Die Gartenlaube (1882)/Heft 30

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 30.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der Krieg um die Haube.

Von Stefanie Keyser.

Das Jahr des Herrn 1521 war soweit vorgeschritten, daß der launenhafteste und wetterwendischste aller Tage, der erste April, vor der Thür stand, und wie allerorten im deutschen Lande, machte sich auch in der freien Reichsstadt Nürnberg männiglich auf einen Schalksstreich von ihm gefaßt. Vorsorglich holten die ehrsamen Bürger noch einmal den Zipfelpelz hervor und hingen ihn hinter den Kachelofen, um sich zu schützen, wenn etwa die Hagelsterne ihre vom Winter her noch vorräthigen eisigen Früchte über die ersten Frühlingskeime schütteten oder „Bäcker und Müller sich rauften“, daß die weißen Flocken stiebten; die andächtigen Frauen, welche die Frühmessen zu besuchen pflegten, hatten ein Feuerstüblein bereit gestellt, das sie bei vielleicht vorkommenden bösen Nebeln vor Leibesgebreste bewahren sollte.

Der alte Schelm machte sie alle zu Narren. Unter lachendem Sonnenschein zog er über die baierische Ebene gegen die wehrhaften Mauern heran; mit südlich warmem Hauch drehte er die Wetterfahnen auf den stolzen Thürmen von St. Sebaldus, St. Lorenzo und dem Vestnerthor herum, und kreischend stimmte die zahllose Schaar ihrer Genossen ein, Jedermann kund und zu wissen thuend, daß der Wind itzo aus einer andern Ecke pfeife.

Der gutgelaunte Gast ward freudig willkommen geheißen. In den von steinernem Blattwerk umkräuselten Erkern der Patricierhäuser schoben zarte Frauenhände die Fenster auf; und die kunstfertigen Meister öffneten die Pforten der Werkstätten, daß der Klang ihrer Hämmer hinausscholl in die klare Luft, die jungen Mägde aber holten ihre Scherben mit Hochmuth und Muthwillen, wie sie ihre Nägleinblumen benamsten, aus den Kellern und stellten sie in die hölzernen Laubengänge vor dem Haus, während die Hausfrauen auf dem Markte von den Bauern große Büschel grüner Peterla kauften, die mit Schwämmklößen auf den Mittagstisch kommen sollten, und übermüthige Junker in buntseidenen geschlitzten Wämsern wie frisch ausgekrochene Schmetterlinge um die Veilchensträuße der hübschen Gärtnermädchen flatterten; selbst der alte Pater, der im Clarenkloster die Messe gelesen, trug ein mit gelben Blüthenkätzchen bedecktes Weidenzweiglein in der Hand, das er auf dem Kirchhofe gebrochen hatte.

Nur zwei Kinder der freien Stadt wurden des Frühlingstages nicht froh, sondern rannten wie mit brennenden Köpfen und hörten und sahen nichts. Das eine dieser Stadtkinder war ein Knecht in eines ehrbaren Rathes Dienstkleid von rothem lundischem Tuche, einen Spieß in der Hand tragend, gleich einem Wanderstab; das andere die Gürtelmagd der Frau Rotmundin, einer jungen Frau aus den stolzen Geschlechtern Nürnbergs. Zum ersten Mal begegneten sich die beiden in der Sebaldus-Kirche, wo sie am Grabmale des Schutzpatrons der Stadt eine eilige Morgenandacht verrichten wollten. Mit Verdruß sah der Stadtknecht, daß die Magd das Tuch, das ihr vom Kopfe zurückgeglitten war, scheu in’s Gesicht zog, da er ihr die Tageszeit bot. Warum that das naseweise Ding so fremd? Begegnete er ihr doch täglich im Hause ihrer Herrschaft, wenn er Botschaft an den jungen Rathsherrn zu tragen hatte. Aergerlich stieg er nach der Gasse „Unter der Veste“ hinauf, aber als er in das Scheuerl’sche Haus treten wollte, stand er schon wieder ihr gegenüber; sie kam heraus – er ging hinein. Kopfschüttelnd trabte er nach St. Aegidien hinüber, da verschwand eben ihr schwarzer Mantel wie eine Fledermaus hinter der grauen Eucharius-Capelle. Auf dem Herrenmarkt schien sie Haschen mit ihm zu spielen; sobald er ein Haus betrat, verließ sie dasselbe, und wenn er in das Geheimstüblein des Herrn stapfte, schlich sie aus dem Gemach der Frau hervor. Sonderbar! Während er breitspurig auf der stolzen steinernen Brücke die Pegnitz überschritt, mochte sie sich durch das Heiligegeisthospital gestohlen haben; denn vor dem hohen Portal der Kirche des zweiten Schutzheiligen der Stadt prallten sie abermals zusammen.

„Heiliger Lorenz, behüt mich vor Versuchung!“ seufzte der Knecht. „Ich glaub halt, die Dirn hat’s auf mich abgesehen.“

Und die Magd griff nach dem Rosenkranz, der ihr am Gürtel hing. „Jesus, Maria und Joseph! Kann man den Kerl nit los werden? Schützt mich vor dem alten Fratz!“

Aber die Heiligen hatten taube Ohren. Denn als er in der Spitzbogenpforte des Nassauerhofes seinen Spieß aufstieß, klapperten über ihm ihre flinken Füße auf der Schneckentreppe, und als Beide zur Rückkehr vorsichtig den abgelegenen Henkersteg wählten, trafen sie abermals auf der Pegnitz zusammen, worauf Jedes ein Kreuz schlug und davon stob. Unter den Buden des Tandelmarktes wurden sie endlich einander los.

Während diese wundersamen Begegnungen zwischen Knecht und Magd sich abspielten, saß in dem Erker eines stattlichen Hauses, der Frauenkirche gegenüber, die Herrin der Magd. Es war ein schönes junges Weib, von Gestalt so rund und zierlich, von Gesicht so frisch und rothwangig und mit so holdseliger Schalkheit gesegnet, daß ihr wohl kein Adamssohn widerstehen mochte. Ihre dunkelblauen Augen funkelten und lachten, während sie durch die buntgemalten Fenster hinausschauten. Aber sie sahen nicht, wie die Sonnenstrahlen auf dem in gothischen Bogen sich aufschwingenden Giebel der Frauenkirche spielten und die Bildsäule der Himmelskönigin mit einem lebendigen Glorienschein umgaben, daß sie lieblich anzuschauen [490] war, wie vor zweihundert Jahren, da der berühmte Sebald Schonhofer sie dort erhöhte; sie achtete nicht des Getümmels auf dem Herrenmarkt, wo die Fischweiber vor ihrem Schaff saßen, die Bäuerinnen Milch und Butter feil hielten und die Zeidler aus dem Reichswald, dem der alte Kaiser Karl der Vierte den Ehrennamen „Unseres Reiches Bienengarten“ verliehen hatte, den Lebküchlern so große Honighäfen verhandelten, daß man hätte meinen können, man sei im Lande Gosen, wo Milch und Honig fleußt. Sie wandte nicht das Haupt, als unter dem Schall einer riesenhaften Trommel die Stadtsöldner in Krebs und Pickelhaube, den Spieß über die Schulter gelegt, nach ihrem Wachtposten am Frauenthor hinabtrabten, auch nicht, als eine Schaar Wallfahrer mit Fähnlein und Kerzen unter Gesang die Straße nach St. Sebald hinaufzog; sie schien nur mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Manchmal strich ihre runde Hand leise, wie liebkosend, über den Fenstersitz neben ihr, der, reich geschnitzt und mit einem Polster aus gepreßtem Goldleder belegt, eigentlich der Deckel einer kleinen Lade war; dann fühlte sie in die an goldenem Kettchen hängende Tasche, in der es wie Papier knisterte.

Da öffnete sich die Thür. Die junge Frau fuhr, wie auf verbotenem Wege ertappt, aus ihren Träumen empor und zog das Händchen aus der Tasche – ihr Eheherr trat bei ihr ein.

„Welch wichtigen Dingen sinnt die Frau Rotmundin nach?“ fragte er, indem er auf sein Weibchen zueilte und den Arm um sie schlang.

„Ich schaue den Werkleuten zu.“ antwortete sie, „die da drüben am Haller’schen Hans den Umbau beginnen. Der Wilhalm gedenkt es einzurichten, wie er es in der Welt draußen gesehen hat.“

Sie deutete hinüber nach dem hohen Gebäude, das über der Spitzbogenpforte ein steinernes Wappen trug und an dessen dicken Mauern Arbeiter mit Meißel und Hammer thätig waren.

„Bin begierig zu erfahren, wie es ausschauen wird.“

„Mein holdes Herzgespann hat von jeher für alles Neue eine kleine Schwachheit gehabt,“ erwiderte lachend Herr Rotmund und ließ sich auf der Fensterlade nieder.

Das Herzgespann mochte gerade vor einer rothen Glasscheibe sitzen; denn ihre milchweiße Haut erschien jetzt purpurn gefärbt.

„Wollet Ihr Euch nicht auf den Armsessel setzen, wie es dem Herrn des Hauses gebührt?“ fragte sie eifrig. „Das Lädlein möchte zu gebrechlich sein für solch großen Herrn.“

Herr Rotmund legte prüfend die Hand an das Polster.

„Warum wirst Du so blaß?“ fragte er erschrocken.

„Ich?“ lachte sie. „Der blaue Mantel der Delila in der Fensterscheibe giebt nur das winterliche Licht. Bin ich noch immer blaß?“

Und sie neigte das Gesicht mit den Schelmengrübchen in Wangen und Kinn so dicht zu dem Antlitz ihres Eheherrn, daß sich dieser nicht versagen konnte, sie beim Kopf zu nehmen und auf ihren Rosenmund zu küssen.

„In dem gläsernen Häuslein! Vor den Augen der ganzen Stadt!“ schmollte sie, und das feine Näschen hoch hebend, zog sie sich beleidigt in das tiefe Gemach zurück.

Herr Rotmund eilte ihr nach, und während sie sich von ihm unter tausend Schmeicheleien versöhnen ließ, wurde des gebrechlichen Lädleins vergessen – die kluge Frau hatte ihren Zweck erreicht.

„Was wollte der Städtknecht schon wieder zu so früher Zeit?“ fragte sie und blinzelte durch die krausen dunklen Wimpern nach ihm hin.

„Er sagte eine Rathssitzung für heute Nachmittag an,“ antwortete Herr Rotmund und machte ein unbefangenes Gesicht. „Und wo läuft Deine Gürtelmagd herum? Sie sollte mir eine Hemdkrause stärken und glätten, war aber nicht zu finden.“

„Ich habe sie entsendet, aus daß sie mir ein paar Tische voll Frauen für heute Nachmittag ladet,“ entschuldigte hastig die Rotmundin.

Kommen auch die Imhofischen?“ fragte der Rotmund.

Sie nickte.

„Ist bös Wetter bei ihnen eingezogen,“ erzählte er, „seit der Haller wieder da ist. Weißt? Er ist der erkieste Eidam für die Elsbeth. Die Sippen haben früher Verspruch mit einander gehalten. Und nun läßt er sich nimmer bei ihnen sehen. Ist doch schon seit einigen Wochen heim, und heute begegnete er zufällig dem Imhof zum ersten Mal in der Zechstube. Der schaute aus, als müsse er eine Spinne verschlucken, aber der Haller achtete sein gar nit; er strich davon, wie eine welsche Zibetkatze. Ich kann ihn nimmer leiden.“

„O, leiden mag ich ihn wohl,“ sagte die Rotmundin mit einer weichen Stimme. „Er ist stattlich geworden, seit er in der Fremde war. Seine braunen Augen blicken zwar meist zornig oder geringschätzig, als sei ihm allhier nichts mehr gut genug, aber wie freudig blitzen sie auf, so er von seinen Reisen berichtet. Und sein trutziger Mund mit dem verzwirbelten Schnauzbart darüber, der hoffärtig in die Luft sticht, weiß zierlich die Worte zu setzen, wenn er erzählt, wie die Frauen im schönen Augsburg sich itzo kleiden dürfen.“

Sie seufzte tief. Dann fuhr sie fort:

„Ach mein! daß die schöne Zeit vorbei ist, da auch ich in die Welt hinauslugen durfte! Nun bin ich ein eingesperrtes Weiblein.“

„Sei froh, daß Du ein Weiblein bist,“ fuhr der Rotmund heraus, „und nicht nach mir schmachten mußt, wie die Elsbeth nach dem Haller!“

„Wer weiß, ob ich schmachten müßt, wenn ich die Elsbeth wär’,“ neckte sie.

Er drohte ihr mit dem Finger. Dann meinte er nachdenklich:

„Hab’ schon manchmal gesonnen, wie wunderlich es mit der Elsbeth zugeht. Sie ist doch jung und schön. Aber nimmer kann ich es mir für ein Mannsbild als eine Wonne denken, sie zum Herzgespiel zu haben. Wie mag es nur kommen?“

Die Rotmundin senkte die Wimpern. Sie wußte, was der Elsbeth fehlte. Sie konnte nicht schmollen, trotzen, einen Mann torquiren mit Nichtbeachten und Schweigen und ihn wieder aus dem Elend in den Himmel erheben durch Seufzen, zärtliche Blicke und süß Getändel. Und die Rotmundin meinte, daß dies die höchste Kunst sei, die eine Frau erlernen müsse. Aber sie hütete sich es zu verrathen.

„Da kommt meine Gürtelmagd zurück,“ sprach sie ausstehend. „Und horch! schlägt es nicht schon zwölf Uhr? Richtig! auf der Frauenkirche beginnt das Männleinlaufen.“

Die große Uhr am Giebel der Kirche schlug die Mittagsstunde und trieb aus Kupfer geschmiedete Pfeifer und Trommler und die sieben Kurfürsten des Reiches auf ein steinernes Chörlein hinaus, allwo der Kaiser Karl der Vierte, der einstige Schützer und Förderer der Stadt, thronte, vor dem sie sich verneigten. Mit dem zwölften Schlage schnarrte gravitätisch der Herold als der letzte im Zuge in das Uhrgehäuse zurück, und zugleich drehte sich Herr Rotmund wie ein Kreisel in das Speisezimmer, wohin ihn sein Frauchen gedrängt hatte, auf daß der gebratene Auerhahn, den die Köchin mit einem gehämmerten Sode auftrug, nicht kalt werde.

„Wir speisen heute zu so vornehm später Stunde wie der König von Frankreich,“ schäkerte sie. Bevor sie ihm aber folgte, zog sie die Thür noch einmal zu und trat zu ihrer Magd.

„Kommen sie?“

„Alle,“ erwiderte die Magd.

„Es hat doch kein fremdes Ohr unser Geheimniß erlauscht?“ fragte die Gebieterin gespannt.

„Keines!“ versicherte die Dienerin.

„Die herbe Ursel wird doch nichts von unserem Fürhaben erfahren?“ meinte die Rotmundin besorgt.

Die Magd schüttelte pfiffig den Kopf.

„Ich bin deshalb nit über den Panierberg gegangen, sondern durch die Hinterpforten in die Geschlechterhäuser, welche von dem Erbhaus der gestrengen Jungfrau aus gesehen werden können.“

„Das war brav,“ lobte die Frau. „Du darfst Dir zur Belohnung mein Brusttuch mit der geknüpften Borte nehmen. Trage es sonder Furcht! Ich zahle die Strafe, so die Kleiderordnung auf die Hoffahrt setzt. Die hochmögenden Herren dürfen sich schon daran gewöhnen, daß ihnen Trotz geboten wird. – Nun hole mir vom Lebküchler Honigkuchenwecklein, gefüllt mit süßen Feigen und Mandeln! Dann nimm die silberne Kanne dort vom Kandelbrett und laß sie Dir im Keller mit Malvoisier füllen! Richte mein Gemach, dieweil wir zu Mittag essen!“ – –

Die abwärts steigende Sonne warf lange Streiflichter über das braune Holzgetäfel des Frauengemachs, als die Gäste sich versammelten.

Die ersten, die da kamen, waren die Imhofischen, eine würdige Matrone mit ihrer erblühenden Tochter. Sie nahten mit leisem [491] Rasseln und Klirren, wie arme Gefangene. Doch waren die Ketten von Gold und Silber und legten sich um Hals und Schultern. Auch hatten sie schwere Mühe, mit ihren schleppenden Damaströcken über die hohe Schwelle zu gelangen, aber sie vollbrachten das Stücklein ohne Unfall. Auf dem Haupte trugen sie beide, wie die Rotmundin, jenen Kopfschmuck der Geschlechterinnen, welcher „Sturz“ genannt wurde; es war ein dichtes, weißes Gewebe, das über die Stirn herabhing und sich um das Gesicht schlang. Nur die Augen schauten aus dem Spalt heraus – bekümmert, von sorgenvollen Falten umgeben die der Mutter; still und wie in sich versunken die blauen, von langen blonden Wimpern umsäumten Augen der Tochter. Nach der Begrüßung lüfteten sie die Schleier.

Die lebhafte Rotmundin hatte allezeit eine ärgerliche Anwandlung, wenn sie Elsbeth’s rosiges, aber allzu unbewegtes Antlitz erblickte, und wie immer, suchte sie auch heute nach einem Mittel, das kühle Blut der jungen Patricierin endlich einmal in Wallung zu bringen.

„Setzet Euch in das Chörlein!“ sprach sie zu ihr mit süßem Blick. „Da habt Ihr ein artiges Gegenüber an dem Herrn Wilhalm Haller. Was wäre lieblicher in dieser schönen Welt, als ein Augenspiel zwischen einer holdseligen Jungfrau und einem feinen Junker?“

„Solches würde sich für eine tugendsame Jungfrau nimmer geziemen,“ antwortete Elsbeth mit einer Stimme, die ruhig und antheillos klang, und dabei nahm sie wohl den ihr zugewiesenen Platz ein, saß aber so steif dem Hause gegenüber, als sei sie eine schöne Weihnachtsdocke.

Die Mutter dagegen seufzte und sagte zu der Rotmundin:

„Ihr seid allzeit guten Muthes, liebe Muhme, und scheint Euch leicht in die neuen, schlimmen Sitten zu fügen.“

„Schlimm sind sie halt nit, sondern fürtrefflich,“ antwortete die Rotmundin.

„Fürtrefflich?“ rief die Imhofin empört. „Könnt Ihr es gut heißen, wie der Wilhalm Haller gegen uns einher fährt? Wenn das sein Vater – der allmächtige Gott möge seine arme Seele pflegen immer und ewiglich! Amen! – erlebt hätt’! Der hat immer gemeint: ‚Die Elsbeth halt’ ich hoch, wird einmal eine brave Hausehre werden.‘ Und der Wilhalm war einverstanden. Wenn er auch nimmer um sie herum gegirrt hat gleich einem verliebten Tauber, sondern sich zurückhielt, wie es wohlanständig ist, so hat er ihr doch, bevor er im vorigen Jahre auf Reisen ging, alle Huld erwiesen. Beim Messerertanz machte er ihr Platz unter dem Volk, daß sie die künstlichen Gänge, so die Messerschmiede mit den Schwertern aufführten, genau beschauen konnte, und leuchtete ihr dann sittsam mit der Fackel heim.“

„Und hat er ihr auch aus der Ferne Liebesboten gesendet? Sind Brieflein zwischen dem Paare hin und her geflogen?“ fragte die Rotmundin.

„Einmal kam Botschaft von ihm, da er in Venezia war,“ berichtete die Frau Imhofin. „Unter den Waarenballen und Rechnungen, die er an seinen alten Buchhalter schickte, war ein Brieflein, darin er der Elsbeth zu ihrem Namenstage Glück wünschte und von dem neuen Firlefanz, den er dort gesehen hatte, schier verzückt erzählte. Auch die Elsbeth hat darauf ein Schreiben an ihn abgesendet. Es war wohlgestalt in Anrede und Danksagung. Sie hat darin aufgezählt, wie sie gewachsen sei in mancherhand Geschicklichkeit, wie viele Facinetlein sie ausgenäht und wie sie die Pastete zu backen erlernt habe, die er so gern ißt. Der Imhof hat den Brief dann durchgesehen, und sie hat ihn abgeschrieben fein säuberlich, Frau Bas!“

Die Rotmundin wandte sich an Elsbeth.

„Und habt Ihr dem wohlgestalten Brief auch ein zärtlich Wörtlein beigefügt, das Euer Herr Vater nit erst durchgesehen und in eine künstliche Form gepreßt hat? Oder wenigstens ein Vergißmeinnicht in den Schnörkelzug der Unterschrift?“

„Ihr scherzt,“ antwortete Elsbeth ruhig. „Welche ehrbare Geschlechterin würde so leichtfertige Geckerei üben?“

„O du Abbild der Einfalt!“ dachte die Rotmundin.

„Nein,“ sagte die Mutter, „es war ein Schreiben, an dem der strengste Merker unserer Meistersinger keinen Fehl hätte finden können. Dennoch hat der Wilhalm seitdem geschwiegen, auch jetzt noch mit keinem Schritt unser Haus betreten.“

„Ich kann mir fürstellen,“ dachte die Rotmundin, „daß ihn nimmer verlangt, den langweiligen Tugendspiegel anzuschauen.“

„Ach, das Mannsvolk ist doch eine wahre Schickung für uns Weiber,“ klagte die alte Imhofin. „Wenn sie uns mögen, müssen wir ihnen unterthan sein, und wenn sie uns nit mögen – o je! dann erst! Wenn i nur wüßt’, ob dem Haller – die allerseligste Jungfrau mög’ es verhüten! – der Verspruch leid wäre. Wenn i nur wüßt’!“

Sie seufzte tief auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem Marderfellchen, das, mit rothem Safian gefüttert, mit goldenen Krallen und Zaum versehen, an einer kostbaren Gürtelschnur hing.

„Wie könnt Ihr nur also reden, Frau Mutter!“ sagte Elsbeth fast vorwurfsvoll. „Ich kenne den Wilhalm; brav ist er, und sein Wort wird er halten. Derohalb aber, daß er so lange Zeit versäumt und Euch so in Bekümmerniß versetzt hat, wollen wir ihm Vorhalt thun, sobald er kommt.“

„Vorhalt?“ lachte die Rotmundin und sah sie fast mitleidig an. „Ihr schaut drein, als säßet Ihr auf dem Richterstuhl, den Haller zu vernehmen gleich einem armen Sünder. Setzt Euch ihm lieber in’s Herz! Von da aus regiert sich’s leichter.“

„Wenn er nur überhaupt kommt!“ seufzte die Mutter. „Denkt nur, was uns geschehen ist! Den Tag nach seiner Ankunft fügten es die heiligen Nothhelfer, daß wir uns in der Hirschelgasse vor dem türkischen Hause der Tucher begegneten. Wir wollten die junge Tucherin im Kindbett besuchen, und der Wilhalm kam vom alten Herrn, der ihn nach Venedig und Augsburg gar wohl empfohlen hat. Ich dachte, er würde uns freudig begrüßen, aber er wandte das Haupt hinweg und ging an uns vorüber. Er machte ein Gesicht – Gott verzeih’ mir die Sünd’! – als sei ihm eine Kröte über den Weg gelaufen.“

Die Rotmundin hatte aufmerksam zugehört. „Trugt Ihr vielleicht die Stürze aus den Köpfen?“ fragte sie spitz.

Die Imhofin starrte sie verwundert an. „Würden wir ohne sie ausgehen? Was denkt Ihr von uns?“

„Daß Euch recht geschehen ist,“ entgegnete scharf die Rotmundin. „Wenn eine Mutter ihrer Tochter einen Kopfputz aufsetzt, aus dem sie herausschaut wie aus einem geplatzten Kürbis, mag sie sich nicht wundern, wenn selbige gleich einem Unhold geflohen wird. Doch tröstet Euch, Frau Bas! Auch Euch wird heute eine frohe Botschaft verkündet werden. Jetzt laßt uns die Frau Schultheißin begrüßen!“

Die stattliche Frau schritt stolz über die Zimmerstufe. Hinter ihr ging ihr Page und trug ihr auf beiden Armen die schwere Damastschleppe nach. Dann zog er sich in den Hausflur zurück, wo die Diener von der Barbaraköchin mit Meth bewirthet wurden. Neue Gäste kamen, die Pfinzingin und Tucherin, die Behaimin und Holzschuherin, und wie alle die großen Patricier hießen.

Nach einer kurzen Weile saßen sie plaudernd um die Tische und naschten von den Leckereien, welche die Gürtelmagd bot. Die jüngeren schäkerten im Erker, unter welchem den Jungfrauen zur Augenweide bald ein Männleinlaufen anderer Art entstand, als das auf der Frauenkirche. Eitle Junker drehten sich in kurzen Röcken, deren seidene Aermel so lang über die Kniee herabhingen, daß die Beatrix Schreyer meinte, sie glichen den Ohren des Helfantthieres, das auf dem letzten Markte in einer Schaubude zu sehen war; übermüthige Chorherren sprangen in goldgestickten Schuhen, riesige Barette auf den Köpfen, zierlich über die Schrittsteine, und auch der junge Mönch zog den Geißelstrick fest über der seidenen Kutte, um seine schlanke Taille zu zeigen.

Da erhob sich ein Krach gegenüber; die geschäftigen Maurer und Zimmerleute stießen ein Stück Fensterwand im Haller’schen Hause ein.

„Heilige Jungfrau, bitt’ für uns!“ schrie es im Chörlein auf, während die Frauenknechte drunten vor dem stiebenden Kalk die Flucht ergriffen.

„Schaut!“ rief die alte Imhofin, „jetzt haben sie den heiligen Florian auf die Gasse gestürzt, der mit seinem Sprüchlein: ‚Schütz’ mein Haus, zünd’ ein andres an!‘ seit Jahrhunderten das Gebäu vor Feuersnoth bewahrt hat. Gedenkt der Wilham das Haus seiner Väter auf den Kopf zu stellen? Den Heiligen wirft er hinaus, aber beim Meister Vischer wird ein Brunnen für ihn gegossen, aus dem ein schamloses Weibsbild steigt.“

„Es ist die Frau Venus,“ berichtigte die Tucherin.

„Ein Name ist kein Gewand,“ verwies sie die Imhofin.

„Er will sein Haus herrichten, wie es jetzt im Land Italia bräuchlich ist,“ erklärte die Tucherin, „mit schnurgeraden Fensterreihen, weiter Eingangspforte und breiten Treppen.“ [492] „Das mag für das Land Italia sich schicken,“ haderte die Frau Imhofin, „aber bei uns wird’s ein Zugloch werden, und der Haller wird die Gicht bekommen. Das hat er dann von seiner Unrast.“

Während die anderen Gäste mit leisen Ellenbogenstößen sich zu verstehen gaben, daß sie wohl wußten, um welcher Ursache willen die Imhofin dem Haller aufsäßig war, blieb Elsbeth stumm. Sie hatte keinen Schrei ausgestoßen wie ihre Gespielinnen. Nur verwundert, als traue sie ihren Augen nicht, blickte sie nach dem Hause hinüber, das jetzt der junge Haller im dunklen, mit Marder verbrämtem Wams verließ.

Einen forschenden Blick warf er zu ihr herauf. Er wollte wohl aus ihrem Antlitz lesen, ob sie Sorge hegte, des versprochenen Bräutigams verlustig zu gehen. Statt dessen stand ein schier albernes Staunen darauf geschrieben. So mußte er deutlicher werden. Er wandte, ohne zu grüßen, seine Augen ab und bot Herrn Rotmund die Tageszeit, der seine Steintreppe herabstieg. Dann schritten sie selbander über den Herrenmarkt.

Die Rotmundin schaute ihnen nach. „Wenn der Franzel,“ sagte sie, „sich doch auch kleiden wollte wie der Haller! Sieht er in seinem grünen mit roth gepufften Wams nicht aus wie ein bunter Sittig neben einem edlen braunen Falken?“

„Ihr verunglimpft den Haller,“ meinte Elsbeth, „wenn Ihr ihn einem so wilden Vogel vergleicht, der nur mit Hunger zu zähmen ist.“

„Ein tüchtiger Mann liebt es,“ erwiderte die Rotmundin, „wenn die Schnabelweide, die er begehrt, schwer zu erringen ist. Je höher sie hängt, desto werther wird sie ihm.“

Jetzt hatten die beiden Männer den Weg nach dem Rathhause eingeschlagen. Da rief die Rotmundin ihrer Gürtelmagd zu: „Stelle jetzt die Leckerlein zur Ruhe! Geh’ vor die Thür und hab’ Obacht, daß uns Niemand belauscht!“

Dann erhob sie sich und begann feierlich zu den aufhorchenden Frauen zu sprechen:

„Liebe Muhmen und Basen, Freundinnen und Gevatterinnen! Es ist Euch bewußt, in welch kläglichem Zustande sich das hiesige Frauenvolk befindet. Während überall dasselbe sich schmücken darf nach seinem Gefallen, werden wir allhier seit unvordenklichen Zeiten verunziert mit einem Kopfputz, so ‚Sturz‘ genannt wird. Als Tochter einem der Geschlechter angehören, heißt so viel, wie zum Unglück geboren sein; denn also huckt sich das Scheusal auf ihr Haupt und läßt nur die Augen herausschauen, damit sie an den Leidensschwestern sehen mögen, welch ungefügen Anblick der Sturz der schönsten Frau verleiht. In dieser Sorge hab’ ich mich gen Augsburg gewandt, wo die Frauen allen Weibsbildern des heiligen römischen Reiches deutscher Nation voranstehen in Zierd und Anmuth. Und heut’ hab’ ich die Frucht meines muthigen Unterfangens geerntet. Ich hab’ Euch berufen, auf daß Ihr Euren Antheil daran erhaltet. Wohlbedacht hab’ ich die grämlichen Alten daheim gelassen und nur die Frauen gewählt, die gleich mir erkannt haben, daß eine edle Seele lieber in einem hübschen Gehäuse, denn in einem abschreckenden wohnen mag. Liebe Elsbeth, erhebt Euch vom Fensterlädlein! Ihr hütet, gleich einem Lintwurm, unseren größten Schatz und einzigen Trost.“

Die Rotmundin klappte den Sitz auf und enthob der Lade ein wunderbares Gebilde. Sie las die getrockneten Zweige des wohlriechenden Krautes Botris davon ab, welches vor Motten schützen sollte, und stellte es auf den blank gebohnten Tisch.

Das Gebilde trug die Gestalt eines spitzen Thürmleins, war aus schwerem schwarzem Goldstuck gefertigt, mit Perlen gestickt, und von seiner höchsten Spitze, aus welcher edle Steine und rothes Gold gleißten, schwebte ein langes Schleiergewebe herab. Es war die neueste Augsburger Haube.

„Sie kostet mich zwanzig Gülden,“ rühmte die Rotmundin, „ohne die sechshundert Perlen und ebenso viele Goldknöpfe, mit denen der Schleier verziert ist, und ohne die großen Perlen, die den Rand des Häubleins einfassen. Auch die Kleinodien im Mützendeckel habe ich dazu geliefert aus meiner Schmucklade. Seht, die Karfunkelsteine stellen die neue Blume dar, die man nach der Sonne benamset.“

(Fortsetzung folgt.)




Das historische Festspiel in Rothenburg ob der Tauber.

Von Karl Braun-Wiesbaden.
1.0Vorspiel.

Rothenburg ob (nicht an) der Tauber ist erst seit Kurzem den Deutschen bekannt.

Noch in dem „Bädeker von 1862“ findet man Rothenburg am Neckar, aber nicht Rothenburg ob der Tauber. Im Laufe der letzten zehn Jahre aber hat das baierische Rothenburg dem württembergischen vollständig den Rang abgelaufen. Und mit Recht; denn die Tauberstadt ist der Neckarstadt in ihrem monumentalen Charakter und in ihrer denkwürdigen Geschichte weit überlegen. Unter denen, welche der größeren Menge der deutschen Reichsbürger Kenntniß von diesem „Kleinod aus deutscher Vergangenheit“ brachten, nimmt die „Gartenlaube“ (Nr. 47 von 1868) die erste Stelle ein, und indem ich auf diesen Artikel und dessen Illustrationen verweise, will ich mich hier darauf beschränken, über das historische Festspiel zu berichten, welches am zweiten Pfingsttag in Rothenburg aufgeführt wurde und dessen Ruhm, von den zahlreichen Besuchern aus allen vier Gegenden der Windrose (auch Amerikaner waren darunter) inzwischen schon in der weiten Welt herumgetragen wurde.

Das Festspiel heißt „Der Meistertrunk oder Tilly in Rothenburg“, und wurde zur zweihundertfünfzigjährigen Jubelfeier des 28. bis 30. October 1631 von A. Hörber, Magistratsrath und Glasermeister daselbst, gedichtet. Das Stück wurde aufgeführt von Rothenburger Bürgern, deren Frauen und Töchtern.

Die Bühne im Rathhaus ist das obere Ende eines langen und ziemlich schmalen Saales, in welchem etwa 800 Zuhörer aus der Heimath und der Fremde Platz fanden und dem Stücke mit lautloser Aufmerksamkeit folgten, welche nur zuweilen von stürmischen und endlosen Beifallssalven unterbrochen wurde.

Die Schaubühne und deren Zubehör waren von einer wahrhaft primitiven Einfachheit. An dem Stück und der Aufführung hätte vielleicht ein Kritikaster Mancherlei zu bemängeln, aber die Wirkung der Aufführung war geradezu hinreißend, überwältigend, rührend.

Daß die Vorstellung einen ganz außerordentlichen Eindruck machte, daß ihr das Publicum mit athemloser Spannung folgte, obgleich sie zwei Stunden dauerte, daß viele Thränen vergossen, steht außer Zweifel. Nun könnte man sagen, es sei ganz natürlich, daß auf die Rothenburger ein solches Stück aus der Geschichte ihrer Stadt, auf welche stolz zu sein sie alle Ursache haben, gespielt von ihren Mitbürgern und deren Frauen und Töchtern, den Eindruck nicht verfehlen könne. Allein das trifft nicht zu. Die Rührung war nicht minder groß bei den Fremden, welche an und für sich an den Schicksalen der Stadt, an den Personen der Darstellenden und an den Personen, welche dargestellt wurden, kein Interesse hatten, – auf sie paßten die Worte: „Was ist ihm Hekuba?“ Ein alter Herr, der mir offen gestand, er habe vor kaum vierzehn Tagen zum ersten Mal von Rothenburg ob der Tauber Etwas vernommen, weinte Thränen, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte. Und er war nicht der Einzige der Art unter den Fremden.

Abgesehen von dem Inhalt und der Form der Dichtung, hat dazu noch Mancherlei beigetragen.

Zunächst das Bewußtsein, daß wir uns in der Stadt befanden, um die es sich in dem Stücke handelt, und in dem Rathhause, in welchem vor dritthalb Jahrhunderten jene Scenen wirklich gespielt haben. Dann aber auch der Eindruck, welchen die Stadt während der paar Tage, die wir vorher in derselben verbracht, auf uns gemacht hatte.

[493]

Aus dem historischen Festspiel in Rothenburg ob der Tauber: Bürgermeister Nusch rettet die Stadt durch den Meistertrunk.
Originalzeichnung von Christian Bär in Nürnberg.

[494] Das ist in der That noch die Stadt des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts: die Ringmauer mit ihren Thürmen ist fast noch vollständig unversehrt geblieben, und sogar die Bresche, welche Tilly in die Mauer geschossen, wurde durch eine schwere Arbeit wieder ausgefüllt. Alles zeugt dafür, was die Stadt gelitten, aber zugleich auch dafür, daß sie, gleich dem göttlichen Dulder Odysseus, niemals den Muth hat sinken lassen. Da stehen noch das Rathhaus, die Kirchen und die Klöster, das Deutschordenshaus und die weit ausgedehnten Spitalgebäude „Zum heiligen Geist“, letztere mit großer eigener Meierei; dort ragt noch der Thurm empor, in welchen man den Verräther der Stadt eingemauert, und da unten liegt auch noch das „Schlößchen“ des Bürgermeisters Töppler, mitten in einem Ueberschwemmungsgebiet, über welches jetzt eine steinerne Brücke führt, während früher nur eine Zugbrücke da war, um den Zutritt den Feinden zu wehren, welche man heutzutage nicht mehr zu fürchten hat. Vormals hat in diesem Taubenschlage der deutsche Kaiser Wenzel „residirt“ oder gar einen üppigen Hofhalt geführt. Heute würde jeder wohlsituirte Bürger sich besinnen, ob er in den paar engen Stübchen hinter den kleinen achteckigen Fensterscheiben, die durch schweres Blei mit einander verbunden sind, auch nur eine vierwöchige Sommerfrische abhalten möchte. Die Treppe, welche aus dem massiven steinernen Untersatz nach den beiden oberen, gleichsam in der Luft balancirenden Stockwerken führt, ist so schmal, daß ich sie nicht passiren könnte, wenn ich auch nur zwanzig Centimeter mehr im Umfang hätte.

Man fragt sich fast zweifelnd: Ist das Alles denn auch zur Zeit des Kaisers Wenzel schon so enge gewesen? Und man muß diese Frage mit „Ja“ beantworten.

Ja, man konnte damals sich wenig um Behäbigkeit, Wohnlichkeit, Schönheit und Luxus bekümmern, weil man vor Allem und beinahe ausschließlich auf Sicherheit sehen mußte. Es ging damals, wie es in unseren Tagen, laut des schönen Liedes in dem „Exilium Melancholiae“, dem Dorfschulzen Röhrle und seiner Frau erging, welche Alles in Hülle und Fülle hatten, in jenem tropischen Lande, wohin sie ausgewandert waren; als ihnen aber eines Tages die Löwen ihre Dienerschaft auffraßen, da wurden sie von dem Gefühle der Unsicherheit so sehr ergriffen, daß sie sich zu einem schwermüthigen Duett, zu singen nach der Melodie „Guter Mond, du gehst so stille“, vereinigten, welches lautet wie folgt:

„O, ihr rauhen Thiergemüther,
     Die ihr in der Wildniß irrt,
Was sind alle Erdengüter,
     Wenn man aufgefressen wird?“

Das also ist anders geworden. Man erfreut sich in dem mauer- und thurmumgürteten Rothenburg, das so stolz von seiner unnahbaren Höhe in das tief eingeschnittene Thal der rasch strömenden Tauber herabsieht – so stolz, daß man es vormals hinsichtlich seiner Lage, wie mir indeß scheint, nicht ganz zutreffend, mit der heiligen Stadt Jerusalem verglichen – man erfreut sich hier einer Sicherheit und Behaglichkeit, wie nur irgend wo im deutschen Reiche, und in dem „Gasthaus zum Hirsch“ wohnt heutzutage Unsereiner hundertmal besser, als vormals der Kaiser Wenceslaus in dem Schlößchen des weiland regierenden Bürgermeisters Töppler oder Doppler (das ist auf deutsch: Würfelspieler).

Sonst aber ist hier Alles geblieben, wie es vor dreihundert Jahren gewesen, wenigstens was die Physiognomie der Stadt anlangt. Ich muß dies näher erläutern; denn erstens steht es im engsten Zusammenhange mit dem „historischen Festspiel“, über das ich berichte, zweitens aber — und das scheint mir die Hauptsache zu sein – ist es an sich sehr interessant und so viel ich gelesen, noch nirgends mit der nöthigen Deutlichkeit hervorgehoben worden.

Bekanntlich giebt es der Städte noch mehr, welche uns heute noch ein deutliches Bild längst vergangener Zeiten gewähren. Allein allen diesen Städten fehlt die Fülle einer reichen und belebten Gegenwart ganz, oder zwischen ihrer glorreichen Vergangenheit und ihrer bescheidenen Gegenwart klafft ein nicht überbrückbarer Abgrund. Sie haben ganz oder theilweise nur auf Kosten der Gegenwart das Bild ihrer Vergangenheit herüber zu uns gerettet, und obgleich dieses Bild einen großen Werth hat, so ist der Preis, der dafür bezahlt wurde, doch etwas theuer. Ich will Beispiele zum Zweck der Erläuterung anführen:

Herculanum mußte mit einer Lavaschicht, Pompeji mit einem Aschenregen, Olympia mit Flußgeröll überschüttet werden, um auf uns zu kommen. Die alte Stadt Wisby aus der schwedischen Ostsee-Insel Gottland, welche ich im vorigen Sommer aufgesucht und in meiner „Wisby-Fahrt“ beschrieben habe, hat zwar die riesigen Bauten des dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, wenigstens in stattlichen Trümmern erhalten, jedoch nur um den Preis, daß die Stadt von dem Fußgestell ihrer glorreichen Hansa-Zeit, wo sie der Mittelpunkt des nordischen Handelsverkehrs war, herunterstieg und zu einem Landstädtchen herabsank, in welchem jene Trümmer dastehen inmitten der schmucken, aber einfachen und kleinen modernen Häuser, wie Gebäude der Riesen in einem Städtlein der Zwerge. Die gute, alte Reichsstadt Soest in Westsfalen, welche im Mittelalter eine so große Rolle auf dem Gebiete des Wirthschafts- und des Rechtslebens gespielt hat, sie hat zwar ihre schönen Kirchen und sonstigen architektonischen und monumentalen Zierden zum größeren Theile erhalten, im Uebrigen aber ist ihre Herrlichkeit so sehr geschwunden, daß in der Stadt mancher Platz, wo vormals steinerne Paläste standen, jetzt von bescheidenen Holzbauten eingenommen wird, oder auch von Grasflächen und Baumstücken, und daß die spöttisch-mitleidslosen Nachbarn die vormals so sehr beneidete große Stadt das heruntergekommene „freie deutsche Reichsdorf“ nennen.

Mit Rothenburg ist das ganz anders. Es hat seine Vergangenheit erhalten, ohne seine Gegenwart zum Opfer zu bringen. Auch klafft zwischen seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart kein Abgrund. Es hat sich durch alle Mißgeschicke hindurch tapfer gehalten und bis zur Gegenwart durchgeschlagen. Allerdings ist es nicht mehr jene stolze, freie Reichsstadt, deren Bürger so wehrhaft waren, daß Ludwig Uhland von ihnen sang:

„Wie haben da die Gerber so meisterhaft gegerbt,
Wie haben da die Färber so purpurroth gefärbt –“

jene Reichsstadt, die über ein durch den Landgraben befestigtes Gebiet von sechsundzwanzig Ortschaften herrschte und deren streitbare Bürgermeister an der Spitze der städtischen Fähnlein aufzogen, um in den Fehden der Nachbarn manchmal das entscheidende Schwert in die Wagschale zu werfen, den Territorialherren, ja manchmal sogar Kaiser und Reich selber zu trotzen, oder gar Gebietseroberungen zu machen. Das Alles ist dahin, um niemals wiederzukehren. Die Stadt hat viel verloren, aber sie hat auch viel gerettet.

Sie hat heute noch dieselbe Einwohnerzahl, wie zur Zeit ihrer höchsten Blüthe im fünfzehnten Jahrhundert. Heute noch ist das ganze Gebiet innerhalb der alten Mauern überall ausgefüllt von menschlichen Wohnungen, und selbst ein Theil des weiland so ansehnlichen städtischen Vermögens ist gerettet, obgleich man sich während der dictatorischen und rechtlosen Zeit der Rheinbundherrschaft die gröblichsten Ein- und Uebergriffe in dasselbe erlaubt hat. Die zum Theil äußerst opulent und breit angelegten Straßen sind noch besetzt mit den alten, aber gut unterhaltenen Häusern der Bürger, sowohl der Patricier, welche man die „Ehrbaren“ (und im Gesammtbegriff die „Ehrbarkeit“) nannte, wie auch der Plebejer oder der Zünftigen. Die Häuser wenden ihre steilen und zum Theil zierlich decorirten Giebel der Straße zu, und in der Reihenfolge tritt – gerade wie in dem westfälischen Soest – oft ein Haus vor dem andern etwas staffelförmig zurück, damit einem Jeden möglichst viel Aussicht auf die Straße gewährt wird. Im Innern der Häuser finden wir auch noch in der Regel jene breite und hohe Halle, welche hier „die Tenne“ genannt wird und an die Vorplätze in den Häusern von Danzig, Rostock und Lübeck erinnert. In jedem Hause wohnt auch heute noch in der Regel nur eine Familie, und auch hier kann das Familienoberhaupt sagen, wie in England: „Mein Haus ist meine Burg“. Daher kommt es denn auch, daß die Stadt im Verhältniß zu ihrer Einwohnerzahl einen außerordentlich großen Flächengehalt einnimmt, und wiederum ist dieser Umstand, in Verbindung mit der gesunden Lage, die Ursache, daß man hier so viel gesunde frische Gesichter sieht. Namentlich fallen dem Fremden sofort die lieblich und rosig angehauchten Gesichter der Frauen, Mädchen und Kinder auf, eine Beobachtung, die auch der deutsche Kronprinz gemacht haben soll, als er vor einiger Zeit Rothenburg ob der Tauber besuchte.

Verschwunden sind zwar mit so manchen andern Institutionen aus alter Zeit die Deutschordensherren, jene ritterlichen Priester [495] oder priesterlichen Ritter, mit welchen die Stadt stets im Streit lag, behauptend, sie hätten in sich die bösen Eigenschaften sowohl der Junker, wie auch der Pfaffen vereinigt, mit Ausschluß der guten — jene geistlichen Herren, von welchen ein bis auf den heutigen Tag gekommenes schelmisches Rothenburger Volkslied singt:

„Kleider aus,
Kleider an,
Essen, trinken,
Schlafen gahn:
Ist das Werk,
So die Deutschherrn
Vor sich han.“

Auch die Patriciergeschlechter, in deren alleiniger Hand ursprünglich das städtische Regiment lag, sind, als sich die Umwälzung zu ihrem Nachtheil vollzogen, größtentheils ausgewandert nach anderen Reichsstädten, wo sie jedoch später ebenfalls das Geschick der Mediatisirung und der Annexion, welchem sie für immer zu entfliehen gedachten, ereilt hat. Viele Familiennamen, welche gegenwärtig noch in Ulm, Augsburg, Nürnberg etc. glänzen, sind Rothenburger Ursprungs, aber in Rothenburg sind sie verschwunden.

Geblieben ist der Kern der Bevölkerung, ein fleißiger, kluger und rühriger Bürgerstand, welcher sich vermöge dieser seiner Eigenschaften, im Gegensatze zu den „Geschlechtern“, der „Ehrbarkeit“ und den Deutschordensherren, hier auch seine bürgerliche und wirthschaftliche Stellung bewahrt hat.

Die Bewohner Rothenburgs haben nämlich den Umstand, daß weithin keine andere Stadt liegt, mit der ihnen eigenen Tüchtigkeit zu benutzen verstanden, und sich so das alte Hinterland und die alte Kundschaft bewahrt; es wird neue dazu kommen, sobald die Eisenbahn weitergeführt ist.

In mancher anderen altehrwürdigen Stadt würde es sich seltsam ausnehmen, wenn die Bürger von heute in den stattlichen Formen und Farben des fünfzehnten oder sechszehnten Jahrhunderts auftreten und die Hergänge von damals in einer Umgebung erneuern wollten, welche nichts ist als das traurige Schattenbild einer vergangenen Größe, welche sich nichts gerettet hat als die Poesie des Verfalls und die Sympathie mit dem Unglück.

In Rothenburg ob der Tauber ist das anders: Hier kann die Gegenwart „Vergangenheit spielen“, weil sie noch in vielen und in entscheidenden Stücken ein würdiges Spiegelbild der Vergangenheit ist, ohne deshalb der Gegenwart zu entsagen. Dies ist die „berechtigte Eigenthümlichkeit“ Rothenburgs, wodurch es sich von vielen deutschen Städten unterscheidet, ja vielleicht ist es nicht zu viel behauptet, wenn man sagt: von allen anderen deutschen Städten.

Dies tritt uns sichtbar und greifbar vor die Augen, wenn wir die Stadt durchwandern, unter Anderem z. B. auch in den Tafeln von weißem Marmor, welche an einer ziemlich großen Anzahl von Häusern angebracht sind und deren Inschriften uns verkünden, was sich vormals in dem betreffenden Hause zugetragen, welches Geschlecht das Haus bewohnt, welche Kaiser und Fürsten da Quartier genommen, welche historischen Personen darin geboren oder gestorben und was sonst für wissenswürdige Dinge dort passirt sind.

Nehmen wir dazu das soeben erschienene Buch des Herrn Heinrich Weißbecker, eines kundigen und zuverlässigen Forschers in Rothenburger Dingen, betitelt: „Rothenburg ob der Tauber, seine Alterthümer und Inschriften“, so sind wir im Stande, uns rasch und bequem topographisch-historisch zu orientiren. So viel ich weiß, ist es auch Weißbecker, der die Anregung zur Anbringung jener Marmortafeln gegeben.

Die in Obigem geschilderte Eigenthümlichkeit der Stadt ist es, welche die Aufführung dieses historischen Festspiels ermöglicht und uns den Schlüssel giebt zur Erklärung des wunderbaren Eindrucks, den dasselbe in uns Allen hinterlassen.

Die Bühne befindet sich, wie bereits gesagt, Ende Mai 1882 in demselben Rathhause, in welchem sich Ende October 1631 die Ereignisse zugetragen haben, die uns vorgeführt werden. Der Schauplatz ist also derselbe. Ja, die Requisitstücke sind dieselben: Die Schlüssel, welche dem siegreichen Feinde in dem Stücke überreicht werden, sind in Wirklichkeit die echten und veritabeln Schlüssel zu den noch vorhandenen Schlössern der noch vorhandenen schweren Thüren in den noch vorhandenen massigen Stadtthoren. Der kunstvoll geschnitzte Schrank, aus welchem die Schlüssel heute herausgenommen werden, ist derselbe, in welchem sie schon vor dritthalbhundert Jahren aufbewahrt wurden.

Wenn in dem Stücke die Orgel der Kirche erklingt, so ist das die Orgel der Jacobi-Kirche, welche schon 1631 erklungen. Dasselbe gilt von dem Liede: „O komm mit Deiner Gnade“, wie auch das Glöcklein, welches für die Armensünder geläutet wird, und das, welches die Senatoren auf das Rathhans ruft, noch immer dieselben sind.

Ja, der Kanonendonner kommt aus den nämlichen alten Feldschlangen, welche 1631 fungirt haben. Man hat der Stadt in der Rheinbundeszeit von all ihren Trophäen nur diese drei Geschütze gelassen — wahrscheinlich, weil sie nichts taugten; denn das eine davon ist in Folge der Schlechtigkeit des Materials, woraus es gegossen, kürzlich gesprungen, nicht ohne mehrere Leute zu verletzen. Wenn die Geschütze gelöst werden sollen, das heißt wenn die Aufführung bis zu den Stellen gelangt ist, wo der Text des Stückes das Schießen vorschreibt, wird ein rothweißes Fähnlein (roth und weiß sind die Farben des Stadtwappens: eine rothe Burg in einem weißen Felde) zum Rathhausfenster hinausgehängt, und dann erdröhnen die Geschütze.

Und die Kirchenglocken, welche in dem Stücke zu läuten beginnen, sind dieselben Glocken der St. Jacobs-Kirche, welche schon im October 1631 geläutet haben. Dieser Glocken sind sechs, nämlich die Wetterglocke, die Thorglocke, die Predigtglocke, die Mittagsglocke, die Todtenglocke und die Vesperglocke. Sie sind — so besagen die Inschriften — alle Anno 1626 gegossen, und zwar, wie es auf der Wetterglocke heißt, während der Regierung der Bürgermeister Johannes Bezold und Johannes Staudt („Joanne Bezoldo et Joanne Staudtio consulibus, aedisque hujus curatoribus, vere felicibus“, welche beiden Männer, wie wir sehen werden, auch in unserem Festspiele auftraten.

Was sagen die Meininger zu solchen Requisiten? Wie vermögen sie gegen diese echten alten Glocken, Schlüssel, Schränke, Feldschlangen etc. aufzukommen? Haben sie so doch nur Nachahmungen! Ihr Schwert Hermann’s des Cheruskers, die Bärenhaut der Thusnelda, der Lorbeer und die Toga des C. Julius Cäsar — alles eitel Imitation! Hier dagegen Alles von beglaubigter, unzweifelhafter — ich möchte sagen: von wahrhaft monumentaler Echtheit. Also hierher, nach Rothenburg, müßt ihr kommen, ihr Freunde historisch-antiquarischer Feinschmeckerei! Hier ist alles wahr, alles echt. Hier giebt es keine falschen Schlüssel und keine nachgemachten ägyptischen Königstöchter.

In Obigem habe ich mich bemüht, eine kurze Schilderung der örtlichen Voraussetzungen zu geben, ohne deren Kenntniß der Gang und die Wirkung des Festspiels nicht zu verstehen ist. Im zweiten und letzten Abschnitte meines Artikels werde ich dieses Festspiel selbst und das Nachspiel beschreiben; Illustrationen werden meine Erzählung veranschaulichen.

Vorläufig giebt das der gegenwärtigen Nummer beigegebene große Bild eine Gesammtdarstellung des Saals und der Bühne; es zeigt im Vordergrunde das Publicum, welches den Saal füllt, dann die Bühne, welche die eine Schmalseite des Saals einnimmt und nur eine geringe Tiefe hat. An der Rückseite derselben steht der alte Schrank, in welchem die Stadtschlüssel verwahrt werden. Außer den beiden sich rechts und links befindenden Thüren hat die Bühne noch einen dritten Zugang von großer Eigenthümlichkeit. Ich werde davon in dem nächsten Artikel reden. In der Mitte steht vor dem Sitzungstisch der Senator Nusch, im Begriffe, den Meistertrunk zu verrichten; auf der einen Seite sitzt Tilly mit seinem Leib-Dominicaner, seinen Verbündeten und Generalen, auf der andern stehen die Senatoren und die Kriegsknechte. Oben, zwischen den Trophäen — den kaiserlichen auf der einen und den rothenburgischen auf der andern Seite — präsentirt sich das Bild Nusch’s, der das Capitol und das Leben der Senatoren rettete — nicht durch Schnattern wie weiland die Gänse, sondern durch tapferes Trinken.



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Alexandrien.*[1]

Ein zeitgemäßes Städtebild.

Seit Jahren drangen frohe Botschaften vom heiligen Nilstrande zu uns herüber. Bald vernahmen wir mit Staunen von den Früchten einer mühevollen Arbeit zahlreicher Gelehrter, welche aus dem Schuttgerölle Aegyptens der Menschheit die wunderbare Geschichte einer wichtigen Culturepoche offenbarten, bald lauschten wir den Nachrichten, die von dem großen Friedenswerke einer die Meere verbindenden Handelsstraße berichteten, und mit freudiger Zuversicht maßen wir die Fortschritte, welche in jenem von der Natur so reich ausgestatteten Lande die abendländische Civilisation zu erringen schien.

Selbst gewichtige Kenner des Orients wiegten sich in der Hoffnung, Aegypten werde sich in kurzer Zeit zu einer Vormacht der Cultur mitten in der trägen und verfallenden mohammedanischen Welt gestalten, zu einer grünenden Oase der Bildung und Gesittung, von welcher aus neues Leben in die verwilderten Völker Nordafrikas und Kleinasiens strömen müßte.

Die letzten Tage haben viele dieser Hoffnungen Lügen gestraft. Ein elender Pöbel mordete auf den Straßen Alexandriens die Europäer in cannibalischer Weise und vertrieb mit Knüppeln die Pioniere des Welthandels und der Industrie. Hunderte von Menschenleben und Millionen an Werth sind in kurzer Zeit durch blinden Fanatismus zu Grunde gerichtet worden, und der wichtigen Handelsstraße von Suez droht in dem Augenblick, wo wir diese Zeilen niederschreiben, die gleiche Gefahr. Unter diesen Umständen kann ein Rückblick auf die Entwickelung der jüngsten ägyptischen Wirren, eine Schilderung von Land und Leuten, wie sie noch vor Kurzem am Nilstrande dem Auge sich darboten, unseren Lesern nur erwünscht kommen; denn auf Grund derselben werden sie die Höhe des Verlustes, welchen hier die europäische Cultur erleidet, am besten ermessen, einen Einblick in die Bedeutung der ägyptischen Frage gewinnen und wohl zu der Ueberzeugung gelangen, daß hier eine vielversprechende Culturblüthe in roher Weise zerknickt wurde.

Wir betreten das Land an jener Stelle, an welcher jetzt die Kriegsfurie zuerst losbrach und der dröhnende Donner der Geschütze den Beginn einer neuen Aera in der Entwickelungsgeschichte des Pharaonenlandes verkündete.

Etwa eine Stunde vor dem Hafen Alexandriens erblickt der Reisende fern am Horizonte den Leuchtthurm dieser Stadt, das einzige Zeichen, welches die Nähe des Festlandes verräth. Vergebens späht sein Auge nach dem schmalen Landstreifen, welcher sonst das nahe Ende einer Seereise zu bedeuten pflegt; denn die Küste Aegyptens ist flach und daher auf weite Entfernungen hin dem Auge nicht sichtbar. Aber schon dieser erste einsame Gruß, den der weiße Thurm dem Fremdling im Namen Alexandriens entgegensendet, ist geeignet, in seiner Seele eine Fluth glanzvoller und düsterer Erinnerungen zu wecken; denn wem würde der Anblick dieses schlanken modernen Bauwerks, von dessen Spitze in tiefer Nacht ein helles Licht den Schiffen den Weg in den Hafen weist — wem würde er nicht das Bild jenes alten Leuchtthurms von Alexandrien vor die Seele zaubern, welchen einst die alten Griechen unter die vornehmsten Wunder der Welt zählten?

Der stolze Bau des Sostratus hieß nach dem Eiland, auf welchem er errichtet war, Pharus, und nach ihm trugen ja später alle Leuchtthürme denselben Namen. Die sagenhafte Ueberlieferung von der Pracht dieses Wahrzeichens der Stadt, von der ehrgeizigen Schlauheit seines Baumeisters, der wohl auf dem äußeren Stuckwerk den Namen des königlichen Bauherrn, Ptolemäus Philadelphus, anbrachte, aber seinen eigenen in den inneren Stein eingrub, damit nach dem Verfall des Marmors sein Ruhm den künftigen Geschlechtern bekannt würde — diese und viele andere mit dem alten Leuchtthurme verknüpften Sagen lassen wie mit einem Schlage das alte Alexandrien in seiner märchenhaften Pracht vor unsern Augen auftauchen, bevor wir die heutige Stadt erblickt. Und so ziehen an uns die wechselnden Ereignisse der Jahrhunderte vorüber.

Einst lag an dieser Bucht des Mittelländischen Meeres, der Insel Pharus gegenüber, ein ägyptisches Fischerdorf, Rhakotis, in welchem auf seinen Kriegszügen der große Macedonier Alexander 332 v. Chr. Rast hielt. Hier erschien ihm im Traume ein würdiger Greis und redete ihn mit den Versen Homer’s an:

„Eine der Inseln liegt in der weit aufwogenden Meerfluth,
Vor des Aegyptos Strom, und Pharos wird sie geheißen.“

In Folge dieses Traumes, berichtet die Sage, beschloß Alexander an jenem Orte eine Stadt zu gründen, die zum Mittelpunkte des Handels zwischen dem Westen und Osten der damaligen Welt werden sollte. Der griechische Baumeister Dinokrates erhielt den Auftrag, den Plan der Stadt zu entwerfen, und er gab ihm die Gestalt eines Fächers. Unter seiner Leitung wurde auf dem ebenen Boden die Breite und Richtung der Straßen durch Auftragen weißer Kalkerde angedeutet, und als der Vorrath an derselben ausging, wurde Mehl zu diesem Zwecke verwendet. Da flogen zahlreiche Vögel herbei und fraßen das ausgestreute Mehl, was man allgemein als ein glückliches Vorzeichen mit Freude begrüßte.

Das Vorzeichen trog nicht. Bald ward Alexandrien zum Mittelpunkt des Handels, der Industrie und der Wissenschaft, und wohl steht das rasche Emporblühen der Stadt einzig in der Geschichte da; denn selbst das zauberhafte Wachsthum der Städte Amerikas in unserem Jahrhundert läßt sich kaum mit ihm vergleichen. Hier erhob sich das weltberühmte Museum mit zahllosen Sälen, Höfen und Säulengängen, mit vielen Abschreiberstuben und Buchbinderwerkstätten, mit jener großartigen zur Zeit Cäsar’s 900,000 Rollen umfassenden Bibliothek — der Sitz der Gelehrten, die der Wissenschaft und Kunst viele Generationen hindurch unter dem Namen der alexandrinischen Schule unvergeßliche Dienste leisteten. Hier stand die Wiege der Sprachenkunde, welche damals als Grammatik gepflegt wurde; hier blühten die Naturwissenschaften, von Männern wie Hero und Ptolemäus gefördert; hier ist das Ptolemäische Weltsystem aufgestellt worden, welchem bis zu Copernikus die gesammte Welt huldigte; hier wurden die Principien des ersten allgemein gültigen, von Cäsar eingeführten Kalenders ausgearbeitet; hier endlich wurde die christliche Lehre durch die Resultate griechischer Cultur veredelt und zur Weltreligion erzogen.

Auf die Tage der Blüthe folgte aber nach wenigen Jahrhunderten eine Zeit schwerer Prüfungen, und das leichtlebige, aus den Nationen des Orients und Occidents bunt zusammengewürfelte Volk von Alexandrien hatte viel zu leiden unter dem Druck der römischen Cäsaren, unter der späteren Nebenbuhlerschaft Byzantiums und unter den siegreich in seine Mauern einziehenden Nachfolgern des großen Propheten Mohammed.

Doch dem Reisenden bleibt wenig Zeit übrig zu weiteren geschichtlichen Betrachtungen. Schon steigt am Horizont ein Wald von Masten herauf; schon erheben sich am fernen blauen Himmel schlanke, rauchende Essen und die langausgestreckten Arme zahlreicher Windmühlen; schon mahnen die Spitzen der Minarets den Fremdling an die nahe Ausschiffung, und mit tausend neuen Bildern bestürmt und nimmt ihn gefangen das laute und bunte Treiben der Gegenwart.

Jetzt nahen Lootsen in orientalischen Gewändern auf leichten Booten dem Schiffe, und auf den blauen Wogen gleitet der Kiel sicher durch die enge klippenreiche Einfahrt in den alten Hafen von Alexandrien. Rechts erhebt sich das halbverfallene von Said Pascha erbaute Schloß El-Meks, an welches sich einige Strandbatterien anschließen, und zwischen ihnen und der Stadt grünen, zu Hainen vereinigt, hochgewachsene Palmen, die schlanken Töchter des Morgenlandes. An den vorspringenden Punkten des Strandes erheben sich einige Forts, die, mit guten Geschützen armirt, wohl die feindlichen Flotten von dem Hafen fernhalten könnten, aber man sagt uns, daß die europäischen Panzerkolosse die dort aufgestellte Artillerie nicht besonders zu fürchten brauchen.

Hinter dem großen Wellenbrecher eröffnet sich vor unsern Augen ein weites Panorama: im Vordergrunde der stark belebte Hafen, hinter ihm die Stadt mit ihrem verworrenen Häusermeer. Bald erscheint ein Sanitätsofficier am Bord, und das Schiff wird [497] von zahllosen Booten umschwärmt, aus welchen sich braune, zerlumpte Gestalten erheben und unter Geschrei und lebhaften Gesticulationen den Reisenden ihre Dienste anbieten. Aber man bemerkt unter ihnen auch elegantere Fahrzeuge, deren Bootsleute die Namen der berühmteren Hôtels, wie „Hôtel de l’Europe“, „Hôtel Canal de Suês“ etc. in großen Buchstaben auf der Brust aufgenäht haben; manche von ihnen schwenken auch Fahnen, auf welchen in Riesenlettern die Namen der Gasthöfe zu lesen sind. Kaum hat nach einigen kurzen Formalitäten der Sanitätsofficier das Schiff verlassen, so stürzt diese Rotte auf’s Deck und sucht sich des Gepäcks der Passagiere zu bemächtigen. Da heißt es, ein wachsames Auge zu haben und sich Hab und Gut von diesen Nachkommen der Pharaonen, griechischen und arabischen Sprößlingen nicht verschleppen zu lassen. Bevor wir uns aber unter dem Schutze eines dieser Gesellen der Stadt selbst nähern, werfen wir noch einen Blick auf den Hafen, der eine interessante Vergangenheit aufweist.

Plan von Alexandrien.

Im Alterthum ragten hier zwei Landspitzen gegen die Insel Pharus hervor, welche eine für die Schiffe sichere Bucht bildeten. Heute sucht das Auge dieses Eiland vergebens. Ptolemäus Soter verband nämlich das Festland mit der Insel durch einen mit zwei Durchfahrten versehenen und sieben Stadien (1300 Meter) langen Damm und trennte so den Hafen in zwei Theile, von denen der östliche den Namen der „große Hafen“ erhielt, während dem westlichen, in den wir soeben eingefahren sind, der Name Eunostos (das heißt der Hafen der glücklichen Heimkehr) beigelegt wurde. Dieser nach seiner Länge Heptastadion getaufte Damm, der zugleich den auf der Insel sich erhebenden Stadttheilen als Wasserleitung diente, verfiel mit der Zeit und wurde durch die in’s Meer geworfenen Trümmer der alten Stadt und herangeschwemmten Schlamm in eine etwa 1500 Meter breite Landenge verwandelt. So ist hier die Insel Pharus verschwunden und so entstanden die beiden auf der obigen Karte angegebenen Häfen, von denen gegenwärtig fast ausschließlich der „alte“ benutzt wird, da die Türken den „neuen“ durch Hineinwerfen des Ballastes unbrauchbar gemacht haben.

Es wird mit Recht behauptet, daß für den Touristen ein Tag genügt, um die Sehenswürdigkeiten Alexandriens in Augenschein zu nehmen*[2]. In der That sind auch von dem früheren Glanze der Stadt nur geringe Spuren übrig geblieben, und im Großen und Ganzen trägt sie nur in ihrem nördlichen, arabischen Viertel das orientalische Gepräge, während das nach dem Süden hin sich ausbreitende Frankenviertel sich von den europäischen Städten nicht wesentlich unterscheidet.

Früher ging der Tourist von dem großen Platze des Mohammed Ali, auch Platz der Consuln genannt, welcher mit der Reiterstatue des um Aegypten hochverdienten Regenten, zwei Fontainen und Baumpflanzungen geschmückt ist, an das Meeresgestade, wo in der Nähe des Bahnhofes, auf dem Hofe einer Steinmetzerei, die „Nadel der Cleopatra“ stand und wo neben ihr ein anderer Obelisk auf dem Boden lag. Heute sind diese beiden Sehenswürdigkeiten aus Alexandrien entführt, und der eine Obelisk ist im Jahre 1877 nach London, die Nadel der Cleopatra dagegen im Jahre 1880 nach New-York gebracht worden. Auf dem neblig-ruhigen Themsequai behagt es nicht dem Symbol des glänzenden Sonnenstrahls, und man fürchtet, daß der riesige Stein, der in Aegypten dem Zahne der Zeit durch Jahrtausende trotzte, in London verhältnißmäßig rasch von Wind und Wetter zernagt werden wird.

Wir haben von unserem Consul eine Einlaßkarte zu dem Schlosse des Vicekönigs auf dem Râs-et-Tin, dem Feigencap, erhalten, und nachdem wir an der Pforte desselben noch den üblichen Bakschisch entrichtet haben, treten wir in dasselbe ein. Die Gemächer bieten wenig Interessantes, schön ist dagegen von hier der Ausblick auf das Meer, auf die stillen Gebäude des „Harîms“, den Leuchtthurm und die Festungswerke. Welchen traurigen Anblick mag wohl heute dieses Palais bieten, das englische Bomben in Brand steckten, welchen Anblick die regelmäßigen Forts, deren Leib Hunderte von Geschossen durchwühlten?

[498] Ueber die sonnenerhitzten staubigen Straßen rollt unser Wagen dem Nilthore (Porte de la colonne Pompée) zu. Da liegt vor uns die mit Bastionen versehene Stadtmauer, wie man berichtet, aus den Trümmern der Befestigungswerke des alten Alexandrien errichtet. Diese alten Festungswerke, welche einst Cäsar stürmte und welche den Angriffen der römischen und griechischen Kaiser kräftig trotzten, wurden bekanntlich auf den Befehl des Chalifen-Feldherrn Amru geschleift, welcher geschworen hatte, die Stadt von allen Seiten zugänglich zu machen, wie das Haus des Lasters.

Hinter einem großen mohammedanischen Friedhofe, an dem wir vorüberfahren, erhebt sich auf einem Hügel das einzige noch ziemlich erhaltene Denkmal des alten Alexandrien, die schon von Weitem sichtbare, aus rothem Granit erbaute Pompejus-Säule. Ihr aus einem einzigen Steine gehauener gewaltiger Schaft ist 20,4 Meter hoch und hat unten einen Durchmesser von 2,7 Meter; oben krönt ihn ein roh gearbeitetes korinthisches Capitäl. Dieses im Ganzen 31,8 Meter hohe Denkmal wurde im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von dem römischen Präfecten Pompejus dem Kaiser Diocletian zu Ehren errichtet, da er der Stadt während einer Hungersnoth Getreide geschenkt hatte.

Auf der Spitze dieser Säule stand wohl einst die Büste des Kaisers, nach einer anderen Ueberlieferung aber ein ehernes Pferd, welches die Alexandriner zur Erinnerung an eine schwere Zeit errichtet haben sollten: Es hatte sich ein gewisser Achilleus als Gegenkaiser in Alexandrien niedergesetzt, und der echte und rechte Kaiser Diocletian zog gegen ihn zu Feld. Acht Monate lang mußte er die Stadt belagern, bis sie endlich in seine Macht fiel und der Pseudokaiser Achilleus getödtet wurde. Diocletian ließ nun Alexandrien durch seine siegreichen Legionen plündern, und zornentbrannt gab er den Befehl, so viele der aufsässigen Bürger zu tödten, bis das Blut das Knie seines Schlachtrosses benetzen würde. Als aber der Kaiser durch die von Mord erfüllten Straßen ritt, stolperte sein Pferd über einen Leichnam und befleckte sein Knie mit Blut. Das hohe Gebot ward also erfüllt und dem Morden Einhalt gethan.

Es mag viel Uebertreibung in dieser Geschichte enthalten sein; etwas Wahres wird sie aber immerhin berichten; denn die Cäsarenherrschaft in Alexandrien hat sich mehrmals mit ähnlichen Schandthaten befleckt. Hat doch Caracalla, aufgebracht durch einige Witzworte, ein Blutbad unter den Bürgern anrichten lassen, daß das Meer im Hafen roth schimmerte, und hat er doch an den Senat in Rom berichtet, er habe jene Tage in Alexandrien fromm verlebt und den Göttern mit dem Schlachtvieh Menschen geopfert.

Von der Pompejus-Säule begeben wir uns zu den am Meeresstrande gelegenen Katakomben; in diesen in Stein gehauenen Grabkammern setzten die Aegyptier ihre Mumien und die Griechen ihre Todtenurnen bei. Heute ist diese Stätte des Todes von der Speculation in Steinbrüche verwandelt worden, und die düsteren Gewölbe werden bald von der Erdoberfläche verschwinden — vielleicht ist schon heute keine Spur mehr von ihnen vorhanden.

Aus dem Staub der Steinbrüche flüchten wir uns in das Grün des öffentlichen Gartens, Ginenet-en-Nuzha (Jardin pastré), wo die Gewächse der Tropen unter freiem Himmel gedeihen, wo uns der Schatten der Palmen zur Ruhe ladet. Wir sehen hier den berühmten Mahmudiye-Canal, der im Jahre 1819 von Mohammed-Ali gebaut wurde und an dessen Herstellung 250,000 Menschen ein Jahr lang arbeiteten. Auch die Werke der Cultur fordern ihre Opfer, und diese Wasserkunst, welcher Alexandrien sein neues Aufblühen verdankt, wurde nicht allein mit 7½ Millionen Franken, sondern noch mit 20,000 Menschenleben bezahlt. In Ginenet-en-Nuzha giebt sich die elegante Welt Rendez-vous. Es rauschen da wohl seidene Stoffe; es schimmert da wohl Gold, und es funkeln Edelsteine; denn die Griechen und Türken, die hier hausen, die Araber, die hier herrschen, die Franzosen und Engländer, die hier Handel und Industrie treiben, und die Juden, die hier Wechslergeschäfte verrichten — sie sind Alle wahrlich nicht arm. Elend und zerlumpt geht nur der Fellah einher, der Ureinwohner des Landes, der Nachkomme der Pharaonen, der mit dem Schweiße seiner Arbeit die oft kostspieligen Speculationen der Fremden und die verschwenderischen Launen seiner Regenten bezahlen muß. Ach, nur zu wahr ist das von einem Franzosen gesprochene Wort: „Unter der Peitsche des Steuereintreibers strömt aus den Adern des Fellahs Blut und Gold zugleich!“

Ein Reisender, der im vorigen Jahrhundert die Stadt besuchte, verglich sie mit einem Waisenkinde, dem von Allem, was sein Vater besessen, nichts übrig geblieben sei, als ein berühmter Name. Auf das heutige Alexandrien paßten diese Worte freilich nicht; denn Dank dem Einfluß der europäischen Cultur schien es zu neuem thatkräftigem Leben geweckt worden zu sein. Nach der Zählung vom Jahre 1877 betrug die Bevölkerung der Stadt 165,000 Seelen, darunter gegen 50,000 Fremde der verschiedensten Nationalitäten; sie besitzt Eisenbahnen, seit 1865 Gasbeleuchtung und eine neue Wasserleitung. Und wie einst Aegypter, Griechen und Juden in ihren Mauern ihren Cultus ungestört verrichteten, so erheben sich hier auch jetzt neben den Minarets christliche Kirchen, darunter eine protestantische, und jüdische Synagogen. Freilich — heute hat ein zügelloser Fanatismus die Fremden aus der Stadt verjagt; ihre Häuser stehen leer — vielleicht plündert der Pöbel ihre Kirchen. Hoffen wir, daß die barbarische Fluth bald zurückschäumt, daß in die Stadt wiederum Cultur und Gesittung den Einzug halten, um die Wunden zu heilen, welche blinde Unvernunft dem Lande geschlagen.

Doch in dem „halbfränkischen“ Alexandrien, dessen Straßen zum größten Theil französische Namen tragen, sind Aegyptens Land und Leute in ihrer nackten Urwüchsigkeit nicht zu schauen. Wer sie kennen lernen will, der muß weiter landeinwärts ziehen, der muß Ebers’ bezauberndem Rufe folgen:

„Auf denn nach Süden durch das Delta, den grünen Fächer, an dessen Griff, wie der Dichter sagt, als kostbarer Demantstein Kairo schimmert!“




Etwas über Hamburger Alster-Regatten.

Unsere Alster,“ sagt der Hamburger mit Stolz, und er ist berechtigt hierzu — aus mehr als einem Grunde. Ist doch dasjenige, was man in allen fünf Welttheilen von der Alster kennt, sei es aus eigener Anschauung oder aus Abbildungen, specifisch hamburgisch; ich meine die beiden prachtvollen Bassins, welche der Alsterfluß auf dem Gebiete der „freien und Hansestadt“ bildet, die „Außenalster“ und die „Binnenalster“; erstere 1,834,000, letztere 203,000 Quadratmeter groß, „Edelsteine in Hammonias Mauerkrone“, wie ein neuerer Poet sie genannt hat. Aber auch das gesammte Alsterflüßchen auf holsteinischem Gebiete ist Eigenthum der hamburgischen Republik, welche es 1306 bis 1310 von den Schaumburger Grafen gegen baares Geld redlich erwarb, um mittelst eines bis zur Trave geführten Canales in directe Flußschifffahrtsverbindung mit Lübeck zu gelangen. Die Benutzung dieses Canals, welcher noch heutzutage vorhanden ist, ward erst 1550 aufgegeben; dennoch hielt Hamburg an seinem Hoheitsrechte fest und sorgte namentlich für beste Instandhaltung der acht Schleusen oberhalb der Stadt, da die Alster mit ihrer starken Strömung den Hafen der Stadt vor Versandung schützt. Auch gehören die Alsterarme innerhalb der Stadt zu den besten „Fleeten“, den bekannten Canälen, welche Hamburg zum „nordischen Venedig“ machen und dem Handel vortreffliche Dienste leisten, indem auf diesem billigen Wasserwege die Waaren mit geringen Unkosten aus den Seeschiffen in die Speicher transportirt werden können.

Ausschließlich Rücksichten der vorgeführten Art, rein praktische und materielle Beweggründe waren es, welche im vierzehnten Jahrhundert die alten hansischen Rathsherren zu dem Ankaufe des Flusses bewogen; denn die landschaftliche Schönheit des letzteren existirte damals noch nicht; das jetzt von Außen- und Binnenalster bedeckte Terrain wies nur moorige Wiesen auf. Der quer durch dieselben hindurchgezogene Stadtwall, dessen Mittelpunkt die Lombardsbrücke bildet, dämmte das Wasser ab, und so entstanden die beiden Bassins, die eine beredte Illustration zu dem alten Sprache geben, daß „Wasser das Auge der Landschaft“ sei; wie arm an landschaftlichem Schmucke wäre Hamburg, welches in dieser Beziehung so ungünstig wie möglich theils auf der flachen Elbmarsch [499] (angeschwemmtes Land), theils auf der sandigen Geest (Urboden) belegen, wenn es jene Juwelen nicht aufweisen könnte!

Dieselben blenden und entzücken wohl auch den blasirtesten Touristen, der aller Erdtheile Wunder gesehen. Ist doch die Binnenalster einzig in ihrer Art; wo sonst noch fände man eine Stadt, die einen See von 2300 Schritt Umfang in ihre Mauern einschließt? Ein unregelmäßiges Viereck bildend, auf drei Seiten umschlossen von mächtigen Häuserfronten – theils Patricierwohnungen, theils Hôtels ersten Ranges – auf der vierten Seite von dem grünen Laub der Gartenanlagen des ehemaligen Stadtwalles eingerahmt, gewährt die Binnenalster einen herrlichen Anblick, imposant im Sonnenglanze, märchenhaft schön aber in klarer Mondnacht.

Begeistert singt Geibel im „Fragment“ der Juniuslieder:

„Die Nacht ist lau; die Schwäne kreisen;
Entschlummert scheinen Blüth’ und Blatt;
Lehn’ dich auf des Geländers Eisen –
Dort zeigt am schönsten sich die Stadt.
Siehst du den Häuserkreis, den dunkeln,
Aus welchem tausend Lichter funkeln,
Und tief sich spiegeln in der Fluth?
So ist’s, wenn mit geschliff’nen Kanten
Ein Kranz von blitzenden Demanten
Auf blauen Sammetkissen ruht.“

Die unzähligen Gasflammen auf den Promenaden, verbunden mit der reichen Erleuchtung der Kaufläden und Cafés des „Jungfernstieges“, strahlen, verstärkt durch den in langen Linien zitternden Wiederschein des in leichten Wellen sich kräuselnden Wassers, in so mächtigem Glanze, daß der Irrthum eines kleinen deutschen Fürsten verzeihlich war, welch Letzterer, als er auf abendlicher Durchreise über die Lombardsbrücke fuhr, seinen ihn begleitenden Consul freundlich schalt:

„Aber ich reise doch im strengsten Incognito – weshalb haben Sie eine Illumination veranstaltet?“

Wirkliche festliche Erleuchtungen der meist vier- bis fünfstöckigen Häuser, ferner Böte mit farbigen Lampions, bengalische Flammen und sonstiges Feuerwerk auf dem Wasser bringen hier zauberische Wirkungen hervor, wie sie die Feder auch nicht annähernd zu schildern vermag.

Wesentlich andersartig präsentirt sich die Außenalster. Ihre Umgebung besteht zum weitaus größten Theil aus schmucken Einzelvillen, die kokett zwischen den Baumkronen der Parks hervorlugen; zwischen ihnen und dem Ufer erstreckt sich gewöhnlich noch das „Bowling-Green“, ein nach englischer Art stets kurzgeschoren gehaltener und reichlich bewässerter Rasenplatz von sammetartigem saftigem Grün, zu Cricket, Netzball und dergleichen Spielen geeignet und viel benutzt. Auch im Uebrigen sind diese reizenden Landsitze selbstverständlich mit all den Schätzen der Gartenbaukunst ausgeschmückt, den die Bankconten der „königlichen Kaufleute“ gestatten; hierin wird diese Gegend freilich von einzelnen Villen am Elbufer bis Blankenese, in denen die hervorragendsten Millionenbeherrscher residiren, noch übertroffen. Aber mögen letztere majestätischer sein, idyllischer ist die Außenalster; namentlich ihre Buchten und Seitenarme bieten allerliebste Veduten, unter denen die Umgebung des seinen Namen mit Recht führenden Feenteiches, nahe der „Schönen Aussicht“ auf der Uhlenhorst, als die Perle gelten darf.

Auf diesen tiefblauen Fluthen, in denen sich die weißen Wasserrosen spiegeln, pflegen zartbesaitete Gemüther poetisch gestimmt zu werden. Solche sind indessen in der nüchternen Kaufmannsstadt verhältnißmäßig selten; die Mehrzahl der Einwohner faßt die Vorzüge „ihrer“ Alster aus anderen Sehwinkeln auf, und eine sehr zahlreiche Fraction, Jung und Alt, betrachtet dieselben kaum als etwas Anderes, denn einen ausgezeichneten Tummelplatz für den edlen Wassersport, für Ruder- und Segelregatten.

Beide, nach dem von England gegebenen Vorbilde seit den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts hier eifrig cultivirt, bieten die interessantesten Schauspiele auch für den Nichtkenner. Nach vielen Tausenden zählt das zuschauende Publicum, und bei solchen Gelegenheiten geräth der sonst so kalte und reservirt „zugeknöpfte“ Hamburger ganz aus dem Häuschen.

In Momenten, wie dem aus unserer Abbildung (S. 500) dargestellten, bei scharfem Kampfe um die Siegespalme, besonders bei den Ruderconcurrenzen, geberden sich die Menschen am Ufer und auf den längs der Bahn liegenden Fahrzeugen so leidenschaftlich, wie die heißblütigsten Südländer; die unzähligen Zurufe des Beifalls und der Ermunterung bringen einen unbeschreiblichen Lärm hervor, der die Gruppe der Wettbewerber fortwährend begleitet. Selbst solide alte Börsenherren auf den escortirenden Dampfern brüllen unter heftigsten Gesticulationen ihr: „Bravo Jungens! Fest ‚Mathilde‘! Hurrah für ,Titania’!“ und Aehnliches mit vollster Lungenkraft – die ruhigen Bürger sind wie umgewandelt; wer dergleichen je erlebt hat, kann uns bezeugen, daß wir nicht im mindesten übertreiben.

Eine gehörige Dosis von Begeisterung für dieses männlich-kräftigende Vergnügen muß aber auch schon bei den Nächstbetheiligten herrschen, um die großen hier aufgewandten Opfer an Zeit, Mühe und Geld zu ermöglichen. Schon das geschickte Segeln unter bester Verwerthung der Windeskraft und vortheilhaftester Benutzung der Wasserbahn erfordert nicht geringe Uebung und Sachkunde. Vollends aber der Ruderer hat sich zum Wettkampfe durch etwa sechs Wochen außerordentlicher Strapazen und Entbehrungen würdig vorzubereiten, und zwar durch „Trainirung“.

Der junge Mann, welcher „under train“ ist, hat folgende Lebensweise genau zu beobachten: Des Morgens wird so frühzeitig aufgestanden, daß um 5 Uhr die Uebung beginnen kann. Die Mannschaft bringt das Boot, welches während der Zeit der Nichtbenutzung im Boothause auf dem Trockenen und im Schatten lagert, zu Wasser, und während mehrstündiger Fahrt lehrt der „Trainer“, wie man ein Ruder mit der nöthigen Feinheit eintaucht, wie man ihm Schwung und Federkraft giebt, wie ein schneller oder langsamer Schlag auszuüben ist etc.; die Kraftentwickelung allein genügt nicht: Ausdauer, Geschicklichkeit und einheitliches Zusammenwirken sind wesentlichstes Erforderniß. Einige Ruderclubs verschreiben sich eigene „Trainer“ (die das Trainiren als Geschäft betreiben) aus England, was natürlich recht hohe Kosten verursacht, während bei anderen erfahrene ältere Mitglieder die Uebungen leiten.

Der Trainir-Rudertour folgt kalte Abreibung und ein Frühstück, bestehend etwa aus einem Glase Sherry oder Portwein und gehacktem, rohem Beefsteak mit Eigelb; denn der Trainirende hat eine unglaublich strenge Diät zu halten. Er macht eine Art Banting-Cur durch: nichts „Fettbildendes“ darf er zu sich nehmen; beispielsweise Bier, Milch, Zucker, Kartoffeln, Reis, Fett, Mehlspeisen sind ihm verboten. Schwach gebratenes oder rohes Fleisch, weniges in Wasser gekochtes Gemüse, ein Bischen Zwieback oder Cakes sind seine Hauptnahrung; guter, alter Wein in mäßiger Quantität sein Getränk; alles unnöthige Fett soll aus dem Körper entfernt, Sehnen und Muskeln sollen ausgebildet werden. Ferner darf der Trainirende nicht rauchen (schweres Opfer für Manchen!), und muß überhaupt alles Entnervende und jegliche Excesse vermeiden. Daß er diese Gebote hält, dafür bürgt sein Ehrenwort; bräche er dieses, so wäre er natürlich als Mitglied eines Gentleman-Ruderclubs unmöglich und würde unbedingt ausgeschlossen.

Das Trainiren ist übrigens weniger schlimm, als es den Anschein hat; denn an die Entbehrungen gewöhnt sich der junge Mann bald; die harte Arbeit ist dem sonst an das Schreibpult Gefesselten eine angenehme Abwechslung, und reichlich entschädigend wirkt das stete Steigern körperlicher Kraft, deren Vollgefühl ihn schließlich mit unbeschreiblichem Wohlbehagen erfüllt.

Dazu kommt noch als Sporn die Hoffnung, die heiß ersehnte Siegesehre davon zu tragen. Ausschließlich um die Ehre wird jetzt auf den Alsterregatten gekämpft; denn eingelegte Concurrenzen um Geldpreise zwischen professionirten Ruderern (Matrosen, Schiffern), wie sie früher üblich waren, finden nicht mehr statt. Die Ehrenpreise sind gewöhnlich recht werthvoll: silberne und selbst goldene Humpen, Pokale, Tafelaufsätze und dergleichen, für welche die beiden größeren Vereinigungen von Freunden des Wassersports, „Allgemeiner Alster-Club“ und „Norddeutscher Regatta-Verein“, namhafte, nach manchen Tausenden von Mark sich beziffernde Summen aussetzen. Neben den Werthstücken, welche den gewinnenden Clubs anheimfallen, lohnen Medaillen, Tuchnadeln, Ehrenzeichen etc. die einzelnen Sieger.

Ueber die Ruderböte selbst möge Einiges gesagt werden. Man unterscheidet hauptsächlich, abgesehen von kleineren Nuancen, zwischen der „Touren-Gig“ und dem eigentlichen „Race-Boot“. Erstere, von solider Bauart, sechs- und zwölfruderig, dient neben dem Wettrudern auch zu Ausflügen auf die Elbe und die Bille; ein solches flaggen- und wimpelgeschmücktes Fahrzeug, oft zum Schutz der „Passagiere“ nahe dem Steuer noch mit einem hübschen Zeltbaldachin versehen und von den Ruderern in ihrer idealisirten

[500]

Segelregatta auf der Außenalster bei Hamburg, vom Thurme des Uhlenhorster Fährhauses gesehen.
Originalzeichnung von W. Heuer.

[501] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [502] Seemannstracht mit tactmäßigen Schlägen rasch vorwärts getrieben, gewährt einen recht hübschen Anblick.

Das eigentliche „Race-Boot“ dagegen ist ausschließlich für Regattazwecke bestimmt. Es ist sehr schmal und von äußerst leichter Bauart; die Planken sind so dünn, daß selbst die Ruderer mit ihrem leichten Fußzeug auf’s Vorsichtigste auftreten müssen, um nicht durchzubrechen, und es ist „out-rigged“, das heißt, die Stützpunkte für die Ruder sind am Ende von eisernen Stangen angebracht, die sich circa einen halben Meter weit über den Bord hinaus erstrecken, zwecks Verstärkung der Hebelkraft des Ruders; pfeilschnell schießt das leichte Ding dahin.

Erwähnenswerth sind noch die „sliding-seats“ (gleitenden Sitze) auf den Ruderbänkchen. Der Ruderer sitzt auf einem Brettchen, welches auf Rollen ruht, die sich in messingenen Schienen bewegen. So schnellt denn bei jedem Ruderschlage die ganze Mannschaft einige Zoll vorwärts (die Füße haben an ledernen Riemen einen Haltepunkt) und die Körperschwere giebt einen die treibende Kraft verstärkenden Ruck. Ueber die sliding-seats sind indessen die Meinungen getheilt. Die Frankfurter Rudergesellschaft, welche vor einigen Jahren ein Boot nebst auserlesener Mannschaft nach Hamburg entsandte und brillant siegte, hatte feste Sitze, und seitdem ist diese Frage eine vielbestrittene, aber noch unentschiedene.

Auswärtige Gäste sind auf Hamburger Regatten nichts Seltenes; in den letzten Jahren sah man unter Anderem Engländer, Kieler, Prager, ja selbst Triester Ruderer concurriren. Wesentlich mit Rücksicht auf den Umstand, daß die Engländer am Sonntag nicht rudern, wird eine der alljährlich stattfindenden Regatten an einem Sonnabend abgehalten.

Den Schluß der Wasserfeste pflegt ein Mittagsmahl im Uhlenhorster Fährhause zu bilden, einem beliebten Vergnügungsort der Hamburger; der Thurm desselben bietet das großartige Panorama, dessen schönsten Punkt der Zeichner unseres heutigen Bildes fixirt hat.

G. K.




Bob Zellina.
Novelle von Karl Theodor Schultz.
(Fortsetzung.)

Bob lehnte sich rückwärts an den Pfeilertisch, kreuzte die Arme über der Brust und sagte:

„Du siehst, daß ich wieder ruhig bin. Wenn Du ahntest, wie sehr! Und ich will sogar großmüthig sein, Dir einfach sagen, was mich zu meiner Frage veranlaßte. Unter den Generalstabsofficieren, die bei uns Aufnahmen vorgenommen, war auch dieser Baron Hollfeld. Ich sah ihn bei Grumbachs zufällig in einem tête-à-tête mit meiner Frau, das mir auffiel: so brachte ich auf der Heimfahrt das Gespräch unserer Officiere auf ihn und seine Vergangenheit; auch fragte ich Alma beiläufig, ob sie nicht schon früher mit ihm zusammengetroffen, was sie natürlich bejahte.“

„Du sagst das so pointirt –“

„Ah! ich weiß warum. Oder hätten sie sich nicht gekannt?“

„Allerdings haben sie sich gekannt –“

„Und geliebt?“

Gleich einem Schrei hatte es geklungen. Ruland schwieg einen Moment; dann wiederholte er in geringschätzigem Tone:

„Und geliebt!“

Wie außer sich, in den Augen ein glühes Funkeln, rief Bob:

„Warum erfahre ich das erst heute?“

„Weil Du erst heute danach fragst,“ antwortete Ruland mit leisem Hohne.

„Herr!“ fuhr Bob schneidend fort, „ich bitte noch einmal, endlich anzunehmen, daß es hier um Menschenschicksale geht, wobei Laune oder gar Witz unerträglich werden – wie das Verbrechen selbst!“

„Ich glaube nun doch,“ versetzte Ruland, sich ebenfalls erhebend, „wir thäten gut, wenn wir diese Materie fallen ließen.“

„Da ich Alles weiß?“

„Nichts weißt Du,“ brach der Rath, nun selbst heftig werdend, los. „Schon aus dem Tone, in welchem ich von dieser Liebelei sprach, hätte ein Anderer geschlossen, was ich damit sagen wollte. Forsche meinetwegen, bei wem Du willst! Du könntest stets nur hören, daß es sich im äußersten Falle um solches Hin und Her gehandelt hat, ohne das sich überhaupt kein Mädchenherz auswächst, das werth ist – ein Herz von Fleisch und Blut genannt zu werden. Ein paar Worte von mir am rechten Orte, und die Schaumblase zerplatzte – als wäre sie nie gewesen. Ueberhaupt jetzt noch die alte Geschichte!“

„Solche alte Geschichten,“ erwiderte Bob herb, „haben mitunter ein zäheres Leben, als wir denken. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie es um Beide steht. Die Liebe – selbst die ärmste, noch so zertretene, sieht schärfer, als alle Klugheit der Welt. Doch ich fürchte, es war schon damals mehr als eine Liebelei – Du hast das nur nicht gewußt. Warum siehst Du zu Boden? Ich will ja nichts als Offenheit.“

„Für mich war es eine bloße Liebelei.“

„Für Dich! Auch nicht etwa, weil es so paßte? – Vergieb! ich bin doch wohl ein wenig fassungslos: im Ernste könnte ich Niemand solche Schurkerei zutrauen.“

Ruland erblich bis in die geschlossenen Lippen und sagte mit Anstrengung:

„Wählerisch bist Du heute in Deinen Ausdrücken nicht.“

„Wählerisch!“ fuhr Bob wieder auf. „Du wirst doch mit mir den Mann, und zwiefach, wenn er ein Vater ist, einen Schurken nennen, einen Schurken an seinem Kinde, an dem unglücklichen Gatten, an der Ehe selbst, wenn er es über sich bringt, sein Kind mit einer Liebe im Herzen zur Ehe mit einem Andern zu zwingen?“

„Sieht man dergleichen Fälle genauer an, so findet man oft –“

„Du willst mir ausweichen!“ unterbrach ihn Bob ungestüm. „Ich habe Recht.“

,,Du hast Recht,“ versetzte Ruland in der verbindlichsten Haltung des Cavaliers.

Bob kam zu sich und sagte, seine Heftigkeit entschuldigend:

„Man ereifert sich mitunter um ganz Unnützes. Was kümmert es uns im Grunde, ob irgend welche Väter ihre Kinder zu einer Ehe oder sonst Etwas zwingen? Es bedarf übrigens dessen ja kaum. Ueberreden, schön zusprechen thut ja dasselbe und ist vor Gott und Menschen so beliebt und geehrt, weil es eben hundertmal zu gutem Ende führt. Und mit der Zeit wird man dann alt und gichtbrüchig, hockt bei einander in den Krankenstuben und lobsingt seiner glücklichen Ehe.“

„Wozu ereiferst Du Dich nun schon wieder?“

„Um einer glücklichen Ehe willen darf man sich wohl ereifern!“ antwortete Bob. „Besonders Einer, dem es nicht so gut geworden, weil er warm erschaffen und sein Lebelang aus dem Rohen herausgestrebt hat! Wenn der auf einmal findet, was er übrigens schon lange geahnt, daß ihm sein Weib nie zu eigen war, weil es in die Ehe mit ihm gezwungen – nicht doch! Weil Schaumblasen platzen gemacht wurden –“

„Du rasest.“

„O könnte ich rasen, mich ausrasen! Vielleicht würde es dann auch mit uns noch einmal gut! Freilich stünde es da schlecht um die Zusprecher oder elenden Ueberreder!“

Die beiden Männer standen einen Moment lang hochaufgerichtet, wie in den Boden gewurzelt, einander gegenüber.

„Doch,“ schloß Bob mit einer abwehrenden Bewegung, „ich werde Niemand mehr nach den alten Geschichten fragen. – Es war mir eben, als könnte die Sühne dafür von einem Andern, einem ganz Andern gefordert werden, ob der auch an Allem schuldlos ist. Nun, daß das Ende wenigstens Allen zum Heile gereiche, darauf will ich mein Glas leeren.“ Er stürzte den Wein hinunter. „Und jetzt lebe wohl! Keine gêne – ich finde meinen Weg!“ Damit fiel die Thür hinter ihm zu.




Alma saß in ihrem Schaukelstuhl; sie hatte auch eine Näharbeit im Schooße liegen, stützte aber momentan den Arm auf’s Fensterbrett und sah in den Garten hinab. Eine gewisse Sorge lag auf ihrem Gesicht: seit Bob’s plötzlicher Fahrt nach der Stadt [503] mußte sie immer wieder an ihn denken. Allerlei wollte ihr nun sonderbar vorkommen — und gerade seit dem Nachmittage bei Grumbachs, obgleich er dort sehr heiter geschienen hatte. Schon gestern, den ganzen Tag hindurch war er gleichsam unnahbar geblieben: nichts von seiner gewöhnlichen Aufmerksamkeit. Selbst ihren Gästen gegenüber hatte er sich augenscheinlich Zwang anthun müssen und schien wie erlöst, als sie Nachmittags abreisten. Um Wichtiges mußte es sich handeln — sonst wäre er nicht während des Erntebeginns fortgefahren, was er nie zu thun pflegte. Und wie flüchtig er — ganz gegen seine Gewohnheit! — Abschied genommen, ohne einmal zu fragen, ob sie nicht Aufträge hätte! Sie persönlich konnte nicht im Spiel sein, war sie sich ja keiner Schuld bewußt!

An Hollfeld dachte sie nun auch, und eher wie verschämt, als daß sie dabei ein Unrecht empfand. — Noch viel vortheilhafter hatte er sich entwickelt. So fesselnd war Alles, wovon er sprach! Wie viel er erlebt hatte! Das Leben in einer Großstadt mußte wohl interessant sein, und sogar bei Hofe war er vorgestellt worden. Ueber die Vergangenheit war natürlich zwischen ihnen kein Wort gefallen; nur fragend angesehen hatte er sie einige Male. Eine rechte Frau bemerkt das aber nicht. Er hatte sich nur verwundert und es gewissermaßen beklagt, daß sie so ganz im Landleben aufgegangen sei. Es war im Grunde auch seltsam — was muß aber mit der Zeit nicht still werden, wenn Dasselbe einen Tag wie den andern füllt?

In einem Seufzer hob sich Alma’s Brust, als aber ihr Blick dabei über den Garten fort in die reiche, blühend schöne Landschaft fiel, wußte sie, was es ihr so verhältnißmäßig leicht gemacht hatte, sich hier an’s Landleben zu gewöhnen.

Sie lauschte. Wenn Bob nicht erst Nachmittags gefahren wäre, so müßte dieses Rollen das ihres Jagdwagens sein. Oder kam noch Besuch? — Mit diesem Gedanken ging sie nach dem Hinterzimmer.

Es war wirklich der Jagdwagen; sie öffnete einen Flügel des Fensters und wollte Bob zuwinken. Er blickte aber nicht herauf.

Selbst das nicht? Dann konnte sich seine Stimmung kaum gebessert haben. Oder sollten etwa wieder so unerquickliche Zeiten bevorstehen, wie in früheren Jahren? Das wäre doch eine harte Prüfung. Und Mancherlei deutete beinahe darauf hin.

Mit dem bestimmten Empfinden, jedenfalls auf Abwehr gerüstet sein zu müssen, schloß sie das Fenster und ging ist das vordere Zimmer zurück. Als Bob noch immer nicht herüberkam, nahm sie ihren vorigen Platz wieder ein und die Näharbeit auf’s Neue zur Hand.

Endlich gingen ein paar Thüren, und Bob trat rasch herein. Sie stand auf, setzte sich aber bei seiner oberflächlichen Begrüßung wieder; auch sagte sie nichts über seine Blässe, welche sie erschreckt hatte, da dieselbe allmählich einer starken Röthe wich. Er mußte sehr erregt sein.

„Die Eltern,“ warf er hin, „grüßen beiderseits. Sie sind wohl. Die Mutter scheint sich in Lisdroy ganz erholt zu haben — — sie sprach überhaupt befriedigt von dem dortigen Aufenthalte.“

Bob hatte die Sätze unzusammenhängend herausgestoßen; so trat Alma an ihn heran und sagte in herzlichem Tone:

„Dir fehlt etwas?“

„O, nichts — nichts!“ wehrte er kurz ab. Nach einer Pause des scheinbaren Besinnens fuhr er aber in derselben abgebrochenen Weise fort: „Mir fehlt wirklich etwas. Wie so Menschenloos ist — ‚Heute roth — —‘ es hat mich seltsam ergriffen.“

„Was? Ein Unglück?“ fragte Alma besorgt.

Er nickte.

„Ich war bei Grumbachs angefahren —“

„Eins der Kinder —“

„Nein — nein! Von den Officieren — Du kanntest ihn von früher —“

„Hollfeld?“ Alma sah Bob, der sich ihr plötzlich zugewandt hatte, wahrhaft entsetzt an.

„Heute Morgen — sein Pferd stürzte — er ist —“

„Todt!“ rief Alma, schwerfällig nach der Wand fassend.

Bob nickte wieder.

„So lieb war er Dir?“

Sie erwiderte nichts, blickte nur regungslos vor sich hin; endlich sagte sie kaum hörbar:

„Er war mein Jugendfreund.“

Bob lachte grell auf.

„Blos Dein Jugendfreund? Also Lüge gegen Lüge! So würdig sind wir unser? Nun, ich darf die meinige zurücknehmen. Ja, starre mich nur an: der Bob hat gelogen — mit Absicht gelogen — vielleicht das erste Mal in seinem Leben! Dein Hollfeld lebt — verstehst Du mich nicht? — lebt! Ich weiß nichts von ihm — bloßer Spaß war Alles — brutal, wie? Ich mußte aber wissen, wie Dir um’s Herz ist.“

„Bob!“ rief Alma, die Hände vor das Gesicht schlagend.

„O, warte nur ab!“ fuhr dieser dumpf fort. „Solcher bitterliche Spaß bringt mitunter gute Frucht. Einen Theil der Schuld hat auch Dein Vater: er wollte mir einreden, Alles wäre bloße Liebelei gewesen. Da sann und sann ich, wie das Wahre zu finden wäre — und mein armer Kopf gab nichts Anderes mehr her, nichts als lauter brutales Zeug; so nahm ich denn das erste Beste, was am sichersten schien. Du wirst das wohl vergeben müssen. Der Himmel schütze Dich, daß Du nicht noch mehr zu vergeben brauchst! Wenn Du ahntest, wie mir im Herzen — nicht da, im Kopf, in dem wüsten Kopfe! — ah! — Doch denke, Du hättest eben nur geträumt — was träumt sich nicht! Damit half ich mir wohl — damals, als es noch anders um uns stand.“

Er lächelte, wie plötzlich Alles vergessend, still in sich hinein. Dennoch hörte er Alma’s Schritte und fuhr auf: „Du willst fort?“

„Ja,“ sagte sie mit vor schmerzlicher Erregung zitternder Stimme, „sollte ich darauf antworten? Oder könntest Du mich verurtheilen noch mehr zu hören?“

Als Bob sie nur mit seinen flehenden, todttraurigen Augen ansah, ging sie stumm weiter und verschwand in der Portière, welche das Nebenzimmer von dem ihrigen trennte.




Einige Tage waren vergangen, herrliche, lichte Sonnentage. Erntewagen, bis zur höchsten Höhe aufgeschobert, schwankten nun unablässig mit ihrer goldenen Last in den Sundittener Hof wie in die Höfe seiner beiden Vorwerke. Es war in diesem Jahre ein Segen ohnegleichen, als hätte die Natur einmal versuchen wollen, wie viel sie ihren geliebten Menschenkindern zu schenken vermöchte. Frohsinn herrschte allerwegen; selbst in die kleinste Hütte war es gleich einem Strahle gedrungen, der auch hier Licht auf die Zukunft warf.

Ein Einziger hatte von dem Allem nichts bemerkt, obwohl es ihn Tag für Tag unstät hinausgetrieben: Bob mied die Menschen; er suchte die einsamsten Waldwege auf oder machte lange Ritte, und oft war es Nacht geworden, bevor er auf schaumbedecktem Pferde zurückkehrte. Je ferner Allen — um so wohler, hatte es geschienen, fühle er sich, bis er eines Morgens den Befehl gab, zwei Pferde zu satteln, da ihn der Reitknecht nach Lisdroy begleiten solle.

Dieser war förmlich froh, einmal mitgenommen zu werden. Hatte er doch schon zu den anderen Knechten gemeint: dem Herrn müsse etwas sonderlich Schweres in den Gliedern stecken — daß es nur kein Unglück gäbe!

Die Pferde waren schnell gesattelt — man ritt. Und je näher die Beiden ihrem Ziele kamen, um so ruhiger, um so ergebener sah Bob nach dem Meere hinüber, welches sich in mattem Blau, nur hier und da gleichsam von einem dunkleren Flaume überhaucht, vor ihnen ausbreitete.

Nach Bob’s Berechnungen mußten die Officiere mit ihren Aufnahmen bereits bis nach Lisdroy gekommen sein, und da heute ein Sonntag, durfte er annehmen, Den, welchen er suchte, wenigstens am Orte zu treffen — was auch der Fall war.

Hollfeld — so erfuhr Bob von dem Burschen des Herrn Lieutenant — sei so eben an die See gegangen, nach der Königshöhe zu. Dieser Zufall berührte Bob angenehm: spricht es sich doch im Angesichte des Meeres leichter als in der Enge eines Zimmers.

Er ging die bekannte Straße, die wenigen Villengärten entlang, später durch das Wäldchen, bis er, aus diesem heraustretend, nach den Dünen abbog. Drüben auf dem schattigen Wege an der Königshöhe promenirten Gruppen von Menschen; vor ihm am Strande suchten nur einige Knaben Bernstein, und in der Ferne unterschied er eine einzelne Gestalt. Ob es ein Officier sei, vermochte er noch nicht zu erkennen. So eilte er vorwärts und sah nun auch bald im grellen Lichte der Sonne, die inzwischen aus einer verschleiernden Wolke hervorgetreten war, das Glitzern von Uniformknöpfen.

[504] Trotz des ungedämpften Sonnenlichts war hier die Hitze nicht drückend: jede der langhingestreckten Wellen, die wie leise plaudernd daher rollten, schien neue Kühlung zu bringen. Bob wurde das Herz weit und weiter: diesen milden, traumhaften Zug, der Allem ringsum ausgeprägt war, empfand er als etwas ihm Verwandtes – sein Element fortan. Und er hatte einst geglaubt, daß es der Sturm – die Leidenschaft wäre.

Der Officier, welcher sich nicht umgesehen hatte, war, je mehr sich Bob ihm genähert, um so langsamer gegangen, wie in Gedanken vertieft. Jetzt stand er still und blickte nach den nächsten Hügeln der Düne, als wollte er landeinwärts gehen und so die große Straße nach Lisdroy gewinnen. Dabei blickte er zurück, den Strand entlang und erkannte nun bald den auf ihn Zuschreitenden. Daß Zellina ihn suche, mußte er wohl als selbstverständlich annehmen. So schritt er ihm entgegen und grüßte mit Bob zugleich, nur noch gemessener als dieser.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Vermißte. (Fortsetzung von Nr. 20):

32) Die Verwandten eines Todten werden gesucht. Am 21. Mai 1877 wurde dem Vorstande der kleinen evangelisch-lutherischen Gemeinde in der russischen Kreisstadt Jelez, im Orelschen Gouvernement, Herrn E. Jansen, die Anzeige gemacht, daß im Hospital ein schwererkrankter fremder Deutscher liege. Er fand denselben in hoffnungslosem Zustande, doch erfuhr er noch von ihm, daß er Karl Müller heiße, Schlosser und auf der Reise von (oder nach, es war nicht mehr zu verstehen) Moskau sei, daß eine Schwester von ihm als Schauspielerin in Königsberg (wahrscheinlich in Preußen) lebe und er von gut situirten Verwandten Geldbriefe erwarte, die man vielleicht unterschlagen habe. Wo er geboren, sagte er nicht. Er starb, nachdem ihm der lutherische Prediger das Abendmahl gereicht, nach wenigen Tagen und wurde auf dem russischen Friedhof von Jelez begraben. Hat diesen Karl Müller Niemand vermißt?

33) Zu Ostern 1878 ist der Schieferdecker Otto Müller von Schellenberg in Sachsen, wo er die Stütze seiner verwittweten Mutter und seiner jüngern Geschwister war, abgereist, zuletzt in Bodenbach gesehen worden und seitdem für die Seinen verschwunden.

34) Im russischen Gouverment Saratow, und zwar, wie der Ort in den Briefen geschrieben ist, in „Samolet-Sadon Alexnew“ (?!), lebte noch im April 1874 ein im Jahre 1840 zu Gotha geborener Tapezier Ernst Otto Müller, von dem seine Mutter, eine Wittwe in Gotha, seitdem nicht die geringste Kunde erlangen konnte.

35) Der Schlosser Andreas Noack aus Bautzen, am 23. Februar 1851 geboren, hat, laut Mittheilung der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Actiengesellschaft, vom 5. August bis zum 8. December 1873 auf dem Bremer Dampfschiff „Schmidt“ als zweiter Maschinisten-Assistent gedient. Als solcher schrieb er am 4. Januar 1874 an seine Mutter und ist seitdem verschwunden und trotz aller obrigkeitlichen Bemühungen noch nicht aufzufinden gewesen.

36) Emil (Julius August) Müller, Seemann, den 4. November 1847 in Stettin geboren, schrieb zuletzt am 22. April 1878 von Dunedin auf der Insel Neu-Seeland, daß er auf einem Auckland-Dampfschiff Fahrten zwischen Dunedin und Sydney gemacht, aber, da das Schiff verkauft werde, nach Auckland zurückkehren werde, wohin Briefe an ihn (unter der Adresse „William“ Müller) „Eingeschrieben“ gerichtet werden möchten. Dies geschah, aber weder von dem Sohn, noch von dem deutschen Consul in Auckland kam eine Antwort an die angstvoll harrende Mutter des Vermißten.

37) Ein Karl Gustav Louis Albert Müller ist am 9. Januar 1850 zu Szarde, Kreis Memel geboren, als Maurer im März 1875 von Berlin aus nach Rußland oder in die Türkei gegangen, um sich bei Bauunternehmungen als „Architekt“ zu betheiligen – soll auch in Odessa gesehen worden sein. Aber wo nun?

38) Ein jetziger Seemann, Oswald Waldemar (Oscar) Schulze, aus Koberziniz bei Libus in Polen, am 28. December 1843 geboren, wurde in Bromberg erzogen, begab sich 1859 nach Danzig zur königlichen Marine, diente bis zum Matrosen zweiter Classe und ging im Mai 1866 von der „Vineta“, Capitain Kruhn, ab. Am 15. November 1871 reiste er nach Melbourne ab, machte dort am 25. Januar 1872 sein Steuermanns-Examen und erhielt am 28. sein Steuermanns-Patent. Seit dieser Zeit bekam seine Mutter alle recommandirten Briefe an ihn als unbestellbar zurück, und dennoch richtete Schulze im Jahre 1873 in einem Briefe, welcher einem andern an den Herrn Prediger Serna in Bromberg beigelegt war, die Frage: „ob sie todt sei?“ und die Bemerkung: „wenn er wieder keine Antwort bekäme, so möge sie annehmen, er sei für sie todt.“ Nun schrieb die Mutter sofort unter der neuen Adresse, und abermals kommt, nach sechs Monaten, der Brief als unbestellbar zurück.

39) Robert Peschke aus Kayna bei Zeitz, Seemann, jetzt 31 Jahre alt, ging 1875 mit der Corvette „Louise“ in See, die er krankheitshalber in Rio de Janeiro verließ, diente dann auf einem englischen Schiff und schrieb im Hochsommer 1876 aus Liverpool, daß er nach Buenos-Ayres fahren werde. Seitdem ist er verschollen.

40) Der Bäckergeselle Gottlieb Sauer, 1843 in Nordenburg (in Ostpreußen) geboren, ging als Wanderbursche 1869 in die Türkei, kehrte 1870 zurück, um als Reservist beim Train (als Bäcker in der Ersatzreserve I) den Feldzug in Frankreich mitzumachen, soll dann in oder bei Stettin gearbeitet haben. Sein Bruder Julius in Neuwied sucht ihn.

41) Eine arme Lehrerwittwe, deren Gatte am 7. September 1881 gestorben ist und ihr außer einem erwachsenen Sohn noch vier unversorgte Kinder hinterlassen hat, sucht diesen Sohn als die einzige Stütze in ihrer Noth und Verlassenheit. Derselbe, Constantin Sauter, aus Luisendorf bei Cleve, jetzt 24 Jahre alt, Mechaniker, arbeitete über vier Jahre in Pforzheim in einer Werkzeugsfabrik (Insel), schrieb vor Jahresfrist den Seinen, daß er nach Oesterreich gehe, um in Wien Stellung zu suchen, und ist seitdem verschollen. Auch die kaiserliche Gesandtschaft hat vergeblich nach ihm geforscht. Sauter ist groß und schlank von Gestalt, blondhaarig; sein linkes Auge ist durch eine Stahlsplitterverwundung besonders kenntlich. Könnte Sauter vom Tode seines Vaters Kunde erhalten, so würde er ohne Säumen zu seiner unglücklichen Mutter heimkehren.

42) Johannes Schad, bis Anfang 1881 Kellner in Berlin, von wo er am 15. Januar zum letzten Male geschrieben, wird von seiner Mutter (in Aue bei Schmalkalden) gesucht.

43) Vor 27 Jahren ist der Kattundrucker Christian Eduard Schick aus Glauchau (Sachsen) nach Brasilien ausgewandert; er wird von seinem Bruder Karl gebeten, Nachricht zu geben.

44) Der Schlosser Ernst Robert Emil Schneider aus Magdeburg hat sich vor vierthalb Jahren auf die Wanderschaft begeben und seitdem kein einziges Mal an seine Eltern geschrieben. Indeß ist sein Vater gestorben; die Mutter bittet den Sohn um eilige Heimkehr.

45) Der ehemalige Gymnasiast Albert Schneider aus Bunzlau in Schlesien, ein junger Mann von 20 Jahren, etwa 1,60 Meter groß, mit dunklem Kopfhaar, untersetzter Gestalt, ist auf einer Reise von Regensburg heimwärts bis Görlitz gekommen und seitdem verschwunden. Die armen Eltern bitten dringend, ihnen den einzigen Sohn auffinden zu helfen.

46) Karl Nüsch aus Schwerin hat, als Schneidermeister in Genf wohnend, vor zwölf Jahren zum letzten Mal an seine jetzt im achtundachtzigsten Jahre stehende Mutter geschrieben. Die Greisin fragt, was aus ihrem Sohn geworden sei?

47) Hermann Pohle, Buchbindergehülfe aus Oltschütz bei Wurzen in Sachsen, lernte und arbeitete in Leipzig, von wo aus er am 10. Mai 1873 sich über Jena nach Stuttgart begab. Seitdem fehlen alle Nachrichten über ihn. Seine arme kranke Mutter und sein Vater, vom Tagelohn in Stünz bei Leipzig lebend, befürchten, daß der Vermißte ausgewandert sei, aber wohin?


Berthold Auerbach’s Nachlaß. Soeben geht uns nachstehender Aufruf zu, dem wir hier gern einen Platz gewähren: „Im Namen zugleich der von Berthold Auerbach letztwillig zur Herausgabe seines literarischen Nachlasses mit mir beauftragten Herren Dr. Jacob Auerbach in Frankfurt am Main, Dr. Anton Bettelheim in Wien und Rechtsanwalt Eugen B. Auerbach in Berlin ersuche ich behufs vorläufiger Sichtung und späterer Herausgabe seiner Correspondenz alle Diejenigen, welche Briefe des Verewigten besitzen, solche an den obengenannten Rechtsanwalt Auerbach, W. Leipzigerstraße Nr. 103 freundlichst senden zu wollen.

Den Wünschen der Adressaten hinsichtlich Weglassung nicht zur Veröffentlichung geeigneter Stellen wird selbstverständlich gewissenhaft entsprochen werden.

Die Rücksendung der uns anvertrauten Manuscripte erfolgt baldthunlichst.

Berlin, im Juni 1882.

Friedrich Spielhagen.“





Kleiner Briefkasten.


G. K. in Detmold.0Reichsdörfer“ nannte man ehemals diejenigen Dörfer oder Höfe, welche unmittelbar unter dem Kaiser und Reich standen. Dieselben hatten ihre besonderen Ober- und Untergerichte, sowie Reichsschulzen und zahlten nur Kriegsanlagen. Die letzten Reichsdörfer waren Alschhausen und die freien Leute auf der leutkirchner Haide in Schwaben, Althausen, Glocksheim und Seenfeld in Franken, Sulzbach und Soden im oberrheinischen Kreise. Durch den Reichsdeputationshauptschluß von 1803 wurden sie an größere Staaten vertheilt.

Z. E. in Sch.0 Unter „Kette“ versteht man in der Jägersprache die Vereinigung von Flugwild, das nicht einer Familie angehört; so bilden z. B. Hühner, Enten etc. aus verschiedenen „Völkern“, wenn sie sich zusammenthun, eine Kette.

Langjähriger Abonnent in S.0 Wir bedauern, Ihnen nicht dienen zu können.

B. Z. in Tarnowitz.0 Die „ledernen Kanonen“ Gustav Adolf’s bestanden aus einer kupfernen Röhre, die mit eisernen Ringen umgeben und mit Tauen, sowie mit Lederbezug umwickelt waren. Sie bildeten den Uebergang vom schweren Geschütz zu den leichteren Feldgeschützen, haben sich aber nicht bewährt.

A. B. in Bukarest.0 Das Elsaß hat seinen Namen von dem Flusse Ill.

K. D. in Berlin.0 Portrait und Biographie unserer allbeliebten Mitarbeiterin Elisabeth Bürstenbinder (E. Werner) finden Sie im Jahrgange 1876, Seite 461.



Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Während des Drucks dieser Nummer bringt uns der Telegraph die Nachricht von dem Brande Alexandriens und den in der Stadt begangenen Gräueln. Das von dem Verfasser diesen Artikels geschilderte Alexandrien dürfte somit aller Wahrscheinlichkeit nach als zerstört betrachtet werden. Wir bringen trotzdem diesen Aufsatz in unveränderter Form, da er für den Leser unter diesen Umständen wohl ein erhöhten Interesse beanspruchen darf.      D. Red.
  2. Vergl. „Meyer’s Reiseführer durch den Orient“, ein neu erschienenes Buch, dessen Lectüre heute allen denjenigen zu empfehlen ist, die sich über die ägyptischen Verhältnisse zu unterrichten wünschen.      D. Red.