Die Gartenlaube (1883)/Heft 45

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.

An unsere Leser und Freunde!

Wir erachten es für unsere Pflicht, unserem weiten Leserkreise die Mittheilung zu machen, daß die „Gartenlaube“ mit Schluß dieses Jahres in einen anderen Verlag übergehen wird. Von den Erben Ernst Keil’s ist dieselbe an die Herren Gebrüder Kröner in Stuttgart abgetreten worden, welche vom 1. Januar 1884 an die geschäftliche Leitung unserer Zeitschrift mit frischen Kräften übernehmen werden.

Wir sind beauftragt, allen unseren Lesern und Freunden die festeste Versicherung abzugeben, daß damit im Geiste, in der Tendenz und in dem bewährten freundschaftlichen Verhältniß der „Gartenlaube“ zu ihren Mitarbeitern und Abonnenten nicht die geringste Aenderung eintreten soll. Die „Gartenlaube“ wird für alle Zeiten ihren alten Aufgaben treu bleiben und dieselben patriotischen und menschenfreundlichen Ziele im Auge behalten, welchen sie mit so seltenem Erfolge seit mehr als dreißig Jahren entgegengestrebt hat. Dabei wird sie aber auch den neuen Aufgaben, welche jede Zeit wieder an ein so hervorragendes Organ zu stellen hat, sich nicht entziehen. Der angesehene Name der neuen Besitzer, ihre weithin bekannten Leistungen auf dem Gebiete des künstlerischen Illustrationsverlags und insbesondere ihre schönen, der Verherrlichung unseres Vaterlandes gewidmeten Verlagswerke bürgen dafür, daß die Zukunft des größten deutschen Volks- und Familienblattes schwerlich in geeignetere Hände gelegt werden konnte. Und in dieser Zuversicht muß Jeder noch durch den bedeutungsvollen Umstand bestärkt werden, daß die neuen Verleger das Vermächtniß des unvergeßlichen Begründers unseres Blattes in seinem vollsten Umfange zu erfüllen gedenken und aus eigener, vollster und innerster Ueberzeugung sich verpflichtet haben:

daß die „Gartenlaube“ – nach dem Wortlaute des Testamentes von Ernst Keil – auch in Zukunft volksthümlich redigirt werde und im Dienste der Sitte, der Aufklärung, der Rechte des Volkes und eines mächtigen, einigen Deutschlands stehe.

So sind wir denn fest überzeugt, daß die Hunderttausende deutscher Familien, in welchen unser Blatt seit Jahrzehnten eingebürgert ist, dasselbe nach wie vor als den langgewohnten, aufrichtigen Freund und Berather an ihrem häuslichen Herde willkommen heißen werden, und bitten wir Alle, der Redaction, welche in ihrem bisherigen Bestande die „Gartenlaube“ auch fernerhin in Leipzig herausgeben wird, das alte Vertrauen und die langjährige treue Freundschaft bewahren zu wollen.

Leipzig, den 24. October 1883. Die Redaction der „Gartenlaube“. 




Die Braut in Trauer.

Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)

Eine Minute später trat Herr von Brendeln, die beiden Damen rechts und links am Arm führend, glückstrahlend im ganzen Gesicht in den glänzend illuminirten Garten ein.

Verwandte und Freunde des Hauses beeilten sich, Helene zu begrüßen und wegen ihres langen Ausbleibens zu befragen. Sie gab scherzend Antwort. Osterfeld kam vorüber, stutzte und bog in einen Seitenweg ein, um sie nicht ansprechen zu müssen. Um so munterer gab Herr von Gräwenstein seiner Freude Ausdruck, daß es dem Vetter gelungen sei, alle Bedenken der verehrten Schwägerin zu besiegen. „Wie weißt Du denn,“ fragte Vera, „daß dieser Erfolg auf Rechnung des Herrn von Brendeln kommt?“

Vermuthung – Vermuthung,“ redete er sich aus. „Es wurde davon gesprochen –“

„Daß meine Schwester Fräulein Helene aufsuchen wollte,“ ergänzte der Assessor. „Ihre Zauberkünste sind wirksam gewesen.“

„Ist Dir’s unlieb?“ fragte Helene.

„O gewiß nicht,“ versicherte Vera etwas verlegen. „Im Gegentheil …“

Unter dem Laubbogen, auf dem im Gaslicht der Namenszug des Brautpaares schimmerte, wurde die Frau Consul sichtbar. Sie hatte mehrere der angesehensten Gäste, höhere Officiere und Herren in besterntem Frack, in ihrem Gefolge.

Helene machte ihren Arm frei und eilte auf sie zu. „Da bin ich nun doch, Mamachen,“ sagte sie, „Du sollst in Allem Recht behalten.“

Frau Berghen lächelte etwas gezwungen. „Ich hörte schon [726] von Osterfeld –“ Sie zog mit einem kurzen Ruck die Hand fort, die Helene küssen wollte, und sagte leise: „Aber wie ist es möglich, Kind, daß Du so tactlos –“

„Mama –!“

„Mit rothen Rosen geschmückt!“

„Sie waren gerade zur Hand –“

„Ist das eine Entschuldigung, Helene? Du kannst gar nicht auffälliger den Wechsel Deiner Gesinnung zur Schau stellen. Diese Rosen sagem Jedem Alles. Pfui! sie machen Dich häßlich.“

„Das geht zu weit, Mama.“

„Ja, das geht zu weit. Im weißen Kleide hätte ich Dich lieber gesehen, als mit diesem koketten Aufputz.“

„Kokett –!“ Sie wurde auffallend bleich im Gesicht und preßte die Lippen zusammen. „Fräulein Aurelie von Brendeln wird Dir erklären –“

„Ich sehe, was ich sehe. Des Beifalls ihres Herrn Bruders bist Du ja auch wohl sicher.“

Helene richtete sich stolz auf. „Ich habe mich um ihn noch nicht bemüht. Willst Du mir noch mehr Kränkendes sagen?“

„O –! Du hast mir heute den ganzen Festtag verdorben,“ zischelte die alte Dame.

„Das thut mir leid,“ entgegnete Helene kühl. „Aber wie Du, sieht’s gewißlich kein Anderer. Es ist nun einmal geschehen. Was willst Du? Die Rosen welken rasch. Sieh mich nach einer Stunde; vielleicht gefalle ich Dir dann wieder besser.“

Sie wendete sich ab. Die Herren, die sich zum Brautpaar gesellt hatten, nahmen die Frau vom Hause wieder in ihre Mitte. Die Musik spielte einen lockenden Walzer, und die jungen Leute versuchten ein Tänzchen auf dem grünen Rasen. Dorthin zog sich die Gesellschaft. Helene blieb stehen. Als sie aufsah, stand Herr von Brendeln neben ihr und bot ihr den Arm. Sie nahm ihn ohne Zögern an und ließ sich in einen Seitengang führen, der jetzt ganz leer war. „Die Frau Consul sah recht verdrießlich aus,“ sagte er.

Sie gab kein Zeichen der Zustimmung, schien auch eine Frage ganz zu überhören. Er wagte es, seine Hand sanft auf die ihrige zu legen, während er weiter sprach.

Sie ließ es geschehen.

So hatten sie sich dem Ende des Ganges genähert. Er führte zu einer Laube von alten Lindenbäumen, die sich dann rechts und links wieder öffnete. In den Ecken standen Bänke. In dem Augenblicke fast, in dem sie eintraten, erhob sich von einer derselben eine dunkle Gestalt und verschwand im Seitenwege hinter den dicken Stämmen. Helene machte eine zuckende Bewegung, löst rasch ihre Hand und ließ auch seinen Arm frei. „Das war Walter,“ sagte sie.

„Herr Doctor Grün – es kann ja sein,“ meinte der Assessor, dem diese Störung sehr unlieb war.

„Ich glaubte ihn gar nicht anwesend.“

„Hatte ihn auch bisher nicht bemerkt. Er hielt sich in der dunkeln Laube versteckt, um zu philosophiren. Eine ganz eigene Art von Vergnügen.“

„Er muß uns gesehen haben.“

„Wahrscheinlich. Es ist ja gleichgültig.“

„Ich war so in Gedanken …“ Sie wendete, ihm einen Schritt vorans, in den Seitenweg ein, in dem die Gestalt verschwunden war. Brendeln ergriff ihre Hand und suchte sie zurückzuziehen. „Bleiben Sie, theuerste Helene,“ bat er, „– nur eine kurze Minute.“

Sie wendete sich erschrocken zurück. „Herr Assessor –!“

„Eine so günstige Gelegenheit, mich Ihnen zu eröffnen, kehrt nicht wieder. Mögen die Rosen, mit denen Sie sich nach so langer Kummerzeit in Hoffnung einer heiteren Zukunft zum ersten Mal wieder geschmückt haben, auch mir glückverheißend sein. Helene, ich wage das Geständniß –“

„Nein, nein!“ unterbrach sie ihn, seine Hand mit Heftigkeit zurückstoßend. „Ich darf – ich will Sie nicht hören. Sie täuschen sich!“

„Gewiß nicht.“ Er folgte ihr, während sie ihm mit raschen Schritten zu enteilen suchte. „Wenn Sie nur ein Wort –“

„Peinigen Sie mich nicht,“ bat sie, ohne zurück zu sehen. „Mir ist so weh zu Muthe. Ach! ich bin schlecht – recht schlecht!“ Sie riß die Rosen von ihrer Schulter und warf sie auf die Erde.

Herr von Brendeln blieb stehen, bückte sich und hob die Rosen auf. Er lächelte befriedigt. „War das die Antwort?“ murmelte er. „Ach! sie ist recht grschickt, nichts zu sagen und alles errathen zu lassen. Ich täusche mich nicht.“ Er steckte die Knospe in’s Knopfloch.

Helene eilte durch den ganzen Garten, durch dte Festräume des Hauses.

Walter war nicht zu finden. Wenn sie ihn wirklich gesehen hatte, mußte er sich sogleich entfernt haben.




9.

Der folgende Tag war Ruhetag. Seine alte Bedeutung hat der Polterabend verloren. Man giebt eine Gesellschaft und ruht dann von den Strapazen vor der Hochzeit aus.

Die Familie fand sich erst beim Mittagstisch zusammen, auch da noch wohl schläfrig und abgespannt. Frau Consul Berghen schien Helene gar nicht zu bemerken. Nur Hauptmann von Gräwenstein sprach freundltch mit ihr – wohl zu freundlich nach der Meinung seiner Braut, da sie sich schmollend abwandte.

Auch nach Tische wurde jede Aussprache vermieden. Man zog sich zurück und ließ Helene schließlich allein. Sie ging wieder auf ihr Zimmer, sehr verstimmt und traurig. Aurelie kam sie zu besuchen – sie war auch schon Vormittags da gewesen – um sie zu einer Promenade aufzufordern. Helene bat sie zu entschuldigen, sie sei unwohl. Nun hielt es das Fräulein für Pflicht, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie hatte eine muntere Art aus dem Hundertsten in’s Tausendste zu plaudern. Zwischendurch fragte sie soviel, daß es kaum möglich war, immer ganz vorsichtige Antworten zu geben. Auf ihren Bruder brachte sie immer wieder die Rede. Ob er ihr denn mitgetheilt habe, was der Präsident gestern gesagt? Das Rathspatent sei unterwegs. „Ein kleiner Anfang – für seine Jahre immer ein Erfolg. Er ist jünger, als Sie vielleicht glauben – für einen Regierungsrath wirklich noch recht jung. Rathen Sie, wie alt er ist! Die anstrengenden Studien und die kopfbrechende Arbeit … da haben Sie’s. Gelebt hat er bis jetzt wenig. Wenn er bisher unverheirathet geblieben ist, ist’s wahrlich nicht die Schuld der Damen. O, er hätte schon manche gute Partie machen können – man hat sie ihm förmlich angeboten. Aber darin ist er nun komisch altmodisch: das Herz soll durchaus sprechen! Wie finden Sie das? Eigentlich ganz allerliebst, nicht wahr? Wir Frauen schwören zur Fahne des Idealismus. Leopold hat Recht: das Herz muß sprechen.“

Sie schien sich gar nicht losreißen zu können. „Sie glauben gar nicht, wie sympathisch Sie mir sind,“ versicherte sie ein Mal über das andere. Es vergingen ein paar Stunden. Helenen schwirrte der Kopf, sie antwortete kaum noch das Nothdürftigste. Mißtrauen empfand sie nicht, es gefiel ihr, daß die Schwester so zärtlich überall des Bruders Partei nahm. Sie fühlte sich sehr erleichtert, als die Dame mit vielen Küssen endlich Abschied nahm. Dann überkam sie eine nervöse Unruhe, die von Minute zu Minute peinigender wurde. Sie öffnete alle Fenster und ließ die kühle Luft ein. Es half nichts. Endlich kleidete sie sich zum Ausgehen an und verließ das Zimmer.

Sie nahm ihren Weg nach der Straße, in der Onkel Benjamin wohnte. Ihre stille Hoffnung war, Walter zu Hause zu finden. Zu sagen hatte sie ihm eigentlich nicht das Mindeste. Aber es war doch möglich, daß er ihr etwas zu sagen hatte nach dem gestrigen Tage – vielleicht gar nichts Schmeichelhaftes, aber doch aus freundschaftlicher Gesinnung heraus. Sie erröthete, wenn sie daran dachte, daß er sie mit Herrn von Brendeln von der dunklen Laube aus beobachtet hatte; es ärgerte sie, daß sie sich von ihm hatte führen lassen – und sie wußte jetzt auch, daß er ihre Hand gehalten hatte. Sie meinte sich deshalb bei Walter rechtfertigen zu müssen. Zum Glück konnte er die Rosenknospe in des Assessors Frack nicht bemerkt haben, wenn er wirklich gleich fortgegangen war. Was hätte er davon gedacht?

Onkel Benjamin empfing sie gar nicht so herzlich wie sonst. Er schien in schlechter Laune zu sein. Von Walter sprach er gar nicht. Als derselbe eintrat, schien es ihm unlieb zu sein.

„Kommst Du?“ sagte er. „Da ist Helene.“

Welchen Zusammenhang diese Worte hatten, konnte Walter vielleicht errathen. „Helene – so?“ fragte er, das Mädchen doch gleich beim Eintritt bemerkend. Er warf den Kopf auf, ging auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. „Du kommst Dir Deine Gratulation abzuholen,“ sagte er lachend.

[727] Ihre Hand wurde im Augenblick feuchtkalt. „Meine Gratulation?“ fragte sie, nicht im Ton der Ueberraschung oder Verwunderung, aber auch keineswegs mit sicherer Abwehr. „Wozu?“

„Ach! Du verstehst mich doch?“ Er zuckt die Achseln und zog spöttisch den Mund.

„Nein, wirklich –“ sagte sie kleinlaut. „Ich wüßte nicht –“

Er schien keine mitleidige Rücksicht gelten lassen zu wollen. „So ist die Verlobung noch nicht förmlich erklärt?“

„Walter –!“

Der Uhrmacher hustete in einigen kurzen Stößen. Sein Sohn verstand dieses Zeichen nicht oder wollte es nicht verstehen. Er sah sehr erhitzt aus, und während er immer anscheinend ganz lustig lachte, war sein Blick doch stechend und zuckten die Mundwinkel. „Aber thu doch nicht so!“ rief er. „Wenn man solche Dinge versteckt halten will, muß man vorsichtiger sein. Ich habe Euch doch wohl traulich Arm in Arm gehen sehen, denke ich.“

Ihr stürzten die Thränen aus den Augen. „Du kannst glauben, Walter –“ schluchzte sie.

Er warf den Kopf zurück. „Was glauben? Man vermuthet in solchen Fällen das Natürlichste. Aber wenn Du es nicht haben willst – gut!“

„Ich sage Dir aber, Du irrst!“

„Worin? Ihr seid noch nicht verlobt – das kann ja sein. Es ist dann von dem Herrn Assessor etwas – dreist, sich Rechte vorweg zu nehmen, aber wenn er’s haben kann …! Und an der Ernstlichkeit seiner Absichten ist ja auch nicht zu zweifeln.“

„Aber wenn ich Dich versichere, daß von meiner Seite …“ Sie drückte das Tuch auf die Augen. „Ach! – es ist abscheulich!“

„Was willst Du denn?“ rief er. „Du thust gerade, als ob Du nöthig hättest, mit mir Verstecken zu spielen. Was geht es mich an, ob Dir der oder ein Anderer gefällt? Ich bin doch wahrlich so närrisch nicht, von Dir zu erwarten, daß Du Dein ganzes Leben vertrauern sollst, weil Dir ein Bräutigam gestorben ist! Herr von Brendeln wäre mein Mann gerade nicht, aber das ist ja ganz gleichgültig. Er gefällt Dir, das entscheidet. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum Du Dich sträuben willst, eine ganz aufrichtig gemeinte Gratulation anzunehmen?“

Helene zuckte schmerzlich. „Aufrichtig, Walter?“

Er biß die Lippe. „Gewiß – ganz aufrichtig. Welches Interesse habe ich, Deinen Wünschen entgegen zu sein? Uebrigens überrascht mich die Sache gar nicht. Gleich am ersten Tage, als ich Gelegenheit hatte, den Herrn Assessor in Deiner Nähe zu sehen –“

Onkel Benjamin’s Husten nahm immer zu. Er stand dabei abgewandt und machte sich am Zifferblatt einer Schwarzwälder Uhr zu schaffen. Vielleicht ohne Absicht hatte er das Metallplättchen in der Mitte unter den Zeigern gedreht und damit den Wecker ausgelöst. Plötzlich fing er schrill an zu klingen und beruhigte sich eine geraume Weile nicht, da der alte Herr selbst zu verdutzt war, um Einhalt zu thun. Vielleicht war er auch gar nicht so unschuldig an diesem sonderbaren Zwischenspiel, das jedenfalls die Wirkung hatte, einer Unterhaltung ein jähes Ende zu bereiten, die mit jeder Minute peinlicher wurde.

Unter anderen Umständen hätte man die Klingelei komisch gefunden, jetzt war sie für die Betheiligten recht ärgerlich. Der Doctor wendete unwillig den Kopf zurück. Helene, die ihm eben hatte in’s Wort fallen wollen, preßte die Lippen zusammen und sah zur Erde. Das Glöckchen wollte gar nicht still werden, und als dann endlich das Gewicht abgelaufen war, fand der alte Herr sich gemüßigt, um Entschuldigung zu bitten und aus einander zu setzen, wie ihm das passirt sei. Nun wäre es ganz wunderlich gewesen zurückzugreifen. Und was konnte auch noch gesagt werden? Helene entschloß sich rasch, Abschied zu nehmen. Es geschah in ganz förmlicher Weise, indem sie des Onkels Hand nur berührte und dem „Adieu“, das Beiden galt, einen möglichst vornehm kühlen Klang gab. Walter sollte wenigstens wissen, daß sie sein Benehmen übel nahm. War sie die Beleidigte, so kam es nun auf ihn an, ob er ein freundschaftliches Verhalten ihrerseits wünschte.

Aber damit war doch für ihre Stimmung auf die Dauer recht wenig gewonnen. Das letzte Restchen unausgesprochener und unaussprechlicher Hoffnung, daß Walter ihr noch herzlich zugethan sei, hatte er grausam für alle Zeit zerstört. Seinetwegen konnte sie ja thun, was sie irgend wollte. Und das sollte ihr recht deutlich zum Bewußtsein kommen, noch viel deutlicher als schon bisher. Nicht einmal so viel galt sie ihm noch, daß er ernst abredete, zu reiflicher Ueberlegung mahnte, ein ganz klein wenig Betrübniß über ihre vermeintliche Verirrung zeigte. Es war ihr zu Muth, als ob ihrem Herzen ein schweres Leid angethan worden wäre – dagegen half kein zorniges Abweisen.

Sie hatte eine halb schlaflose Nacht und fühlte sich am Morgen von Vera’s Hochzeitstage wie zerschlagen. Den Vormittag über hatten die Hausgenossen mit sich selbst zu thun und beachteten sie wenig. Die Frau Consul beharrte gegen sie in ihrem Schweigen, Vera ließ sich gar nicht blicken. Um zwölf Uhr sollte auf’s Standesamt gefahren werden, um drei Uhr die Trauung in der Kirche stattfinden. Hülfeleistungen wurden von ihr nicht beansprucht.

Gegen ein Uhr kam Aurelie und brachte ihr ein köstliches Bouquet. Ihr Bruder gebe sich die Ehre. Diese Aufmerksamkeit konnte nicht ohne einen freundlichen Dank bleiben. Das Fräulein eilte diesmal rasch wieder fort, um rechtzeitig Toilette machen zu können. Der Gärtner habe sich verspätet gehabt, aber ihr Bruder würde es ihr im ganzen Leben nicht verziehen haben, wenn sie den Strauß nicht selbst abgegeben hätte.

In der Kirche und an der Hochzeitstafel durfte Helene nicht fehlen. Sollte sie sich jetzt dem Willen der Mama unterwerfen und schwarz erscheinen, nachdem der Bann einmal gebrochen war? Die roten Rosen wurden ihr doch nicht mehr vergessen! Sollte sie diese Demüthigung jetzt ertragen und nie mehr frei werden? Frei sein, sich wieder selbst bestimmen können – das war eigentlich noch in diesem Zustande gänzlicher Gebrochenheit ihr einziger bewußter Wunsch. Was sie mit dieser Freiheit beginnen wollte, kam ihr gar nicht in Gedanken. Aber sie wollte nicht länger die Sclavin eines traurigen Zufalls sein. Ihr eigenes Hochzeitskeid von schwerer weißer Seide lag noch unberührt. Sie wählte es ohne weitere Bedenken. Der Strauß, fast nur weiß und grün, paßte trefflich dazu. Sie schellte ihrer Jungfer und ließ sich ankleiden.

Als sie im Saal erschien, wo schon die meisten näheren Angehörigen des Brautpaares zu gemeinsamer Fahrt nach der Kirche versammelt waren, richteten sich alle Blicke auf sie. Viel schöner war sie als die Braut, und ihr schienen nur Myrthenkranz und Schleier zu fehlen, um selbst zum Altar treten zu können. Herr von Brendeln eilte auf sie zu und bat um Erlaubniß, ihr seinen Wagen anbieten zu dürfen. Er wich dann auch nicht mehr von ihrer Seite.

Es war ihr nicht unlieb, da die Hausgenossen sich für sie ganz unankömmlich zeigten. Sie begegnete da nur vorwurfsvollen oder kalt abweisenden Blicken. Selbst Gräwenstein verhielt sich heut merkwürdig steif und beschränkte die Unterhaltung auf das Nothwendigste. Er schien nicht anstoßen zu wollen.

„Du siehst gar nicht vergnügt aus, wie ein junger Ehemann,“ zischelte Brendeln ihm zu. „Das bist Du doch bereits von Staatswegen. Was fehlt Dir?“

Der Hauptmann drückte ihm die Hand und schob ihn zugleich sanft ab. „Nicht jetzt, Vetter,“ sagte er leise. „Wir sprechen noch vor der Abreise.“

Aurelie war unter den Letzten. „Wie habe ich mich beeilen müssen!“ rief sie Helene entgegen. „Aber wie reizend Sie aussehen! Mein Bruder wird der Gegenstand allgemeinen Neides der jungen Herren sein.“

Zu großer Erleichterung für Helene wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Bald setzte sich der lange Zug der Wagen nach der Kirche in Bewegung.

Herr von Brendeln ließ bei der Hin- und Rückfahrt die Gunst, mit Helene allein zu sein, nicht unbenutzt. Wagte er auch jetzt nicht eine förmliche Liebeserklärung, so bot er doch seine ganze Geschicklichkeit auf, um liebenswürdig zu erscheinen. Helene entmuthigte ihn auch keineswegs. Es war etwas wie Trotz in ihr, daß sie allen Widerstand aufgab und sich treiben ließ, wohin es ihr das Schicksal bestimmt haben mochte. Weshalb auch? Wem zu Liebe?

Die kirchliche Feier ging an ihr ganz ohne Eindruck vorüber. Auch an der Hochzeitstafel verhielt sie sich so theilnahmlos, als ihr dies die Höflichkeit ihrer Nachbarn – Herr von Brendeln gehörte nicht dazu, war nicht einmal an denselben Flügel gesetzt – erlauben wollte. Bei den üblichen Toasten erhob auch sie ihr Glas und hielt es geduldig jedem hin, der anzuklingen Neigung hatte. Aber sie netzte kaum die Lippen. Bei dem großen Rundgange am Brautpaare vorüber konnte sie nicht fehlen. Aber Vera war so beschäftigt, daß sie kaum Zeit behielt, ihr [728] flüchtig das Glas hinzuhalten, und die Frau Consul neben dem jungen Ehemanne sah plötzlich so finster aus, daß ein Vorbeigehen mit dem Schwarme gerathen schien. „Mögt Ihr Euch von mir nicht Glück wünschen lassen,“ dachte Helene bei sich, „ich dränge mich Keinem auf; meine Gesinnungen für Euch bleiben doch dieselben.“

Der Assessor versäumte nicht, seinen Weg so zu nehmen, daß er ihr begegnen mußte. Er hatte dem Champagner schon munter zugesprochen und sah sehr erhitzt aus, was ihn nicht gerade verschönte. Er stieß so kräftig an, daß der Rand des feinen Glases spitterte und ein Theil des Weines auf den Boden floß. Er schlürfte schnell den Rest aus und sagte: „Das hat die beste Vorbedeutung – es bleibt bei Ihrem Wohle.“

Sie lächelte. „Das Geschick hat’s versehen: die Scherben hätten in meiner Hand bleiben müssen.“

Er sich sie forschend an. „Wozu so melancholische Gedanken, bestes Fräulein? Ihre Tischnachbarn scheinen übermäßig langweilig gewesen zu sein. Ah! ich habe vor Aerger schon mehr Wein getrunken, als mir zuträglich ist. Welche Abscheulichkeit des verehrten Tafelordners – wahrscheinlich Osterfeld – uns förmlich wie Gegenfüßler zu behandeln!“

Helene winkte einem der Diener. „Für den Herrn Assessor ein anderes Glas,“ dann ging sie weiter nach ihrem Platze.

Noch vor Beendigung des Hochzeitsmahls sollte das junge Paar nach dem Bahnhofe in aller Stille abfahren. Vera entfernte sich schon früh der Reisetoilette wegen. Ihre Mutter und Schwester folgten ihr. So waren denn in der Nähe des Hauptmanns an der Tafel Lücken entstanden, die nun abwechselnd von guten Freunden ausgefüllt wurden, denen es noch um ein Wort des Abschieds und einen Glückwunsch auf die Reise zu thun war. So fand sich denn auch Vetter von Brendeln bei ihm ein. Er rückte den Stuhl auf dem die Frau Consul gesessen hatte, halb herum, sodaß er ihm frei das Gesicht zukehren konnte, klopfte ihm auf die Schulter und fragte: „Bei besserer Stimmung jetzt, Freundchen? Bald erlöst von allen Bräutigamsqualen.“

Der Hauptmann ließ das silberne Messer auf dem Tellerrande balanciren. Es glitt immer ab. „So ganz stimmts nicht,“ antwortete er nach einigem Bedenken.

„Ganz stimmt’s nie,“ meinte der Assessor. „Aber im Besonderen, Vetterchen, wo fehlt’s Dir? Du hast doch gebeichtet?“

Herr von Gräwenstein nickte. „Ja – nach der Rückkehr vom Standesamte.“

„Natürlich erst, nachdem die Sache fest war, und eine Stunde vor der lustigen Hochzeitstafel, die bis zum gerührten Abschiede den üblen Eindruck wieder verwaschen konnte. Nun –?“

„Ich bat die Mama um eine Unterredung unter vier Augen. Wie sie mich dabei ansah! Als ob sie tausend Augen zu haben wünschte, mich gleich durch und durch zu sehen. Eine fatale Situation das, sage ich Dir. Habe in dichtem Kugelregen gestanden – ist aber nichts dagegen. Diese Leute in sogenannten geordneten Verhältnissen vermögen sich gar keine Vorstellung davon zu machen, daß ein armer Teufel von Officier ohne einen Haufen Schulden gar nicht anständig existiren kann. Nun mach’s ihnen mal klar! Die Moral spielt da immer gleich mit; aus dem armen Teufel wird ein armer Sünder, er weiß selbst nicht wie. Eine fatale Situation!“

„Pah! Du hast sie doch hinter Dir.“

„Wie man’s nehmen will. Ich habe gebeichtet, wie Du’s nennst, Aber – nicht vollständig; aufrichtig gesagt, kaum die Hälfte meiner … ich hätte wirklich bald Sünden gesagt.“

„Aber das war – verzeihe mir, Vetter – eine kolossale Dummheit.“

„Der Schreck war schon so groß genug. Ah! Man kommt sich so erbärmlich vor …“

„Aber der Zweck, reinen Tisch zu schaffen, ist verfehlt. Es wäre in Einem hin gewesen. Halb ist fast so schlimm als gar nicht. Was soll nun geschehen?“

„Du mußt mit den schwierigsten Kunden verhandeln. Versuch, was Du willst. Sie müssen sich hinhalten lassen, bis wenigstens der erste Zeuge da ist; der Appell an das Großmutterherz ist weniger peinlich.“

„Und inzwischen meinst Du –“

„Die Karten rühre ich nicht mehr an – wahrhaftig nicht. Inzwischen kann sich auch noch dies oder das ereignen. Wenn Dir’s glücken sollte … auf Deine Freundschaft kann ich ja rechnen.“

Herr von Brendeln nickte, antwortete aber nicht.

„Uebrigens,“ fuhr der Hauptmann fort, „hätte ich’s sicher viel leichter gehabt, wenn die Mama nicht so arg verstimmt gewesen wäre. Helenens wegen. Du hast da ein nettes Unheil angerichtet, und Deine Schwester secundirt nach Kräften. Euch gaben sie die Hauptschuld an ihrer auffälligen Sinnesänderung, und doch wohl mit Recht. Das arme Kind wird’s auszubaden haben. Man darf kein leises Wörtchen zu ihrer Entschuldigung sagen, gleich ist man ein herzloser Mensch. Das Hochzeitsfest sollte nur nicht gestört werden; aber ich bin überzeugt, morgen bricht das Gewitter von allen Seiten los.“

„Gut! So werde ich mich als Blitzableiter hinstellen.“

„Das bist Du dem Mädchen schuldig.“

„Es giebt keine angenehmere Pflicht,“ sagte der Assessor lachend und stand auf.

Eben trat der Diener der gnädigen Frau an den Hauptmann heran und sagte ihm etwas in’s Ohr. „Gleich,“ rief derselbe. Er erhob sich, drückte seinem Vetter die Hand und verließ den Saal.

Die Gesellschaft hatte indessen fast allgemein Platz gewechselt. Helene war von Fräulein Aurelie in Beschlag genommen. Zu beiden gesellte sich nun noch der Assessor. Nach einer Weile kehrte Frau Osterfeld zur Tafel zurück und entschuldigte ihre Mutter: der Abschied habe sie zu sehr angegriffen. Osterfeld bat zum Kaffee in den Garten. Gruppenweise zogen die Gäste dahin ab, sich in der frischen Luft zu erquicken. Helene vermied es, mit Herrn von Brendeln allein zu bleiben, wozu Aurelie ihrem Bruder gern geholfen hätte. Von Minute zu Minute fühlte sie sich trüber gestimmt unter all den vom Festjubel und Weingenuß erregten Gästen. Sie gefiel sich gar nicht mehr in ihrem weißen Kleide. Und es beunruhigte sie auch, wie Herr von Brendeln sie mit erhitzten Augen ansah und ihr Worte zuflüsterte, die fast schon ein geheimes Einverständniß voraussetzten. Sobald es anging, verließ sie die Gesellschaft ganz, indem sie sich auf starkes Kopfweh berief.

Das Gewitter zog noch schneller auf, als Herr van Gräwenstein vorausgesagt hatte. Bald nach acht Uhr wurde das Haus still, das Dienstpersonal blieb noch eine Stunde mit dem Abräumen beschäftigt, wozu die Frau Consul als gute Wirthin sich wieder einfand. Das junge Ehepaar war entlassen, das Fest beendet – sie empfand nicht das Bedürfniß, eine gehobene Stimmung sanft und langsam ausklingen zu lassen; im Gegentheil schien es ihr lieb eine Beschäftigung zu finden, die sie schnell ablenken mußte. So war sie denn mit ganzer Aufmerksamkeit dabei, als ihr das Silberzeug vorgezählt und jedes zerbrochene Glas nachgewiesen wurde. Auch die Rothweinflecken auf den feinen Tischtüchern entgingen ihrem Blick nicht.

Osterfeld revidirte inzwischen den Weinbestand; dann begab er sich in’s Contor, die eingegangenen Briefe durchzusehen und das Wichtigste noch vor Nacht abzufertigen. Dorthin folgte ihm die Schwiegermama. Sie konnte nicht rasch genug sein geschäftskundiges Gutachten in Betreff der ärgerlichen Enthüllungen des Hauptmanns einholen. Osterfeld überbot sich in scharfen Ausdrücken über sein leichtsinniges Verfahren. „Und wer weiß, was noch nachkommt!“ Einen solchen Argwohn wehrte sie mit Entschiedenheit ab. Gräwenstein war nun doch ihrer Vera Ehegatte: die Verstimmung gegen ihn durfte nicht Bestand haben. Irgend ein Ableiter war erwünscht, und da bot sich Helene ganz von selbst. Bei Gräwenstein handelte es sich nur um eine verdrießliche Geldangelegenheit. Aber Helene –!

Es war noch nicht zu spät, sie gleich jetzt noch in’s Gebet zu nehmen. Der Leuchtschein aus ihrem Fenster erhellte das Laub der Linden, die dicht am Hause standen, und bewies, daß sie noch auf war. So erschreckte sie denn Helene, die halb ausgekleidet auf dem Sopha lag und mit wachen Augen die Ereignisse der letzten Tage durchträumte, durch ihren Besuch. Die steife Haltung und der starre Zug in dem sonst so freundlichen Gesicht verkündeten im Voraus nichts Gutes. Die Robe, die über eine Stuhllehne geworfen war, gab denn auch sofort den gesuchten Anlaß zur Scheltrede. Und diesmal bemühte die Frau Consul sich nicht einmal, würdevolle Ruhe zu behaupten. Das Abscheuliche war ja bereits geschehen; es galt nur noch, der Entrüstung darüber den schneidigsten Ausdruck zu geben.

Sie ließ Helene gar nicht zu Wort kommen. Der ganze lang verhaltene Groll entlud sich in den heftigsten Beschuldigungen

[729]

Verurtheilt.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Karow.

[730] der Lieblosigkeit und des Undanks. Undank! Dieser Vorwurf mußte am empfindlichsten treffen. Eine kalte Natur sei sie. Vielleicht habe Robert zu seinem Glück so früh die Augen geschlossen, ehe er sie recht erkannt habe!

Helene hätte um keinen Preis ein Wort der Rechtfertigung vorbringen mögen. Ihr Herz erkaltete wirklich mehr und mehr, sie glaubte es zu fühlen. Stolz blieb die einzige Empfindung, deren sie sich mit Befriedigung bewußt blieb.

„Was Du mir sagst,“ antwortete sie, „muß mich überzeugen, daß Du jenes Band schon als gelöst ansehen willst. Durch meine Schuld – aber gelöst. Wenn es Wohlthaten waren, die ich hier empfing, so wirst Du wünschen, daß ich sie mir nicht vorwerfen lassen darf. Mag ich so schuldig sein, wie ich Dir scheine, zu einer Bettlerin erniedrige ich mich deshalb nicht. Ich will darauf denken, wie ich es ermöglichen kann, Dir und den Deinen nicht länger lästig zu fallen, und – Ihr werdet mich nur noch kurze Zeit dulden dürfen.“

Das sagte sie so ernst und ruhig, als sei kein Zweifel weiter möglich, und dabei blieb sie auch, die Mama mochte sich noch so sehr ereifern. So trennten sie sich denn zuletzt, ohne auch nur oberflächlich zu einem Ausgleiche gelangt zu sein, die alte Dame noch erregter, als sie gekommen war, und die hellen Thränen in den Augen, Helene trotzig und verstockt.

(Fortsetzung folgt.)




Zwei Herbstlieder.

Von Karl Stieler.
1. 0Sonntagsläuten.

Ich lieg’ auf der Halde
Im Morgenblau,
Herbstgoldener Schimmer
Wie Flor und Flimmer

5
Webt um die Au.


Es liegen die Dörfer
Wohl stundenweit;
Doch hör’ ich klingen
Auf Windesschwingen

10
Ihr fernes Geläut.


Du bist noch weiter –
Und dennoch tönt
Der Klang deiner Grüße
Zu mir, du Süße –

15
Fern und versöhnt.


2. 0Vergessen.

Du stürmend Herz, lern’ leiser schlagen,
Ist denn Vergessen gar so schwer?
O schau’ dies schweigende Entsagen
Der schönen Erde rund umher!

5
Schau, wie der Sonne Gluth sich wendet,

Horch, wie verstummt des Vogels Sang;
Sie tragen’s alle, daß es endet,
Was eh’dem blüthe, glänzte, klang.

Es giebt der Strauch sein grünes Leben

10
Und seine letzten Rosen her;

Mein Herz, wann wirst du dich ergeben,
Ist denn Vergessen gar so schwer?




Im Congoland.

Von Dr. Pechuel-Loesche.
3. 0Congofahrt im Gebirge bis nach Vivi.

Camoensia maxima.

Nach drei- bis vierstündiger Fahrt von Ponta da Lenha läßt der Dampfer das flache Land hinter sich, und folgt nun dem Stromlauf im Gebirge. Die Uferhöhen rücken ziemlich jäh einander näher und beginnen die Gewässer einzuengen. Die erste Kette felsiger Hügel erstreckt sich quer zur Richtung des Flußbettes von Südosten nach Nordwesten. Am Südufer erhebt sich der unbedeutende, steil abfallende Fetischfelsen, ihm gegenüber, doch weiter oberhalb am Nordufer, der Blitzfelsen, an dessen grasigem Gipfel eine hohe natürliche Steinsäule aufragt. Zwischen diesen beiden Landmarken wälzen sich die hier ungetheilten Gewässer des vier Kilometer breiten Congo wie durch ein Thor hinaus in die Niederung. Während der Dampfer von dem Fetischfelsen allmählich nach dem Nordufer hinübersteuert, tauchen die weißgetünchten Gebäude von Boma auf. Dort liegen, bis auf eine gesichert gegen das bedeutendste Hochwasser des Congo, in langer Reihe mehrere holländische sowie portugiesische Factoreien und je ein englisches, französisches und belgisches Haus. Eine französische Mission ist ebenfalls auf einem sehr günstigen Platze angelegt worden.

Bis vor Kurzem war Boma der am weitesten vorgeschobene Handelsplatz am Nordufer des Congo, und darum besonders wichtig, weil dorthin, wie bereits zur Zeit des Sclavenhandels, die Karawanen aus dem nördlichen Berglande kommen, die jetzt freilich nicht mehr Menschen, sondern Landesproducte bringen. Die Ansiedelung liegt weit freundlicher und gesünder als alle Factoreien der Niederung. Unbedeutende grasige Hügel umgeben sie, vor ihr rauscht der breite Congo, der hier wiederum durch eine große in holländischen Besitz übergegangene Insel getheilt wird. Herr Greshoff, der Abtheilungschef, hat daselbst Plantagen angelegt und den arbeitsunfähig gewordenen eingeborenen Bediensteten des Hauses eine Heimstätte geschaffen, wo sie in behaglicher Ruhe ihr Leben beschließen können.

Die Hochlande des Congo sind vor allem ausgezeichnet durch ihre Waldarmuth. Die Höhen um Boma tragen diese ganz besonders zur Schau und müssen schon seit langer Zeit gleich verödet gewesen sein; denn die nur in waldlosen Gebieten gedeihenden Affenbrodbäume stehen daselbst in auffälliger Anzahl allenthalben locker verstreut und haben eine theilweise erstaunliche Entwickelung erreicht. Einer, der als der hervorragendste unter den Riesenbäumen Bomas genannt zu werden verdient, der außer vielen anderen Namen von Besuchern auch den des vielseitigsten praktischen Kenners von Afrika, Richard Burton 1863, eingeschnitten trägt, mißt in Manneshöhe über dem Boden zwölf bis vierzehn Meter im Umfang. Seine breit ausgelegte, schön geformte Krone ist [731] jüngst von dem Besitzer des Grundstückes, einem Portugiesen, leider der mächtigsten Aeste beraubt, und damit ist das stolze Wahrzeichen Bomas für immer verunstaltet worden. Auf der gegenüber liegenden holländischen Insel haben wir indessen im vergangenen Jahre einen Affenbrodbaum aufgefunden, welcher sogar zwanzig Meter im Umfange mißt und gleich herrlich wie der ersterwähnte gewachsen ist. Er steht jedoch abseits, von Gestrüpp umgeben und wird selten besucht werden.

Der Viehstand Bomas ist der reichste des Congogebietes. Nicht nur giebt es dort die untergeordneten Hausthiere in Menge und in schönen Arten, sondern man sieht im Schatten der Affenbrodbäume auch Rinderheerden – ein seltener Anblick, denn an der Küste sind, mit Ausnahme von Muanda und Landana, alle Versuche gescheitert, Rinder einzubürgern. Stromaufwärts finden sie sich nochmals in der holländischen Factorei zu Musuku am Südufer, und im verflossenen Jahre hat sie Herr O. Lindner auch nach Vivi eingeführt. In Boma und Musuku ist in Folge dessen auch der niedliche und originelle Kuhreiher in großer Zahl zu finden, der unbekümmert auf großem und kleinem Hausgethier herumsteigt und das Ungeziefer abliest. Da er sowohl wie die nützliche schwarzweiße Krähe an den genannten Orten von jeder Verfolgung ausgeschlossen ist, geberdet er sich ungemein zutraulich.

Herr Greshoff, wie Herr de Bloeme in Banana ein großer Thierfreund, ist unter Anderem auch der glückliche Besitzer einer Familie von reizenden Zwergantilopen, die vollkommen frei leben und mit Vorliebe die Wohnzimmer besuchen. Lara, die älteste und zahmste derselben, ein verzogener Liebling, maßt sich das Recht an, gegen fremde Eingeborene eine strenge Hauspolizei auszuüben.

Oberhalb Boma blieb der Schiffsverkehr bis in das letzte Jahrzehnt ein verhältnißmäßig beschränkter; man begnügte sich, die Verbindung mit etlichen am Südufer vorgeschobenen Factoreien mittelst großer Segelboote zu unterhalten. Die Holländer sandten indessen ihre Dampfer bald bis Musuku hinauf. In sehr früher Zeit waren verwegene Sclavenhändler mit ihren guten Schoonern bereits bis Noki und in die Nachbarschaft von Vivi gesegelt.

Als Tuckey 1816 seine so unglücklich verlaufende Expedition nach dem oberen Congo unternahm, wurde von Kennern des Stromes vorgeschlagen, mittelst kleiner starker Dampfer bis zu den Yelalafällen vorzudringen; Consul R. Burton, welcher die letzteren im Jahre 1863 besuchte, befürwortete denselben Plan. Herr Stanley führte ihn im Jahre 1879 aus, indem er mit seinen kleinen Dampfern bis nach Vivi vordrang, dabei sogar die unterhalb der Station liegende erste schwache Stromschnelle Nkasi Yelala (Yelalas Frau) glücklich überwindend.

Seitdem wird diese Strecke, die indessen noch einige tausend Meter unterhalb der äußersten Grenze der Schiffbarkeit endet, regemäßig befahren, und auch die Holländer senden ihren neuen, sehr stattlichen Dampfer „Moorian“ seit einem Jahre bis nach Angoango oberhalb Noki.

Von Boma an verläuft das Flußbett in mehreren Biegungen ostwärts bis Musuku, dann auf eine kürzere Entfernung nordwärts; bis Noki und Vivi wiederholt sich dieselbe Gestaltung in kleinerem Maßstabe. Auf ersterer Strecke schwankt die Breite des Congo zwischen 900 und 2500 Meter, weiterhin nähern sich die Ufer auf 1200 und 700 Meter.

Die holländische Insel zur Rechten, die drei Kilometer oberhalb liegende, hart an das Nordufer geschmiegte große Insel Mbuku Mboma zur Linken lassend, setzt der Dampfer am nächsten Morgen seine Reise fort. An einzelnen Punkten hat er bereits mit einer bedeutenden Strömung zu kämpfen, die über zwei Meter Geschwindigkeit in der Secunde erreicht, also etwa gleich ist der der Donau bei Ulm und der des Rheines bei Basel während eines Hochwassers.

Der Congo ist jedoch zu breit und tief, sein Bett zu uneben, als daß diese starke Strömung sich gleichmäßig über die volle Breite geltend machen könnte. Rauschen an einer Stelle die Gewässer mächtig abwärts, so wälzen sie sich an einer anderen aufwärts, während zwischen diesen Hauptströmungen wiederum untergeordnete in verschiedenen Richtungen vordringen und verhältnißmäßig ruhig kreisende Flächen eingeschaltet sind. Zuweilen bilden sich an den Rändern derselben ansehnliche Wirbel oder schäumende Wassermassen brechen plötzlich mit erstaunlicher Heftigkeit hervor, als ob eine Riesenquelle im Flusse aufsprudelte.

Die gewaltige Wasserbewegung schwankt jedoch stetig innerhalb sehr weiter Grenzen und bietet sehr selten für längere Zeit den nämlichen Anblick. So mag wohl der Dampfer zeitweilig eine ihm günstige Strömung oder ruhige Flußpartie benutzen; aber plötzlich wird er wie von unsichtbaren Mächten hin- und hergeschoben, sodaß er weit sich überneigt und nur widerwillig dem Steuer gehorcht, oder er wird jetzt rasend schnell vorwärts getrieben, jetzt wie durch Zauberei an einer Stelle festgehalten, während die Maschine in jähem Wechsel bald übermäßig arbeitet und rasselt, bald stillstehen zu wollen scheint. Je mehr man sich Vivi nähert, um so stärker äußern sich diese Verhältnisse.

An der hügeligen Insel Mbuku Mboma entlang verfolgt das Fahrzeug seinen Weg. Die Höhen krönen mächtige Steinblöcke und Wälle, die an Burgruinen erinnern, wirres Gestrüpp bekleidet die Steilhänge, am Wasserrand stehen Gruppen von Oelpalmen und wilden Dattelpalmen zwischen stattlichen vielästigen Waldbäumen, die dem vielverschlungenen im Winde schaukelnden Rankennetze mannigfaltiger Lianen zur Stütze dienen. Hier an diesem unbewohnten und nur selten besuchten Stück Land erfreut man sich zum ersten Male an reizvollen, obwohl eng umrahmten Landschaftsbildern. In früher Morgenstunde kann man hier auch noch Affen, Banden lustiger Meerkatzen beobachten, die freilich in der Regel nur der Eingeweihte entdeckt, während der Ungeübte nichts erblickt, als heftig bewegtes Gezweig.

Oberhalb Mbuku Mboma liegt das Inselchen Tschisala inmitten zahlreicher Klippen, unter welchen eine, gleich einem Obelisken, etwa sieben Meter hoch aufragt. Die Oberhäuptlinge des Districtes werden auf diesem Eilande beerdigt. Der einsame Friedhof birgt jedoch auch drei vergessene Gräber von Europäern, dreier der wissenschaftlichen Begleiter Tuckey’s: Cranch, Tudor, Galwey. Sie starben, wie viele ihrer Unglücksgenossen, an Fieber und Entkräftung auf dem Expeditionsschiff „Congo“, welches 1816 bis hierher den Fluß hinaufsegelte und in der gegenüberliegenden Einbiegung am Südufer verankert wurde.

Bis Musuku, das in vier bis fünf Stunden erreicht wird, nimmt nun der Congo eine sehr bedeutende Breite an und gleicht fast einem Gebirgssee. Hier und dort ruht ein Felseneiland im Wasser. Rechts und links enden hart am Ufer eine große Anzahl eng an einander gedrängter Höhenzüge, welche durch schmale, schluchtenähnliche Thäler getrennt sind und nur selten einer Höhe von dreihundert Meter sich nähern. Die Grate und steilen Hänge sind unbewaldet und gleichmäßig mit wogenden Gräsern bestanden; lockeres Gestrüpp, sowie einsame Gebüschklumpen vermögen den öden Berghalden keinen Reiz zu verleihen. Erblickt man einmal auf einem fernen Gipfel ein Gehölz, so darf man mit Sicherheit schließen, daß es ein Dorf der Eingeborenen beschattet und von den letzteren vor Vernichtung bewahrt wird. Diese Scenerie bleibt dem Congo allenthalben getreu. Am Fuße der jäh in den Fluß abfallenden Höhen zeigt sich jedoch stellenweise etwas Baumwuchs, und wo in tieferen Buchten Schwemmland abgesetzt ist, da erheben sich auf den auenähnlichen Flächen die bekannten starren Fächerpalmen und im Hintergrunde Gruppen von Affenbrodbäumen und Oelpalmen. Zur Trockenzeit, wenn die Gräser abgestorben sind und das Hochland in braune und goldige Töne kleiden, wirkt die Scenerie am schönsten.

Dennoch entspricht sie nicht im Geringsten den allgemeinen Vorstellungen von der Pracht und dem Reichthume der Vegetation in tropischen Gebieten. Immer wieder wird man bei der Congofahrt im Gebirge an den Rhein erinnert, obwohl die anmuthende Staffage fehlt, der Strom viel breiter ist und die Höhenzüge zu niedrig sind.

In Musuku, am Südufer des Congo, sind eine holländische, eine französische, sowie mehrere portugiesische Factoreien errichtet, welche Producte des südlichen Gebirgslandes eintauschen. Von diesem Punkte hat man stromauf nach Norden eine lohnende Aussicht auf eine der reizvollsten und zugleich am meisten charakteristischen Partien (siehe die Abbildung S. 732) des ganzen Congogebirges bis zum Stanley Pool. Eng gedrängt steigen die Erhebungen hinter einander zu etwa dreihundert Meter Höhe auf, ein Stück Bergland bildend, das zwar gut zu betrachten, aber, wie die meisten Theile des Gebirges, außerordentlich schwierig zu durchwandern ist.

Von Musuku geht, mit Benutzung einer theilweise rückläufigen Strömung, die Fahrt am linken Ufer hin rasch von Statten bis [732] zur nächsten Ecke, wo der um den Diamondfelsen wendende Dampfer plötzlich gegen einen gewaltigen Wasserschwall anzukämpfen hat. Ist dieser überwunden, dann winken bereits in der Ferne die Factoreien von Noki, die in anderthalbstündiger Fahrt von Musuku erreicht werden. Hier wendet sich der Fluß abermals eine kurze Strecke nach Norden. An dieser, etwas oberhalb Noki und ebenfalls am Südufer, liegen die neuerdings errichteten Factoreien von Angoango, bis wohin die holländischen Dampfer fahren, und unweit davon grüßt die jüngst angelegte, ausgezeichnet eingerichtete Niederlassung der unter Herrn Comber’s Leitung stehenden englischen Baptisten-Mission, welche sich am Südufer des Congo bereits bis zum Stanley-Pool festgesetzt hat. Gegenüber Noki und Angoango stehen auf einem niedrigen hübschen Plateau und hohen Uferleisten neben Affenbrodbäumen die letzten Fächerpalmen in bedeutender Anzahl. Hinter Noki und Vivi gegenüberliegend, steigt bis etwa zu sechshundert Meter der höchste Berg des Gebietes an. Und Angoango schräg gegenüber erhebt sich wohl an hundert Meter hoch eine senkrechte, vielfach zerklüftete und düster-rothe Felswand. Sie umgrenzt den Teufelskessel, eine wildromantische Partie des Flußlaufes, wo die von Osten heranstürmenden Fluthen aufschäumend gegen das Gestein prallen und südwärts abweichen. Anfang November vorigen Jahres erschienen auf der Höhe dieser Felswand unerwarteter Weise einmal fünf Elephanten; von den schleunigst übersetzenden jagdlustigen Factoristen wurde einer derselben erlegt. Die Thiere sind sehr seltene und nur zufällige Gäste in dieser Gegend.

Wie am Diamondfelsen bei der Fahrt von Musuku, so trifft auch an der nahen Ecke der Dampfer auf eine gewaltige Strömung, die durchschnittlich volle drei Meter Geschwindigkeit in der Secunde besitzt und bei den, wie bereits geschildert, plötzlich eintretenden Veränderungen zuweilen noch schneller, manchmal aber auch langsamer läuft. Die Maschinen arbeiten mit äußerster Kraft, und dennoch rückt das Fahrzeug dicht am Südufer einige hundert Meter weit in Minuten nur Zoll um Zoll, Fuß um Fuß vorwärts, zuweilen feststehend oder sogar der Wucht des Wassers weichend. An dieser gefährlichen Ecke verlor Herr Stanley bei dem Beginne des Unternehmens ein mit Gütern beladenes eisernes Lastboot. Es wurde von dem anstürmenden Wasser auf die Seite gelegt, füllte sich und versank mit seiner werthvollen Ladung.

Blick auf die Hochlande vom Congo.
Nach Originalaufnahmen Dr. Pechuel-Loesche’s auf Holz gezeichnet von Prof. A. Goering.

Auch dem scharfgebauten Dampfer wird übel mitgespielt bei dem jähen Eintreten in diese Strömung; er schwankt und neigt sich, wird hin und her getrieben, bis er diese bisher schlimmste Stelle endlich hinter sich hat. Am anderen Ufer liegt die letzte portugiesische Factorei zwischen einigen Baumgruppen am Fuße eines steilen, nach Osten gestreckten Hügels. Wie dieser sich allmählich beim Vorrücken des Dampfers verschiebt, öffnet sich der Blick auf eine letzte Krümmung des Congo und plötzlich tritt Vivi in den Gesichtskreis.

Vom Nordufer, von einem fast baumlosen, frei ausspringenden Hügelsporn und neunzig Meter über dem Congo thronend, grüßen die weißgetünchten Holzhäuser herab. Hoch und sicher wie eine Festung und freundlich wie eine Villenstadt sind sie von Weitem anzuschauen. Zur Linken liegt das Dorf der Sansibari und ein wenig tiefer, am Abhange, das der zahlreichen angestellten Kabindaträger.

Dem Südufer treu bleibend legt der Dampfer mühsam die kurze Strecke bis zur nächsten Biegung zurück. Dort liegt ein schöner Landungsplatz, Matadi, bis wohin der kleine Dampfer „Livingstone“ die Güter für die im Inland eingerichteten Stationen der englischen Livingstone-Mission befördert. Bis dorthin schaffte Tuckey bereits 1816 seine großen Segelboote, und von dort kreuzte er den Fluß auf demselben Wege, den nun der Dampfer einschlägt. Mit voller Kraft schießt er an dem vom Südufer ausgehenden Vorland entlang und in gleicher Richtung quer über den Strom. Um ihn wogen und wallen die Gewässer und wälzen sich schäumend unaufhaltsam durch das über tausend Meter [733] breite Bett, aufquellend, als wollte die Masse überkochen, und in allen Richtungen wirbelnd und kreisend. Hin und wieder geschleudert und nicht im Stande, für zwanzig Meter einen geraden Curs zu steuern, erreicht endlich der Dampfer unterhalb eines Felseneilandes eine ruhigere Ausweitung des nördlichen Ufers, wo der Lufu einmündet. In dieser Bucht halten sich gelegentlich noch einige Hippopotamen auf und mehrere vollwüchsige, sehr scheue Krokodile haben daselbst ihr Standquartier.

Zur Zeit des Hochwassers läuft der Dampfer in eine oberhalb des Eilandes gelegene winzige Bucht ein: Belgique Creek, wo auch Tuckey einst seine Boote befestigte und von wo er seinen unheilvollen, in Anbetracht der Verhältnisse jedoch außerordentlich erfolgreichen Marsch antrat, auf welchem er weit über Isangila hinaus gelangte und von dort an den Congo wieder schiffbar fand. Da der Landungsplatz schon benannt war, haben wir seinem Gedächtnisse zu Ehren das hübsch bewaldete Felseneiland Tuckey-Insel getauft.

Oberhalb Belgique Creek schieben sich eine Reihe von Felsriegeln mit zwischengelagerten Sandbänken vor, welche bei Niederwasser theilweise trocken liegen. Die untersten setzen sich als Klippenreihe durch die größere Hälfte des hier siebenhundert Meter breiten Stromes in der Richtung nach dem südlichen Vorlande fort. Diese Klippen bedingen die erste schwache Stromschnelle: Nkasi Yelala, Yelalas Frau.

Bei niedrigem Wasserstande vermag der Dampfer diese zu überwinden, indem er durch die nördlichste Rinne steuert. Er ruht dann eine Weile hinter der Tuckey-Insel, um Dampf aufzumachen für die letzte größte Kraftleistung. Dann schießt er an Belgique Creek vorüber, um den untersten Felsenwall wendend, mit scharfem Anlauf hinein in den gewaltigen ungebrochenen Strom der Rinne, für etwa zweihundert Meter wiederum nur Zoll für Zoll vorrückend.

Station Vivi am Congo.
Nach Originalaufnahmen Dr. Pechuel-Loesche’s auf Holz gezeichnet von Prof. A. Goering.

Beginge der Steuermann, ein Kabinda, einen Fehler, bräche etwas an der Maschine, so wäre das dünnwandige stählerne Fahrzeug in den meisten Fällen verloren; es würde auf die Felsen geschleudert und von dem Anprall des Wassers zerdrückt oder überworfen werden. An eine Rettung der Menschen wäre nicht zu denken; selbst der geübteste Schwimmer würde die Strudel und Wirbel nicht überwinden können. Endlich ist auch diese schlimmste Strecke überwunden, und der Dampfer legt gerade unter dem Plateau von Vivi am sandigen Ufer fest.

Hier beginnt Herrn Stanley’s breiter Weg, der nach links an dem steilen Hange emporführt; von hier aus hat der unermüdliche Arbeiter sein ganzes ungeheures Material hinauf nach Vivi und von dort aus über das Gebirg, theils zu Land, theils wiederum zu Wasser, nach dem Stanley-Pool geschafft. Der Aufstieg nach Vivi ist verhältnißmäßig bequem für dieses Bergland, doch immerhin anstrengend genug. Die geebnete Höhe ist lang und schmal. Auf derselben stehen rechts und links am Hange weißgetünchte niedrige Holzhäuser, theils als Wohnungen, theils als Niederlagen dienend, sowie mehrere große Magazine von Stein, Holz oder Eisen. Zwischen ihnen zieht sich ein umzäunter Garten entlang, in welchem wegen Wassermangel kaum andere Pflanzen gedeihen als anspruchslose Melonenbäume, die jedoch immerhin nur recht geringe Früchte liefern.

Am Ende der Höhe von Vivi, wo sie steil nach dem Congo abstürzt, ist ein kleines erhöhtes Plateau hergestellt, auf welchem, die unteren beiden Häuserreihen abschließend, ein größeres Holzhaus mit Oberbau errichtet ist. Dahinter, auf dem höchsten Punkte, erhebt sich der Flaggenmast, und hart am Hange hat Herr Dr. von Danckelman sein kleines meteorologisches Observatorium eingerichtet, welches, obwohl immer noch unvollkommen, die einzige Freistätte der Wissenschaft in der Expedition ist. Von hier aus genießt man einen schönen Rundblick auf den unten rauschenden Congo mit seinen Uferhöhen, den gegenüberliegenden höchsten Berg von Noki, auf den rückwärts von Vivi steil aufragenden, an dreihundert Meter hohen Leopoldstein und nordwärts auf die Höhen, über welchen der Stanley-Weg nach dem Inneren führt.

Gleich den übrigen Partien des Gebirges entbehrt die Umgegend [734] von Vivi der reichhaltigen Vegetation. Die hohen Gräser, untermischt mit Zwergbäumen und Buschwerk, beherrschen Hügel und Hänge; blos an einigen Stellen der Bachbetten und des Congo-Ufers stehen Waldbäume in lichten Reihen. Auf den öden Berghalden findet sich hier zum ersten Male die Camoensia maxima (siehe Abbildung S. 730). Sie entwickelt vorzugsweise während der Trockenzeit lockere Sträuße ihrer schön gestalteten, vornehmen, zart weißen Blüthen, welche einen betäubenden Orangenduft aushauchen und bisweilen die Größe einer Hand erreichen. Der sonst unscheinbare, Ruthen wie Ranken treibende und wenig belaubte Strauch ist eine der Charakterpflanzen des Hochlandes.

Oberhalb Vivi, wo der Congo von links zwischen den jäh abfallenden Bergwänden hervorkommt, mündet am Südufer der wildbachähnliche Mposofluß. Von dort setzen die Eingeborenen in Canoes über den Strom. Vor seiner Mündung liegen einige spärlich bebuschte Klippen: die Burton-Klippen. Wir haben sie Consul Burton zu Ehren so benannt. Denn dort übernachtete der unermüdliche Reisende, der von Afrika mehr gesehen hat, als irgend ein Anderer, und von dort kreuzte er den Congo, als er, 1863 von Noki über Land dahin gelangt, als der erste Europäer nach Tuckey’s Expedition bis zu den Yelalafällen vordrang.

Der Yelala liegt hinter den Bergen versteckt, in gerader Linie etwa sechs Kilometer von Vivi entfernt; indessen bildet der Congo, wie bereits Tuckey und Burton hervorheben, dort nicht einen Wasserfall, sondern nur eine ungeheure, etwa zwei Kilometer lange, durch zahlreiche Klippen verursachte Stromschnelle. Zu manchen Zeiten schallt deren tiefes, mächtig vibrirendes Tosen deutlich bis nach Vivi herüber.




Doctor Martin Luther.

Von Emil Zittel.
(Fortsetzung.)

Nach jener Erklärung Luther’s, auf der Leipziger Disputation, die wir als „Proclamation des protestantischen Princips“ bezeichneten, wurde es dem Dr. Eck gar leicht, in Rom den Erlaß einer Bannbulle gegen den Ketzer zu erwirken, und triumphirend kehrte er mit ihr nach Deutschland zurück. Hier aber kam er damit freilich fast überall recht übel an: er wurde öffentlich verhöhnt, in Erfurt geradezu aus der Stadt gejagt und am Anschlag der Bulle vielfach mit Gewalt verhindert; Luther aber, der dieselbe zuerst in einer Flugschrift als eine Fälschung Eck’s bekämpfte, übergab sie, nachdem er eines Besseren belehrt war, am 10. December 1520 öffentlich und feierlich vor dem Elsterthor in Wittenberg dem Feuer, nachdem er zu gleicher Zeit eine „Appellation an ein allgemeines Concil“, das über den Papst zu richten habe, hatte ausgehen lassen, und schrieb gegen den Letzteren das schon durch seinen Titel den Bruch offen kennzeichnende Buch „Wider die Bullen des Antichrists“, oder wie man damals zu schreiben pflegte, „des Endechrists“.

Wenn damals der ehemalige Jurist mit der Bulle und den päpstlichen Decretalen auch das Corpus juris canonici dem Feuer überantwortete, so verkündete er damit in prophetischem Geiste die Emancipation des modernen Rechtsstaates von der Oberherrschaft des theologischen Dogmas und der kirchlichen Clerisei!

In diesem denkwürdigen Jahre 1520 hat Luther nicht weniger als zwanzig Flugschriften, zum Theil von erheblichem Umfang, ausgehen lassen, darunter seine drei berühmtesten Reformationsschriften: „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“, dann „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ und „Von der babylonischen Gefangenschaft“, von welchen die beiden letzteren zuerst in lateinischer Sprache, dann in deutscher Bearbeitung von Luther’s Hand erschienen. In der Vorrede zu dem Büchlein „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, welches Luther in naiv-treuherziger Weise dem hochgebildeten Papst Leo X. widmete, stehen die bedeutsamen Worte:

„Ich habe freilich die römische Curie angetastet, von der Du aber selbst bekennen mußt, daß sie nichts besser ist als je ein Sodoma, Gomorrha oder Babylon gewesen ist. Dadurch ist die römische Kirche, die vor Zeiten die allerheiligste war, nun eine Mördergrube geworden, ein Haupt und Reich aller Sünde, des Todes und der Verdammniß, das nicht schlimmer sein könnte, wenn gleich der Antichrist selbst käme. Indeß sitzest Du, heiliger Vater Leo, wie ein Schaf unter den Wölfen (Matth. 10, 16) und gleichwie Daniel unter den Leuen (Dan. 6, 16 ff.) und mit Ezechiel unter den Scorpionen (Ezech. 2, 6). Was vermagst Du Einziger, wenn Dir schon drei oder vier gelehrte und fromme Cardinäle zufielen, unter solchem Haufen? Ihr müßtet eher durch Gift untergehen, ehe Ihr helfen könntet. Die Krankheit spottet der Arznei, Pferd und Wagen geben nichts auf den Fuhrmann.

Das ist die Ursach, warum es mir allzeit ist leid gewesen, Du frommer Leo, daß Du ein Papst geworden bist in dieser Zeit, der Du wohl würdig wärest, in besseren Zeiten Papst zu sein. Der römische Stuhl ist Deiner und Deines Gleichen nicht werth, sondern der böse Geist sollte Papst sein, der auch gewißlich mehr als Du in dem neuen Babylon regiert.

So habe ich gehofft, bei Dir Gnade und Dank zu verdienen und für Dein Bestes zu handeln, wenn ich solchen Deinen Kerker, ja Deine Hölle nur frisch und scharf angriffe.

Also komm ich nun, heiliger Vater Leo, um Dich, zu Deinen Füßen liegend zu bitten, Deinen Schmeichlern einen Zaum anzulegen. Daß ich aber sollt’ widerrufen meine Lehre, da wird nichts daraus; soll’s auch Niemand fordern, er wolle denn noch größere Wirren anfachen. Dazu kann ich auch nicht Regeln oder Maße für die Auslegung der Schrift dulden, weil das Wort Gottes, das alle Freiheit lehrt, nicht soll noch darf gefangen sein. Wo mir diese zwei Stück bleiben, so will ich, was mir sonst sollt’ aufgelegt werden, willig thun und leiden.“

Unterdessen war der alte Kaiser Max, der im Anfange des Streites gemeint hatte, diesen Mönch müsse man aufheben, man könne ihn vielleicht wohl gegen den Papst brauchen, im Januar 1519 gestorben. Man hatte an die Wahl Friedrich’s des Weisen gedacht, der aber bei seiner kleinen Hausmacht nicht Lust hatte, ein Spielball der übrigen Fürsten zu werden. Um so weniger wollten Papst und Fürsten es vor der Wahl mit ihm verderben und ließen deshalb die Wittenberger einstweilen unangefochten. Aber als nun gegen Ende des Jahres 1520 der jugendliche Karl V. als deutscher Kaiser erwählt worden war, wollte derselbe denn auch sofort daran gehen, die ungeordneten kirchlichen Zustände in Deutschland, insbesondere in Sachsen, zu beseitigen und mit vielen anderen kirchlichen wie politischen Angelegenheiten auf einem Reichstage, den er auf das Frühjahr 1521 nach Worms ausschrieb, von sich aus so gut als möglich ordnen. Der Wormser Reichstag, insbesondere der Festzug des gebannten Luther’s von Wittenberg nach Worms und sein Verhalten daselbst ist das allbekannteste und auch in der That bedeutsamste Stück seines Lebens. Denn wenn er hier gezagt und nachgegeben hätte, so wäre sein Name gar bald von den Wogen der Zeit verschlungen worden und die Reformbewegung vielleicht gänzlich in’s Stocken gerathen oder doch jedenfalls auf andere, für uns völlig unberechenbare Wege geführt worden. Hier in Worms aber bewährte sich Luther durch seinen ebenso festen und trotzigen, als bescheidenen Heldenmuth als ein echter Führer des Volkes. Damals schrieb er dem Freunde Spalatin: „Der lebt und herrscht noch, der die drei Männer im Feuerofen des Königs von Babel erhalten hat. Will er mein Haupt nicht erhalten, so ist wenig daran gelegen,“ und fügte dann das Wort hinzu, daß er hingehen werde, „wenn auch so viel Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern“ – ein Wort, das in dem später gedichteten Liede „Ein’ feste Burg ist unser Gott“ seinen Nachklang gefunden hat.

Und treu hat er es auch durchgeführt, als der heldenhafte Zeuge des protestantischen Grundgedankens von der Nothwendigkeit einer persönlichen, selbsterfahrenen, innerlichen Geistes- und Herzensfrömmigkeit, eines individuellen und subjectiven Verständnisses der überlieferten Religion, das sich, eben weil es ein [735] persönliches ist, auch eine freie, historische Prüfung der Ueberlieferung jederzeit vorbehält[1] und, auf eine lebendige Ueberzeugung gestützt, jedem äußeren Autoritätszwang gegenüber immer wieder die Antwort geben muß, welche damals Luther dem Kaiser sammt dem um ihn versammelten Reichstag und damit auch dem Papst und allen Concilien in unbeugsamem Muthe ein für alle Mal gegeben hat: „Ich kann nicht anders!“[2]

Karl V. freilich wußte damals in stolzer Vornehmheit über den unscheinbaren deutschen Mönch nichts Besseres zu sagen, als „der hätte mich nicht zum Ketzer gemacht!“ Wenn er es aber auch später bereut haben mag, ihn damals nicht dem Henker übergeben zu haben, so gab er ihm doch jetzt, einem ritterlichen Anstandsgefühle folgend, noch freies Geleite zur Heimkehr, schickte ihm aber sofort einen in den herbsten Ausdrücken abgefaßten und zudem fälschlich am 24. Mai auf den 8. Mai zurückdatirten Achtbrief auf dem Fuße nach.

So war denn Luther jetzt von der geistlichen und weltlichen Obrigkeit aller menschlichen und christlichen Gemeinschaft unwürdig erklärt; ihn todt zu schlagen war kein Verbrechen mehr, sondern eher ein Verdienst vor Gott, das sich nebst einigen römischen Goldgülden wohl mancher zu verdienen getraut hätte, wenn nicht Friedrich der Weise ihn am 4. Mai hätte aus der Welt verschwinden und heimlich auf die Wartburg bringen lassen.

Vom 4. Mai 1521 bis 1. März 1522 durchlebte Luther als „Junker Georg“ auf der Wartburg äußerlich gar stille und doch geistig überaus bewegte und durch unermüdliche literarische Thätigkeit höchst arbeitsreiche Tage.

Hier begann er sein wichtigstes Werk: die deutsche Bibelübersetzung, welche er im Laufe der folgenden dreizehn Jahre mit Hülfe vieler gelehrter Freunde vervollkommnet und zu Ende geführt hat. Auch dazu, wie zu seinen anderen literarischen Arbeiten, namentlich den sogenannten Postillen, war er von Anderen, besonders von seinem Erfurter Freund Lange, der bereits selbst das Mätthäus-Evangelium im Sommer 1521 in deutscher Sprache herausgegeben hatte, gedrängt worden. Er begann naturgemäß mit dem Wichtigsten, dem Neuen Testament, das er auch auf der Wartburg vorläufig zu Ende brachte. Er benutzte dazu die neueste kritische Textausgabe des Erasmus und eine oder mehrere der bereits zahlreich vorhandenen deutschen Uebersetzungen. Aber sein Meisterwerk überragte und verdrängte diese alle, nicht blos durch das zunehmende persönliche Ansehen des Mannes, sondern auch durch die ungemein geniale Auffassung der biblischen Autoren, die seltene Kunst und Kraft der Sprache, die Knappheit und Treue des Ausdrucks und durch das gewissenhafteste Zurückgehen auf den griechischen Urtext. Jene früheren Uebersetzungen waren nämlich alle lediglich aus der lateinischen Vulgata geflossen.

Was neben dieser für die Geschichte der deutschen Literatur geradezu grundlegenden Bibelübersetzung die übrigen deutschen Schriften Luther’s betrifft, so lassen diese die bei der Bibelübersetzung überall erkennbare große Sorgfalt des Stils und eine kunstvolle Anlage und Ausführung mehr oder weniger vermissen. Luther arbeitete – abgesehen von jener Uebersetzung und etwa einigen Liedern – eigentlich nie als Schriftsteller in unserem Sinne. Ihn erfüllte bei der Abfassung seiner Zeit- und Streitschriften – denn das waren sie ja fast alle – die Sache, um die es sich jedes Mal handelte, so übermächtig, daß er in großer Erregtheit seine Gedanken niederschrieb, ohne lange zu disponiren, umzugestalten und an der Form zu feilen; es scheint sogar, daß er von vielen seiner Schriften nicht einmal eine ordentliche Correctur besorgte, sodaß manche Stellen in vollem Dunkel schweben.

Das ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß er selbst seinen meisten Schriften keinen bleibenden literarischen Werth zuschrieb und überhaupt der Meinung war, „viele Bücher machen nicht gelehrt, viel Lesen auch nicht, sondern gute Dinge, und diese oft lesen, so wenig ihrer auch sind, das macht gelehrt und fromm dazu. Aller Lehrer Schriften sollten nur eine Zeit lang gelesen werden, um dadurch in die heilige Schrift zu kommen“. Sein geschriebenes Wort sollte lediglich dem Augenblicke dienen und nicht im Sinne der Humanisten ein bleibendes, zierliches Denkmal seiner künstlerischen und gelehrten Bildung, seines Geschmackes und seines Wissens sein.

Deshalb ist es ihm zu glauben, daß er es ungern sah, daß man 1539 auf eine Gesammtausgabe seiner Schriften hinarbeitete. Schließlich hat er es freilich eingesehen, daß er das zu verhindern kein Recht habe, er hat sogar eine Vorrede dazu geschrieben, sich aber um das Weitere offenbar nicht gekümmert. Aus dieser Vorrede, voll des köstlichsten Humors und der feinsten Ironie, mag hier eine überaus charakteristische Stelle folgen:

„Da ich’s nun nicht wehren kann und man meine Bücher, mir zu geringer Ehre! sammeln will, tröste ich mich deß, daß mit der Zeit meine Bücher doch werden im Staube vergessen sein – sonderlich, wo ich durch Gottes Gnade etwas Gutes geschrieben habe! ‚Non ero melior patribus meis‘ – ich werde nicht besser sein, als meine Väter (1 Kön. 19, 4). Das andere wird wohl noch am längsten bleiben! Es ist gute Hoffnung, sonderlich weil es hat angefangen zu schneien und zu regnen mit Büchern und Meistern, von denen schon so viele vergessen daliegen und verwesen, die freilich gehofft, sie würden ewiglich aus dem Markte feil sein und die Kirche meistern.“

Vom Jahre 1520 an ist Luther noch fünfundzwanzig Jahre an der Spitze der deutschen Reformbewegung gestanden. Aber wenn dieselbe bis dahin ganz und gar mit seiner persönlichen Geschichte zusammenfiel, so wird sie doch nun mehr und mehr zu einer tiefgreifenden Bewegung des ganzen deutschen Volkes. Am Fuße der Wartburg war gleichsam der stürmische, Alles mit sich reißende Bergstrom, der von den Schloßthüren in Wittenberg ausgegangen war und Aller Augen auf sich gezogen und Hunderte und Tausende mit sich gerissen hatte, plötzlich unter der Erde verschwunden. Aber bald sah man rechts und links an allen Orten neue Quellen und Bäche desselben Wassers entspringen und weiter stürmen und selbst in dem von Luther befreiten Wittenberg so mächtig überschäumen, daß er eiligst wiederkehren mußte, um den verderblichen Uebereifer mit allem Ansehen seiner Person und aller Kraft und Besonnenheit seines Geistes wieder einzudämmen.

Die Geschichte dieser fünfundzwanzig Jahre ist deshalb nicht mehr in der einfachen Form der Lebensbeschreibung des einen Reformators darzustellen. Hier aber, wo es sich nicht um eine Darstellung der Reformation selbst, sondern nur um ein Charakterbild des Reformators zu seinem Jubelfeste handelt, können wir uns von nun an um so kürzer fassen.

Bis zum Tag von Worms hatte sich die ganze Reformbewegung so ausschließlich an die Person Luther’s geheftet, daß Aller Augen und Ohren nur auf ihn gerichtet waren. Sein Streit mit Rom war gleichsam ein Schauspiel, an dem man mit tiefinnerlicher Bewegung, aber doch eigentlich nur als eifriger Zuschauer Antheil nahm. Jetzt aber war Luther mit einem Male von der Bühne abgetreten: da mußte ein Jeder mehr an sich, an seine Stellung zur Sache selbst denken und es immer mißlicher empfinden, daß man zwar evangelisch dachte und glaubte, aber seinen Glauben noch ganz in den altgewohnten römischen Formen äußerte. Dieser Widerspruch konnte auf die Dauer unmögljch bestehen. So machten denn in Wittenberg Luther’s Klosterbrüder den Anfang einer praktischen Reform, indem sie zunächst das Klostergelübde nicht nur theoretisch für hinfällig erklärten, sondern auch zum größeren Theil (dreizehn Brüder) in das bürgerliche Leben zurücktraten. Die Zurückgebliebenen aber gingen an die Reform des Gottesdienstes, indem sie den Meßgottesdienst einstellten, worauf die Studenten sogar nicht ohne die Theilnahme einzelner Lehrer auch in den anderen Kirchen die Abhaltung der Messe mit Gewalt verhinderten; Andere aber räumten tumultuarisch die Heiligenbilder aus den Kirchen, und mit dem Neujahr 1522 führte Dr. Karlstadt unter dem Zuströmen von Tausenden an die Stelle der lateinischen Messe erstmals das deutsche Abendmahl ein, legte dem Rath und der Universität eine evangelische Gemeinde-Ordnung vor und verlobte sich mit einer ehrbaren Jungfrau. Diese Wittenberger Vorgänge wiederholten sich aber gar bald auch an anderen Orten.

Um so eifriger aber regten sich nun auch die Gegner dieser

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1. Ansicht der Stadt von der Südseite. 2. Das Luther-Denkmal auf dem Marktplatz. 3. Monument Friedrich’s des Weisen in der Schloßkirche. 4. Schloß (jetzt Citadelle) und Schloßkirche. 5. Das Augustinerkloster, Luther’s Wohnung. 6. Der Marktplatz mit Rathhaus, Luther- und Melanchthon-Denkmalen und der Stadtkirche. 7. Luther’s Wohnstube im Augustinerkloster. 8. Luther’s Sanduhr für die Kanzel und sein Trinkkrug. 9. Die Luther-Eiche, die Stelle vor dem Elsterthor bezeichnend, wo die Verbrennung der Bannbulle geschah.

Neuerungen. Ein großer Theil der Bevölkerung hatte sich bisher wenig oder gar nicht um den „theologischen Streit“ bekümmert. Jetzt aber nahm man ihnen ihren alten Gottesdienst, ihre Heiligen und Bilder mit Gewalt, störte ihre alte, liebe Gewohnheit und erklärte dem „Glauben ihrer Väter“, dem Glauben der „katholischen Christenheit der ganzen Welt“ den Krieg! So mußte eine ernste Opposition erwachen: jedes Kloster, jede Facultät, jedes Collegium in der Gemeinde zerfiel in zwei Heerlager. Jeder wurde gezwungen, Partei zu nehmen. Viele innerlich Gleichgültige schürten doch schadenfroh die Zwietracht, und von außen her stürmten die Regierungen auf den Kurfürsten ein, daß er solche Neuerungen nicht dulde, und das um so heftiger, als jetzt [737] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


auch die überspannten und aufrührerischen Zwickauer Propheten auftraten und Viele von denen, die einer ruhigen Reform von oben her geneigt gewesen wären, völlig scheu machten. Mehrere Fürsten riefen ihre Söhne und Verwandten von der Universität Wittenberg zurück, Herzog Georg von Sachsen machte seinem kurfürstlichen Vetter die heftigsten Vorwürfe, und selbst das Reichsregiment führte eine drohende Sprache gegen Friedrich den Weisen, der, wiewohl er sich bisher allezeit treu und wohlwollend, aber auch vorsichtig und klug erwiesen hatte, doch auch verstimmt war über die tumultuarischen Scenen und die wachsenden Schwierigkeiten seiner Lage.

(Schluß folgt.)
[738]

Nochmals die Brille.

Von Dr. J. Herm. Baas (Worms).

Die Welt durch eine gefärbte Brille zu betrachten, galt von jeher als ein gelinder Vorwurf, mag er sich nun darauf bezogen haben, daß man sie zu schwarz, oder darauf, daß man sie zu farbig sehe. Begegnet man aber in unseren Tagen den so zahlreichen Trägern blauer, grauer, selbst gelber Brillen in den Straßen der Städte und selbst schon der Dörfer, so könnte man leicht zu dem Glauben verlockt werden, das alte Sprüchwort habe seine Geltung nahezu verloren und das Farbigsehen der Dinge sei wohl heutzutage gar zum Vorzug geworden.

Sicher ist es zum Theil auch ein solcher, zum anderen Theil aber erwächst den Trägern farbiger Brillen ein verstärkter Vorwurf. Diese letzteren nämlich sind nur dann ein wahres Nutzmittel, wenn sie mit sachverständiger Auswahl in Augenkrankheiten verwendet werden; sehr häufig aber werden sie vom Publicum auf eigenmächtige Selbstverordnung hin in Gebrauch gezogen in Fällen, in denen sie gar nicht nöthig, meist sogar schädlich sind. Der Laie sucht eben stets auch in Heilmitteln, die nur bei einer Auswahl oben bezeichneter Art zuträglich sind, gar zu gern ein Universalmittel, giebt der weitverbreiteten Sucht, das Besondere zu verallgemeinern, nach, und zwar auch dann, wenn strenges Individualisiren allein vom Heile sein kann.

In Bezug auf die farbigen Brillen schließt er demgemäß also: wenn heutzutage die Aerzte dieselben in Krankheiten zur Schonung, ja zur Besserung der Augen verordnen, so können sie doch wohl Gesunden nicht schaden, sondern müssen auch sie schonen, noch mehr aber werden sie das bei „etwas angegriffenen“ Augen thun; da können sie ja blos nützlich sein.

Dieser Schluß jedoch, so häufig er gemacht wird, ist hier, und auch bei anderen Mitteln, ein durchaus falscher. Es darf nämlich vor allen Dingen nicht unberücksichtigt bleiben, daß das eigentliche Sehen durch gefärbte Gläser stets erschwert wird, weil sie ja alle Gegenstände, je nach dem Grade ihrer Färbung, stärker oder schwächer verdunkeln. Beim Arbeiten und Lesen wirken sie daher fast immer schädlich. Und doch werden sie häufig gerade dabei verwendet, sogar in dem Falle, wenn die Augen in Folge von Ueberanstrengung schon schmerzen, in welchem Falle das Uebel lediglich vermehrt wird.

Nur heftige Reizzustände der Augenhäute und viele Krankheiten des inneren Auges, worüber der Laie am wenigsten entscheiden kann, erfordern im Allgemeinen den Gebrauch gefärbter Gläser in Form sogenannter Schutz- oder Muschelbrillen, wie sie ihrer Gestalt wegen genannt werden.

Dabei ist aber auch ferner noch die Unterscheidung zu treffen, ob blaue oder graue Gläser jeweilig am Platze sind, was doch begreiflich auch wieder nur bei genauer Kenntniß und Erkenntniß der Natur vorhandener Leiden möglich ist. Die Wirkung der beiden Farben ist nämlich eine ganz verschiedene: graue Gläser dämpfen das Licht im Ganzen, setzen die ganze Lichtwirkung herab, blaue dagegen bewirken dies besonders in Bezug auf einzelne Theile des Sonnenlichtes, das ja bekanntlich aus den verschiedenen farbigen Strahlengattungen, wie sie der Regenbogen zeigt, zusammengesetzt und in dieser Zusammensetzung farblos ist, und zwar vorzugsweise in Bezug auf die orangefarbenen Strahlen, die freilich das Auge am meisten „reizen“.

Ohne auf weitere Einzelnheiten einzugehen, kann man im Allgemeinen sagen, daß blaue Brillen in heftigen, rasch verlaufenden Entzündungen des äußeren wie des inneren Auges, graue dagegen in schleichend und versteckt einhergehenden Leiden, besonders des Augeninnern, am Platze sind. Gelbe Brillen dagegen nützen nur in den seltensten Fällen, weil sie unter allen Umständen die Netzhaut erregen, und sind deshalb selbst in Form von Jagdbrillen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zulässig und unschädlich.[3]

Weiterhin sind farbige Brillen, entgegengesetzt der fast allgemeinen Meinung des Publicums, baldmöglichst bei Seite zu legen, weil bei zu langem Tragen derselben die Gefahr eintritt, daß das Auge sich des freien Lichtes, selbst bis zu hohem Grade, entwöhnt und dasselbe dann geradezu als Schädlichkeit empfindet.

Beim künstlichen Lichte gar, das ja fast unter allen Umständen schwächer ist als gewöhnliches Tageslicht (man sehe nur einmal eine Gaslaterne in den Tag hinein brennen!), wirkt das beliebte Aufsetzen farbiger Brillen (und Schirme) nahezu immer, ganz abgesehen von Fällen, wo das Auge wirklich erkrankt ist, augenanstrengend und dadurch schädlich.

Stellen wir nun die Frage: wann darf der Laie unbedenklich und wann soll er farbige Gläser auf eigene Verantwortung wählen? so müßte die Antwort lauten: eigentlich nie! Geschieht es aber doch, was ja nicht zu verhindern ist, so soll es nur geschehen in Fällen, wo das Auge längerer Ueberblendung ausgesetzt ist, sei es durch Tages- oder künstliches Licht, vor Allem bei Feuerarbeitern, die häufig genug sich schwere Netzhautleiden zuziehen, dann bei Gletscherreisen, bei Schneetouren, Fahrten auf glitzernder See, bei gewissen Opernvorstellungen mit grell wechselnden Lichteffecten u. dergl. Hier aber wähle man stets graue Brillen in so dunker Schattirung, als angängig ist, schon deshalb, weil sie die Gegenstände, Ansichten etc. in ihrer natürlichen Färbung belassen, was bei blauen nicht der Fall ist, da sie alles blauroth färben. Freilich sind die grauen Schutzbrillen etwa um ein Dritttheil des Preises theurer als die blauen; das ist zwar häufig ein Grund für die Wahl dieser letzteren, dürfte es aber doch eigentlich bei so wichtiger Sache nicht sein.

Eine andere Art von Schutzbrillen – entweder ungefärbte, aus starkem, farblosem Glase, oder aus Glimmer hergestellt – sollten vor Allem alle Eisenarbeiter, wie Schmiede, Schlosser u. dergl. tragen; denn wie häufig gehen Augen bei diesen zum Theile oder ganz zu Grunde in Folge eindringender Splitter, auffahrender Eisenstücke, Funken u. dergl.! Aber alles Reden und Rathen ist leider in der Regel nutzlos. Erst ganz vor Kurzem verlor hier ein Arbeiter das zweite Auge durch ein abgehauenes Eisenstück, nachdem er vor Jahren das erste in einer Werkstatt Sachsens auf dieselbe Weise eingebüßt hatte: arm und – blind durch Fahrlässigkeit und Leichtsinn, im neunzehnten Jahre!

Auch bei Schutzbrillen sollte man stets regelrecht auf beiden Flächen ganz gleichgeschliffene, nicht gegossene, wählen, da diese häufig in der Masse Fehler, wie Blasen u. dergl., haben und auf beiden Flächen nicht ganz eben und gleich sind, dadurch aber das Licht falsch brechen und durchlassen.

Eigentliche Seh- oder Lesebrillen (also convexe oder concave oder zylindrische Gläser, die wir später besprechen werden) in Farben zu tragen, dazu ist nicht häufig Veranlassung und deshalb die Auswahl solcher stets dem Arzte anheimzugeben. Sie sind ganz bestimmt viel seltener anwendbar, als das Publicum glaubt, das auf eigene Gefahr sie aussucht – zur Schonung der Augen, obwohl bei ihrer Verwendung fast immer das Gegentheil bewirkt wird.

Ist aus dem soeben Gesagten ersichtlich, daß das Publicum sich mit den gefärbten Gläsern bereits allzu vertraut gemacht hat, so herrscht fast noch in allen Kreisen desselben völlige Unbekanntschaft mit einer gar nicht selten verwendeten Art von Gläsern, den eben erwähnten zylindrischen. Sie sind freilich auch in letzter Zeit, erst etwa seit 30 Jahren eingeführt worden. Die Schleifung derselben geschieht, wie ihr Name schon sagt, nach der Wölbung eines Cylinders, nicht nach der Wölbungsfläche einer Kugel, wie dies bei den altgebräuchlichen convexen und concaven der Fall ist, die man deshalb auch als die sphärische bezeichnet. – Es ist aber gerade die Verwendung der cylindrischen Gläser eine der genialsten Errungenschaften der modernen Augenheilkunde!

Fig. 1.

Zur Klarstellung ihres Gebrauchs müssen wir in Kürze vorausschicken, daß feinste Messungen der Oberflächenkrümmung der Hornhaut dargethan haben, daß selbst im regelmäßig gebauten, besten Auge die letztere von oben nach unten (a) stärker gewölbt ist (Fig. 1), als im Durchmesser von rechts nach links (b). Dieser Unterschied in der Wölbung, oder was dasselbe sagt, des Brechvermögens der beiden (Meridian-)Richtungen ist aber für gewöhnlich nicht groß genug, um Störungen [739] beim Sehen zu bewirken. Nun giebt es jedoch Augen, in denen die erwähnte Verschiedenheit eine sehr große und dadurch störende ist. Dieser Baufehler ist dann gewöhnlich angeboren, und es gelten in der Regel die damit Behafteten für einfach schwachsichtig von Geburt aus. Ihr Blick hat oft einen eigenthümlich stechenden oder unbestimmten, unruhigen Ausdruck und die Hornhaut derselben läßt bei Beobachtung des Bildes der Gegenstände, die sich auf derselben abspiegeln, z. B. eines Fensters, ein eigenthümliches Verzogensein dieses Spiegelbildes deutlich erkennen. Die Ausdauer und Sehtüchtigkeit solcher Augen ist oft eine sehr schlechte.

Setzt man jedoch das richtige, freilich oft erst nach zeitraubenden und schwierigen Proben zu findende Cylinderglas vor, so werden beide Fehler wenigstens sehr gebessert, in einzelnen Fällen sogar nahezu gänzlich aufgehoben.

Die Wirkung dieser Gläser aber ist nicht leicht zu erklären, um so weniger, als die merkwürdigsten Krümmungsunterschiede in den genannten Richtungen vorkommen; doch wollen wir dies an einem möglichst einfachen Beispiele wenigstens versuchen.

Fig. 2.

Fig. 3.

Wir nehmen an, die senkrechte Wölbung der Hornhaut (c d) sei regelrecht (Fig. 2), die von rechts nach links (e f) dagegen viel zu flach. Die Aufgabe ist also, diese letztere der ersteren möglichst gleich zu gestalten. Dies geschieht dadurch, daß man ein in richtigem Grade convex geschliffenes (g) Cylinderglas (Fig. 3) senkrecht vor das Auge bringt. Auf diese Weise wird die zu geringe Wölbung der Hornhaut in der Quere künstlich ersetzt, ausgeglichen und das Sehen dadurch ein regelmäßiges. Wäre dagegen die senkrechte Wölbung zu stark, die quere aber richtig, so begreift es sich, daß man ein hohlgeschliffenes Cylinderglas quer vor das Auge halten müßte, um jene zu starke Krümmung bis zu dem Maße der schwächeren horizontalen zu verkleinern etc.

Augen, welche den eben beschriebenen Baufehler zeigen, nennt man astigmatische, den Fehler selbst Astigmatismus, weil die Besitzer solcher Augen einen Punkt (Stigma) nicht als solchen kreisrund, sondern nur länglich verzogen und ausgezackt sehen.

Fig. 4.     Fig. 5.

Eine andere Art von Brillen ist im Gegensatze zu den vorigen schon von der Schulzeit her, ihres berühmten Erfinders wegen, viel mehr gekannt, als sie benutzt wird, wir meinen die sogenannten Franklin’schen Brillen. Sie enthalten zwei, vielmehr zwei halbe Gläser (h): oben ein halbirtes hohl geschliffenes, unten ein halbes convexes Glas in einem Gestell (Fig. 4). Franklin construirte sich dieses Instrument, weil er kurzsichtig und alterssichtig zugleich war; zum Sehen in die Ferne gebrauchte er das Concavglas, zum Lesen, bei dem der Blick nach unten gerichtet ist, das Convexglas.

Aehnlich sind die Gläser mit doppelter Brennweite (i, Fig. 5); sie sind so geschliffen, daß der obere Theil ein schwächer gewölbtes und deshalb schwächer brechendes, der untere Theil ein stärkeres Convexglas darstellt. Sie dienen Fernsichtigen, die zum Lesen eines stärkeren Glases bedürfen, als zum Sehen in größere Entfernung. Beide Arten sind zwar hübsch erfunden, aber nur selten mit Vortheil praktisch anwendbar, dazu theuer; dagegen besitzt wieder die letzte hier zu erwähnende Brille, die prismatische (k, Fig. 6), diese Nachtheile nicht. Ihre Verwendbarkeit erstreckt sich auf Fälle von lähmungsartigen Zuständen einzelner das Auge bewegender Muskeln. Sie hat den Zweck, das durch den Ausfall einzelner Augenbewegungen gestörte Sehvermögen wieder herzustellen und den Strahlengang regelrecht zu machen.

Fig. 6

Anstatt die optische Wirkung derselben näher zu erläutern, was mit wenigen Worten doch nicht geschehen kann, wollen wir den uns noch zur Verfügung stehenden kleinen Raum zur Beantwortung einiger von Laien häufig an den Arzt gerichteten praktischen Fragen benutzen.

Die erste lautet gewöhnlich: Welche Form der Gläser ist die beste, die runde oder die ovale?

Jedenfalls die runde, weil bei ihr die optische Güte durch das Einschleifen gar nicht benachtheiligt wird und der Blick nach allen Richtungen stets der Mitte des Glases nahe bleibt. Sie ist zumal bei Altersbrillen vorzuziehen, besonders seitdem die frühere unschöne Pflugradgröße derselben auf anständigeres Maß zurückgeführt worden ist. Geboten ist die runde Form aber stets bei Staarbrillen und fast immer auch bei den cylindrischen Brillen. Die Vorzüge der runden Gläser erreichen die ovalen nicht, selbst wenn sie groß sind; doch können sie im letzten Falle jenen wenigstens möglichst wenig nachstehen, weil dann die Ränder des Glases selbst im kleinen Durchmesser noch hinreichend fern von der Mitte liegen. Dagegen sind die kleinen Brillen dieser Form, wie man sie häufig sieht, gerade so verwerflich, wie die kleinen achteckigen Lorgnettengläser, welche letzteren aber mit den ersteren verglichen wenigstens den Vorzug haben, daß sie nur kurze Zeit vor dem Auge sind. Das sogenannte Monocle ist, wenn auch rund, schon als geckenhafte Spielerei verwerflich.

Periskopische Brillengläser.

Was ferner die optische Schleifung anbelangt, so sind die auf beiden Flächen gleichmäßig convex oder concav (Fig. 7 und 8) geschliffenen den sogenannten planconvexen oder planconcaven Gläsern entschieden vorzuziehen, die sogenannten periskopischen aber sind die besten, weil der Strahlengang durch dieselben selbst an ihren Randtheilen gar nicht ungünstig beeinflußt wird, was bei den anderen beiden Sorten immer der Fall ist. Jene wirken an ihren Rändern stets auch noch wie schwache Prismen lichtbrechend.

Eine andere sehr wichtige Frage ist die nach der Fassung und dem Gestell der Brille.

Am häufigsten sind die Gläser in eine an der inneren Seite der Fassung befindliche Rinne gebettet. Dadurch werden die Ränder bei schwächeren Nummern, welche ja die häufigst getragenen sind, vollständig gedeckt, sodaß falsche Strahlenbrechungen von dem Einschleifrande her nicht stattfinden können. Bei stärkeren Nummern dagegen, oder, was in der Regel dasselbe sagt, bei dickeren Brillengläsern sind die reifartig gestalteten breiteren Fassungen vorzuziehen, weil nur durch solche die Glasränder in diesen Fällen ganz vom seitlichen Lichte abgeschlossen sind. Ganz verwerflich aber sind die den Glasrand überall freilassenden nicht gefaßten Brillengläser, wenn sie auch vielleicht eleganten Eindruck machen; ganz abgesehen von dem großen Fehler, daß bei ihnen von den Rändern her alle Arten störender Lichtreflexe das Auge treffen, können sie auch bei zufälligem Anstoßen und dergleichen dadurch gefährlich werden, daß dann Glassplitter leicht in das Auge dringen, was bei den durch eine Fassung geschützten Brillengläsern nicht oder doch viel weniger zu befürchten ist; zudem werden die nur in zwei kleinen Oeffnungen des Glases befestigten Gestelltheile sehr leicht wackelig, was begreiflicher Weise ein weiterer großer Nachtheil ist.

Die Construction des Nasensteges ist insofern von Wichtigkeit, als durch denselben das feste Sitzen der Brille wesentlich mitbestimmt wird. Die Auswahl unter den vorhandenen Formen sollte deshalb eine viel sorgfältigere sein, als dies gewöhnlich der Fall ist, das heißt, es sollte die dem Nasenrücken des Trägers ganz entsprechende jedesmal mit Sorgfalt ausgesucht werden. Weniger in’s Gewicht fällt dies nur bei dem sogenannten neutralen Nasenstege, der seinen Namen daher hat, daß er auf beiden Seiten gleichartig eingebogen ist, damit die Brille auch bei Umkehrung derselben gut sitzt und auf diese Weise bald das eine, bald das andere Glas bequem vor das Auge gebracht werden kann. Diese Möglichkeit ist bei Staaroperirten von großer Wichtigkeit, weil dieselben zwei meist sehr verschieden starke Convexgläser in einem Gestell für das eine operirte Auge nöthig haben, wovon sie das schwächere zum Sehen in die Ferne, das stärkere zum Lesen etc. [740] verwenden müssen; nur bei neutralem Stege aber können sie den dabei gebotenen Wechsel der Gläser auf die rascheste Weise bewirken.

Auch die Gestalt der seitlichen Federn ist von Bedeutung. Deren giebt es drei Hauptarten: die Reit-, die Charnier- und die gerade Feder. Die beiden ersten Sorten umfassen das Ohr, jene halbkreisförmig, diese im Winkel, die letztgenannte dagegen geht gerade nach hinten und hält nur durch Druck gegen die Schläfen fest. Die Reitfeder ist im Allgemeinen für Männer vorzuziehen, besonders die neuerdings aus zwei spiralig um sich selbst gewundenen Drähten hergestellte, weil gerade diese nicht leicht einschneidet, wie das bei der aus einem Draht gearbeiteten der Fall ist; auch ist sie weniger zerbrechlich. Doch genügt auch die Charnierfeder dem Zwecke guten Festhaltens, wenn sie nur nicht zu lang ist. Die geraden Federn, wenn sie so stark sind, daß sie sich nicht verbiegen, sind besonders für Frauen vorzuziehen, weil sie sich nicht in den Haaren festsetzen und beim Abnehmen nicht jedesmal einzelne ausreißen. – Das Material des ganzen Gestelles anlangend, so mögen weniger Bemittelte ein gut gehärtetes Stahlgestell wählen, Bemittelte aber Goldgestelle, weil diese dauerhafter und in der Regel auch besser gearbeitet sind, als die geringeren Sorten. Das gilt auch für die Nasenzwicker, die, wie wir noch erwähnen wollen, bei jugendlichen Kurzsichtigen am zweckmäßigsten sind – weil sie zu unbequem sitzen, als daß sie anhaltend getragen würden, was gerade bei solchen verhütet werden muß.

Zum Schluß unserer Auseinandersetzungen über die Brillen in der „Gartenlaube“ sei uns noch die Bemerkung gestattet, daß Deutschland in Rathenow einen Weltplatz der Brillen-Industrie besitzt, dessen Fabrikate selbst in ausländischen Geschäften, leider auch unter fremder Geschäftsetiquette, sehr viel verkauft werden.




Blätter und Blüthen.

Beiträge der Literatur und Kunst zum Luther-Feste. Daß eine Feier von so ungewöhnlicher Bedeutung, wie das Luther-Jubiläum, die Thätigkeit von Schriftstellern, Dichtern und Künstlern aller Art vorzugsweise in Anspruch nehmen werde, war vorauszusehen. Die Früchte derselben sind sehr zahlreich. Selbst nur für ein Verzeichniß, wenn ein solches schon möglich wäre, aller angekündigten oder auf den Markt gebrachten Schriftwerke, epischen, lyrischen und dramatischen Dichtungen, illustrirten Werke, musikalischen Compositionen, Gemälde, Büsten und Medaillen würde uns der Raum mangeln. Wir müssen uns auf die kurze Angabe einer geringen Anzahl dieser Festerzeugnisse beschränken, die wir der Empfehlung Werth halten.

Unter den Festschriften nimmt das Folio-Prachtwerk „Dr. Martin Luther in Wort und Bild“, herausgegeben von C. Evers, Dr. theol. und phil. Pastor zu St. Matthäi in Leipzig (Verlag von Rud. Uhlig daselbst), sowohl durch künstlerische Ausstattung wie durch geistvolle Darstellung und gediegenen Inhalt einen hervorragenden Platz ein. Die Lösung der schwierigen Ausgabe, die der Verfasser sich gestellt, „in einem engen Rahmen ein abgerundetes, wesentlich erschöpfendes Lebensbild Luther’s zu entwerfen und andererseits mitten in den hochgehenden kirchlichen Wogen der Gegenwart die historische Treue zu bewahren“, ist ihm vortrefflich gelungen. In knapper, aber dabei geistvoller Darstellung faßt er nach einer Einleitung, die zuerst die epochemachende, weltgeschichtliche Stellung und Bedeutung Luther’s in großen allgemeinen Zügen darlegt, die Geschichte Luther’s in 6 Abschnitten zusammen: 1) Sein Vaterhaus und seine Jugend (1483 bis 1505). 2) Seine evangelische Entwickelung (1505 bis 1517). 3) Sein erstes Zeugniß (1517 bis 1521). 4) Sein reformatorischer Kampf (1521 bis 1525). 5) Seine kirchliche Bau-Arbeit (1525 bis 1532). 6) Sein Lebensabend (1532 bis 1546). So bietet sich uns ein Gesammtbild jener gewaltigen kirchlichen Bewegung und der Wirksamkeit des gottbegeisterten Mannes dar, welcher sie hervorrief. Einen köstlichen Schmuck verleihen dem Werke die Bilder von Professor Schwerdgeburth. Sicherlich wird dies Luther-Werk im deutschen Volke freudige Aufnahme und einen dauernden Platz gewinnen.

Mir Kunstkenner von besonderem Interesse ist eine „Sammlung von Portraits aus der Zeit der Reformation in getreuen Facsimile-Nachbildungen“, welche Georg Hirth als „Bilder aus der Luther-Zeit“ (G. Hirth, München und Leipzig) herausgegeben hat. Sie sind zum großen Theil seinem „Culturgeschichtlichen Bilderbuche“ entnommen. „So,“ sagt der Herausgeber, „wie sie uns hier wieder erscheinen, waren die berühmten Männer und Frauen jener Zeit ihren eigenen Zeitgenossen im Bilde bekannt. Aus diesen alten Formschnitten spricht deutlich die Kraftfülle der damaligen Menschen zu uns.“ G. Hirth’s Ausstattungsweise bedarf keiner besonderen Empfehlung.

Gleich sorgfältiger und geschmackvoller Behandlung erfreut sich ein Prachtwerk der H. J. Meidinger’schen Hofbuchhandlung in Berlin: „Der singende Luther im Kranze seiner dichtenden und bildenden Zeitgenossen.“ Eingeleitet von Emil Frommel, mit Randzeichnungen und Handrissen von Albrecht Dürer und Lucas Cranach. Den textlichen Inhalt bilden die Lieder und Sprüche Luther’s, denen die besten seiner Zeitgenossen angefügt sind, damit für jedes Fest des Kirchenjahres das Vorzüglichste der kirchlichen Poesie jener Tage geboten sei. Wie dieser Inhalt verdient auch die Illustration die höchste Beachtung: sie besteht in der kunstreichen Wiedergabe jener berühmten Federzeichnungen, mit welchen Albrecht Dürer 1514 das Gebetbuch des Kaisers Maximilian ausgeschmückt hat. Dieses Prachtbuch ist ein Familienschatz.

Karl Gerok, der bekannte geistliche Liederdichter und Prälat in Stuttgart, hat dem Feste eine freundlich ausgestattete Jubiläumsausgabe der geistlichen Lieder Martin Luther’s unter dem Titel „Die Wittenberger Nachtigall“ (Stuttgart, C. Krabbe) gewidmet.

Eine werthvolle Festgabe ist Karl Siegen’s: „Die wittenbergische Nachtigall, die man jetzt höret überall, ein allegorisches Gedicht von Hans Sachs. Sprachlich erneuert und mit Einleitung und Anmerkungen versehen“ (Jena, Fr. Mauke). Von diesem berühmten Gedicht ist dem großen Publicum schwerlich mehr bekannt, als die ersten drei Worte; es war ein guter Gedanke, dasselbe zum Luther-Fest dem ganzen Volke zugänglich und in trefflicher Weise angenehm verständlich zu machen.

„Martin Luther.“ Von Dr. Karl Burk (Stuttgart, C. Krabbe). Eine ausführliche Lebensbeschreibung des Reformators, der, wie der Verfasser sagt, „unter unserem Volke zwar viel genannt, aber wenig bekannt ist“; gerade jetzt, wo die Anhänger Roms mit großem Eifer ein Zerrbild des großen Mannes aufstellen, fühlt sich der Verfasser verpflichtet, dem deutschen Volke das Bild desselben in aller Einfachheit und Wahrheit vorzuführen. Und dies ist ihm in der That gelungen, er hat unsere Literatur um ein treffliches, die Geister erhellendes und die Herzen erhebendes Volksbuch reicher gemacht.

Nach diesem ruhigen Belehrer müssen wir zwei das Flammenschwert des Zorns schwingende Dichtungen nennen: „Vom Concil zu Nicäa bis zum Westfälischen Frieden“, 325 bis 1648. Epigramme, Lieder und Jamben zur Geschichte der Menschheit von Wilhelm Sehring (Leipzig, Licht u. Meyer). Nach dem Vorwort des Verfassers lag ihm daran, „in kurzen markigen Zügen Lebensgestalten zu zeichnen, Charakterbilder zu bieten“ und „durch die Vorzeit warnend und mahnend von der Gegenwart zu zeugen, und dies mußte ihn immer mehr zum Kampf waffnen“. Sein Buch verdient Beachtung und Theilnahme, er verstand es wirklich, Goldkörner auf dem Boden der Geschichte zu sammeln. – Die andere Dichtung kennzeichnet sich gleich durch ihren Titel: „Protestantische Hornsignale“, poetische Flugblätter zur Luther-Feier von F. G. Adolf Weiß (Berlin, A. Senff). Der Dichter meint es sehr ernst, wenn er ausruft: „Laßt eure Lenden gegürtet sein – und eure Lichter brennen!“ und wenn er am Ende im Kampf gegen die Jesuiten fordert: „Mit deutscher Christenfreiheit Wetterstrahle – Zermalm’ die schwarze Internationale!“

Von dramatischen Festspielen können wir nur die folgenden nennen, ohne ein Urtheil über sie abzugeben, da sie meist ihre Feuerproben in den Aufführungen noch zu bestehen haben. Bestimmt sind für Worms ein kirchliches Festspiel „Luther“ von Hans Herrig (Berlin, Fr. Luckhardt) und für Jena ein historisches Charakterbild in sieben Abtheilungen von Otto Devrient. Beide werden von Bewohnern der betreffenden Städte dargestellt. Für Leipzig (auch anderwärts angenommen) hat W. Henzen ein Reformationsdrama in 5 Acten mit einem Vorspiel gedichtet (Leipzig, C. Meißner). Auch Dr. Luther’s Brautfahrt ist in der Dichtung „Das Nünnlein von Nimptschen“ von Heinr. Meyer (Minden in Westfalen, I. C. C. Bruns) dramatisch vorgeführt. – Ein Schauspiel von C. LangeDr. M. Luther und Graf E. von Erbach“ (Göttingen, Bandenhoeck und Ruprecht) scheint nicht für die Bühnen-, sondern für die Bücherbretter bestimmt zu sein.

Von den für dieses Fest geprägten Medaillen liegen uns zwei vor, eine von R. Herrose in Wittenberg, die andere von Louis Wolff in Breslau zu beziehen und beide zu Geschenken und Familien-Andenken wohl geeignet.




Albert Hendschel todt! Abermals ein Grab, welches die „Gartenlaube“ mit einem Kranz der Verehrung und der Dankbarkeit zu schmücken hat. Wir haben den Künstler im Jahrgang 1872 (S. 273) unsern Lesern in Bild und Wort vorgeführt und ihnen bei dieser Gelegenheit aus Hendschel’s beliebtestem und berühmtestem Werke, seinem „Skizzenbuch“, einige der erheiterndsten Proben seiner Darstellung der Kinderwelt mitgetheilt. Was wir dort über den beneidenswerthen Meister ausgesprochen, ist noch heute geltend. Wir können nur die Klage daran fügen, daß abermals ein deutscher Künstler in der Fülle der Kraft uns entrissen werden mußte. Hendschel starb in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main am 22. October, erst 49 Jahre alt.



Inhalt: Die Braut in Trauer. Von Ernst Wichert (Fortsetzung). S. 725. – Verurtheilt. Illustration von Hermann Starow. S. 729. – Zwei Herbstlieder. Von Karl Stieler. S. 730. – Im Congoland. Von Dr. Pechuel Loesche. 3. Congofahrt im Gebirge bis nach Vivi. S. 730. Mit Illustrationen. S. 730, 732 und 733. – Doctor Martin Luther. Von Emil Zittel (Fortsetzung). S. 734. Mit Abbildungen. S. 736 und 737. – Nochmals die Brille. Von Dr. J. Herm. Baas (Worms). S. 738. Mit Abbildungen. S. 738 und 739. – Blätter und Blüthen: Beiträge der Literatur und Kunst zum Luther-Feste. – Albert Hendschel todt! S. 740.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vergleiche: Luther’s Reformationsvermächtniß an uns und unsere Zeit. Vortrag zur Luther-Feier des vierzehnten deutschen Protestantentages von Emil Zittel. Berlin 1883. Haack.
  2. Nach einem Berichte aus dem Jahre 1581 hätten die Schlußworte Luther’s gelautet: „Die Concilien können und haben geirrt: das liegt am Tage und ich will’s beweisen. Gott, kumm mir zu Hilf, Amen! Da bin ich.“ (Evangelische Ausgabe. Band 64. Teile 383.)
  3. Auch das Sehen durch rothe und grüne Gläser, wie dies seit einigen Jahren von Reisenden, zumal in der Schweiz, öfters zur „Verschönerung“ gewisser Aus- und Fernsichten angewendet wird, ist nicht ohne jedes Bedenken, da beide Farben die Augen gleichfalls reizen und angreifen.