Die Gartenlaube (1872)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[749]

No. 46.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


„Es handelt sich in erster Linie um das verlorene Geld, das doch, wenn es möglich, wieder herbeigeschafft werden muß,“ erwiderte Wollnow.

„Der arme Sellien! er thut mir wahrlich leid,“ sagte Gotthold; „aber ich sehe nicht, was Ihre Fragen und meine Antworten zur Herbeischaffung des Verlorenen helfen sollen.“

„Lassen Sie uns eben sehen. Glauben Sie zu wissen, daß Sellien das Geld noch bei sich hatte, als Sie Dollan verließen?“

„Ich weiß es mit Bestimmtheit; er hatte mir, da er ja nicht ahnte, daß das Geld von mir kam, auf einem Spaziergange nach Tische voller Bewunderung mitgetheilt, daß Brandow ihn bezahlt habe, und mir dabei das Paket gezeigt, indem er es aus der Brusttasche seines Rockes nahm. Dort sah ich es auch während des ganzen Abends – nicht ohne einige Unruhe. Ich fürchtete immer, er könne sich verleiten lassen, das Geld anzugreifen. Glücklicherweise blieb er im Gewinn.“

„Es wurde also gespielt? Wer war der Verlierer?“

„Brandow.“

„Verlor er viel?“

„Ich glaube, daß er an Redebas, der wohl allein den Muth hatte, einem so tollkühnen Gegner Stand zu halten, fünftausend Thaler verloren hat.“

„Die er selbstverständlich nicht auf der Stelle bezahlte?“

„Gewiß nicht; und eben daraus entstand der Streit, der damit endete, daß die Anderen zornentbrannt das Haus verließen.“

„Hatten Sie sich in den Streit gemischt?“

„Ich sicher nicht; Sellien vielleicht ein wenig, wenigstens konnte Brandow daraus Veranlassung zu den Ungezogenheiten nehmen, die uns dann auch aus dem Hause trieben.“

„Aus dem Hause trieben! sehr gut!“ sagte Wollnow, als hätte er die Worte wirklich zu Protokoll genommen. – „Und Sellien hatte das Geld noch, als Sie fortfuhren?“

„Ich fühlte das Paket, als ich dem Halbberauschten den Ueberrock zuknüpfte.“

„Und der Ueberrock war noch zugeknöpft, als Lauterbach ihm hier den Verband anlegen wollte. So sagten Sie neulich, und Lauterbach bestätigt es. Hatten Sie denn in der Schmiede keinen Versuch gemacht, ihn seiner Kleider zu entledigen?“

„Nein. Der alte Prebrow wollte es; aber Sellien, der für einen Augenblick zur Besinnung kam, bat so dringend, ihn zu lassen, wie er sei, daß wir davon abstanden und uns begnügten, ihn in dem Stroh und Heu des Wagens, den die Prebrows unterdessen bereit gemacht hatten, möglichst weich zu betten.“

„Und fühlten Sie das Paket auch da noch?“

Gotthold besann sich. „Nein,“ sagte er; „da hatte er es nicht mehr. Ich erinnere mich jetzt, daß erst der Alte und dann ich ihm die Brust betasteten, weil er über große Schmerzen in den kurzen Rippen der linken Seite klagte. Da hätte ich das Paket fühlen müssen. Das ist wirklich seltsam.“

„Gewiß ist es das,“ erwiderte Wollnow, „da es ihm doch nicht von den wackern Prebrows, Vater und Sohn, die ihn von der Unglücksstätte bis zur Schmiede trugen, aus der Tasche genommen sein kann?“

„Unmöglich!“ rief Gotthold.

„Und es doch fast, wenn auch in einem andern Sinne, ebenso unmöglich ist, daß er es während des Sturzes aus den Taschen seines zugeknöpften Rockes verloren hat, über den noch ein anderer Rock geknöpft war?“

„Dennoch bleibt keine andere Annahme übrig.“

„So scheint es. Aber lassen Sie uns wieder ein paar Schritte zurückgehen. Sie hatten also durchaus die Empfindung, daß Brandow Sie aus dem Hause trieb. War Ihnen das nicht auffallend?“

„Nein und ja.“

„Nehmen wir an, daß das Nein auf Ihr Verhältniß mit Brandow geht und das Ja sich auf den Assessor bezieht, dessen Gunst sich zu erhalten, er doch wahrlich die dringendste Veranlassung hatte. Ich gestehe, mir ist es unbegreiflich. Und dazu in einer solchen Nacht – wie König Lear sagt: in Sturm und Regen und Finsterniß – Sie hinauszutreiben und Ihnen dann einen Wagen ohne Laternen zu geben auf einem so mit Recht verrufenen Wege!“

„Es ist das Alles wahr,“ sagte Gotthold verlegen; „aber die Constatirung von Brandow’s Unfreundlichkeit – die er ja übrigens sofort bereut und noch an demselben Abend wieder gut zu machen versucht hat – wird uns wohl kaum zur Wiedererlangung des Geldes verhelfen.“

„Sie sehen, ein wie ungeschickter Inquisitor ich bin,“ erwiderte Wollnow, sich mit der Hand über die Stirn fahrend. „Lassen wir also den Herrn und halten wir uns ohne Ehrerbietung vor der Sprüchwortweisheit an den Knecht. War es nicht derselbe, der Sie am Morgen gefahren?“

[750] „Derselbe. Brandow’s Bereiter und, wie Sie sehen, gelegentlicher Kutscher, auch Verwalter, mit einem Worte: Factotum.“

„Factotum, sehr gut,“ sagte Wollnow. „Thue-Alles, im Gegensatze von Thue-Recht; nur daß sich dieser Signor Thue-Alles ebenfalls vor Niemand und vor Nichts zu scheuen scheint. Wenigstens hat er den Eindruck auf mich gemacht. Was halten Sie denn von dem Mann?“

„Daß er ein merkwürdiger Mensch ist, insofern, als man ihn wohl schwerlich wieder vergißt, wenn man ihn einmal gesehen. Ich erinnerte mich seiner von früher her mit vollkommener Deutlichkeit: des viereckigen, platten Schädels mit der kurzen, zurückfliegenden Stirn der großen Raubkatzen, an die auch seine grünen Schielaugen erinnern, während ihn die breiten Schultern, die stämmige, untersetzte Figur mit den plumpen, auswärts gekrümmten Beinen eher in das Hundegeschlecht weisen – eine Kreuzung von Dachs und Bulldogge etwa – mit denen er denn auch die Zähigkeit und die Treue gemein hat. Ich glaube, daß er für seinen Herrn durch Feuer und Wasser geht.“

„Und Wasser geht,“ sagte Wollnow; „vortrefflich, wie so ein Künstler sieht! wie das Alles Hand und Fuß hat! Und da hätten wir denn nun dieses liebenswürdige Ungeheuer, diesen treuen Caliban vor Ihnen auf dem Wagen, in die Nacht hineinfahrend. Wie war denn die Fahrt?“

„Ich habe, offen gestanden, bis kurz vor der Katastrophe wenig oder gar nicht auf Das geachtet, was um mich her vorging. Doch erinnere ich mich jetzt, daß wir, wahrscheinlich weil der Sturm so gegen uns drückte, nur mit Mühe den Hügel hinaufkamen und Hinrich Scheel, grausam wie er ist, auf die armen Pferde heftig losschlug, die ihr Schicksal zu ahnen schienen und nicht von der Stelle wollten, so daß Hinrich zuletzt von dem Wagen herabsprang.“

„Von dem Wagen herabsprang,“ wiederholte Wollnow; „sehr gut! sehr à propos! denn gleich darauf erfolgte der Sturz? nicht wahr?“

„Er muß in demselben Moment erfolgt sein.“

„Sagen wir, ein paar Momente später, sonst hätte doch der treue Caliban die Partie mitmachen müssen. Den Sturz haben Sie mir neulich Abend schon geschildert, so weit Sie sich der einzelnen Momente bewußt waren, und es ist staunenswerth, wie weit die Beobachtung eines Künstlers reicht, bis in die Pforte, ja ich möchte sagen, bis über die Schwelle des Todes. Und wie lange mag dieser schauerliche Augenblick, wo Sie dem Schicksal so nahe waren, gedauert haben?“

„Ich wußte es schwer zu sagen; die Bewußtlosigkeit war über mich gekommen, ohne Kampf, ja ohne Uebergang, schnell, unmerklich, wie das Lid über das Auge sinkt; und so erwachte ich wieder ohne Uebergang und lag da, das Gesicht nach oben, das Auge auf den Mond gerichtet und beobachtend, wie die gelbbraunen Wolken unter ihm dünner und dünner wurden – als hätte ich auf der Welt weiter nichts zu thun – bis er plötzlich in voller Klarheit aus dem letzten durchsichtigen Schleier hervortrat. In demselben Moment kam ich, und zwar mit einem Schlage, zum vollen Bewußtsein meiner Situation und wußte, als ob es mir Jemand gesagt hätte, daß ich ungefähr in halber Höhe der Böschung auf einem Vorsprung liegen geblieben war, während alles Uebrige, die Böschung hinab bis an den Rand des Moores gleitend, dort unten in einem schauerlichen Durcheinander lag, an welchem ich etwas Einzelnes nicht mehr unterscheiden konnte. Dann aber muß ich doch wieder, nicht in Bewußtlosigkeit, aber in einen hallucinirenden Zustand verfallen sein. Ich hatte nämlich die ganz deutliche Vision eines Reiters, der mit einer Schnelligkeit, wie sie eben nur in Visionen vorkommt, von mir fort in der Richtung nach Neuenhof über das Moor flog. Er hatte sich als richtiger Gespensterreiter bei der rasenden Carrière tief auf den langen dünnen Hals des weitausgreifenden Thieres gebeugt und hatte einen hohen Hut auf. Ein Gespenst mit einem hohen Hut, ist das nicht lächerlich?“

„Sehr lächerlich! in der That!“ sagte Wollnow. Er hatte sich wieder erhoben und war an das Fenster getreten, seine Erregung vor Gotthold zu verbergen. Was hatte vorhin der Hausknecht von der Vortrefflichkeit des Pferdes gesagt, das Brandow in jener Nacht geritten? und in der Richtung nach Neuenhof war der Gespensterreiter gejagt, nach Neuenhof, über das Brandow gekommen! Brandow, der seltsamer Weise in jener Nacht einen hohen Hut getragen; und der hohe Hut war mit Schlammwasser bespritzt gewesen!

Wollnow wandte sich wieder zu Gotthold. „Sie halten es für unmöglich, daß Jemand, ich meine Jemand in Fleisch und Knochen, und wäre es mit dem besten, schnellsten Pferde, das Dollaner Moor passiren kann?“

„Aber wie kommen Sie darauf?“ fragte Gotthold erstaunt.

„O, nur, weil Brandow überall erzählt, daß eines der beiden Pferde, das losgekommen war und sich über das Moor hatte retten wollen, bei der Gelegenheit ertrunken ist.“

„So haben Sie ja den besten Beweis der Unmöglichkeit.“

„Freilich!“ entgegnete Wollnow; „und nun müssen Sie durchaus Ruhe haben; Lauterbach wird so wie so schon sehr unzufrieden sein. In zwei Stunden bin ich wieder hier; bis dahin müssen Sie unbedingt schlafen.“

Wollnow verbrachte die zwei Stunden in einer Unruhe und Ungeduld, deren sich der gelassene Mann nicht mehr für fähig gehalten. Er erwartete den Referendar, welcher ihm versprochen hatte, bei der Rückkehr von Dollan in Prora anzuhalten und ihm das Resultat seiner Recherchen mitzutheilen. Herr von Pahlen war zwei Stunden vor ihm von B. abgefahren und konnte um diese Zeit seine Mission ausgeführt haben. Wirklich kam denn auch der Erwartete, aber ohne den Gensd’arm, den ihm sein Chef beigeordnet, um der Sache den rechten Anstrich zu geben.

„Das ist ein seltsamer Handel,“ sagte Herr von Pahlen. „Sie wissen, daß ich doch nur eigentlich hingefahren bin, um den Kunden, der die Herren kutschirt, den Hinrich Scheel, zu Protokoll zu nehmen; wenigstens war dies die Hauptperson, und nun denken Sie sich –“

„Der Mann war verschwunden,“ sagte Wollnow.

„Woher wissen Sie es?“

„Ich dachte es mir nur. Aber erzählen Sie weiter.“

„War in der That verschwunden,“ fuhr Herr von Pahlen fort, „nachdem er eine halbe Stunde vor unserer Ankunft noch von den Leuten auf dem Gute gesehen, auch von Herrn Brandow, der vor kurzer Zeit nach Hause gekommen. Er war verschwunden und blieb verschwunden, trotzdem Herr Brandow die Freundlichkeit hatte, nach allen Richtungen Leute auszusenden, die, wie Herr Brandow selbst sagte, ihn hätten finden müssen, wenn –“

„Sich der Mann hätte finden lassen wollen.“

„Ganz richtig; aber nun bitte ich Sie, welche Dummheit von dem Kerl, den doch schließlich weiter keine Schuld trifft, als daß er auf seine eigene Faust, um die Kutschpferde zu schonen, die beiden schlechtesten Gäule, die er unter so vielen guten hat auftreiben können, zu der Fahrt genommen hat! Denn daher, sagt Brandow, sei, so wie er die Sache bis jetzt angesehen, das ganze Unglück gekommen. Nun freilich, wenn der Kerl wirklich flüchtig geworden sein sollte – ich habe vorläufig Rüterbusch dagelassen, der ihn beim Kragen nehmen wird, falls er sich noch etwa einstellt –, nun freilich nimmt der Handel ein ganz anderes Aussehen an. Der Kerl provocirt ja geflissentlich die Unterstellung, daß er das Geld, Gott weiß wie, gefunden, oder gar dem Assessor während seiner Ohnmacht aus der Tasche gezogen und nun, im Bewußtsein seiner Schuld, als er uns kommen sah – und man kann ja ein gutes Stück über die Haide sehen –, das Weite gesucht hat. Brandow, der sehr betreten war, sagte, daß er jedem Andern eher ein solches Verbrechen zutraue, als dem Menschen, der schon bei seinem Vater in hohem Ansehen gestanden und ihm von jeher treu und ehrlich gedient habe; gab aber dann doch zu, daß das plötzliche Verschwinden des Mannes in der That räthselhaft, und schließlich Alles möglich, jedenfalls die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen sei, daß der arme Teufel der schweren Versuchung, mit einem Schlage ein reicher Mann zu werden, erlegen ist.“

„Ein Teufel fühlt sich immer zum Bösen versucht, auch wenn er eben nicht arm ist,“ sagte Wollnow.

„Sie meinen also, er hat es gestohlen?“ fragte der Referendar eifrig.

„Ich habe hier weder ein Amt, noch eine Meinung,“ erwiderte Wollnow ausweichend, während dabei aus seinen dunkeln Augen ein Blitz schoß, der dafür zu sprechen schien, daß er in dieser Sache denn doch eine Meinung, und eine sehr entschiedene Meinung hatte.




[751]
24.


Gotthold war, sobald sein Zustand es erlaubte, von Prora nach Sundin übergesiedelt, obgleich Ottilie behauptete, daß die Luft in Prora für einen Reconvalescenten ungleich besser sei, und er das versprochene Bild ebensowohl hier wie dort ausführen könne. Ja, sie hatte sich bereit erklärt, falls sich nur der Freund um diesen Preis halten ließe, ganz und gar auf das Geschenk zu verzichten; aber ihr Gatte war wieder einmal anderer Meinung gewesen. „Man darf nicht halten wollen, wer gehen will,“ hatte er gesagt; „oder man müßte dann die Verantwortung alles dessen übernehmen, was aus dem Bleiben folgen kann. Und dazu habe ich in diesem Falle keine Lust. Ich bin dem jungen Manne wahrhaftig herzlich gut, wie er es verdient, und gönne ihm von Herzen alles Glück, das er verdient; nur sehe ich nicht recht, wie er es auf diesem Wege erreichen könnte. Und ich will damit nicht etwa feierlich an meine Dir bekannten Ansichten über die Ehe erinnert haben; ich ließe mich schon zu allen möglichen Concessionen bereit finden, wenn Gotthold damit geholfen wäre. Aber das ist es nun doch nicht. Und das einzige Mittel, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, ist so schlimmer Art, daß, wie ich ihn kenne, er schaudern wird, es anzuwenden, wenn es überhaupt einmal so weit kommt. Vorläufig ist es noch nicht so weit.“

„Ich werde mich hüten, mir über diese Räthsel den Kopf zu zerbrechen,“ rief Ottilie, „nur diese eine Frage, auf die ich mir aber eine gerade, ehrliche Antwort erbitte: kennt Gotthold dies Mittel?“

„Ich habe es ihm nicht genannt; es ist aber möglich, daß sein Scharfsinn von selbst darauf verfällt.“

Wie wenig zufrieden auch Ottilie mit dieser problematischen Auskunft gewesen war, daran hatte auch sie nicht zweifeln können, daß Gotthold in der That fort wollte, und daß ihn selbst das Zureden ihres Gatten schwerlich gehalten haben würde.

Gotthold war fortgeeilt mit der Heftigkeit Jemandes, der einen Zauberbann um sich gezogen wähnt, und nun denselben, koste es was es will, zu durchbrechen strebt. War es denn nicht wie ein magischer Kreis, der sich um ihn geschlungen von dem Augenblick an, da er seine Heimathsinsel betreten hatte und mit dem Gefährten seiner Jugend, ohne ihn zu kennen, durch die heimischen Fluren gefahren war? Der gute Jochen Prebrow! er hatte wahrlich herzlich wenig von einem Götterboten, und doch hatte mit ihm die Reihe der Wunder dieser letzten Tage begonnen, die ihm jetzt ein himmlisch Angesicht und jetzt eine höllische Fratze zeigten, ihn jetzt mit Nektar und Ambrosia letzten und ihm jetzt Asche auf die lechzende Zunge streuten.

„Ich wäre das unseligste Geschöpf, wenn Du mich nicht verständest!“

Die Worte klangen ihm immerdar im Ohr – die Worte und der bange Ton, in welchem sie dieselben gerufen, wie aus der Tiefe der Unseligkeit heraus, in die sie rettungslos stürzte, wenn er sie nicht verstand. Sie und er! Hieß Nichtverstehen doch Zweifeln; und Zweifeln und Verzweifeln war in diesem Falle Eines und Dasselbe!

Hatte er sie verstanden?

Es war mitten in der Nacht gewesen, als Gotthold aus einem unruhigen Schlaf emporfuhr, und da hatte es, nachtgeboren, vor seiner Seele gestanden: Eines und nur Eines gab es, was sie nicht konnte, nicht durfte: gehen, während ihr Kind blieb, in der Gewalt dieses Teufels blieb; und mit diesem Einen hatte der Teufel sie zu seinem Willen gezwungen. Und daß er sie zum Gehen zwingen könne, zum Gehen zwingen werde! die Scheidung einer Ehe beantragen werde, die sie gebrochen – oder sollte sie, die Stolze, leugnen? abschwören daß sie in des Freundes Armen gelegen? vor Gericht, vor der Welt das Ja wiederholen, das sie längst ihm in’s Angesicht in ein starres Nein verwandelt? Nun wohl, dann war der Treubruch constatirt, die Ehe geschieden, das Kind wurde dem schuldigen Theil ab- und dem Theil zugesprochen, den keine Schuld traf!

Und dann hatte er ihr hohnlachend die wahrheitschänderische Formel vorgesprochen, mit der sie am nächsten Morgen vor dem Geliebten sich zur Dirne machen sollte, machen mußte, wenn er das höllische Spiel nicht durchschaute, wenn er sie nicht verstand!

Gott sei Dank, daß er sie jetzt verstand! Aber was mußte sie gelitten haben! was mußte sie leiden!

Und das sollte so bleiben? nimmer und nimmermehr! Jetzt, da er endlich seines Gegners schnödes Spiel durchschaut hatte, mußte ihm der Sieg gelingen. Und wenn er sich die Schande, zu wissen, daß sein Weib im Herzen einem Andern gehöre, mit baarem Gelde hatte bezahlen lassen, was war ihm dann nicht feil! Aber war ihm Alles feil: Ehre, Weib und Kind – weshalb hatte er denn nicht Alles und Alle auf einmal verkauft, da er doch wußte, daß ihm jeder Preis bezahlt werden würde, so weit das Vermögen des[WS 1] Käufers reichte? Wollte er künstlich den Preis seiner Waare steigern, dadurch, daß er die Stücke einzeln losschlug? Oder gab es auch für ihn ein Etwas, über das er nicht hinwegkam? undenkbar! oder war sein Haß gegen den Nebenbuhler doch größer, als seine Habsucht? trieb er das Raffinement der Grausamkeit so weit, seine Opfer nur zu verstümmeln, damit er sich noch an ihren Qualen weiden konnte?

Das war gewiß bei einem solchen Manne sehr wohl denkbar; aber wie lange blieb der Verschwender, der Spieler in der Lage, sich eine so kostbare Lust gewähren zu können? wie bald konnte die Nöthigung an ihn herantreten, seine Waare losschlagen zu müssen? Was hatte der Käufer zu thun, als ein wenig Geduld zu haben und das Geld bereit zu halten?

Und mit einem Male gewann für Gotthold sein Vermögen, auf das er bis jetzt ein so geringes Gewicht gelegt, einen wunderbaren, unschätzbaren Werth; und es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er den größten Theil desselben Leuten anvertraut, deren Redlichkeit keineswegs außer allem Zweifel stand. Wenigstens hatte Wollnow bereits früher, als sie nur erst brieflich mit einander verkehrten, wiederholt andeutend und endlich mit klaren Worten zur Vorsicht gegen das Stettiner Geschäftshaus ermahnt; aber Gotthold hatte, aus Gleichgültigkeit gegen den Besitz, aus Pietät vor dem Namen des Erblassers, der in der Firma des Nachfolgers beibehalten war – die Warnung nicht beachtet, bis Wollnow neuerdings und dringender als vorher auf diesen Punkt zu sprechen gekommen war und geradezu gesagt hatte, daß er sein Geld kündigen müsse und daß Gefahr im Verzuge sei. Das Banquierhaus in Sundin, welches die Wollnow’schen Wechsel discontirt, hatte Gotthold die Aussagen des Geschäftsfreundes bestätigt und ihm seine guten Dienste angeboten, aber er solle lieber heute als morgen kündigen.

Gotthold hatte es thun wollen; aber sein nächster Besuch hatte seinem Pensionair, dem jungen Maler Bruggberg, gegolten, den er sterbend fand, und er hatte über seinen Freundespflichten alles Andere vergessen. Dann waren Tage und Wochen trübster Verstimmung gefolgt, in welchen er sich zu keinem Entschlusse aufraffen konnte. Jetzt brauchte er sich nicht aufzuraffen; jetzt trieb es ihn, die Säumniß einzubringen; es war zu spät.

Als er bei dem Banquier eintrat, kam ihm derselbe mit einem sehr ernsten Gesicht entgegen. Soeben war die Nachricht aus Stettin eingelaufen, daß das Haus Lenz und Compagnie fallirt habe – in einer unerhört scandalösen Weise; für die Gläubiger würden nicht fünf Procent aus der Masse abfallen. „Es thut mir herzlich leid,“ sagte Herr Nathanson; „ich selbst verliere eine Kleinigkeit, wenn man noch verlieren kann, was man längst verloren gegeben hat; aber Sie sind sehr stark engagirt, wenn ich Sie recht verstanden habe. Waren es nicht fünfzigtausend Thaler?“

Vor kurzer Zeit noch würde Gotthold ob einer solchen Nachricht die Achseln gezuckt haben und wieder an seine Arbeit gegangen sein. Jetzt traf ihn dieselbe wie ein Donnerschlag. Durch die Anleihe, welche er neulich bei Wollnow gemacht hatte, und seinen jetzigen Verlust war sein Vermögen auf den vierten Theil etwa reducirt, und auch dieser gehörte ihm, streng genommen, nicht mehr. Ja, nicht einmal streng brauchte er es zu nehmen; er brauchte nur den Verpflichtungen, die er eingegangen, nicht untreu werden zu wollen: Verpflichtungen gegen arme junge Künstler, die ihren Lebensplan auf seine Freundschaft gebaut, gegen die Wittwe und die Kinder des eben dahingeschiedenen Kunstgenossen, die ohne ihn dem Elend preisgegeben waren. Was blieb ihm, wenn er, wie es seine Ehre, wie es sein Herz von ihm heischten, diese Schulden bezahlte? nichts! nichts außer den Erträgnissen seiner Arbeit. Das war für ihn genug, und übergenug; aber für die Unersättlichkeit jenes Wüstlings? er würde sich nicht auf die Zukunft vertrösten, nicht auf Abschlagszahlungen einlassen, er nicht!

[752] Gotthold stand rathlos vor einer Schranke, die sich unübersteiglich vor ihm aufthürmte und die sein Zorn, seine Verzweiflung wahrlich nicht aus dem Wege räumten. Wessen konnte man sie beschuldigen, als daß sie, jung, großherzig, vertrauensvoll, sich durch einen Schurken hatte täuschen lassen? daß sie dann nach langen Jahren banger, dumpfer Qual beim Anblicke des Freundes ihrer Jugend aufgeathmet und, Rettung suchend, in seine Arme sich geflüchtet hatte? Und jetzt war sie der schuldige Theil, und der Schurke konnte sie, auf seine Rechte pochend, ungestraft verhöhnen, martern, tödten!

So wurde er von Zorn, Haß, Liebe ruhelos umhergetrieben in dem schrecklichen Kreislauf, aus dem kein Entrinnen möglich schien, es hätte denn ein Mittel geben müssen, Den, der in Wahrheit die Schuld trug, vor aller Welt dieser Schuld zu überführen.

Aber läßt sich solche Schuld beweisen?

Gotthold erschrak vor sich selbst, wenn er sich ertappte, grübelnd über die Möglichkeit, diese Beweise herbeizuschaffen. Sollte er seine, Cäciliens Ehre besudeln, indem er die unsaubern Geheimnisse aufdeckte, die sich aus der Herrenstube in Dollan nächtliche Treppen hinauf in das Dachstübchen der Zofe spannen? Nimmermehr!

Und daß der Wüstling, der Spieler aus den dunkeln Maulwurfsgängen des Lasters hervor sich auf die verhältnißmäßig offene Straße des Verbrechens wagen sollte – selbst dieser Gedanke war ihm gekommen; aber zu Vieles sprach dagegen. Einmal traute er dem Schurken nicht den Muth zu, der doch immer zum Verbrechen gehört; sodann hätte Wollnow doch wohl einen Verdacht geäußert, Wollnow, der sich aus Theilnahme, wie es schien, für den Assessor, vielleicht auch aus eigenem Drang der Seele, die jedes dunkle Problem reizte, der Sache so eifrig angenommen, mit solcher Sorgfalt jeder schwächsten Spur, die zur Entdeckung des verlorenen oder gestohlenen Geldes führen konnte, nachgegangen war. Und schließlich, war es nicht eine psychologische Unmöglichkeit, daß selbst ein Brandow – mochte er nun direct oder indirect bei dem Diebstahl betheiligt sein – die Hand des Bestohlenen ruhig fassen konnte, wie er es eben erst gethan, als Gotthold ihn in heiterstem Gespräch mit dem Reconvalescenten und dessen Gattin traf? Freilich, die Angelegenheit war ja in einer für Sellien ausnehmend günstigen Weise vor dem Curatorium St. Jürgen erledigt worden. Man hatte unter dem Vorsitz von Alma’s Vater gefunden, daß dem Assessor eine Schuld in keiner Weise beizumessen sei, da er, als Bevollmächtigter des Curatoriums, so berechtigt, wie verpflichtet war, das Geld in Empfang zu nehmen, und man ihn für das, was sich auf der Dollaner Haide während des Sturzes und nach demselben ereignete, unmöglich verantwortlich machen könne. Das Curatorium habe also die zehntausend Thaler einfach in das Verlustconto zu setzen, „und,“ hatte Sellien’s Schwiegervater geäußert, „wenn es anginge, meine Herren, den hinter dem Hinrich Scheel erlassenen Steckbrief zurückzunehmen, so würde ich für meinen Theil nichts dagegen haben. Der Kerl ist längst über alle Berge, das Publicum wird also ganz unnötigerweise immer wieder an die dumme Geschichte erinnert, das liegt doch weder in unserem Interesse, meine Herren, noch in dem meines Schwiegersohnes.“

Brandow hatte sehr gelacht, als Sellien diese Relation der letzten Sitzung des Curatoriums zum Besten gab, und hatte sich dann leider alsbald empfehlen müssen, da er gleich fort wolle, nachdem er noch einer Sitzung des Renncomité beigewohnt: der siebenten Sitzung innerhalb vierzehn Tagen! er komme gar nicht mehr aus der Stadt fort; aber was solle er thun? es handle sich für ihn Alles darum, daß der Beschluß, ein Stück Moorland in die Bahn für das Herrenreiten zu ziehen, rückgängig gemacht werde. Sein Brownlock, der übrigens mit den übrigen Pferden gestern bereits wohlbehalten angekommen, sei ein Steeple-chaser, wie es je einen gegeben habe; aber gerade bei seiner Sprungkraft sei er auf festen Boden angewiesen; es sei eine Sünde und Schande, daß man so gegen ihn verfahre; selbst der junge Fürst Prora habe erklärt, es sei „indigne“. Aber Reugeld zahle er auf keinen Fall, lieber im Moore stecken bleiben und, wenn’s sein müsse, ertrinken.

„Er ist ein Held!“ hatte Alma Sellien mit einem schwärmerischen Augenaufschlage gerufen, als Brandow die Thür noch nicht hinter sich geschlossen hatte.

„Er ist ein Narr!“ hatte Gotthold gesagt, als er bald darauf durch die stillen verregneten Straßen nach seiner Wohnung schritt; „mindestens ebenso sehr Narr, wie Schurke, und ganz gewiß keiner That fähig, die auch nur in irgend einem Sinne einen Mann erfordert.“

In seiner Wohnung angelangt, fand Gotthold einen Briefe in der ihm jetzt so vertrauten festen, ja kühnen Hand Wollnow’s.

Der Brief war lang; Gotthold meinte, daß derselbe von der Stettiner Affaire handeln werde, über welche er in den letzten Wochen vielfach mit dem Freunde correspondirt. Er hatte sich getäuscht. Seine Augen glühten, als er stehenden Fußes mit fliegender Eile die Seiten durchlas; dann warf er sich in einen Sessel, um alsbald wieder aufzuspringen, denn schon war sein Entschluß gefaßt. Er eilte nach dem Hause, in welchem der Rennclub seine Sitzungen hielt. Herr Brandow hatte nach einem heftigen Wortwechsel mit einigen der Herren vom Comité vor einer halben Stunde das Haus verlassen. Er fuhr nach dem Hôtel, in welchem, wie er wußte, Brandow Logis zu nehmen pflegte. Herr Brandow hatte diesmal dem Hôtel nicht die Ehre erwiesen, war vielleicht im „Goldenen Löwen“ abgestiegen. Der „Goldene Löwe“ wußte nichts von Herrn Brandow, meinte, der Herr möge im „Weißen Roß“ sein. Aus dem „Weißen Roß“ war Brandow vor ungefähr einer Viertelstunde abgereist, der Oberkellner vermuthete, nach Hause, wenigstens habe er seine Sachen nach dem Fährboote bringen lassen.

Das nächste Boot ging erst in einer halben Stunde. Gotthold hatte gerade noch Zeit, nach Hause zu eilen und Sachen für ein paar Tage in einen Nachtsack zu werfen. „Möglich, daß ich erst im ein paar Tagen zurück bin,“ hatte er der Wirthin zugerufen; und bei sich selbst hatte er gesagt: „Möglich, daß ich gar nicht zurückkomme!“


(Fortsetzung folgt.)




 Die Blinde.

Am Rhein ward ich geboren, am grünen Rhein,
Dort, wo nicht fern in seine Brust hinein
Sich perlend hell der Main ergießt.
Wie er durch grüne Wiesen fließt,
Vorbei an Reben, an dem Wald vorbei,
Da schaut er auch, wie mächtig, stolz und frei
Ein Haus sich hier zum Himmel hoch erhebt. –
Der Vater hat es sich zum Trost erbaut
Für seine alten Tage; doch er lebt’
So lange nicht! Sein Haar war kaum ergraut,
Als er uns starb, der Mutter starb und mir,
Die ich ihn heiß, unendlich heiß geliebt. –
Ich weiß es noch, wie er im Garten hier
Mich oft im Arme hielt. Er war betrübt,
Sein Seufzen sagt’s und in den leisen Klagen
Empfand ich, wie sein Herz von Sorgen voll,
Und fühlte, wenn beim Singen ihm und Sagen
Von schönen Märchen niederquoll
Die heiße Thräne auf des Kindes Hand!
Wenn ich hernieder dann mich neigte,
Sie wegzuküssen, sprang er auf und wand
Aus meinen Armen sich und zeigte
Zum Himmel auf und stöhnt’: Du armes Kind!
Denn ach, ich kam zur Welt – und wurde blind.



Blind sein! Kann denn ein Mensch ermessen,
Welch tiefes Weh in diesem Worte liegt?
Kann er sich selbst, die Welt vergessen,
Und fliegen, wie nur der Gedanke fliegt,
Kann er dann, freudig seiner selbst bewußt,
Das Leben ahnen und des Lebens Lust
Und Alles denken? – Was es heißt nicht seh’n –
Das weiß er nicht! das kann er nicht verstehn! –
Welch schönes Land mein theures Heimathland,
Ich kenn’ es nicht! Wo meine Wiege stand,
Ich weiß es nicht! Wo ich geweint, gelacht,
Nichts hat Erinnern mir gebracht.
Ich lebte eine ewig gleiche Zeit!
Nichts war mir gestern, morgen, heut! –
Nur wenn die Menschen sprachen, wenn ich hört’,
Wie laut die lieben kleinen Vöglein singen,
Wenn mir der Gang im Garten nicht gewehrt,
Wenn ich die Sonne fühlt’ in’s Herz mir dringen,
Dann ahnt’ mir, was der Mensch empfinden mag,
Wenn er mit Jubel grüßt den holden Tag.
Doch was der Tag und wie die Sonne scheint,
Daß sie sich Alle jauchzend freuen können,
Das sagt’ mir Niemand, bis ich selbst gemeint,
Es gleicht wohl Sonn’ und Tag, wie sie es nennen,
Der theuren Mutter oder dem Geliebten,
Der nah’ bei uns mit seinem Vater wohnt,
Und der mir Armen, ach, so reich Betrübten,
Für allen Schmerz mit treuer Liebe lohnt.
Kommt er zu mir und spricht von Hoffnung, Muth,
Sagt, was sein Vater, der ein kluger Mann,
Als Arzt an tausend Blinden schon gethan,
Dann wallt in höhern Pulsen mir das Blut;
Dann ist’s, als schien’ die Sonne wärmespendend
Mir tief in’s Herz und alle Schmerzen endend!
Doch wenn er leise wieder von mir scheidet,
Den heißen Kuß mir auf die Stirne drückt,
Dann weiß ich auch, wie ernst die Nacht gekleidet,
Die finster auf den Tag zurücke blickt.
Doch Nacht heißt schlafen, bangen, schweigen –
Und träumen heißt, sich zu den Göttern neigen. –

[753]

Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 8. Auf der Feldwache vor Metz.
Von Chr. Sell in Düsseldorf.

[754]

Es war ein stilles Leben, das ich lebte,
Das wie ein Traum mir stets vorüberschwand.
Der Winter kam und ging. Der Frühling schwebte
Mit lauen Lüften wieder durch das Land,
Die Blumen blühten wieder, und ihr Duft
Quoll über in die thaubenetzte Luft.
Die Vöglein sangen in belaubten Zweigen
Und von der Wiese tönt’ herauf der Reigen
Der Herden, dem ich immer gern gelauscht. –
Dazwischen auf und nieder rauscht
Der Rheinstrom, und die hellen Wellen singen
Von Allem, was sie aus den Bergen bringen. –
Da sitz’ ich einst im Garten, athemlos,
Und lausch’ dem Sang, die Hände in dem Schooß,
Das Haupt herab auf meine Brust gebeugt.
Still ist die Welt, und rings im Kreise schweigt
Das reiche volle Leben. Horch! Da theilen
Die Büsche sich, und Schritte hör’ ich eilen.
Sie kommen her zu mir, ein starker Arm
Schließt plötzlich mich an seine Brust,
Und Thränen heiß und Küsse, ach, so warm
Bedecken mein Gesicht! Und kaum bewußt,
Was just gescheh’n, hör’ ich mit leisem Beben:
„Leb’ wohl, mein Herz, leb’ wohl, o Du mein Leben!“
So gehst Du fort von uns und fort von mir?
„Es ruft das Vaterland mich fort von hier!
Der Franzmann ist herein in’s Land gefallen
Und dränget wieder an den Rhein heran.
Die Glocken tönen, die Trompeten schallen,
Der Friede ist dahin, der Krieg begann.
Und wer ein Schwert vermag zu schwingen,
Der muß getreu es seinem Volke bringen.
Leb’ wohl! Leb’ wohl, mein Lieb, mich ruft die Ehre,
Gedenke mein, wenn ich nicht wiederkehre!“
„So zieh’ mit Gott –“ „Leb’ wohl! Auf Wiedersehn,“
Sprach nun der Jüngling, kühn die Brust geschwellt!
„Auf Wiedersehn?“ „Kannst Du mich nicht verstehn?“
Haucht’ leise bittend jetzt der junge Held.
„Ja, Wiedersehn! Der Vater will es wagen,
Wenn kurze Zeit nur noch vorüber ist.
Und dann, wenn alle Glocken schlagen
Und Sieg verkündigen in kurzer Frist,
Dann wird Dein Engelsauge weithin blicken
Auf das geschaffne, selige Entzücken
Und grüßen wirst Du Alle, grüßen mich,
Der Dein, auf ewig Dein! Gott schütze Dich!“
Er sprach’s und ging! Kaum hörte ich ihn gehn,
So tönt’s im Ohr mir fort: Auf Wiedersehn!



Auf Wiedersehn, so tönt’ es Tag und Nacht;
Aus meinen Träumen tönt’ es mir hervor.
Die Vöglein haben mir den Gruß gebracht
„Auf Wiedersehn“ im bunten vollen Chor.
Die Blumen duften, und in leichten Ringen
Hör’ ich „auf Wiedersehn“ die Lüfte singen.
Ja, sehn! Ihn sehn! Ach, nur ein einzig Mal,
Der mir der Hoffnung Zauber hat gegeben!
So fleht’ ich oft, und leises Seufzen stahl
Sich von den Lippen und mit Fieberbeben
Trieb’s mich die bangen Stunden zum Gebet,
Das Ruhe der bewegten Brust erfleht.
Doch wenn ich dann in stiller Nacht,
In langen Träumen hab’ an ihn gedacht,
Verführt der Zauber mich, als seh’ ich ihn,
Und alle Ruh’ des Herzens war dahin.
Ach! Wenn zur Wahrheit nicht das Träumen wird,
Ist es, als ob die Sünde uns verführt’,
Und in der ew’gen Sehnsucht eitlem Schwanken
Verfluchen wir im Haupte die Gedanken. –
Mißt man die Welten durch mit klarem Geist,
Das Aug’ will sehn, wenn es geliebt und liebt
Und wenn die Sehnsucht fort es reißt
Und wenn es zürnt und wenn es dann vergiebt!
So dacht’ ich oft! Und sieh’! da legte sich
Auf’s Haupt mir einstens eine sanfte Hand,
Und eine Stimme sprach so väterlich,
Mir wie der Kirche Orgelton bekannt:
„Geduld, Louis’, Geduld, es wird gescheh’n!
Und eh’ Du’s denkst, wirst Du die Herrlichkeit
Der ganzen Welt mit eig’nen Augen seh’n.
Doch nur Geduld! Du kannst mich ja verstehn:
Es wächst das Große nur im Lauf der Zeit.“



Und es geschah! Noch stehen Wies’ und Wald
In vollem Blätterschmuck und Blumenpracht,
Und aus den Zweigen noch herniederschallt
Das Lied der Nachtigall. Das Heimchen lacht
Noch jubelnd durch die Saaten über’s Feld,
Und Sommer ist’s, beglückt die ganze Welt!
Frei ist mein Aug’! Doch eine dichte Binde
Verhüllt dem Blicke noch der Sonne Licht,
So daß, wie tastend ich im Raum mich finde,
Die alte Sicherheit mir nicht gebricht,
Ich es kaum glauben kann und hoffen,
Daß meinem Blicke schon der Himmel offen.
Da aber naht der Tag. Die Binde fiel!
Allmächt’ger! Welcher Glanz und welche Wonne!
Das ist des Himmels prächt’ges Farbenspiel!
Des Abends, das! Mein Gott! Ist das die Sonne?
O senk’ erwärmend deinen Strahlenkranz
Mir in das bange Herz und scheine milde
Und ewig hell in deines Goldes Glanz,
Du einziges, du göttliches Gebilde! –
Wer weilt um mich, da mich, so reich beglückt,
Der Erde Wunderglanz entzückt?
Dies edle hohe Wesen dort, wer ist’s?
Es streckt die Arme aus nach mir – und Thränen
Im Aug’? Es ruft! O Mutter, ja du bist’s!
Aufjauchzt des Herzens lang erfülltes Sehnen:
Du bist’s! Wie ich im Traum Dich oft geseh’n,
So gütig, ach! so herrlich und so schön!
Und wer bist Du dort, von mir abgewandt?
Bist Du der Arzt? Bist Du es, gottgesandt,
Mich neu zu schaffen? Ach von Deinen Füßen
Laß, Heil’ger, mich den Staub Dir küssen!
Doch kommt und kommt! Ich kann es nicht erwarten,
In vollen Zügen schlürfe ich die Lust
Des Lebens ein! Führt weiter durch den Garten,
Führt durch die Blumen mich zur Felsenbrust,
An die ich oft gelehnt, hinab zum Rhein
Gelauscht und in das ferne Land hinein!
O dieser süße Duft! die helle Pracht!
Ist das die Rose nicht und da, im Blühen
Ist das die Nelke? dort des Waldes Nacht
Am Horizont, wohin die Vöglein ziehen?
O Alles, Alles hab’ ich einst geträumt,
Wie süß die Rose blüht, die Wiese keimt,
Doch nicht so prachtvoll, ach, so herrlich nicht,
Wie jetzt, da ich es schau’ im Sonnenlicht.
Und horcht, das ist der Rhein, wie er, an Klippen
Der Felsen sich zerschellend, schäumt und grollt
Und dann gebrochen an basaltnen Rippen
Mit schmeichelndem Gesang vorüberrollt.
O habe Dank, du Märchenspender,
Du sagenreicher, habe Dank!
Wie sich herab die Alpenländer
Und fort bis hin zum Meere schlang
Dein grünes, aufgeschäumtes Wogen,
Da kamst Du auch zu mir gezogen
Herauf in leichten feuchten Nebelringen,
Von Deiner Fahrt mir leise vorzusingen.
Jetzt schau’ ich dich, so groß, so schön und frei,
Und lausch’ berauscht der Wellen Melodei.
Hab’ Dank, hab’ tausend Dank! doch – was ist drüben
Weit über’m Rhein! Das war kein Pflug.
Kein Spaten hat die Furchen eingeschrieben
In’s Land! Das war das Schwert, das Wunden schlug!
Und dort! Nein! Das ist nicht der Rose Gluth,
Das ist, furchtbar Entsetzen! das ist Blut!
Ja, ja! Es tönt mir noch im Ohr,
Aus allen Zweigen rauscht’s hervor:
„Der Franzmann ist herein in’s Land gefallen
Und dränget wieder an den Rhein heran,
Die Glocken tönen, die Trompeten schallen
Der Friede ist dahin, der Krieg begann.
Und wer ein Schwert vermag zu schwingen,
Der muß getreu es seinem Volke bringen.
Leb’ wohl, leb’ wohl! Mich ruft die Ehre,
Gedenke mein, wenn ich nicht wiederkehre.“
So sprach er, ging und kam nicht wieder.
Hört es, ihr Wälder, hört’s ihr Bergeshöh’n,
Und schließt euch, schließet euch ihr Augenlider,
Unglück ist, was geschah! Doch Fluch es sehn! –



Was schaut ihr mich so schweigend an?
Habt ihr, was ich gesagt, denn nicht gehört?
Hängt nicht an jedem Wort die Thräne d’ran,
Die mit Verzweiflung euch den Busen nährt?!
Ihr schweigt, ihr schüttelt euer Haupt,
Ihr lächelt, euer Auge ist verklärt?
So lebt er noch und ist mir nicht geraubt?
Ach! auf dem Schlachtfeld, wo die Kugeln sausend
Vorüber fliegen, liegt er unter Tausend!
O führt mich hin, ich will ihn noch erretten,
An meiner Brust den Theuren sicher betten.
Nein? Nein? Auch das ist’s nicht! Er lebt, er lebt –
O stille, armes Herz! Die Thräne bebt
Um deinen Gram noch in der Augen Licht, –
Und weinen, jetzt schon weinen, darfst du nicht! –
So ist es wahr, was ich so oft vernahm,
Wenn Der und Jener zu erzählen kam
Von Schlachten, die auf Frankreichs Erde schlug
Der Deutsche, und vom Sieg, der fort ihn trug
Zum neuen Sieg, und daß schon in Paris,
Dem herrlichen, die deutsche Fahne weht?
Erfüllet also, was er stolz verhieß,
Was ich erbat inbrünstig im Gebet!
Und wahr ist, ach, mir sagt es ja mein Herz,
Was ihr mit leiser Stimme oft bespracht!
Bei Gravelotte über Feindes Erz
Hinweg hat er den Adler uns gebracht,
Der aufgepflanzet auf der Hügel Kronen
Und unterm Schutz todspeiender Kanonen.
Und seine Brust schmückt jetzt des Kreuzes Zeichen?
Es ist so? Ja es ist! Die Schatten weichen,
Und Alles seh ich klar. Zur Heimath kehren
Die Brüder schon zurück und reich an Ehren
Kehrt der Geliebte auch! Die Trommeln klingen,
Fanfaren hör’ ich durch die Lüfte dringen
Und Fahnen seh’ ich flattern. „Mutter, Mutter!
Er naht!“ So rief ich noch und barg entzückt,
Im Augenblick mein ganzes Glück bekennend,
Mich an der Mutter Brust. Und ach! da drückt
Mit heißen Lippen sich und fieberbrennend
Ein leiser Kuß auf meine Hand. „Louis’,“
So hör’ ich zitternd dann, „was uns verhieß
Ein güt’ger Gott im Hoffen und Ersehnen,
Es ist gescheh’n! Viel tausend Kränze krönen,
Viel tausend Siegeskreuze uns’re Fahnen.
Frei ist der Rhein! frei sind der Zukunft Bahnen!
O sieh mich an! Und gieb zum Maß des Glückes,
Das mir ein gütiges Geschick gewährt,
Den Segen noch des ersten Liebesblickes, –
Und all’ mein Hoffen, Wünschen ist erhört.“
So sprach der Held, so hört’ ich ihn mit Zagen
Und zitternd, wie das Laub am jungen Baum,
Und legt’ die Hand, wie in vergang’nen Tagen,
Wie in der Kindheit sel’gem Liebestraum
Ihm auf das Haupt. Hab’ Dank! hab’ tausend Dank!
Wie Balsam strömt, wie himmlischer Gesang
Dein Wort mir in das Herz! Des Krieges Loos
Fiel meinem Volk zum Glück, und hehr und groß
Wird es der Zukunft Schwert und Wage halten,
Unendlich Glück der ganzen Welt entfalten.
Da kommt die Zeit, wo nach dem Waffentanz
Sich auch die Palme windet um den Lorbeerkranz.
O schließt euch, Augen, kehre, heller Blick,
Nun betend in dein eigen Herz zurück!

 Karl Thomas.




Nachbilder.


Von Ewald Hecker.


Die meisten meiner freundlichen Leser erinnern sich vielleicht der Notiz, die vor wenigen Jahren fast durch alle Zeitungen ging und allgemeines Aufsehen erregte, daß man im Auge eines eben getödteten Kalbes auf der Netzhaut das gewissermaßen photographische Abbild des Fleischers gefunden haben wollte, wie er mit geschwungenem Beil vor seinem Opfer gestanden. Es wurde besonders auf die Wichtigkeit aufmerksam gemacht, welche diese sofort als allgemeingültig proclamirte Thatsache für die Justiz zur Entdeckung der Mörder haben könne. Von Sachverständigen mit Stillschweigen übergangen, gerieth die ganze [755] Angelegenheit wieder in Vergessenheit, bis vor circa vier Jahren von einem gewissen Dr. Bourion dem Verein für gerichtliche Medicin zu Paris eine Photographie eingereicht wurde, die von der Netzhaut einer am 14. Juni 1868 ermordeten Frau fünfzig Stunden nach ihrem Tode abgenommen war. Auf derselben sollte sich der Moment fixirt haben, wo der Mörder, nachdem er die Mutter erschlagen hatte, das Kind tödtete und der Hund des Hauses auf ihn zusprang. Bourion wollte nämlich in dem vorliegenden Bilde einen Hundekopf und den Ellenbogen eines Mannes erkennen. Leider gelang es den versammelten Aerzten nicht, der phantasiereichen Ausdeutung des Bildes beitreten zu können, und es wurde der vorliegende Fall dem Dr. Vernois zur Untersuchung und Berichterstattung überwiesen. Derselbe hat nun ein Gutachten veröffentlicht, aus dem ich das Wesentlichste kurz mittheilen will. Die genaue Besichtigung des Bildes ließ ihn allerdings in den nebelhaft verschwommenen, undeutlichen und unbestimmten Flecken mit Zurhülfenahme einer sehr lebhaften Phantasie einen Gegenstand erkennen, der eine ganz entfernte Aehnlichkeit mit einem Hundekopfe allenfalls darbieten mochte. Den Ellenbogen aber konnte er bei allem vorhandenen guten Willen sich nicht herausconstruiren. Dazu kam noch, daß nach einer genauen Vergegenwärtigung der Situation es sich nachweisen ließ, daß bei der nach dem Bilde vorauszusetzenden Stellung des Ellenbogens der Hund gar nicht hätte sichtbar sein können.

Damit wäre eigentlich die Sache genügend erledigt gewesen, doch unternahm Dr. Vernois jetzt noch eine Reihe eigener Experimente. An siebenzehn theils durch Erdrosseln, theils durch Blausäure getödteten Thieren, denen er kurz vor dem Verscheiden starkleuchtende auffallende Gegenstände vor’s Auge gehalten hatte, untersuchte er die Augen und konnte in keinem Fall auch nur die Spur eines Bildes auf der Netzhaut entdecken. Endlich machte er auch Versuche an Personen, indem er von denselben helle Gegenstände starr fixiren ließ und dann ihren Augenhintergrund mit dem Augenspiegel untersuchte. Stets erhielt er ein negatives Resultat. Wenn nun auch gerade die letzten Experimente meiner Ansicht nach gar nicht beweisend sind, so dürfte doch auch ohnedies jene abenteuerliche Geschichte vollständig zurückgewiesen sein.

Wie konnte aber, werden meine geneigten Leser fragen, eine so plump angelegte Mystification selbst Aerzte täuschen oder wenigstens denselben einer so ausführlichen Untersuchung werth erscheinen? Um dies zu verstehen, müssen wir uns die beim gewöhnlichen Sehen in Bezug auf die Dauer des Bildes stattfindenden Verhältnisse kurz vergegenwärtigen. Wir wissen, daß auf dem Augenhintergrunde – auf der Netzhaut – das verkleinerte und zwar umgekehrte Bild eines Gegenstandes, den wir sehen, entworfen wird, ganz in derselben Art, wie auf der matten Glasplatte der Camera obscura. Wir können dies Bild sogar an einem todten Thierauge noch zur Anschauung bringen. Wenn wir an der hinteren Halbkugel eines aus dem Kopfe entfernten Kalbsauges ein Fensterchen in die äußeren Häute des Augapfels einschneiden, mit Verschonung der Netzhaut, so kann man auf dieser das deutliche, umgekehrte und verkleinerte Bildchen einer vor dem Auge aufgestellten Lichtflamme durchscheinend erkennen. Natürlich aber verschwindet das Bild in dem nämlichen Augenblick, wo ich dies Licht entferne. Das sieht jedes Kind ein und hätten jene Aerzte auch wissen müssen. – Ganz richtig! Jene Aerzte wußten aber noch mehr, und das war der Fehler; denn sehr oft ist das Nichtwissen heilsamer als das Besserwissen, jedenfalls giebt es weniger Veranlassung zu Scrupeln und Zweifeln. Jene Aerzte wußten nämlich, daß am lebenden Auge eine eigenthümliche Erscheinung beobachtet wird, die allerdings jenem Märchen einen scheinbar wahren Untergrund geben konnte. Der Lichtreiz nämlich, welcher das Auge trifft, wird von der Lichtempfindung, die er verursacht, überdauert, so daß also die Lichtempfindung noch vorhanden ist, wenn das Licht schon aufgehört hat einzuwirken. Die Dauer der Nachwirkung ist desto größer, je stärker das einwirkende Licht gewesen ist und je weniger ermüdet das Auge war. Wenn man einen Moment nach der Sonne oder in eine helle Lichtflamme geblickt hat und dann plötzlich die Augen schließt und mit der Hand bedeckt, oder sich nach einem absolut dunklen Hintergrunde wendet, so sieht man noch kurze Zeit auf dem dunklen Grunde eine helle Erscheinung von der Gestalt des vorher gesehenen hellen Körpers und nennt dieselbe das „Nachbild“.

Diese Nachbilder also gaben die Veranlassung, daß jene oben erzählte Mystification auch nur einen Augenblick für Wahrheit angesehen werden konnte. Es wurde dabei aber vergessen, daß diese Nachbilder mit jenen kleinen Bildchen, die sich auf der Netzhaut entwerfen, so direct eigentlich nichts zu thun haben, denn Das, was wir beim Sehen überhaupt wahrnehmen, Das, was uns zum Bewußtsein kommt, sind die Schwingungen, in welche die Fasern der Netzhaut und weiterhin die des Sehnerven durch die Licht- oder Aetherschwingungen versetzt werden.

Wir können auch durch mechanische Reizung, welche jene Netzhautfäserchen zum Erzittern bringt, Lichterscheinungen hervorrufen: das Funkensehen bei einem Schlag, der unser Auge trifft, ist ja allgemein bekannt. Der Getroffene sieht dabei deutlich einen Lichtschein, – keineswegs aber dürfen wir erwarten, daß dieses Licht auch für einen Anderen, der etwa die Netzhaut des gestoßenen Auges mit einem Augenspiegel untersuchen würde, sichtbar sein könnte. Es ist eben kein objectiv nachweisbares Licht, sondern lediglich eine subjective Lichtempfindung, und jener bekannte gerichtliche Fall, wo Jemand im Finstern einen Schlag auf das Auge bekommen hatte und in seiner Klage angab, er habe bei dem dadurch erregten Lichtschein den Angreifer erkannt, ist in Folge des eingeholten wissenschaftlichen Gutachtens mit Recht zum Nachtheil des Klägers entschieden worden. Ebensowenig dürfen wir also erwarten, von den sogenannten Nachbildern auf der Netzhaut etwa noch ein wirkliches Bild anzutreffen. Die Nachbilder sind subjective Empfindungen und beruhen auf nicht sichtbaren (nur vermutheten) Nachschwingungen der durch das wirkliche Bild in Thätigkeit gesetzten Netzhautfäserchen. Wenn nun also die Nachbilder diese ihnen zugemuthete praktische, das heißt criminalgerichtliche Bedeutung auch nicht haben, so bieten sie doch viel Interessantes dar, da von ihnen viele allgemein bekannte Erscheinungen abhängen, über deren eigentlichen Grund sich aber mancher meiner freundlichen Leser gewiß nicht klar geworden ist. Darum halte ich es für ganz geeignet, hier einige Mittheilungen über die Nachbilder zu machen.

Wir Alle wohl haben in unserer Kindheit ein für die Lehre von den Nachbildern sehr wichtiges Experiment gemacht, ohne uns mit der Erklärung desselben den Kopf zu zerbrechen. Die im Kreise geschwungene glühende Kohle, die einen feurigen Kreis hinterläßt (statt eines wandernden feurigen Punktes) stellt ein physiologisches Experiment in bester Form dar. Suchen wir uns dasselbe klar zu machen. Wenn ich die glühende Kohle an meinem Auge vorüberführe, so werden nacheinander auf der Netzhaut meines Auges eine Reihe nebeneinander gelegener Punkte beleuchtet. Jeder Beleuchtungspunkt behält nun ein kurz dauerndes Nachbild, das bei ganz langsamer Bewegung der Kohle schon wieder verschwunden ist, wenn ich die Kohle um einen Punkt weitergeführt habe. Wird nun aber die Bewegung der Kohle eine immer schnellere, so wird sie einmal eine Geschwindigkeit erreichen, bei der das Bild des glühenden Körpers auf der Netzhaut so schnell von einem Punkt zum andern rückt, daß noch ein Nachbild auf dem eben verlassenen Punkte vorhanden ist, wenn das Bild schon weitergegangen ist. Bei noch schnellerer Bewegung sind zu gleicher Zeit mehrere Nachbilder da, die nun, da sie nebeneinander liegen, zu einer feurigen Linie verschmelzen müssen.

Statt der Kohle, mit welcher wir nur im Dunkeln experimentiren können, eignet sich am besten die sich drehende Scheibe zu diesem einfachen Versuche. Wenn sich auf einer schwarzen Scheibe ein heller weißer Punkt befindet und die Scheibe wird schnell genug gedreht, so erscheint an Stelle des rotirenden Punktes ein gleichmäßig grauer Kreis, an dem wir von einer Bewegung nichts wahrnehmen können. Grau und nicht weiß erscheint die Farbe des Kreises deshalb, weil die Lichtmasse, welche jede Stelle der Netzhaut empfing, nur von dem einen weißen Punkte herstammt, dessen Licht, sich gewissermaßen mit dem Schwarz mischend, sich über den ganzen Kreis gleichmäßig verbreitet. – Befinden sich in demselben Abstand vom Mittelpunkt zwei weiße Punkte, so wird das Grau um diesen, wieder über den ganzen Kreis vertheilten, Lichteindruck heller und wir erhalten auf einer Scheibe, welche das Weiß in verschiedener Vertheilung zeigt, demgemäß die mannigfachsten Schattirungen und Abstufungen.

Eine sehr interessante Modification des eben beschriebenen Experimentes liefern die Beobachtungen bei unterbrochener Beleuchtung. [756] Wenn wir hinter eine schwarze Scheibe, an deren Peripherie sich kleine Ausschnitte befinden, ein Licht stellen und die Scheibe zunächst in langsame Drehung versetzen, so werden wir das Licht jedesmal nur dann zu Gesicht bekommen, wenn ihm ein Ausschnitt gegenübersteht, während es jedesmal durch die dazwischen liegenden undurchsichtigen Stellen der Scheibe unseren Blicken entzogen wird. Beschleunigen wir nun die Drehung der Scheibe immer mehr, so wird ein Zeitpunkt kommen, in welchem wir das Licht dauernd zu sehen glauben; denn in den Augenblicken, wo uns dasselbe verdeckt ist, wirkt das Nachbild des eben gesehenen Lichtscheines noch fort und vereinigt sich mit der immer wieder zum Vorschein kommenden Flamme zu einem scheinbar ununterbrochenen Lichteindruck.

Doch ich fürchte, meinen freundlichen Leserinnen erscheinen diese Untersuchungen ganz nutz- und zwecklos, und selbst wenn ich Ihnen sage, daß diese Experimente zur Auflösung gewisser schneller Bewegungen in ihre einzelnen Phasen für die Physiker von nicht geringer Wichtigkeit sind, so werden Sie vielleicht doch die praktische Seite vermissen. Aber auch diese läßt sich unseren Versuchen abgewinnen, wenn anders wir ein Spielzeug, das den Kindern und auch noch uns Erwachsenen Freude macht, als etwas Praktisches ansehen. Die eben entwickelten Gesetze von der periodischen Beleuchtung finden nämlich bei der Ihnen gewiß bekannten Stampfer’schen oder sogenannten stroboskopischen (Zauberbilder-) Scheibe und bei dem in neuerer Zeit mehr verbreiteten zootropischen (Thiere und Menschen darstellenden) Rade ihre Anwendung.

Das zootropische Rad besteht aus einem auf senkrechter Axe sich drehenden hohlen Cylinder von Pappe oder Blech, in dessen Mantel sich in gleichmäßigen Abständen voneinander zwölf schmale Oeffnungen befinden. Jeder dieser Oeffnungen gegenüber befindet sich eine von den zwölf auf einen Streifen Papier gezeichneten Figuren. Nehmen wir an, diese Figuren wären alle einander gleich! Setzen wir nun den Cylinder in schnelle Bewegung und sehen durch die Oeffnungen hindurch nach der gegenüberstehenden Figur, so würde uns dieselbe dauernd und unverändert erscheinen, denn jedesmal während des Vorbeieilens der undurchsichtigen Theile des Cylindermantels habe ich ein Nachbild von der Figur, welches dann beim Erscheinen der nächsten Spalte durch das wirklich gesehene ihr gegenüberliegende Bild wieder ausgefüllt wird. Nun stellen aber die Zeichnungen auf den zum Lebensrad gehörenden Streifen eine Figur nicht unverändert, sondern in den auf einanderfolgenden Phasen einer Bewegung dar. So z. B. einen Hampelmann, der unten an der Strippe gezogen wird. Auf dem ersten Bilde hängen Arme und Beine schlaff herunter, auf dem zweiten Bilde fangen sie an sich zu erheben, auf den folgenden Figuren ist diese Erhebung eine zunehmende[WS 2] bis zum achten Bilde, wo sie ihren höchsten Grad erreicht hat, um dann allmählich wieder zu sinken. Wenn ich nun diesen Streifen in den Cylinder, den ich in Bewegung setze, hineinlege und wieder durch die Oeffnung hindurchsehe, so wird gerade so wie das vorige Mal jedes neue Bild auf ein Nachbild des vorigen treffen, beide müssen demnach miteinander verschmelzen. Da nun jedes folgende Bild von den vorhergehenden nur durch eine geringe Bewegungsveränderung verschieden ist, so macht es den Eindruck, als vollziehe sich diese Bewegung an dem einen dauernd gesehenen Bilde. Wir sehen also den Hampelmann in schnellem Wechsel seine Arme und Beine heben und wieder fallen lassen.

Ganz dasselbe zeigt die Stampfer’sche oder stroboskopische Scheibe, bei der die Figuren an der Peripherie einer Scheibe und die Oeffnungen, durch welche man jene Bilder in einem Spiegel sieht, darüber angebracht sind.

An dem zootropischen Rade können wir außerdem jene oben erwähnte Erscheinung, daß uns in Bewegung begriffene Körper bei regelmäßig unterbrochener Beleuchtung doppelt erscheinen, sehr gut nachweisen. Man verdeckt auf dem Bilderstreifen alle Figuren bis auf eine und setzt dann den Cylinder in Bewegung. Beim Hindurchsehen erblickt man nun keineswegs, wie man erwarten sollte, nur eine Figur dauernd sichtbar, sondern man sieht zu gleicher Zeit dieselbe Figur in etwa sechsfacher Zahl nebeneinander. Das rührt aber daher, daß wir beim Hindurchsehen durch die Oeffnungen jedes Mal einen größeren Theil des inneren Cylindermantels überschauen und demnach die sich mitbewegende Figur nacheinander an verschiedenen Stellen, die durch das unterbrochene Sichtbarwerden von einander um Etwas entfernt liegen, zu Gesichte bekommen und Nachbilder davon behalten. –

Wenden wir uns jetzt wieder zu der rotirenden Scheibe, auf der wir vorhin schon Schwarz und Weiß sich zu Grau mischen sahen. Dieselbe kann weiter in zweckmäßigster Weise dazu verwendet werden, um die Gesetze der Farbenmischung zu studiren. Wenn wir nämlich die Kreisfläche der Scheibe mit zwei oder mehreren verschiedenen Farben überziehen, so erhalten wir bei hinreichend schneller Drehung der Scheibe eine über dieselbe ausgebreitete[WS 3] Mischfarbe, indem sich die Eindrücke beider Farben, von denen die zweite immer eine Stelle der Netzhaut trifft, auf welcher noch ein Nachbild der ersten vorhanden ist, hier auf der Netzhaut zu der Empfindung einer einzigen Farbe vereinigen. Wir können auf diese Weise leicht die sogenannten Complementär-Farben, die bei ihrer Vereinigung Weiß geben – nämlich Roth und grünlich Blau, Orange und Cyanblau, Gelb und Indigoblau, grünlich Gelb und Violett – auffinden und uns auch davon überzeugen, daß die sieben Spectral- oder Regenbogenfarben gemischt ebenfalls Weiß geben. – Die complementären Farben, die ich oben nannte, lassen sich aber noch durch eine andere, uns hier ebenfalls interessirende Prüfungsmethode genauer nachweisen, nämlich durch die sogenannten „negativen Nachbilder", über die wir jetzt sprechen wollen.

Der Name der positiven und negativen Bilder ist uns Allen von der Photographie her geläufig. Positive Bilder sind solche, in denen die hellen Partieen des Objects ebenfalls hell, die dunkeln dunkel sind; negative Bilder dagegen solche, in denen die hellen Partieen des Objects dunkel, die dunklen hell erscheinen. Die Nachbilder, die wir besprochen haben, waren positive; die negativen gehen erst aus diesen hervor, wie folgender Versuch lehrt. Wir suchen durch starres Hinblicken auf ein hell erleuchtetes Fenster und sofortiges Schließen der Augen bei Vermeidung jeder hastigen Bewegung ein positives Nachbild von demselben zu gewinnen, an welchem wir also, wie in dem Objecte selbst, die Scheiben hell, das Fensterkreuz dagegen dunkel erblicken. Alsdann kehren wir, mit noch geschlossenen Augen, das Gesicht langsam nach einer gleichmäßig hell erleuchteten Wand und öffnen die Augen; alsbald erscheint uns das negative Nachbild, das heißt, wir sehen nun die Fensterscheiben dunkel, das Kreuz dagegen hell. – Woher rührt dieser Wechsel in der Beleuchtung des Bildes? Die Physiologie giebt uns über diese Erscheinung folgenden Aufschluß.

Das auf die Netzhaut wirkende Licht, das durch seine intensive und plötzliche Einwirkung das positive Nachbild hervorrief, ermüdet nach einer gewissen Zeit die getroffenen Nervenfasern derartig, daß dieselben, wenn ich das Gesicht nun nach einer gleichmäßig erleuchteten Fläche wende, nicht mehr im Stande sind, das von derselben zurückstrahlende Licht aufzunehmen. Neben den vorher gereizten Netzhauttheilen liegen aber solche, die nicht durch Licht ermüdet sind – die dem dunkeln Fensterkreuz entsprechen; diese Partien werden also, wenn sich das Auge dem Hellen zuwendet, noch frisch und ungeschwächt das dargebotene Licht aufnehmen, und es werden daher die Stellen, die vorher dem Fensterkreuz entsprachen, hell, diejenigen aber, die vorher von dem Lichte der hellen Fensterscheiben getroffen und ermüdet waren, dunkler erscheinen. Auf diese Weise entstehen die negativen Nachbilder, die wir – aus nun ersichtlichen Gründen – auch Ermüdungsnachbilder nennen können. Wie werden sich nun aber die negativen Nachbilder von farbigen Objecten verhalten? Um dies zu prüfen, machen wir folgendes leicht ausführbare Experiment. Wir legen eine gelbe Oblate auf einen Bogen grauen Papiers und fixiren scharf einen Punkt derselben, ziehen dann plötzlich die Oblate weg oder verändern die Stellung der Augen; sofort wird uns nun auf dem grauen Grunde ein scharf gezeichnetes negatives Nachbild der Oblate erscheinen und zwar von blauer Farbe. Wenn wir mit einer rothen Oblate dasselbe Experiment wiederholen erhalten wir ein negatives Nachbild von blaugrüner Farbe, bei einer grünen ein rosarothes Nachbild. Daraus können wir aber den Schluß ziehen, daß die negativen Nachbilder farbiger Objecte in den Complementärfarben erscheinen.

Wenn wir versuchen sollen, uns diese eigenthümliche Erscheinung zu erklären, so müssen wir zu einer Hypothese greifen, die, im Jahre 1807 von dem Engländer Thomas Young aufgestellt, [757] im Stande ist, über die ganze Theorie der Farbenwahrnehmung ein wunderbar klares Licht zu verbreiten. – Young nimmt an: Es giebt im Auge drei Arten von Nervenfasern. Reizung der ersten erregt die Empfindung des Roth, Reizung der zweiten die des Grün, Reizung der dritten die des Violett. – Die von außen in’s Auge dringenden Farben erregen nun je nach ihrer verschiedenen Wellenlänge ausschließlich die eine oder andere Fasergruppe, oder zwei derselben zugleich.

Das einfache Roth also wirkt nur auf die noch empfindenden Fasern (oder wenigstens auf die beiden anderen Faserarten nur sehr schwach). Das einfache Gelb erregt die roth und grün empfindenden Fasern und erzeugt daher die Empfindung des Gelb (da Roth und Grün im Spectrum gemischt Gelb ergeben). Das Grün wirkt auf die grün empfindenden Fasern. Das Blau erregt die grün und violett empfindenden und macht ebendaher den Eindruck des Blau. Violett endlich erregt besonders die violett empfindenden Fasern. Erregung aller Fasern von ziemlich gleicher Stärke giebt die Empfindung von Weiß.

Jetzt werden wir verstehen, warum die negativen oder Ermüdungsnachbilder farbiger Objecte in den Complementärfarben erscheinen. Durch das Hinstarren auf die rothe Oblate werden die roth empfindenden Fasern ermüdet und gelähmt, und wenn das Auge nun von gleichmäßig hellgrauem Licht getroffen wird, so vermögen an der ermüdeten Stelle nur die grün und violett empfindenden Fasern dasselbe aufzunehmen und es erzeugt sich daraus die Empfindung des Blaugrün da, wo vorher das rothe Licht eingewirkt hatte; die übrigen nicht ermüdeten Theile der Netzhaut geben uns von dem weißlichgrauen Papier ein unverändertes Bild.

Es haben die negativen Nachbilder farbiger Objecte auch eine praktische Bedeutung, auf welche ich besonders meine freundlichen Leserinnen aufmerksam machen möchte. Beim Auswählen farbiger Stoffe in einem Modewaarengeschäft passirt es nämlich nicht selten, daß durch langes Anschauen bestimmter Farben die Empfindlichkeit gerade für diese gelähmt wird und in Folge dessen diese Farben scheinbar an Lebhaftigkeit verlieren, andere Farbentöne dagegen, zu welchen diese Farben einen Mischbestandtheil bilden, eine ganz andere Nüancirung zu haben scheinen, weil eben die eine Farbe in ihnen schwächer oder gar nicht gesehen wird. Um das Auge wieder völlig empfänglich zu machen, genügt es in der Regel, einen in der Complementärfarbe gefärbten Stoff kurze Zeit zu betrachten.




Beim Goldmacher in Arabien.


Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.[WS 4]


Die edle Kunst der Goldmacherei, der sich in Europa im Mittelalter so viele Gelehrte oder Pseudogelehrte ergaben, die aber in unserm aufgeklärten Jahrhundert bei uns dergestalt in Mißcredit gekommen ist, daß heutzutage wohl schwerlich Jemand eingestehen wird, sich mit ihr zu beschäftigen, erfreut sich bei den Arabern noch immer einer gewissen Blüthe. Adepten, das heißt Männer, welche ein unedles Metall in Gold oder Silber zu verwandeln vorgeben, giebt es noch jetzt in Arabien. Sie sind nicht weniger geschickt im Betrügen ihrer Mitmenschen, als es manche europäische Goldköche im Mittelalter waren. Was ihnen dabei sehr zu statten kommt, ist der Aberglaube der Araber. Der Glaube an die Macht der Geister, Schätze aus Nichts hervorzuzaubern, macht es den Adepten meist ganz entbehrlich, sich mit großen chemischen Kenntnissen zu schmücken. Es ist gar nicht nöthig, den Stein der Weisen in der Retorte zu suchen. Man macht Gold auch ohne irgend ein chemisches Hülfsmittel, lediglich vermittelst einiger Zauberformeln, die man dem „Schlüssel Salomonis“ oder einem sonstigen Zauberbuche entlehnt. Als materielles Substrat genügen dabei einige Papierschnitzel, alte Fetzen von Kleidern und dergleichen werthlose Gegenstände, die man durch Magie in Gold verwandelt.

Einen Adepten, welcher dieser letzteren Art des Goldmachens huldigte, lernte ich eines Tages in Dschedda kennen. Er hieß Jussuf el Hakemi und führte in einem abgelegenen Winkel der Stadt ein mysteriöses Dasein. Fast nie ging er aus, und wenn dies geschah, so war er so verhüllt und vermummt, daß man sein Gesicht kaum erkennen konnte. Dennoch kannte ihn die ganze Stadt und erstarrte in Ehrfurcht vor dem Wundermann. Er war nicht leicht zugänglich, selbst für seine Landsleute; für einen Europäer war er vollends unnahbar. Was mich mit ihm in Berührung brachte, war ein Zufall. Jussuf besaß nämlich ein europäisches Zauberbuch, dem zwar eine arabische Uebersetzung in Handschrift beigefügt war, aber nicht Alles war übersetzt. Einige der wichtigsten Zauberformeln hatte der Uebersetzer nicht verstehen können. Diesem Mangel sollte ich abhelfen. Man näherte sich mir auf Umwegen und erforschte zuerst, ob ich auch Latein verstünde. Als man sich hierüber Gewißheit verschafft hatte, lud man mich eines Abends zu einer Versammlung im Stadttheil des Adepten ein. Um keinen Verdacht zu erregen, mußte ich mich arabisch kleiden. Zwei Männer holten mich ab und führten mich durch stockfinstere Straßen in ein abgelegenes Haus, wo ich eine kleine, aber gewählte Versammlung fand. Sie bestand aus einem halben Dutzend alter Weiber und ebenso vielen Männern von höchst ehrwürdigem Aussehen. Erstere waren, wie ich hörte, eine reiche alte Mekkanerin nebst ihrem weiblichen Gefolge. Sie war die Mäcenatin des Adepten und hatte, wie ich erfuhr, diesem nicht unbedeutende Summen vorgeschossen, um damit Zauberbücher und andere Requisiten zum Werke der Magie anzuschaffen. Man hatte sie lange unter diesem oder jenem Vorwand hingehalten, aber jetzt war ihr die Geduld ausgegangen. Sie bestand darauf, endlich einmal eine Probe der Kunst des Magiers zu sehen, ehe sie sich zu weiteren Vorschüssen herbeiließ. Diese Probe sollte nun heute Abend versucht werden, und deshalb hatte man mich geholt.

Die Männer waren die Freunde und Jünger des Adepten. Er selbst kam erst später. Jussuf war ein echter Araber,[WS 5] mit einer kräftigen semitischen Nase, einem schönen ovalen Gesicht, von langem, aber nicht sehr dichtem weißen Barte beschattet. Er sah im Ganzen ehrwürdig aus. Seine kleinen schwarzen Augen funkelten wie Kohlen und hatten einen sehr verschmitzten Ausdruck. Nach den üblichen Begrüßungen, die immer bei Arabern entsetzlich weitschweifig sind, und einem ebenso langen Einleitungsgespräch, kam er zur Sache. Er nahm mich auf die Seite und zeigte mir beim Scheine eines einzigen Oellämpchens den fraglichen Gegenstand, das heißt das Zauberbuch. Es war ein lateinisches Manuscript, auf dessen breitem Rande eine arabische Uebersetzung in ziemlich schlechter Schrift beigefügt war. Der Titel war (deutsch wiedergegeben) „Geheimniß des Schlüssels des hochweisen Salomon, Sohnes des David, Unterweisung in der Kunst ‚Rabidenadaar‘. Im Namen von Adonai, Tetragrammaton, Abiruch und Exbranor“.

Als ich das Buch durchblätterte und hier und da eine Stelle las, war ich überrascht, ja verblüfft über den Unsinn, den es enthielt. Den Anfang machte die Lehre von den Geistern. Diese besitzen eine vollständige Hierarchie. Es giebt unter ihnen Könige, Fürsten und Häuptlinge. Baalennur, unser Lucifer, beherrscht die niedrigen Geister, welche Asien und Europa bewohnen. Beelzebub beherrscht die Geister Afrikas, Elestor die der übrigen Welt. Diese Drei sind die Agenten aller energischen Handlungen. Die Menschen stehen jedoch nicht direct mit ihnen in Verbindung, sondern mit ihren Untergeistern, Klaunsch, dem Geist der Schätze und des Goldes, Irimoloch, dem Liebesteufel, Beschard, dem Wind- und Wetterbeherrscher, Raschin, dem Herrschaftsteufel etc. Da wir es hier natürlich nur mit dem Geldteufel zu thun hatten, so wurde das diesem gewidmete Capitel aufgeschlagen.

Hier befand sich ein vollständiges Recept, wie man aus Papierschnitzeln Geld machen könne. Ich will es dem Leser nicht vorenthalten. Wer weiß, ob nicht Jemand sich versucht fühlt, die Probe zu machen? Es heißt: „Willst du eine gewisse Anzahl von Geldstücken haben, seien es kupferne, silberne oder goldene, so schneide doppelt so viele kreisförmige Pergamentstücke und klebe immer zwei aneinander, eines für den Avers, eines für den Revers der Münze. Bezeichne jede Seite mit der Ziffer des Münzwerthes, welchen du zu erlangen wünschest. Mache sodann [758] den Beschwörungskreis und zeichne ebenso viele Figuren des dem Geiste Klaunsch gewidmeten Symbols, als du Münzen willst. Bringe darauf alle diese Münzen in ein Rohr und singe dann die Beschwörungsformel.“

Bei diesem Passus stockte die arabische Uebersetzung. Die Beschwörungsformel stand nur im lateinischen Manuscript. Sie war jedoch nicht lateinisch, obgleich mit lateinischen Buchstaben geschrieben, sondern ein heilloses Wischiwaschi, das wahrscheinlich ursprünglich ein verdorbenes Hebräisch sein sollte. Von einer Uebersetzung konnte deshalb meinerseits natürlich nicht die Rede sein. Es blieb mir nichts übrig, als die starre Formel mit arabischen Buchstaben zu schreiben und sie dem Magier vorzusprechen, bis er sie richtig wiederholen konnte. Solche Formeln brauchen ja nicht von den Menschen verstanden zu werden; wenn sie nur die Geister hören, das genügt. Jussuf war ganz meiner Ansicht. Er meinte, das sei eben die Geistersprache und Klaunsch werde ihn wohl verstehen.

Nun kam aber das Schwierigste, die Instruction fuhr fort: „Wenn du die Beschwörungsformel mehrere Male abgesungen hast, so lege dich auf ein Ruhebett, bleibe dort eine Stunde liegen, ohne jedoch im Geringsten an die Münzen zu denken. Gelingt dir dies, so findest du beim Aufstehen ebensoviel Münzen, als du Pergamentkreise geschnitten hast.“ Die Bedingung, nicht an die Münzen zu denken, schien mir sehr schlau erfunden. Sie konnte im Fall des Mißlingens natürlich dem Magier die beste Entschuldigung liefern. So, dachte ich, würde zum Beispiel die alte Frau, welche auf Verwandlung ihrer Papierschnitzel in Geld erpicht war, es schwerlich über sich bringen können, eine Stunde lang alle Gedanken davon zu unterdrücken, und wenn sie es selbst vermochte, wer konnte den Magier Lügen strafen, wenn er die Ausrede gebraucht, sie müsse denn doch an das Geld gedacht haben? Ich machte mich also bereits darauf gefaßt, einem Schwindel beizuwohnen, aus dem der Magier vermittelst dieser Hinterthür unbescholten hervorgehen würde. Diesmal war solches jedoch nicht der Fall.

Die Probe fand also statt. Die Papierschnitzel waren bereits geschnitten und Alles vorbereitet bis zum Absingen der Beschwörungsformel. Beim Ziehen des Zauberkreises entwickelte der Adept den ganzen Apparat gravitätischer Pantomimen, die das Herz des Beschauers mit abergläubischem Schreck füllen. Er sah dabei so übermenschlich erhaben aus, daß man nicht umhin konnte, die gelungene Darstellung zu bewundern. Weniger gut ging das Recitiren der Zauberformel. Dieser Hocuspocus war doch dem Araber zu fremdartig. Nahmen sich die Worte auf dem Papier schon wie ein heilloser Galimathias aus, so bekamen sie durch die Aussprache vollends etwas Tollhäuslerisches. Endlich war auch dies vollendet, und nun wurde der alten Mekkanerin bedeutet, sie müsse sich im Nebenzimmer eine Stunde lang auf’s Bett legen und dabei sich wohl hüten, an die Münzen zu denken. Die Alte hörte diese Vorschrift mit jenem Stoicismus an, dessen blindgläubige Adeptenjünger fähig sind. Sie glaubte steif und fest an die Macht des Wundermannes. Ob es ihr gelang, wirklich alle Gedanken an den innigsten Wunsch ihres Herzens zu verscheuchen, war natürlich nicht zu sagen. Aber sie behauptete es wenigstens, als sie nach einer Stunde aus ihrem Versteck wieder auftauchte. Unser erster Schritt war natürlich zu den Papierschnitzeln. Welche Ueberraschung! Als das Tuch aufgehoben wurde, welches vorher die Pergamentskreischen bedeckt hatte, sahen wir zu unserem Erstaunen statt derselben wirkliche Münzen. Sie waren freilich nur von Kupfer und ich erfuhr, daß Jussuf der Alten, schon ehe ich gekommen war, gesagt habe, sie müsse zuerst mit diesem unedeln Metall anfangen und dann zum Silber und später erst zum Golde vorschreiten, d. h. beides immer nach gehörigen Intervallen von einem oder zwei Monaten, denn die Geister liebten es, die Geduld der Menschen zu prüfen. Davon stand freilich nichts im Zauberbuche. Aber es war so sehr im Interesse des Adepten und er hatte es seinen Bewunderern so plausibel gemacht, daß beide Theile vollkommen befriedigt schienen. Die Alte würde freilich ganz dasselbe Resultat erlangt haben, hätte sie einen oder zwei von den vielen Thalern, die sie dem Adepten gespendet, an einer Wechselbank in klein Geld umgesetzt. Aber ihr blieb die Hoffnung, bald einmal an Stelle der Pergamentkreischen Goldstücke zu sehen, und so war diesmal der Erfolg des Adepten vollkommen.

Ich sah diesen Adepten nicht wieder, weiß also nicht, wie er sich das zweite und dritte Mal aus der Patsche zog. Daß er aber sein Geschäft sehr fruchtbringend zu machen wußte, geht daraus hervor, daß, wie mir ein Araber aus Dschedda sagte, den ich zufällig später in Aegypten traf, er nun als reicher Mann dastehen soll. Wahrscheinlich hatte die Alte und andere auf ähnliche Art Angeführte den Säckel des Wundermannes gefüllt.

Indessen sind nicht alle Jünger der edlen Goldmacherkunst so glücklich, wie Jussuf, daß sie dadurch reich werden. Auch sind sie nicht alle der Magie in so ausschließlichem Grade ergeben, wie er, sondern die meisten befassen sich mit Alchymie und rufen nur hier und da die Vermittelung des Geistes zum Gelingen des großen Werkes an. Darin gleichen ihm übrigens fast Alle, daß sie ihre Opfer auf die unverschämteste Weise betrügen. So groß ist die Glaubensbedürftigkeit der Araber, daß sie sich nicht an die augenfälligsten Widersprüche im Leben ihrer Lieblingsadepten stoßen. Diese Leute sind nämlich meist bettelarm und leben von Almosen, wenn sie nicht ganz so unverschämt im Schwindeln sind, wie Jussuf. Wenn man sie aber hört, so sind sie vor allen Sterblichen mit Glücksgütern gesegnet. Sie haben schon ganze Säcke voll Gold gezaubert und Städte, Stämme, Fürsten mit Reichthum überhäuft. Einige von ihnen besitzen auch das Lebenselixir, welches aus trinkbarem Golde bestehen soll. Sie selbst jedoch scheinen davon keinen Gebrauch zu machen, denn es sind meist höchst verwitterte Greise, bei denen eine Verjüngung gewiß nicht übel angebracht wäre. Eine ihrer Eigenthümlichkeiten ist auch die, daß sie es nie lange an einem und demselben Orte aushalten können, ganz wie die europäischen Adepten des Mittelalters, die auch von Fürst zu Fürst, von Stadt zu Stadt wanderten, überall sich Geld zum „großen Werk“ geben ließen und dann gewöhnlich im letzten Augenblick, wo man eben das Gelingen erwartete, unsichtbar wurden, um bald an einem andern Orte, aber einem recht entfernten, wieder aufzutauchen.

Einen solchen alchymistischen Landstreicher lernte ich eines Tages in Aden kennen. Er hieß Mohammed el Higazi, wurde aber gewöhnlich nur der „Golddoctor“ genannt. Dieser war sehr leicht zugänglich. Als ich ihn aus Neugierde besuchte, nahm er mich sehr freundlich auf, denn er vermuthete natürlich in mir einen Kunden, und zwar den Erstling unter den Europäern. Bisher hatten sich nämlich, wie er mir klagte, die Engländer in Aden leider stets fern von ihm gehalten.

„Es fehlt ihnen an Glauben,“ meinte er, „und der Glaube ist doch das kostbarste der Güter.“

Solche Leute scheinen immer den Glauben an ihre Kunst für ebenso heilig und ebenso nothwendig zu halten, wie den an die Religion. Ja, bei den Meisten sind Beide gar nicht zu trennen. Der Golddoctor fing damit an, mir seine Retorten zu zeigen. Er besaß deren eine höchst anständige Zahl, einige von den wunderlichsten Formen. Das Wichtigste war jedoch eine kleine Dose, auf die er geheimnißvoll mit dem Bedeuten zeigte, daß sie das „Goldpulver“ in sich berge. Mit diesem Goldpulver brauchte man nur ein unedles Metall zu bestreuen, es dann in der Retorte flüssig zu machen und man hatte es in Gold verwandelt. Ich war natürlich neugierig, eine Probe zu sehen. Dazu wollte sich jedoch der „Golddoctor“ nicht eher verstehen, als bis ich ihm einige Vorschüsse gemacht hatte. Uebrigens waren diese nicht bedeutend, denn der Goldkoch war sehr arm und ein kleines Sümmchen genügte, um ihn glücklich zu machen.

Diese ewige Armuth bei Leuten, die „Gold machen“ können, sollte doch endlich einmal das Mißtrauen ihrer Kunden erregen. Ich war begierig, zu erfahren, welche Entschuldigung unser Goldmann denn dafür anführen könne. Er wußte aber eine ganz plausible: Einmal sei es ihm nur gestattet, Gold zu machen, wenn er vorher die Geister versöhnt habe, und dies könne nur mit Geschenken geschehen. Dazu die Vorschüsse. Dann dürfe er seiner eigenen Sicherheit wegen nicht im Besitz von Reichthümern bleiben; die Araber seien so geldgierig, daß sie ihn, wenn sie ihn im Besitz großer Summen wüßten, gewiß todtschlagen würden. So bleibe ihm nichts übrig, als Gold für Andere zu machen und von dem Macherlohn zu leben. Andere Adepten brauchen die Ausrede: Es sei ihnen nur gestattet, so viel Gold zu machen, als zu ihrem Lebensbedarf nothwendig. So lebt der Adept in steten Tantalusqualen. Er sieht die goldenen Schätze stets vor sich, aber in seine Hände kommen sie niemals.

[759] Als die durch Astrologie ermittelte günstige Stunde für die Probe gekommen war, wurde das „große Werk“ unter Anrufung der Geister begonnen. Der Adept hatte auch vom „Schlüssel Salomonis“ gehört, besaß sogar ein Heft, worin die Namen der Geister und die Zauberformeln standen. Diese Namen und Formeln waren ganz andere, als die oben genannten. Sie schienen mir, so viel ich davon hörte (denn der Adept ließ mich das Buch nicht lesen), rein arabische Erfindungen. Vorher mußte ich jedoch einen fürchterlichen Eid schwören, daß ich ja nichts von diesen Namen und Formeln enthüllen werde. Die Retorte war schon in Bereitschaft, das Feuer ebenfalls. In erstere wurde nun ein Gegenstand geworfen, der mir wie ein Bleikügelchen vorkam. Ich fragte Mohammed, warum er denn eine so winzige Quantität Metall genommen habe, da es den Geistern doch wohl schwerlich darauf ankomme, wie groß die in Gold zu verwandelnde Masse sei. Jedoch einstweilen wurde ich bedeutet, zu schweigen, um das Werk der Geister nicht zu stören. Später sagte mir der Golddoctor, der Anfang müsse stets klein gemacht werden. Ich sei ja noch ein Neuling und könne von den Geistern noch keine größeren Gunstbezeigungen erwarten. Das Resultat war denn auch ein entsprechend winziges. Nach einer halben Stunde schüttelte nämlich der Adept, anscheinend aus der Retorte, wie ich aber vermuthete, einfach aus seinem Aermel ein sehr kleines arabisches Goldstückchen von der Größe eines süddeutschen Silberkreuzers, das etwa zwanzig Groschen werth sein mochte, heraus. Das war das brillante Resultat des „großen Werkes“, zu dem ich mehrere Thaler vorgeschossen hatte! Was mir am merkwürdigsten dabei vorkam, war, daß die kleine Münze ganz geprägt und zwar mit einem bekannten Gepräge, auch bereits erkaltet zum Vorschein kam. Jedoch meine darauf bezügliche Bemerkung wurde mit dem Hinweis auf die Macht der Geister abgelehnt. Diese können ja Wunder thun, also auch ein geprägtes Goldstück aus der Retorte hervorzaubern.

Mein Zweck, der lediglich der gewesen war, mich durch das wunderliche Gebahren des Adepten unterhalten zu lassen, war also erreicht. Von mir bekam Mohammed nichts mehr. Zum Unglück hatte diese Probe aber mehrere Einheimische zu Zeugen gehabt, und diese waren nun steif und fest von der Kunst des Adepten überzeugt. Einer derselben war so thöricht, ihm bedeutende Vorschüsse zu machen, wofür er natürlich das Versprechen einer recht großen Goldmasse erhielt. Da diese jedoch nicht zum Vorschein kam, so war das Endresultat ein schlimmes sowohl für ihn, wie für den Adepten. Er verlor sein Geld und Letzterer mußte sich plötzlich wieder unsichtbar machen, um sein Handwerk in einen noch jungfräulichen Boden zu verpflanzen, denn die Araber von Aden hatten geschworen, ihn todtzuschlagen.

Daß es übrigens unter den Adepten Arabiens auch ehrliche Narren giebt, die weder zum Aberglauben ihre Zuflucht nehmen, noch auch ihren Nimbus durch die Behauptung, bereits den Stein der Weisen zu besitzen, zu vermehren suchen, sondern ganz offen eingestehen, dem großen Geheimniß nur auf natürlichem Wege nachzuforschen, davon liefert uns ein Begegniß, welches der berühmte Reisende Wrede in Hadhramaut hatte, einen Beweis. Der Alchymist, den Wrede in der Stadt Amd fand, war so ehrlich, zu gestehen, daß er es noch nicht dahin habe bringen können, Gold zu erzeugen, glaubte aber an das Gelingen, wenn er erst ein Kraut gefunden habe, welches er Haschisch ed dahab (Goldkraut) nannte. Die Mitwirkung der Geister leugnete er gänzlich.




Thier-Charaktere.


11. Der treue Hüter der Herden.


Wenn irgend eine Hunderace ein Verdienst um die Menschheit sich erworben, also ein Anrecht hat auf das Gefühl der Anerkennung und Liebe, so ist es der treue, nimmer müde, kluge und wachsame Schäferhund, der Hund, von welchem Buffon nicht mit Unrecht das beredte Wort gebrochen, „daß er der wahre unverfälschte Hund sei, welchen die Natur zum größten Nutzen des Menschen hervorgebracht, welcher auch die meiste Aehnlichkeit mit der allgemeinen Ordnung der belebten Wesen hat, wovon immer eines des andern Beistandes bedarf, kurz derjenige Hund sei, welcher als der Stamm und als das Muster des ganzen Geschlechts betrachtet werden muß“.

Und in der That! er ist mit dem Pommer der naturwüchsigste unter den Hunden. Jede Hunderace verliert bei aller Beharrlichkeit ihrer Natur mehr oder weniger in den verschiedenen Himmelsstrichen von ihrer körperlichen und geistigen Charakteristik; – der treue Leiter und Beschützer der Herden ist sich allüberall in den hervortretendsten Zügen seines Körpers und Geistes gleich geblieben. Und so sieht man ihn heute noch hier in den Ebenen Deutschlands, wie dort in den Hochlanden Schottlands, in den Alpen, auf den Weiden Frankreichs und den Hochebenen Spaniens als das unwandelbare, stets wache und rege zottige Wesen, ohne welches Schäfer und Schafe nicht bestehen können. So viel auch Laune und Unkenntniß durch unpassende Kreuzung am Aeußeren und Inneren unseres Thieres verändert und verschlechtert haben mögen, immer und immer wieder kehrt seine zähe, kräftige Natur zu ihrer urwüchsigen, sprechenden Wesenheit zurück. Diese kennzeichnet sich nun wie folgt.

Es ist die dem Wolf ähnliche Gestalt, welche uns bei dem Hunde zuerst in’s Auge fällt; nur besitzt er ein stärkeres Hintertheil als jener, dem er übrigens an Größe nachsteht, da er selten über ein halbes Meter hoch wird. Der längliche Kopf endigt in spitzer Schnauze und einer runden, auffallend starken warzigen Nase, dem Sitz des schärfsten, untrüglichsten Spürsinnes. Der in der Nierengegend gekrümmte, etwas abschüssige Rücken läßt das ähnlich wie beim Pommer mit starker, struppiger Halskrause versehene Vordertheil hoch und stark erscheinen. Die mehr mageren als fleischigen geraden Läufe mit geschlossenen Zehen und Wolfsklauen tragen den muskulösen, nie zu Fett geneigten Körper, der sich mit einer im gewöhnlichen Zustande etwas eingezogen, in der Thätigkeit aber flachbogig nach oben oder fast gerade getragenen buschigen Ruthe unter paßartigem Gange bewegt. Aber dies eben beschriebene Skelet eines in freier Natur ererbten ausdauernden Körpers ist unter der wenig ansprechenden Decoration einer dichten, gewöhnlich zottigen, zuweilen auch krausen Behaarung verborgen, die oft von der Nase über das Gesicht, das mittelgroße, an der Wurzel stehende und nur mit hängender Spitze versehene Gehör bis herab auf die Zehen reicht, also daß ihn ein an die zarten Formen der Culturhunde gewöhntes Auge für häßlich hält. Aber schaue dem vermeinten Popanz nur aufmerksam unter den überhängenden buschigen Brauen in die Augen; siehe, wie sie beim Rufe seines Herrn leuchten, bemerke, welche Behendigkeit, Aufmerksamkeit, Klugheit, Hingebung und Ausdauer das Thier in der Entfaltung seiner Berufsthätigkeit entwickelt: und Du wirst inne, welch ein Wesen unter dieser rauhen Vermummung der Natur sich bekundet. Wahrlich, die Worte Cuvier’s über den Hund im Allgemeinen gelten insbesondere dem Schäferhunde in erster Reihe: „Er ist die merkwürdigste, vollendetste und nützlichste Eroberung, die der Mensch jemals gemacht hat.“ Wenn dem aufmerksamen Beobachter der Pommer als das Muster der Pflichttreue und Anhänglichkeit an Haus und Herrn erscheint, so muß dasselbe gelten für den Schäferhund in Bezug auf die Herde und Alles, was dieselbe angeht oder mit ihr zusammenhängt.

Da liegt das unscheinbare Thier, selten auf etwas Stroh, meist auf die bloße Erde des Feldes gebettet, zusammengerollt, anscheinend schläfrig und theilnahmlos an Allem, bei der Hürde unter der Schäferhütte. Er hat ja den ganzen Tag über die Herde beim Behüten der Haiden und Felder mit ungetheilter Aufmerksamkeit und Hingebung bewacht, in Zucht und Ordnung gehalten; – da mag er, so denken wir, nach solchen Strapazen denn auch der Ruhe pflegen. Aber der Schäferhund stellt, wie der Pommer, die Wachsamkeit gleichsam über sich selber. Den leisesten Tritt eines den Feldweg Wandernden vernimmt sein feines Gehör, der geringste Luftzug bringt der scharfen Nase die Witterung des der Herde sich Nahenden, und ebenso entschieden als sicher ist die Fremdes ankündigende Stimme. Zu dieser Wachsamkeit gesellt sich auf der Grundlage einer rauhen, derben Natur ein ernster Muth, der das Thier aber nie auf die Abwege des Krakehlens führt. Auch die Tugend der Genügsamkeit besitzt [760] unser Hund in gleichem Grade wie der Pommer, und die Unempfindlichkeit gegen Nässe, Kälte und Hitze theilt er mit seinem an Unwetter aller Art gewöhnten Herrn. Sind doch Beide echte Naturkinder, deren Thätigkeit sich unter dem freien Walten des wechselnden Himmels immer unverdrossen entfalten soll. Doch wie manchmal hat unser Thier an seinem Gebieter das Bild eines Lungerers, den Goethe in den Worten zeichnet:

„Es war einmal ein Schäfer,
Ein rechter Siebenschläfer,
Ihn kümmerte kein Schaf.“

Da ist’s gar oft der gewissenhafte Schäferhund, der für den schläfrigen, pflichtvergessenen Herrn wachen muß, da ist es jener allein, dessen Klugheit, Scharfsinn und unverdrossene Thätigkeit die Herde hier bei etwaigem Ausbrechen aus dem lüderlich bereiteten nächtlichen Pferche, dort beim Weiden vor Uebergriffen in das verbotene Wachsthum der Felder überwachen und in Ordnung halten muß.

Wenn aber in solchen Fällen bisweilen die unverdorbene Natur des treuen Herdehüters die herabgekommene menschliche beschämt, so erkennt man auch oft umgekehrt an dem schlechten Hunde den noch schlechteren Schäfer; denn der Hund ist wie zum Guten so auch leicht zum Bösen zu leiten. Hier nehmen wir Gelegenheit, an die Worte des Mr. Trimmer zu erinnern, die er in seinem Buche über die Merinoschafe Spaniens im Hinblick auf die verkehrte Abrichtung der Hunde so mancher Schäfer spricht: „Wenn ein Schaf nach der Ansicht eines leidenschaftlichen Schäfers einen Fehler gemacht oder ihn zufälligerweise geärgert hat, so wird es durch den Hund zurechtgewiesen; er giebt ein Zeichen, der Hund gehorcht, das arme Schaf springt auf dem Felde herum, um den Zähnen dessen zu entfliehen, der sein Beschützer sein sollte, bis es vor Schreck und Erschöpfung halb umkommt, während die ängstliche Herde aus Furcht vor gleichem Schicksale sich zusammendrängt und der grobe Hund seines Sieges über ein schutzloses schwaches Thier sich freut.“

Wenn ihr Landleute daher auf den Feldern und Wüstungen bemerkt, daß eure Thiere durch die Annäherung des Hundes beunruhigt werden, also daß sie sich auf Haufen aneinander drängen und drücken, kurz den Hund als einen argen Feind fürchten und fliehen: dann habt ihr hierin den Grund zu suchen, warum viele eurer Mutterschafe fehlgebären, warum die Thiere der Herde nur in Hast weiden und das Abgeweidete nicht regelmäßig ruhig verdauen, also nicht gedeihen können; ihr habt das Recht, den Schäfer zu verdammen, und ihr übt, falls ihr ihn seines Amtes nicht entbindet, keine Ungerechtigkeit gegen denselben, wenn ihr für jede Spur eines Bisses an euren nützlichen Thieren nicht dem Hunde, sondern dem Schäfer eine Strafe ansetzt!

Sprechende Seelenzüge schildert der berühmte Ettrick-Schäfer James Hoog von seinem Hunde Sirrah und überhaupt dem „Colley“, dem Schäferhunde der schottischen Hochlande, der ganz die oben hervorgehobenen äußeren Merkmale der echten Race trägt mit der einzigen Abweichung, daß Vorderkopf und Gesicht bei ihm glatt erscheinen. Die glänzendste That der Ueberlegung und zugleich die rührendste Aeußerung von Gemüth entwickelte nach Hoog ein Colley, als er das fünfjährige Kind seines Herrn, welches derselbe auf der Hochweide bei einem dichten Nebel am Fuße eines Berges verloren hatte, in einer Höhle an dem Berghange auswitterte, in welche das verirrte Kind gefallen oder gekrochen war. Vier Tage brachte der merkwürdige Hund dem Kinde von seinem eigenen Futter ein Stück Haferbrod, das er sich täglich zur Fütterungsstunde in der Hütte des Schäfers holte und schnell damit zu seinem Pflegling eilte, den er außer dem täglichen Gange nach der Hütte nicht verließ. Der Schäfer, endlich darauf aufmerksam werdend, folgte dem Thiere, als es eben wieder mit einem Stück Haferbrod sich entfernte. Es führte ihn an den Berg bis zur Höhle, worin der überraschte Vater sein schon aufgegebenes Kind wohlerhalten fand, das Brod verzehrend, das ihm der vor ihm stehende Hund oben dargebracht. – Welche Aufopferungsfähigkeit und freundlich-treue Hingebung trat uns hier in dem Wesen mit dem rauhen, unscheinbaren Aeußern entgegen! Auch in dem Hundegeschlechte ein Beweis mehr, daß das Gute und Treffliche zumeist aus Dürftigkeit und Armuth erwächst. –

Musterhafte Polizei bei den Schafherden der Alpen übt nach von Tschudi auch der schweizerische Schäferhund. Je ein Hund bewacht daselbst einen größeren Trupp, hält ihn auch ohne den Hirten in Ordnung, sorgsam im Auge und verläßt ihn nie. In das Weiderevier tretende Fremde beobachtet der Hund genau und schließt sich schweigend dem Fremdlinge an; nähert sich derselbe nun aber den Schafen, so packt er ihn und hält ihn bis zur Ankunft des Hirten fest. Die bei ihrer großen Thätigkeit und spärlichen Kost sehr mageren und nicht starken Hunde sind nichtsdestoweniger muthig und greifen gemeinschaftlich oft den Wolf und Bär an.

Vermöge seiner scharfen Nase und seines Muthes kann der Schäferhund zur Suche und zum Fange auf den Dachs mit Vortheil abgerichtet werden. Er sucht auf der Spur sehr zuverlässig oder, wie der Waidmann sich ausdrückt, er „führt die Spur regelmäßig fort“ und findet so, Nachts vom Bau aus auf dem „Pfädchen“ des Dachses von der Leine gelöst, Meister Grimmbart in den meisten Fällen ohne besondere Mühe, holt den Flüchtigen besser als der langsame Pommer ein und vermag den Aufgefundenen oder „Gestellten“ vermöge seiner größeren Stärke auch besser festzuhalten oder zu „decken“. Die Wetterauer Schäfer wissen das sehr gut und gebrauchen die Hunde, welche Hasen und anderes Haarwild nicht jagen, nur zu oft und zwar mit Erfolg zur Nachthatze auf den nützlichen Dachs. Ich kannte einen Schäferhund, der auf dieser Jagd untrüglich war, den gestellten Dachs so lange verbellte, bis man mit der Dachsgabel herzukam, um sogleich mit Sicherheit den Gestellten zu decken. Ebenso bewährt war er auf Iltis und Marder, fing namentlich den letzteren beim Niedersprunge vom Baume auf den Boden mit ungemeiner Gewandtheit, öfter sogar das springende Thier in der Luft. Für diese Jagdarten hat er in dem langsameren und schwächeren Pommer entschiedenen Vorzug, von welch letzterem er nur in der einen Leidenschaft des unbedingt sichern Lautgebens unter der Stelle, wo ein Raubthier „gebaumt“ (in die Höhe geklettert) ist, nicht selten übertroffen wird.

Vollenden wir nun das Bild unseres Braven mit der Schilderung der echten Schäferhundracen der Wetterau.

Unter den vielen durch schlechte und zufällige Kreuzung entstandenen Schäferhunden dieses gesegneten Landstriches haben sich bis jetzt noch zwei Varietäten rein erhalten. Es ist das die eisgraue langhärige und die schwarze krause. Beide haben die oben angedeutete Größe und bei beiden in hohem Grade vertreten sind die obigen Merkmale des echten Schäferhundes. Doch ist die eisgraue Race die constanteste, denn sie leuchtet am meisten bei den Hunden dieser Gegend hindurch und scheint sonach die Ur- und Stammrace dieser Thiere zu sein.

Die schwarze Varietät erscheint gewöhnlich in mittellangen krausen oder gelockten, gleichmäßig über den Körper verbreiteten Haaren. Meist bemerklich machen sich bei dieser Farbe rostgelbe Zeichnung an Wangen, Läufen und in der Aftergegend, sowie gleichfarbige Punkte über den Augen. Gesicht und Vorderkopf erscheinen in der Regel glatt. Vielfach entwickelt diese Varietät gute, brauchbare Hunde; sie liefert aber auch bisweilen jene unruhig hin- und herlaufenden, zum Uebermaß bellenden Thiere, die sich, die Herde und den Schäfer unnütz ermüden, auch, der stetigen Aufmerksamkeit und der Lust an dem Dienst entbehrend, manchmal in den Fehler verfallen, gelegentlich einen Hasen zu jagen.

Der Vorzug vor dieser Varietät gebührt der eisgrauen. Der Hund dieser Race ist kräftig und gedrungen gebaut. Das sehr lange, selten krause oder gelockte Haar bedeckt den Hund von oben bis unten, den Kopf bis zur nackten großen Nase nicht ausgenommen, so daß man glauben sollte, das Thier könne wegen der über das Gesicht hängenden Haare nur unvollkommen sehen, was aber durchaus nicht der Fall ist. Das mittelgroße, ebenfalls stark behaarte Gehör steht, wie bei dem schwarzen Schäferhunde, halb aufrecht, während die obere Hälfte hängt; die dichtverwachsene Ruthe wird gewöhnlich im Halbkreis ziemlich hoch, bei anstrengender Thätigkeit fast gerade wie beim Fuchse getragen. Unter dieser Race giebt es selten fehlerhafte Exemplare, das heißt solche, welche zu ihrem Berufe unbrauchbar sind. Der Eisgraue beweist sich immer verständig, aufmerksam und im Hüteramte von Morgens bis Abends unverdrossen thätig. Dabei ist er ernsten, ruhigen Wesens, karg im Anschlagen (Lautgeben) und Bellen, und ein Feind aller Calfakterei, treuen Charakters und voll Anhänglichkeit an seinen Herrn, in dieser hervortretenden Eigenschaft [761] so manches Menschenkind beschämend, das in seiner Ueberschätzung das unansehnliche Thier kaum eines Blickes würdigt. Auf ihn passen vollkommen die Züge eines musterhaften Schäferhundes, welche Hoog entwirft, wenn er bestätigt, daß ein Schäfer mit einem guten Hunde mehr ausrichte, als zwanzig Schäfer ohne Hund, und daß ohne dies gelehrige Thier das Schafhüten eine Unmöglichkeit wäre; daß mehr Menschenkräfte vonnöthen seien, um eine Herde zusammenzuhalten, zu leiten, sie von den Anhöhen herabzutreiben, sie in die Ställe und Pferche zu bringen und auf Märkte zu führen, als von dem die Herde abwerfenden Ertrage bezahlt werden könnte.

Schäferhund der Wetterau.
Originalzeichnung von F. Specht.


Auch ich, der ich ihn in seinem rauhen grauen Kleide so oft auf den Feldern meiner Heimath beobachtet habe, ich kann ihm wie Hoog ein begeistertes Lob bringen, ihm ein Denkmal setzen der Anerkennung und Bewunderung. Wohl darf der Schäfer ebenso stolz auf ihn sein, als er Antheil an ihm nehmen muß, denn mit seiner großen Genügsamkeit bei unermüdlichem Eifer im Dienste ist er es, der die Familie des Schäfers ernährt, welcher ohne den braven, dienstbeflissenen Helfer sein Amt niederlegen müßte. Er hegt die rührendste Treue und Anhänglichkeit an seinen Herrn fort und fort, und selbst bei schlechter Behandlung vergilt er nicht Gleiches mit Gleichem, sondern waltet seines beschwerlichen Amtes ohne Murren und Mißbehagen. Wie erwacht in mir immer auf’s Neue die Erinnerung so mancher glänzenden That der Wachsamkeit, Ueberlegung und Charakterstärke, wenn ich des besten Vertreters dieser Race, den ich je gekannt, des alten Franz, gedenke, wie er beim Eintreiben der Herde in die Stoppelfelder ohne das mindeste Geheiß sich vor die dort hin und wieder noch stehen gebliebenen Fruchthaufen hinstellte, ernst und würdig im Bewußtsein seines Amtes wie eine Schildwache, sodann die ganze Herde vorüberwandeln ließ, um gegenüber seinem Herrn den Wachtdienst von Haufen zu Haufen gleich gewissenhaft und doch stets mit Gemessenheit und Ruhe zu verrichten, wie es von Menschen nicht besser hätte ausgeführt werden können. Mit derselben umsichtigen Ruhe beschützte er lautlos die Gemüseäcker, an welchen seine Herde vorüberzog.

Man sah den Schafen an, daß sie wohl inne waren, welcher Meister des Hütens ihre Flanken bewachte. Da war kein starrköpfiges Schaf, das aus der Reihe sprang, selten ein Leckermaul, [762] das über die Grenze hinwegnaschte, die Franz mit dem tactvollen Paßschritt und der ernsten Amtsmiene auf- und abwandelte; aber da war auch kein Thier der Herde, alt wie jung, das vor dem lockigen Gesellen zurückschreckte oder gar in angstvolle Flucht gerieth. Ruhig und stetig, wie an einer Schnur geleitet, zog die Herde durch die Flur dahin, und wenn sie an einem Hag oder an einer Hute stille hielt und lagerte, dann umstanden Gruppen von Schafen den Hund wie ein zu ihnen gehöriges Glied der Herde. Wie Franz lautlos, war sein Herr wortkarg, und selten wurde einmal des Letzteren Ruf für Hund oder Herde vernehmbar. Alles ging seinen geregelten Gang vom Austriebe aus dem Pferche bis zum Wiedereintrieb in denselben. Und wenn der Brave von Morgens früh bis Abends spät unermüdlich den angestrengtesten Dienst, hier in der größten Sonnenhitze, dort bei Regen und Sturm, verrichtet, wenn er so ermüdet in der Nacht unter der Hütte seines Herrn endlich zusammengeringelt lag: wie war es erstaunenswerth, daß auch nun die Thätigkeit des Thieres noch kein Ziel in der vollen Hingebung an einen erquickenden Schlaf kannte; denn Franz war als Repräsentant seiner Race dann stets der zuverlässigste Wachhund, in welcher Eigenschaft er nur in seinem Vetter Pommer einen Ebenbürtigen fand. Abweichend aber von diesem besaß Franz mit vielen seiner Race die Eigenschaft, daß er auf Geheiß seines Herrn auch einmal bei einem fremden Schäfer, wozu von dem Hunde selbst der alte Vater und der junge Sohn seines Herrn gerechnet wurde, das Amt des Hütens verrichtete. Aber wehe, wenn sich Einer von diesen unterstand, den Hund in seinem Dienste zu schimpfen oder gar zu schlagen! Dann erwachte in dem an Tadel und Schlag nie gewöhnten Braven der Rächer, der dem Beleidiger an seiner Würde die Wucht seiner Zähne empfindlich fühlen ließ. Außerdem – und das ist einer der ausgeprägtesten Züge dieser Race – ließ sich das Thier bei Ausübung seines Dienstes durch Nichts um ihn herum stören, am wenigsten durch den Anblick fremder Hunde, die er im großen Eifer für seinen Dienst völlig ignorirte.

So war das leibhaftige Bild dieses exemplarischen Eisgrauen der Wetterau, von dem ein Freund von mir zwar noch einen ebenbürtigen Sohn besessen, der aber, schon damals zu alt, ohne Nachkommen starb, so daß er wohl der letzte seines vortrefflichen Stammes gewesen sein wird.

Ja, wie der Pommer mit dem Kernbauer allmählich von der egalisirenden Woge der Cultur in die Hinterlande zurückgedrängt wird, so lichten sich die Reihen des echten Schäferhundes mehr und mehr, um von den Hütern der Herden ein Stück Ur- und Naturwüchsigkeit nach dem andern jener „alle Welt beleckenden“ Macht und dem ewigen Wandel der Dinge dahinzugeben!

Adolf Müller.




Aus dem Lande der Freiheit.


Von Ludwig Büchner.


Zweiter Brief.


„Wie gefällt Ihnen Amerika?“ – „Wie gefällt Ihnen New-York?“ – Dieses sind die Fragen, welche hier Jedermann, namentlich jeder Amerikaner, an den Fremden richtet, nachdem er kaum einige Tage im Lande ist. Natürlich erwartet der Fragende keine andere als eine möglichst lobende oder enthusiastische Antwort; denn der Amerikaner ist stolz auf sein Land und noch stolzer auf dessen bedeutendste Stadt New-York, in welcher sich nach seiner Meinung Alles concentrirt, was die moderne Civilisation Großes und Schönes aufzuweisen hat. Und in der That mag er in mancher Beziehung nicht Unrecht haben. Die so oft beschriebene, unvergleichliche Lage der riesigen Stadt auf einer langhingestreckten, von zwei Meeresarmen umfaßten Insel, welche ihrerseits wieder von größeren und kleineren Inseln oder Halbinseln umgeben ist, an deren Ufern sich Neben- oder Schwesterstädte ausbreiten, welche an Größe mit den europäischen Hauptstädten wetteifern; die ungeheuren Häfen (vielleicht die größten der Welt), in denen sich die Schiffe aller Länder und Nationen zu Hunderten und aber Hunderten wiegen und auf denen die bekannten Ferrys oder Flachboote, welche Tausende von Menschen neben vielen Wagen und Pferden auf einmal aufnehmen, zur Vermittelung des Verkehrs nach allen Richtungen umherschießen; die alle Begriffe übersteigende Größe des Verkehrs in der sogenannten unteren oder dem Meere zugekehrten Seite der Stadt, welche selbst das betäubende Gewühl der Pariser Boulevards oder der Londoner City hinter sich läßt; die große Menge verschwenderischer Prachtbauten und der überall zu Tage tretende enorme Reichthum; die gar nicht endenwollende und stundenweit in die Länge sich erstreckende Ausbreitung der Stadt selbst und so manches Andere machen New-York ohne Zweifel zu einer der ersten Städte der Welt! Ob aber auch zu einer der schönsten, wie der Amerikaner meint, ist eine Frage, die nicht so unbedingt zu bejahen sein dürfte. Dazu fehlt New-York, wie Amerika überhaupt, gerade Dasjenige, was die alte Welt auszeichnet und was in meinem ersten Briefe als das hauptsächlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen Europa und der neuen Welt betont wurde – die historische Entwickelung nämlich.

Auf jedem Schritte, den der frischangekommene Europäer hier thut, fällt es ihm auf, daß er sich nicht in einer gewordenen, sondern in einer gemachten Stadt befindet, welche überdem die Spuren der mit ihrem rapiden Wachsthum nothwendig verbundenen Unfertigkeit in einer verzweifelt deutlichen Weise an der Stirn trägt und sich nicht entblödet, den Wanderer in ihren Straßen, wenige Schritte von ihren glänzendsten Avenuen entfernt, über Moräste, Grashügel, Düngerhaufen, Ziegenställe, Pferdeschuppen, ungesprengte Felsenmassen u. dgl. stolpern zu lassen. Nur das untere, dem Meere in Form eines stumpfen Kegels zugekehrte Drittel oder eigentliche Geschäftsviertel der Stadt läßt Fertigkeit und, da es den ältesten Theil bildet, auch eine gewisse Mannigfaltigkeit wahrnehmen, während von dort aufwärts jenes regelmäßige Quadrat- oder Blockwesen amerikanischer Städte beginnt, welches sich in endloser Einförmigkeit immer weiter und weiter erstreckt. Die Straßen haben keine Namen mehr, wie in der unteren Stadt, sondern werden nur nach fortlaufenden Nummern gezählt; und während vor zehn oder zwanzig Jahren die Stadt sich nur bis zur zehnten oder elften Querstraße erstreckte, reicht sie jetzt bis zur einhundertundfünfzigsten oder noch weiter und ist bis weit über die zweihundertste Straße hinaus angelegt.

Theilweise unterbrochen wird dieses Häusermeer, in welchem in der Regel ein Haus genau so aussieht wie das andere, allerdings auf eine angenehme Weise von der neunundfünfzigsten bis zur hundertzehnten Straße durch den berühmten, in englischer Manier angelegten Centralpark oder Centralgarten, welcher den Stolz der New-Yorker bildet und wohin alltäglich bei schönem Wetter der berühmten fünften Avenue oder Längsstraße entlang die eleganten Carossen der „oberen Zehntausend“ wallfahren. Einen organischen Mittelpunkt, wie Paris oder Wien, besitzt unter solchen Umständen New-York selbstverständlich nicht, wenn man nicht gerade den die ganze Stadt der Länge nach durchziehenden und die elegantesten Läden beherbergenden berühmten, endlos langen Broadway dafür gelten lassen will, und die berühmten Flaneurs der Pariser Boulevards oder der Wiener Ringstraße sind hier unbekannte Dinge. Ebensowenig kennt man hier die dem dolce far niente, dem süßen Nichtsthun, gewidmeten Kaffeehäuser, welche in jenen Städten den Mittelpunkt der eleganten Welt bilden. Für solche Zerstreuungen hat der Amerikaner keine Zeit; er rennt, jagt, tobt vom Morgen bis zum Abend unaufhörlich nach jenem Dinge, was man hier den „almighty dollar“ oder den allmächtigen Dollar nennt, und der stille, behagliche Lebensgenuß unserer europäischen Kleinstädte ist für ihn meist ein unbekanntes Ding. Freilich sind auch die Anforderungen, welche das materielle Leben hier an den Einzelnen stellt, so unverhältnißmäßig groß, daß ihnen in der Regel nur durch die größten persönlichen Anstrengungen genügt werden kann.

Daß unter solchen Umständen für die Einkehr des Geistes in sich selbst oder für geistige und wissenschaftliche Arbeit überhaupt nicht viel Zeit oder Muße übrigbleibt, ist selbstverständlich. Doch hat unter diesem Umstande die Werthschätzung geistiger Arbeit bei den Amerikanern nicht Noth gelitten; und die Art, [763] wie der Verfasser dieser Briefe schon in der ersten Zeit seines Hierseins bei Gelegenheit der dritten Jahresfeier des American liberal Club (Amerikanischer Verein der Freigesinnten) am 5. October aufgenommen und ausgezeichnet wurde, lieferte ihm den besten Beweis dafür, welcher Anerkennung sich namentlich deutsche Geistesarbeit unter den Amerikanern selbst erfreut. Dazu kommt, daß Amerika den Mangel eigener Thätigkeit auf diesem Felde durch eine bei uns beinahe unerhörte Opferwilligkeit und Freigebigkeit für wissenschaftliche und bildende Zwecke überhaupt zu ersetzen versteht. Wir können uns kaum vorstellen, was z. B. für Schulzwecke in diesem Lande durch bloße private Hülfe und Unterstützung geleistet wird; und als ich gestern das berühmte Cooper-Institut besuchte, mußte ich mir mit Beschämung gestehen, daß etwas der Art in Europa nicht gefunden werden kann. Eine blos durch die Opferwilligkeit eines einzigen reichen Mannes gegründete großartige Bildungsanstalt, welche Jedermann jederzeit unentgeltlich zur Verfügung steht und deren starke Benutzung zeigt, welch nützliches Werk ihr Begründer geschaffen hat. Namentlich das riesige, die Zeitungen und Literaturblätter beinahe der ganzen gebildeten Welt neben mancherlei anderen Bildungsmitteln enthaltende Lesezimmer war so stark besucht, daß es schwer halten mochte, einen bequemen Platz zu finden.

Was freilich die eigentliche höhere und Universitätsbildung oder die Vorbereitung für gelehrte Berufsarten angeht, so leidet dieselbe in Amerika noch unter viel und mancherlei schweren Mängeln oder Gebrechen, deren veranlassende Momente allerdings der Amerikaner (wie ich glaube mit Unrecht) bis jetzt noch für untrennbar von republikanischer Freiheit hält. Ganz dasselbe gilt auch für eine nicht geringe Anzahl politischer Gebräuche oder Herkommen, deren allenfallsiger Nutzen im Sinne republikanischer Freiheit doch durch ihre sonstigen großen Nachtheile sehr in den Schatten gestellt wird. Dahin gehören z. B. der Wechsel oder die Absetzbarkeit der Staatsbeamten bei dem Wechsel des Präsidenten; oder die Wählbarkeit der richterlichen Beamten; oder die Abwesenheit des Schulzwangs; oder die ausgedehnteste Anwendung des allgemeinen Stimmrechts, selbst da, wo den Massen, die dieses Recht ausüben, alle Vorbedingungen für nützliche Anwendung desselben abgehen, oder wo es ihnen durch Corruption und Parteiumtriebe verkümmert wird. Selbst die Wahl des obersten Beamten der Republik, des Präsidenten, dessen persönliche Macht größer ist, als die eines wirklich constitutionellen Monarchen oder der Königin von England z. B., ist in der diesjährigen Wahlperiode – einer der wichtigsten, welche das Land jemals erlebt hat – durch heimliche Parteiumtriebe derart in falsche Bahnen geleitet worden, daß dem wählenden Volke nur noch die Wahl zwischen zwei Candidaten übrig geblieben ist, von denen der Eine so wenig den Beifall der Gebildeten hat, wie der Andere, und daß das Land unter allen Umständen – ob Grant oder Greeley – einer vierjährigen Mißregierung entgegensieht. Rechnet man dazu, daß die Urheber der großartigsten und unverschämtesten Diebstähle, welche jemals am Geldbeutel des Volkes begangen worden sind, oder die ehemaligen Väter der Stadt New-York zum Theil noch frei hier herumlaufen, und daß die Corruption oder Bestechlichkeit in Staats-, Stadt-, Beamten- und Journalistenkreisen, sowie in den Kreisen der politischen Führer allgemein bekannte und zugestandene Sache ist, so muß man zugeben, daß trotz Freiheit und Republik doch noch etwas faul sein muß „im Staate Dänemark“.

Alles dieses spricht natürlich nicht im Geringsten gegen den Werth republikanischer Constitutionen überhaupt; im Gegentheil zeigen sich diese in einem um so glänzenderen Lichte, je mehr sie das Land befähigen, solche Abnormitäten ohne wesentliche Beeinträchtigung seiner Interessen oder seiner riesigen Entwickelung zu überdauern – ein Verhältniß, an welchem sogar eine unglückliche Präsidentenwahl nicht viel zu ändern im Stande sein wird. Hat doch Amerika sogar die traurigen Folgen des unseligen Bürgerkrieges in einer Weise überlebt und überdauert, die einem monarchischen Staate kaum zuzutrauen möglich ist, und die so unendlich schwierige und scheinbar unlösliche Sclavenfrage so gründlich aus der Welt geräumt, daß man ihre Folgen gegenwärtig, wenigstens in den nördlichen Staaten, fast nicht mehr empfindet. Es müssen in New-York eine große Menge von Schwarzen leben, denn fast der fünfte oder sechste Mensch, dem man auf der Straße begegnet, ist ein Schwarzer oder eine Schwarze; aber in gesellschaftlicher Beziehung verspürt man davon nicht den geringsten Nachtheil, sondern nur Vortheil, da Schwarze zu allen möglichen Geschäften und Dienstleistungen brauchbar und willig sind, wenn sie auch, bis jetzt wenigstens, nur diejenige gesellschaftliche Rangstufe einnehmen konnten, die ihnen ihre geringere Anlage und Bildung zuweist. Freilich darf man dabei nicht vergessen, daß der unter Weißen geborne und im Umgang mit ihnen aufgezogene Neger ein anderes Wesen ist, als der Neger der afrikanischen Wildniß.

Rechnet man dazu die ungeheuren Menschenmassen, welche Europa alljährlich aus sich ausstößt und an das amerikanische Ufer wirft, und welche ebenfalls die große Republik des Westens trotz so vieler abnormer und widerhaariger Elemente in sich aufzunehmen und zu verdauen genöthigt ist, so wird man zugeben müssen, daß nur ein auf die Grundsätze der Freiheit und Gleichberechtigung gegründeter Staat solche Aufgaben so glücklich zu lösen im Stande ist. Aber dieses hindert nicht, daß nicht Gutes durch Besseres ersetzt werden kann; und wenn nicht alle Anzeichen trügen, so werden die diesjährigen Erfahrungen nicht wenig dazu beitragen, um einer politischen Agitation Bahn zu brechen, welche früher oder später zur Abschaffung des Instituts der amerikanischen Präsidentschaft[1] überhaupt führen wird. Wenigstens habe ich bis jetzt hier kaum Einen gebildeten Deutschen gesprochen, der nicht im Princip die Unzweckmäßigkeit und das Unrepublikanische der Präsidentschaft anerkannte; und die Eröffnung des Feldzugs gegen die Präsidentschaft als solche wird noch im Laufe dieses Monats durch eine gut vorbereitete Massenversammlung der Deutschen geschehen, welche überhaupt in Allem, was sich mehr auf ideelle Politik, als auf bloße politische Drahtzieherei bezieht, das treibende Element in Amerika zu bilden scheinen. Viel mag dazu neben der mehr zum Idealistischen neigenden Natur des Deutschen auch der immer noch fortdauernde Einfluß der sogenannten Achtundvierziger, oder der in jenem Jahre aus Deutschland vertriebenen Republikaner beitragen. Zu bedauern ist dabei freilich, daß sich Deutsche und Amerikaner hier immer noch einander viel fremder gegenüberstehen, als man draußen anzunehmen geneigt ist, und daß es genug Deutsche in guten Stellungen hier giebt, welche zu amerikanischem Leben so gut wie keine Beziehung haben, ja nicht einmal englisch reden oder verstehen, obgleich sie schon viele Jahre hier sind. Auf der andern Seite ist es auch wieder sehr anzuerkennen, daß die deutsche Geselligkeit sich hier in der Fremde in noch hervortretenderer Weise geltend macht, als zu Hause, und daß es geradezu zahllose Vereinigungsgelegenheiten jeder Art und jeden Zweckes für Deutsche giebt.

Eine der hervorragendsten, wenn nicht die hervorragendste Gelegenheit dieser Art bietet der New-Yorker Turnverein, welcher gesellige, bildende und Schulzwecke in gleicher Weise verfolgt und soeben mit Erbauung eines Turnhauses fertig geworden ist, dem sich kaum ein ähnliches in Deutschland an die Seite zu stellen im Stande sein wird. Praktisch, wie man in Amerika immer ist, hat man die Zinsen des enormen Baucapitals dadurch zu decken gewußt, daß man die nicht einmal sehr großen, aber zweckmäßig eingerichteten Kellerräume des in einer frequenten Straße gelegenen Gebäudes an einen Wirth um die für unsere Begriffe unfaßliche Pachtsumme von zehntausend Dollars jährlich vermiethet hat. Darnach können Sie sich einen ungefähren Begriff von der Kostspieligkeit des New-Yorker und des amerikanischen Lebens überhaupt machen, in welchem ein Dollar noch nicht so viel bedeutet, als ein halber Thaler bei Ihnen oder ein Gulden in Süddeutschland. Wer daher hier Geld verdient und es in Europa verzehrt, thut gut. Wer es aber umgekehrt machen wollte, wäre ein Thor; und wenn die reichen Amerikaner im Sommer Europa besuchen, so ist es bei ihnen nicht selten ebenso sehr auf Ersparniß, wie auf Vergnügen abgesehen. Doch damit genug für heute aus dem Lande, in welchem uns so Vieles nicht Wunder nehmen oder befremden wird, sobald wir nicht vergessen, daß wir uns mitten in einer riesigen, wenn auch noch ganz jugendlichen Entwickelung befinden; und daß Menschen, Geld, Zeit und Kraft nur insoweit geschätzt werden, als sie sich dieser Entwickelung dienstbar zu machen verstehen.


  1. Keinen Präsidenten? Was dann?
    D. Red.




Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.
[764]
Blätter und Blüthen.


Auf Vorposten vor Metz. (Mit Abbildung S. 753.) Einer der interessantesten Beobachtungspunkte vor Metz war eine so ziemlich gleichweit von zwei wichtigen Forts, dem St. Quentin und Queulen, südwestlich und in der Nähe der Nancyer Eisenbahn zwischen Tournebride und Frescaty gelegene Anhöhe. Hier lag gerade vor uns die große, durch ihre zahlreichen Thürme so malerische Stadt, deren mächtiger Dom sich so prachtvoll über die Häusermasse emporhob. Im schönsten Wechsel durchziehen die Pappelreihen der Chausseen und die Windungen der Mosel das Thal, das ebenso viel Segen der Fruchtbarkeit wie Anmuth landschaftlicher Natur zeigt. Deshalb wurde diese Stätte auch nicht leer theils von harmlosen Beschauern, theils von dienstlichen Beobachtern, denn hier verzeichnen unsere Kriegskarten einen der äußersten „Beobachtungsposten“.

Für die Vorposten war hier eine besonders beschwerliche Stelle: der Doppelposten Nr. 1 auf der Höhe eines Vorhügels, auf welchem man den feindlichen Vorposten auf etwa vierhundert Schritt nahe stand und den freiesten Ausblick nach Metz hinab hatte. Hier war ein kleiner Wall aufgeworfen und in denselben ein paar Schutzbretter gesteckt. Die Vorposten lagen, die Gewehre auf den Wall gelegt, ausgestreckt dahinter auf dem Boden und mußten jede von außen bemerkbare Bewegung vermeiden, wenn sie nicht sofort die feindlichen Kugeln herbeilocken wollten. Bei der Ablösung kroch erst der eine Mann zurück, und nachdem dessen Platz der Nachfolger eingenommen hatte, geschah der Wechsel auf dem andern Platz. Trotz der außerordentlichen Vorsicht bei dieser Art Ablösung versäumten die Franzosen nie die Gelegenheit, ein paar Dutzend ihrer blauen Bohnen zu verpuffen. – Auf diesem schweren Posten hatte der Mann zwei Stunden auszuhalten, und zwar mit dem Gefühl, daß er nicht blos vom Feinde von vorn, sondern auch von seinen Officieren von hinten mit gleicher Aufmerksamkeit beobachtet werde. Unser Bild zeigt uns im Hintergrund die liegenden Vorposten im Augenblick, wo die Ablösung hinzuschleicht.

Von den beiden auf unserem Bilde sichtbaren Forts ist das zur Linken St. Quentin, das zur Rechten Queulen. Ersteres spielte hier die Rolle des Pariser „Bullrian“, indem es am häufigsten seine Geschütze brummen ließ. – Die sehr ursprüngliche Hütte zur Linken stellt das Wachtlocal der Mannschaft vor. Die Gruppen von Officieren und Soldaten sind aus dem Griffel unseres Künstlers so lebendig hervorgegangen, daß sie sich selbst erklären.




Gesetzlich, aber grausam! In einer Provinz Preußens lebt ein „Rendant“, der, in einem siebenundvierzigjährigen Dienste ergraut, im siebenundsechszigsten Lebensjahre steht und zur Zahl derjenigen Staatsbeamten gehört, welche seit dem ersten Januar wegen unzureichenden Gehaltes Zulage erhielten. Die dieses „Rendanten“ beträgt zweihundert Thaler. Es ist aber mit ihrer Gewährung die Bedingung verknüpft, die Amtscaution, die bisher dreizehnhundert Thaler betrug, auf dreitausend Thaler zu erhöhen, entsprechend einer Cabinetsordre vom 11. Februar 1832, obwohl die bisherige Caution zur Sicherung der in ihrem Umfange oder in ihrer Bedeutung durch jene Gehaltszulage nicht im Mindesten veränderten Casse seit ihrem Bestehen für ausreichend befunden ward. Da der „Rendant“ kein eigenes Vermögen besitzt und bei seiner selbst von der Regierung als „unzulänglich“ anerkannten Besoldung sich auch keines erringen, ja sogar nur sich kümmerlich durchbringen konnte – so ist verfügt worden, daß die Zulage vollständig zur Cautionserhöhung verwendet werde. Der „Rendant“ kann also erst nach acht und einem halben Jahre zum Genuß derselben kommen; der Mann würde darüber also sechsundsiebenzig Jahre alt werden. Bis dahin ist er aber sicherlich entweder pensionirt oder gestorben, ohne von der Zulage etwas gespürt zu haben.

Wäre es nun nur dies, so könnte man es schon schlimm genug nennen; aber immerhin würde es der Gedanke erträglicher machen, daß es einst den Hinterlassenen des Rendanten zu Gute kommen werde. Dagegen wird diese Staatswohlthat geradezu zur Grausamkeit dadurch, daß die Einschätzungscommission für classificirte Einkommensteuer diese und der Magistrat die Communalabgabe im Verhältniß der Zulage erhöhen! Das geschieht trotz der obrigkeitlich anerkannten bisherigen Gehaltsunzulänglichkeit!

So kann eine Zulage zum bittersten Schaden, eine beabsichtigte Wohlthat zur schweren Strafe werden.

Wäre es, wenn einmal die Caution erhöht werden muß, nicht ebenso gesetzlich und dabei doch auch menschlich, wenigstens die halbe Zulage dem alten Manne zu gönnen und die andere Hälfte zum Cautionsanwachs zu verwenden?




Marlitt’sHaideprinzeßchen“, diese sinnige und sonnige Schöpfung unserer Mitarbeiterin, ist nunmehr auch in Buchform erschienen, nachdem in Amerika bereits eine englische Uebersetzung, in Paris eine französische, in Leipzig bei Tauchnitz noch eine zweite englische und in Pesth zwei ungarische Uebersetzungen auf den literarischen Markt gekommen waren. Gleichzeitig mit der deutschen Buchausgabe des „Haideprinzeßchen“ wurden die achte Auflage der „Gold-Else“ und die sechste Auflage des „Geheimniß der alten Mamsell“ ausgegeben und zwar in Auflagen, welche die dreifache Höhe gewöhnlicher Romanauflagen weit übersteigen. – Auf die vielfachen Anfragen nach einer neuen Erzählung können wir heute noch die Versicherung geben, daß der kommende Jahrgang unserer Zeitschrift mit einer größeren Novelle der Dichterin geschmückt sein wird, wenngleich wir im Hinblick auf den leidenden Zustand Marlitt’s nicht den Monat genau bestimmen können, wann dieselbe beginnen wird.




Erklärung. Vom Minister Herrn Dr. A. Schäffle in Cannstadt geht uns die nachstehende Berichtigung zur Veröffentlichung zu:

In einem Nekrologe über den verstorbenen Redacteur der „Neuen Freien Presse“, Max Friedländer (Gartenlaube Nr. 29, S. 467), werden über mich Behauptungen ausgestreut, welche aller und jeder thatsächlichen Begründung entbehren. Auf’s Bestimmteste erkläre ich:

1) Es ist unwahr, daß ich Friedländer jemals in das Ministerhôtel gebeten habe – ich konnte daher auch keine „kurz angebundene Ablehnung“ von ihm erhalten und habe eine solche nicht erhalten; – 2) es ist unwahr, daß ich bei Herrn Friedländer habe anfragen lassen, „ob er mich in der Redaction empfangen wolle“ – ich konnte daher nicht erhalten und habe nicht erhalten das angebliche „Nein!“ mit dem Zusatze: „falls Schäffle vorsprechen sollte, würde ich mich verleugnen lassen“; – 3) es ist Wort für Wort unwahr, wenn weiter behauptet wird, ich hätte Friedländer endlich gebeten, mir, „nicht dem Minister, sondern dem Professor eine Unterredung in Friedländer’s Privatwohnung zu gestatten“ – ich habe überhaupt keine Unterredung in der Privatwohnung erbeten, geschweige in so haltloser, meine Person an Herrn Friedländer wegwerfender Motivirung; – 4) es ist Wort für Wort unwahr, daß, nachdem Herr Friedländer „zugesagt“, ich mich „nach dem in Döbling gelegenen Landhause des Publicisten in zwei Sommernächten zwischen halb elf und zwölf Uhr eingeschlichen habe“ – ich war niemals bei Herrn Friedländer in Döbling, weder vor, noch nach der Geisterstunde.

5) Es ist dagegen wahr, daß Herr Friedländer zuerst mich besucht hat, und zwar Abends zwischen sieben und acht Uhr in meiner Privatwohnung; – 6) wahr ist ferner, daß bei dieser Gelegenheit Herr Friedländer mich höflich eingeladen hat, mit ihm nach Döbling zu fahren; – 7) wahr ist, daß ich dieser Einladung nicht folgte; – 8) wahr ist aber, daß ich einige Tage nachher Herrn Friedländer den Besuch in dessen Wohnung erwidert habe und von ihm in vollkommen anständiger Weise aufgenommen wurde.

Den Inhalt unserer zweimaligen Unterredung glaube ich nicht veröffentlichen zu sollen, da Friedländer inzwischen gestorben ist. Ich habe jedoch die öffentliche Behandlung in keiner Weise zu scheuen und beschränke mich daher vorläufig auf die Bemerkung, daß ich mit keinem Worte um die Gunst des Verstorbenen weder für die Regierung, noch für meine Person gebuhlt habe.

Dr. A. Schäffle, k. k. Minister a. D.

Eine Erwiderung auf diese Erklärung des Herrn Dr. Schäffle müssen wir dem Verfasser des oben erwähnten Artikels überlassen.

D. Red.




Den Spangenberg’schen Ordenshandel betreffend, liegen uns ebenfalls zwei Erklärungen vor, die wir hiermit zum Abdruck bringen:

„Nachdem in Nr. 42 dieses Blattes, Jahrgang 1872, Seite 699 ff., bei Gelegenheit des daselbst referirten Ordenshandels in verschiedenen Beziehungen meiner Person Erwähnung gethan worden ist, erkläre ich zur Richtigstellung der Sache, daß der in der daselbst abgedruckten Correspondenz des Herrn F. G. Spangenberg allhier dem betreffenden Adressaten gemachte Vorschlag, die Gesammtkosten für die desfallsige Verleihung des fraglichen Ordens bei dem Unterzeichneten zu deponiren, vollständig eigenmächtig und ohne mein Vorwissen von Demselben gemacht worden ist und daß, soviel die von Herrn Spangenberg auf mich provocirte Auskunftsertheilung über seine Persönlichkeit anlangt, ich diese in Mangel einer näheren Bekanntschaft mit Demselben ablehnen muß.

Dresden, den 22. October 1872.

Dr. Stein II.ächs. Notar.
Rechtsanwalt und Königl. Sächs. Notar.
(Seestraße 9.)“ächs. Notar.

„Unter Bezugnahme auf vorstehende Erklärung des Herrn Advocat Dr. Stein II. allhier bestätige ich, daß die in Nr. 42 der Gartenlaube, Seite 699 ff., erwähnte, in einer meiner daselbst abgedruckten Correspondenzen näher bezeichnete Deposition der Gesammtkosten bei Demselben ohne dessen Vorwissen und Genehmigung von mir vorgeschlagen worden ist und daß der genannte Sachwalter in keiner Beziehung zu der ebendaselbst gedachten Geschäftsangelegenheit jemals gestanden hat.

Dresden, den 22. October 1872.

Dir. F. G. Spangenberg.




Kleiner Briefkasten.

Den Herren Jägern, welche sich in Folge des Aufsatzes „Das deutsche Damaskus“ mit Anfragen an uns gewandt haben, zur Nachricht, daß mehrere uns nahestehende Herren verschiedene, theilweise eigenartige Jagdwaffen zum Gebrauch im In- und Ausland, bei Herrn Immanuel Meffert in Suhl haben bauen lassen und uns wiederholt die Vortrefflichkeit derselben gerühmt haben. Uebrigens erfreuen sich, wie schon im betreffenden Aufsatz hervorgehoben, sowohl hinsichtlich ihrer Güte als auch ihrer Billigkeit, die Leistungen aller Gewehrfabriken in Suhl eines ausgezeichneten Rufes.




Für den Jahrgang 1872 habe ich nach einer neuen geschmackvollen Zeichnung eine

reicher vergoldete Einbanddecke zur Gartenlaube

anfertigen lassen, welche für den Preis von 13 Ngr. durch alle Buchhandlungen zu beziehen ist. Bei Bestellungen bitte genau anzugeben, ob die frühere oder die neue Decke gewünscht wird.

Leipzig, im November 1872.

Ernst Keil.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: das
  2. Vorlage: zunnehmende
  3. Vorlage: ausgebreite
  4. Vorlage: Friedrich Freiherrn von Maltzan
  5. Vorlage: Arber