigen Münchnern Künstlern, deren Arbeiten täglich mehr geschätzt werden; sein „Wiedersehen auf dem Schlachtfelde“ wird eine der nächsten Nummern der Gartenlaube schmücken.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Ein erster Schritt in dieser Richtung ist bereits geschehen und verdient, daß bei dieser Gelegenheit die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn hingelenkt werde. Seit drei Jahren besteht in Leipzig eine „Lehranstalt für erwachsene Töchter“, welche als ihren Zweck „Ausbildung für den kaufmännischen Geschäfts- und Gewerbsbetrieb“ ankündigt. Wir haben also hier eine Realschule für Jungfrauen vor uns, die sich dem kaufmännischen Berufe widmen oder auch nur ihre allgemeine Bildung erweitern wollen. Der Cursus ist ein zweijähriger und für Zöglinge mit mangelhaften Vorkenntnissen besteht eine besondere Vorbereitungsclasse. Der Lehrplan umfaßt achtzehn bis zwanzig Unterrichtsstunden für die Classe wöchentlich und schließt folgende obligatorische Unterrichtsgegenstände in sich: deutsche, französische und englische Sprache; kaufmännisches Rechnen; Contorarbeiten, Buchführung und Correspondenz; das Wichtigste über Maße, Münzen, Wechsel, Staatspapiere und Actien; Geschichte; Handelsgeographie in Verbindung mit der Handelsgeschichte; Hauswirthschaftslehre und Waarenkunde; Kalligraphie; ferner Musterzeichnen, praktische Unterweisung in technischen Geschäftsverrichtungen und Unterricht in den Grundlagen der Volkswirthschaftslehre. Nicht obligatorisch sind ein Cursus in der Stenographie und Club français. Die Anstalt besitzt eine Bibliothek und Sammlungen von Waarenmustern. Sie ist von Dr. O. Fiebig gegründet und jetzt in den Besitz und die Direction der Herren G. Wagner und Dr. W. Zimmermann übergegangen. Man fühlt dieselbe sich am besten empfohlen, wenn man sieht und hört, mit welcher innigen Anhänglichkeit die Mädchen sämmtlich ihrer Anstalt zugethan sind, mit welchem Eifer sie ihr zueilen und mit welcher Begeisterung sie von ihr sprechen.
    F. H.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bat
  2. Vorlage: diie