Die Gartenlaube (1885)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[369]

No. 23.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Trudchens Heirath.

Von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Es schlug acht Uhr. Verschiedene Herren zu Fuß waren längst vor dem Hôtel angekommen, dann auch Damen, und nun rollte der erste Wagen mit Ballgästen heran, zierliche Füßchen schlüpften über das Trittbrett und helle Seide rauschte. Ein Gefährt löste das andere ab; jetzt eine elegante Equipage mit prächtigen Eisenschimmeln, eine leichte reizende Frauengestalt in hellblauem spitzenüberflutheten Gewande bog sich vor und silberhelles Lachen schallte in Linden’s Ohr. „Frau Fredrich!“ hörte er im Publikum murmeln, das sich schaulustig hinter ihm aus so und soviel Kindern, Weibern und Dienstmädchen um die Hôteltreppe versammelt hatte.

„Also ihre Schwester!“

Wie eine liebliche Fee schwebte die junge blonde Frau die Treppe empor, gefolgt von dem Gatten in tadellosem schwarzen Frack, der ihr Fächer und Bouquet nachtrug.

Das Gespann rasselte über den Markt zurück, um in weniger als fünf Minuten wiederzukehren.

„Trudchen!“ flüsterte Linden und zog sich unwillkürlich etwas mehr in den Schatten zurück. Eine kleine volle Dame in lichtgrauer Toilette entstieg dem Wagen – dann war sie hinausgeglitten und stand hinter der Mutter, schlank und leicht, in schimmernd weißem, seidenem Gewand, die schönen Schultern leicht verhüllt, und in der Hand einen wohlbekannten Strauß blasser Rosen. Aber das war nicht das Mädchen von vorhin! Der kleine Kopf hatte sich etwas in den Nacken gebogen, als zöge der schwere lichtbraune Haarknoten ihn zurück, und ein Ausdruck von stolzer Kälte lag über dem klaren Gesicht, den er vorhin nicht bemerkt. Zwei Herren stürzten den Damen entgegen; der Erstere bot galant der Mutter den Arm, der Andere näherte sich dem jungen Mädchen; mit unnachahmlich stolzer Gebärde dankte sie, kaum die Fingerspitze auf seinen Arm legend; dann, wie ein holder Spuk, war es verschwunden, das Bild, das er mit durstigen Augen umfaßt hielt.

Aber nun bemächtigte sich seiner eine fast übermüthige Stimmung. Einer dürftig aussehenden Frau, die mit einem elenden Kinde im Arm gerade vor ihm stand, schenkte er ein Fünfmarkstück, und dem alten Sommerfeld, seinem Kutscher, ließ er einen Pokal Glühwein bringen, so groß, daß der Alte sichtlich davor erschrak; „wenn wir man gut nach Haus kommen!“ meinte er bedenklich.

„Rein närrisch!“ gestand Linden sich selbst. Und als einen Augenblick darauf sein Wagen vorfuhr und zugleich die Klänge eines Strauß’schen Walzers an sein Ohr schlugen, begann er die Melodie der „Rosen aus dem Süden“ mitzusingen. Dann rasselte das Gefährt über den Marktplatz auf die finstere Landstraße hinaus, und rascher als sonst war er in seinem stillen Zimmer daheim, und tausend anmuthige Gedanken mit ihm. –

Zu Niendorf im Herrenhause gab es ein Zimmer, darinnen blühten Rosen in Fülle; nicht nur die in den Scherben zwischen den Doppelfenstern oder auf dem Blumenbrette vor den Scheiben, je nachdem die Jahreszeit es gebot, auch im Stübchen selbst rankten sich Tausende der schönsten Erdenblumen um Bilder und Meubel. Es machte einen

Gustav Nachtigal.

[370] wunderlichen Eindruck, besonders wenn man statt des Dornröschens, welches man hier schlummermd zu finden meinte, eine sehr alte Frau im Lehnstuhle am Fenster erblickte, unermüdlich beschäftigt, aus farbigem Seidenpapier Blätter und Blättchen zu bilden und an einander zu fügen, bis endlich eine Rose am Drahtstengel schwankte, von Weitem so natürlich anzusehen, als wäre sie eben vom Stocke gebrochen. Tante Rosalie konnte nicht leben, ohne Rosen zu machen; sie verschwendete die Hälfte ihres bescheidenen Einkommens in Seidenpapier, und wem sie irgend wohl wollte, der erhielt einen Rosenkranz zum Präsent, rothe, rosa, weiße und gelbe Blumenkelche, geschmackvoll durch einander gemischt. Sämmtliche Dorfschönen trugen auf dem sonntäglichen Tanzboden Rosen des alten Fräuleins Kruse im stark pomadisirten Haare; die Gräber des Friedhofes zeigten in Menge von Sonne und Wind zerzauste, weiße und purpurne Rosen derselben Fabrikation auf; die kleine Kirche ward alljährlich zum Johannisfeste von der alten Dame verschwenderisch mit diesen ihren Erzeugnissen geschmückt, wobei sie ganz besondere Sorgfalt auf den Kranz verwendete, der die Dornenkrone des Heilands zu zieren bestimmt war. Das mußten dunkelrothe Rosen sein, so roth wie das Blut, das Er vergossen. Darauf hielt sie.

Kein Weihnachtsbaum prangte im Dorfe, an dem nicht ihre Rosen zwischen den Kerzen hervorleuchteten, und keine Hochzeit fand statt, bei der nicht über der Stubenthür des jungen Paares Tante Rosaliens Blumengruß prangte.

Sie war im Dorfe bei Jung und Alt denn auch nur als „Rosentante“ oder „Rosenfräulein“ bekannt und beliebt, und nicht selten wurde sie auf ihren Spaziergängen von einer Schar Kinder, besonders Mädchen, verfolgt mit der Bitte, „mek ok ’ne Rose, mek ok ’ne Blaume!“ Und die Rosentante war stets darauf eingerichtet; die weniger gelungenen Exemplare wurden zu diesem Zwecke freigebig aus dem riesenhaften Pompadour hervorgeholt und vertheilt.

Franz Linden hatte sich längst daran gewöhnt, zuweilen ein Stündchen in Gesellschaft der alten Dame hinzubringen. Bei ihrem Anblicke kam unwillkürlich etwas von dem Frieden, der sie umgab, auch auf ihn, und das that ihm wohl. Sie saß dann still und ruhig hinter ihrem Tischchen und die feinen welken Hände bildeten emsig des „vollsten Lebens Attribute“. Nach und nach hatte sie ihm in wunderlich feierlicher Weise von den Schicksalen erzählt, die sich unter dem alten spitzen Ziegeldache dieses Hauses abgespielt. Es waren wenig Lichtpunkte darunter und viele Schatten, viel Schuld und menschlich Irren; ein düster Stück Erdenleben. Ein Ehepaar, das nicht zusammen gepaßt, ein einziges Kind, von Beiden vergöttert, und dieser einzige Sohn bedeckte sich und sein Elternhaus mit Schande und floh bei Nacht und Nebel nach Amerika, wo er verkommen. Ohne Licht und Stern waren die Eltern zurückgeblieben, jedes dem andern Vorwürfe machend über die verfehlte Erziehung. Dann starb die Frau vor Gram, und nun begann eine endlose Spanne der Einsamkeit für den alternden Mann, im Banne des Mißtrauens und der Menschenverachtung; Niemand zugethan als seinen Hunden, mit Niemand verkehrend, als mit jenem Menschen, dem Wolff, der ihm Nachrichten und Klatsch aus der Stadt überbrachte; und selbst diesen mit einer an Beleidigung streifenden Mißachtung behandelnd. „Aber sehen Sie, lieber Neffe,“ hatte die Erzählerin hinzugefügt, „es giebt Menschen, die hündischer sind als die Hunde; ein solches Vieh schreit doch, wenn es getreten wird, aber die Art, zu denen er gehört, lächelt noch verbindlich beim derbsten Fußtritt – und so einer war nöthig für den Wilhelm.“ –

Es schneite, auf den Bergen war es weiß, der Garten lag unter leuchtender Schneedecke, und in der Luft tanzten weiße Flocken. Franz Linden war mit dem Verwalter von der Jagd zurückgekommen und ging nach beendeter Mahlzeit zu der Tante ins Rosenstübchen. Sie stand heute auf, als er hereintrat, und kam ihm entgegen.

„Sehen Sie, lieber Neffe, so geht’s, wenn man einmal nicht zu Hause. Sie sollten Besuch bekommen, so einen ganz superfeinen neumodischen, im prächtigen Schlitten. Ich machte just meine Promenade auf dem Korridor, da kam er die Treppe herauf, und hier“ – sie faßte in den Pompadour – „ist seine Karte, die er überflüssiger Weise daließ.“

Franz nahm die Karte und las: „Arthur Fredrich. – Das thut mir leid,“ sagte er, lebhaft bedauernd. „Wann war er hier?“

„O, just um Mittag herum, wo andere Christenmenschen essen, Punkt zwölf Uhr,“ erwiderte sie. „Und dann war noch der Briefträger da und brachte ein Schreiben für Sie, lieber Neffe. Ja – mein Gott, wo ist es denn nur? Wo habe ich es denn hingelegt?“ Und sie wandte sich um, und die kleine gebeugte Gestalt begann eifrig zu suchen; zuerst auf dem Tischchen mit dem Blumenpapier, dann an der Erde, von dem jungen Manne unterstützt.

„Wie sah denn der Brief aus, liebste Tante?“

„Blau – oder grau – ich glaube blau,“ antwortete sie außer Athem und durchstöberte den rothseidenen Pompadour. Eine Menge Rosenknospen holte sie heraus und ein spitzenbesetztes riesenhaftes Schnupftuch, sonst nichts.

„War der Brief denn klein oder groß?“ fragte er hinter dem Sofa hervor.

„Groß und dick,“ ächzte Fräulein Rosalie. „Das ist mir noch nicht passirt, das ist mir höchst fatal!“ Und mit erstaunlicher Beweglichkeit hantirte sie an dem schwindsüchtigen kleinen Spinett und klappte uralte Notenhefte aus einander.

„Vielleicht in den Ofen gekommen, Tantchen?“

„Nein, nein! Er ist seit heute früh zugeschroben.“

Franz Linden ging zum Glockenzuge und schellte. „Suchen Sie nicht mehr, liebe Tante, das Schreiben muß sich finden, das Mädchen kann es ja besorgen.“

Dörte kam und suchte und suchte, hinter alle Schränke wurde geleuchtet, hinter jeden Vorhang gesehen – vergebens.

„Nun wollen wir es aufstecken,“ erklärte Franz Linden endlich. „Ich denke mir, es ist ein Brief von meiner Mutter oder vom Amtsrichter – da wird es ja zu erfragen sein, was sie wollten. Trinken wir unsern Kaffee, Tantchen!“

„Ich kann nächtelang nicht schlafen!“ betheuerte die alte kleine Frau aufgeregt.

„Aber ich bitte Sie,“ wandte er gutmüthig ein, „es ist sicher nichts Unersetzliches darin gewesen. Erzählen Sie mir lieber ein wenig, das Wetter ist just so behaglich dazu.“

Aber das runzlige Antlitz unter der großen Haube blieb verdrießlich, und über die Kaffeetasse hinweg schweiften die alten Augen immer wieder suchend im Zimmer umher und blieben wie nachdenkend an dem grünen Schirm der Lampe haften. Es war schlechterdings kein Gespräch mit ihr fortzuspinnen. Nach einem Weilchen erhob sich der junge Mann, um sein Zimmer aufzusuchen.

„Ja, gehen Sie nur, gehen Sie nur,“ sagte sie erleichtert, „nun kann ich darüber nachdenken, was ich angefangen habe mit dem Briefe. Ach, mein Gedächtniß, mein Gedächtniß! Man wird so alt!“

Er schritt den Korridor entlang und stieg die Treppe hinauf in den oberen Stock; die Dämmerung des kurzen Wintertages lag schon in allen Winkeln und Ecken; es war so todtenstill im Hause, nur der Hall seiner eigenen Schritte klang in sein Ohr. So ein Tag, von dem sein Freund gesprochen, entsetzlich einsam und leer spann er sich aus über diesem weltfernen Hause. Man kann nicht immer lesen, nicht immer sich beschäftigen, besonders wenn die Gedanken unruhig hinausflattern über Wald und Feld – immer nach einem bestimmten Ziel, und immer zurückkehren, zweifelnd und bangend.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und verfolgte das Treiben der Schneeflocken in der dunkelnden Luft, und er dachte dasselbe wie alle Tage während der letzten Wochen, er dachte sich so hinein, daß er deutlich einen leichten Tritt hinter sich auf dem Teppich zu hören meinte und den kosenden Klang einer Frauenstimme „Franz, Franzi!“ – Er wandte sich und schaute in das dämmerige Zimmer zurück. Wenn sie jetzt die Thür öffnete, wenn sie hereinkäme, das Kind auf dem Arme, herüber zu ihm? Warum sollte es nicht sein, warum könnte es nicht werden? Waren diese Mauern nicht fest, diese Räume nicht heimlich und traut genug, ein Glück zu bergen?

Er begann auf und ab zu gehen. Thorheit! Unsinn! Was wollte er denn? Wäre er nie hierher gekommen, oder wäre sie doch tausendmal lieber die Tochter des Werkführers, wie ihre Großmutter, und säße vor dem kleinen Hause auf der Bank unter dem Hollunderbaume, es würde dann so einfach sein! Für die Welt mochte er nicht den tollen Wettlauf mitmachen, den man um Trudchen Baumhagen’s Geldsäcke wagte und immer wieder wagte. Aber ihre holde Freundlichkeit – ?

[371] Und nun versank er wieder rettungslos in den Bann ihrer Augen.

Es war jenes Zweifeln über ihn gekommen, jenes Hangen und Bangen, das ein Jeder durchzumachen hat, der liebt. Und Franz Linden hatte sich in seiner Einsamkeit längst eingestanden, daß ihm nur Trudchen Baumhagen fehle, um glücklich zu sein.

Er war eine keineswegs zaghafte oder scheue Natur, im Gegentheil: er war mit jener bescheidenen Keckheit ausgestattet, wie sie liebenswürdige Leute, denen die Gesellschaft lächelnd allerlei nachsieht, so leicht annehmen. Wäre er im Besitze eines Rittergutes statt dieser Klitsche, wie der Amtsrichter Niendorf bezeichnete – er hätte lieber heute als morgen gefragt, ob sie die Seine werden wolle; ohne allzu große Furcht vor ihren Geldsäcken. Aber in dieser Lage war es ihm peinlich, er mußte zum wenigsten erst „flott“ sein, wie er sich ausdrückte, und ehe das der Fall – wer weiß, wo Trudchen Baumhagen dann geblieben? Er biß die Zähne zusammen bei diesem Gedanken – immer dasselbe Resultat! Aber galt denn am Ende ein ehrliches Herz nichts, und ein fester Wille? Wäre nur der Amtsrichter hier, und er könnte ihn fragen –.

Er hatte während dieser Gedanken die Lampe angezündet. Da lag die verbogene Visitenkarte auf dem Tische, die ihm Tante Rosalie gegeben. „Arthur Fredrich.“ Er lächelte, als er an den kleinen unbedeutenden Menschen dachte, dem die Schwester ihr Herz geschenkt, und er konnte sich Trudchen nicht neben ihm vorstellen. Endlich ein Gegenbesuch von ihm! Und da standen ja auch einige mit Bleistift geschriebene halb verwischte Worte: „Bedauert herzlich, Sie nicht getroffen zu haben, und bittet, am zweiten Weihnachtsfeiertage ein einfaches Souper in seinem Hause annehmen zu wollen.“

Es war die erste Einladung in Trudchens Vaterhaus. Er schrieb sofort ein zusagendes Billet; dann besann er sich, daß er den Schlitten bestellt habe, um einige Besorgungen in der Stadt für das Fest zu machen. Die Karte wollte er durch den Hausknecht des Hôtels hinüber schicken.




Das Weihnachtsfest war vorüber und der dritte Festtag mit Thauwetter und Regen gekommen; er nahm die leuchtend weiße Schneedecke von der Erde, als sei sie eben auch nur ein Festtagsschmuck gewesen und für die gewöhnlichen Tage der schwarze Erdboden gut genug.

Frau Baumhageu saß recht verdrießlich in ihrem Zimmer am Fenster und schaute über den Markt hinweg. Sie hatte etwas Kopfweh, und überdies – heute lag so gar nichts vor, kein Theater, keine Gesellschaft, nicht einmal ein Whist, und gestern war es bei Jenny sehr langweilig gewesen. Zu guterletzt hatte sie sich über Gertrud ärgern müssen, die sich gegen alle Gewohnheit lebhaft mit ihrem Tischnachbarn unterhielt, jenem Fremden, der ihr damals in der Kirche nachgelaufen. Es war eine Ungeschicklichkeit von den Kindern, ihr den Platz an seiner Seite zu geben.

„Ein Brief, Frau Baumhagen.“ Sophie brachte ein Schreiben in einfachem weißem Umschlage.

„Ohne Poststempel? Wer hat es abgegeben?“ fragte sie, die Handschrift betrachtend, die ihr völlig fremd erschien.

„Ein alter Diener oder Kutscher, ich kenne ihn nicht.“

Kopfschüttelnd erbrach Frau Ottilie Baumhagen den Brief und las. Mit hochrothem Gesicht stand sie dann auf und rief: „Gertrud! Gertrud!“

Das junge Mädchen kam sofort herüber in das Zimmer der Mutter.

Die kleine lebhafte Frau war schon an der Klingel gewesen und befahl der eintretenden Sophie: „Rufe die Jenny und meinen Schwiegersohn, aber rasch sollen sie kommen, rasch! – Gertrud, ich bitte Dich, was sind das für Ueberfälle! Ich muß mich erst sammeln, erst –“

„Mama,“ bat das Mädchen leicht erblaßt, „laß uns Beide allein sprechen – weßhalb Jenny und Arthur –?“

„Weißt Du denn, worum es sich handelt?“ rief die erregte Frau.

„Ja!“ erwiderte Trudchen fest und kam durch das Zimmer bis zu dem Lehnstuhle, in den die Mutter sich gesetzt.

„Mit Deiner Eiuwilligung, Kind! – Gertrud?“

„Mit meiner Einwilligung, Mama,“ wiederholte das Mädchen, und nun färbte ein helles klares Roth das schöne Gesicht.

Frau Baumhagen sprach kein Wort mehr, sie fing bitterlich an zu weinen.

„Wann hast Du ihm gestattet, an mich zu schreiben?“ fragte sie nach einer langen Pause und trocknete sich die Augen.

„Gestern, Mama.“

In diesem Momente steckte Jenny den hübschen blonden Kopf durch die Thür.

„Jenny!“ rief die Mutter. Wieder stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und der eigensinnige Zug um den Mund trat noch schärfer hervor.

„Um Gotteswillen, was ist denn geschehen?“ fragte die junge Frau.

„Jenny! Kind! Gertrud hat sich verlobt!“

Frau Jenny faßte sich sehr bald. „Mein Gott,“ sagte sie leichthin, „ist denn das ein Unglück?“

„Aber mit wem, mit wem!“ rief die Mutter.

„Nun?“ erkundigte sich Jenny.

„Mit diesem – dem – gestern – Linden heißt er, Franz Linden! Da steht es schwarz auf weiß – einem Menschen, den ich kaum dreimal gesehen habe!“

Die Augen der jungen Frau richteten sich groß und verwundert auf Trudchen, die noch immer hinter dem Sessel der Mutter stand.

„Aber, um Gotteswillen,“ sagte sie, „wie kommst Du zu dem, Gertrud?“

„Wie bist Du zu Arthur gekommen?“ fragte das Mädchen, sich hoch aufrichtend; „wie kommt man überhanpt zu einander? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich ihn lieb habe und daß ich ihm mein Wort gegeben.“

„Wann denn, um des Himmels willen?“

„Gestern Abend, in Deinem rothen Zimmer, Jenny – wenn Du meinst, das wann thue etwas zur Sache.“

„Aber so ohne jede Vorbereitung, so plötzlich? Was hast Du für Garantien, daß er –“

„Mindestens ebenso viele Garantien,“ unterbrach Trudchen, blaß bis in die Lippen, die klagende Mutter, „als wenn ich vor Kurzem den Antrag des Lieutenants von Löwenberg angenommen hätte.“

„Ja ja, da hat sie Recht, Mama,“ erklärte Jenny.

„Nun natürlich!“ klang es zurück. „Ich soll gleich Ja und Amen sagen! Da muß ich erst mit Arthur sprechen und mit Tante Pauline und mit Onkel Heinrich; auf keinen Fall nehme ich die Verantwortung dieses Schrittes allein auf mich!“

„Mama, Du wirst nicht in der ganzen Verwandtschaft herumfragen,“ sagte das Mädchen mit bebender Stimme. „Du und ich, wir sind allein entscheidend und –“ sie schöpfte tief Athem, „ich würde schwerlich durch irgend welche Einwendung anderer Ansicht werden.“

„Aber Arthur könnte sich doch nach ihm erkundigen!“ fiel die junge Frau ein.

„Ich danke Dir, Jenny, aber spart Euch diese Mühe. Mein Herz spricht laut genug für ihn. Wäre ich nicht völlig mit mir im Reinen seit Wochen schon, ich stünde Euch nicht so gegenüber, wie in diesem Augenblick.“

„Du bist ein undankbares, ein liebloses Kind!“ weinte die Mutter, „Du denkst mich durch Deinen Starrkopf zu zwingen! Mit derselben Ruhe hat mich ja Papa auch immer zur Verzweiflung gebracht. Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich diesen festgeschlossenen Mund und diese stillen Augen nur sehe; es ist fürchterlich!“

Trudchen stand noch eine Weile; dann, ohne ein Wort der Entgegnung, verließ sie die Stube.

„Es ist eine Spekulationsgeschichte,“ sagte Frau Jenny gelassen, „das ist unzweifelhaft.“

„Und sie hat es geglaubt, was er ihr vorgeredet,“ schluchzte die Mutter; „an allem ist diese unglückliche Taufe schuld, – so etwas imponirt ihr!“

Frau Jenny nickte.

„Da wird sie nun immer und ewig draußen auf Niendorf sitzen, denn abzubringen von ihren Ideen ist sie ja nicht.“

„Nein, Gott verzeihe mir! Sie hat den Baumhagen’schen Trotzkopf in vollstem Maße; ich weiß, was ich darunter gelitten!“

[372] „Hübsch ist dieser Linden,“ bemerkte die junge Frau, ohne von dem heftigen Weinen Notiz zu nehmen. „Himmel, was wird diese Geschichte für Aufsehen machen in der Stadt! Sie hätte wahrhaftig noch einen Andern bekommen! Aber habe ich es nicht gleich gesagt, Mama, sie macht noch ’mal einen ganz thörichten Streich. Arthur!“ rief sie dann dem Eintretenden entgegen, „denke doch, Trudchcn hat sich ja verlobt mit diesem – Linden!“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Herrn Arthur Fredrich.

„Sage doch, lieber Sohn, was weißt Du von ihm? Du hast doch sicher dieses und jenes gehört im Klub, oder –“

Frau Baumhagen hatte das Taschentuch sinken lassen und sah tief bekümmert den Schwiegersohn an.

„Ist ein charmanter Junge, aber hier –“ er machte die Bewegung des Geldzählens – „faul, oberfaul! Er weiß schon, was er thut, wenn er die Trudchen nimmt. Der Tausend – hätte ich so etwas geahnt, es wäre mir nicht eingefallen, ihn einzuladen. Daß Dich! Daß Dich!“

„Ja, und sie erklärt, sie läßt nicht von ihm,“ berichtete Jenny.

„Das glaube ich, ohne daß Du es versicherst, sie ist ja Deine Schwester; was Ihr Euch einmal in den Kopf gesetzt habt – na, ich weiß Bescheid!“

„Arthur!“ schluchzte vorwurfsvoll die ältere Dame.

„Ich verbitte mir, Arthur, daß Du immer von Trotz und Eigensinn sprichst in Bezug auf mich!“ schmollte die kleine Frau.

„Aber, liebes Kind, es ist die reine Wahr –“

„Widersprich nicht immer!“ rief Frau Jenny energisch, trat mit dem Fuße auf und zog das Taschentuch hervor, jeden Augenblick bereit zu weinen. Er kannte dieses Manöver und fuhr sich hastig durch die blonden Haare.

„Schön! Was soll ich denn eigentlich?“ fragte er, „was wollt Ihr von mir?“

„Deinen Rath, Arthur,“ stöhnte die Schwiegermama.

„Meinen Rath? Na – sagt Ja und Amen!“

„Aber er ist so ganz ohne Vermögen, wie ich neulich hörte,“ wandte Frau Baumhagen ein.

Er zuckte die Achseln. „Pah! Trudchen kann ja einen Mann ernähren. Nebenbei – ich kenne Niendorf zwar nicht näher, aber ich glaube, bei rationeller Bewirthschaftung kann etwas daraus werden. Er scheint ja der Mann dafür zu sein, und Wolff erzählte neulich von einer großen Schafzucht, die Linden anlegen will.“

„Das Letztere dürfte allerdings den Ausschlag geben,“ bemerkte Frau Jenny ironisch.

„Nein! nein!“ erklärte die Mutter schluchzend aufs Neue, „Ihr nehmt das Alles viel zu leicht; ich kann mich nicht entschließen, ich habe ja kaum ein paar Worte gesprochen mit diesem Linden. O, die unerhörte Dreistigkeit!“ Sie verließ den Lehnstuhl und warf sich, dunkelroth vor Erregung, auf die Chaiselongue.

„Da wird wieder eine stimmungsvolle Migraine perfekt,“ flüsterte Arthur und nahm gelassen eine Cigarre aus seinem Etui.

Jenny antwortete nur mit einem Blick, aber der war niederschmetternd. Sie nahm die Schleppe ihrer Robe in die Hand und rauschte an dem verwunderten Gemahl vorüber.

„Nimm mich doch mit!“ sagte er belustigt.

„Jenny, bleib bei mir!“ rief die Mutter, „verlaß mich jetzt nicht!“ Und die junge Frau kehrte um, begegnete ihrem Gatten in der Thür und ging mit hochgehobenem Näschen an ihm vorüber, um sich neben die Mutter zu setzen. O, er hatte schon noch mehr auf seinem Konto, sie würde sich schon noch revanchiren für sein absprechendes Urtheil heute früh am Theetisch, als sie ganz harmlos den Rittmeister von Brelow lobte. Er war sich auch nichts Gutes gewärtig, das sah sie ihm gleich an; „Warte nur!“

„Wie, Mama?“ fragte sie dann, „ob ich mit Arthur etwas habe? Bah – er ist ein Othello – ein Blonder, das sind die Schlimmsten!“

„Ach Jenny, dies Unglückskind, dies Trudchen –“

„Ja richtig,“ nickte die junge Frau, „die dumme Geschichte mit Trudchen.“ – –

Indessen stand das junge Mädchen vor dem Bilde des Vaters; ihr ganzes Sein war aufgewühlt in Schmerz und Glück. Sie hatte kein Auge geschlossen in der Nacht, seitdem sie ihm verstohlen die Hand gereicht mit dem kaum geflüsterten: Ja! Sie wußte, er liebte sie; sie hatte es sich tausendmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ihr das sagte, und nun war es ihr doch so unerwartet rasch gekommen. Lieb hatte sie ihn schon lange, schon seit sie ihn das erste Mal gesehen; und seit der Zeit war ihr nichts geschenkt worden von all den Thränen und Freuden einer heimlichen Neigung. Sie nahm nichts leicht, nichts halb, und voll und ganz hatte sie sich dem Zauber hingegeben. Wer es nun versuchen wollte, ihn ihr zu nehmen, der mußte ihr das Herz mit herausreißen aus der Brust.

Die Thränen liefen ihr, während sie so dastand, in großen vollen Tropfen über das blasse Gesicht, aber um den kleinen trotzigen Mund zog sich ein Lächeln.

„Ich weiß es ja,“ nickte sie flüsternd zu dem Bilde des Vaters hinüber, „Dir würde er gefallen, Papa!“ Und in seliger Erinnerung klangen ihr die Worte nach, die er gestern gesprochen, von seinem einsamen Hause draußen, von seiner Sehnsucht nach ihr und daß er ihr nichts bieten könne, als eben diese einsame arme Heimath und ein ehrliches Herz. Sein einziger Reichthum wären augenblicklich viele Sorgen.

„Laß mich die Sorgen mit Dir tragen, es giebt kein Glück auf der Welt, das größer wäre als dieses,“ so hatte sie sprechen wollen; aber sie hatte doch die Augen niedergeschlagen und ihm nur verstohlen die Hand gereicht. Es wollte kein Wort über ihre Lippen.

Als wäre sie bis jetzt im kalten tiefen Schatten gewandelt und nun plötzlich hinausgetreten in belebenden köstlichen Sonnenschein, unter blauen Himmel, so blühte und klang es in ihrem Herzen. „Es ist zu viel, zu viel Glück!“ hatte sie heut früh beim Aufstehen gedacht; sie dachte es auch jetzt noch und die Thränen, die sie weinte, erschienen ihr als gerechtfertigter Tribut einer allzugroßen Seligkeit. Wenn jetzt Mama gleich „Ja und Amen!“ gesagt, wenn sie gesagt: „Er soll mir ein lieber Sohn sein, bringe ihn mir,“ das wäre zu viel gewesen; dieses Weigern, dieses Mißtrauen; war es nicht eigens geschaffen, damit sie vor Glück nicht übermüthig wurde? Es war der Schneesturm, der im Frühling daherbraust und Blatt und Blüthen überschauert; aber wenn es vorüber, blüht es nicht doppelt schön?

Im Nebenzimmer wurde das Gespräch jetzt wieder lebhafter. Trudchen hörte die klagende weinende Stimme der Mutter deutlicher als zuvor; es berührte sie aufs Neue peinlich und unwillkürlich flog ein Blick zu dem Bilde des Vaters, als könne er auch jetzt noch hören, was ehedem seines Lebens Qual gewesen. Trudchen erinnerte sich ja so vieler Wein- und Jammerscenen in dem nämlichen Zimmer dort. Wie oft war dann des Vaters beschwichtigende Stimme in ihr Ohr gedrungen: „Gut, Ottilie, ja, Du sollst Deinen Willen haben, aber – schone mich!“ Und wie oft war dann durch jene Thür ein blasser Mann getreten und hatte stumm in dem Sofa gesessen, als fände er hier bei seinem Kinde eine Freistatt. Ach! so war es auch gewesen an jenem Tage, an jenem fürchterlichen Tage, worauf es nachher so stille ward, so todtenstill.

Ja, da erscholl es wieder, das laute Weinen, die Anklagen gegen den Himmel, der sie zur unglücklichsten Frau gemacht und sie nun in ihren Kindern noch strafe. Dann war ein Thürenklappen, ein Laufen der Dienerschaft, Trudchen meinte sogar den scharfen Geruch der Baldriantropfen zu spüren, die Frau Ottilie Baumhagen bei ihren Nervenanfällen zu nehmen pflegte. Und nun flog die Thür auf und Frau Jenny kam herein.

„Mama ist ganz elend,“ sagte sie vorwurfsvoll; „zum Arzt habe ich schicken müssen, und Sophie legt ihr Kompressen auf die Stirn. Ein schöner Tag, wahrhaftig!“

„Es thut mir so leid, Jenny,“ bedauerte das junge Mädchen.

„Ja, es kam aber auch wie aus der Pistole geschossen. Ich muß Dir ehrlich gestehen, ich begreife Dich nicht, Gertrud; zehn Körbe reichen nicht, die Du schon ausgetheilt hast, es war ein Mäkeln und Wählen, und jetzt nimmst Du den Ersten Besten.“

„Den Besten jedenfalls,“ dachte Trudchen, aber sie schwieg.

Die kleine Frau hielt dies irrthümlich für eine Wirkung ihrer Worte.

„Sieh mal, Kind,“ fuhr sie fort, „überlege es doch noch recht, Du –“

„Jenny, halt ein!“ bat das Mädchen mit fester Stimme. „Was giebt Dir das Recht, so zu sprechen? Habe ich mir erlaubt, ein Wort über Deine Wahl zu sagen? Bin ich nicht Arthur freundlich entgegen gekommen? Was hat er vor Linden voraus, worin steht er ihm nach? Ich allein habe mir Rechenschaft zu geben über diesen Schritt, denn ich allein trage die Folgen. Es ist unrecht, einen Menschen beeinflussen zu wollen

[373]

Aus dem Tattersall in Berlin.
Originalzeichnung von A. Zimmermann.

[374] in einer Sache, die so individuell, so ganz in seinen eigensten Empfindungen steht.“

„Aber mein Gott, so ereifere Dich doch nicht!“ beruhigte Frau Jenny; „wir finden eben, er ist keine passende Partie, schon deßhalb, weil er gänzlich ohne Vermögen ist.“

Ueber Trudchens blasses Gesicht flog ein tiefer Schatten. „Ach, laß das Geld aus dem Spiele,“ bat sie angstvoll, „störe mir nicht den schönsten Traum meines Lebens – sprich nicht davon, Jenny!“

Aber Jenny fuhr fort: „Nein, davon schweige ich nicht, denn Du lebst in Idealen und man muß Dir ein wenig die Wirklichkeit vor Augen halten, damit Du später nicht allzusehr aus Deinen Himmeln fällst. Bildest Du Dir vielleicht ein, daß Herr Franz Linden sich so überstürzt hätte, wenn Du nicht gerade Trudchen Baumhagen warst? Sicher nicht! Ich halte es für meine Pflicht Dir zu sagen, daß sowohl Mama, wie Arthur und ich der Meinung sind, er habe in erster Reihe an das gedacht, was unser seliger Vater in guten Kapitalien für uns –“

Sie verstummte, Trudchen stand vor ihr, hochaufgerichtet und drohend. „Sei davon ruhig, Jenny,“ stieß sie hervor, „ich glaube an ihn und spreche kein Wort der Vertheidigung aus! Du und die Andern, Ihr mögt so denken, ich kann es Euch nicht wehren, kann es Euch nicht einmal übelnehmen, Ihr –“ sie stockte, das bittere Urtheil sollte nicht über die Lippen. „Habe die Güte und stelle Mama vor,“ sagte sie dann ruhiger, „daß ich ihm mein Wort nicht breche. Ich werde Dir so dankbar sein, Jenny – wenn Jemand etwas über sie vermag, so bist Du es, ihr Liebling.“

(Fortsetzung folgt.)

Eine Verschwörung.

Von0 Johannes Scherr.
(Schluß.)


7. 0Wie der Bonaparte den korsischen Banditen herauskehrte.

Wer gerecht urtheilen will, wird anerkennen müssen, daß bis dahin der Erste Konsul in dieser Sache durchaus ordnungsgemäß und regelrichtig gehandelt hatte. Er war im Besitze der Macht und folglich – wie die Welt nun einmal ist, wie sie allzeit gewesen und immer sein wird – im Recht. Dieses seines Rechtes, d. h. seiner Macht wollte man ihn berauben und ihn zugleich mörderisch anfallen und umbringen. Dagegen durfte, nein, mußte er sich bis auf’s Aeußerste wehren. Dies heischte seine Stellung, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und es lag auch in den Zuständen Frankreichs. Wie, nachdem er das Land aus dem Chaos der Anarchie herausgerissen, sollte er es der bourbonischen Unfähigkeit überliefern lassen? Welche Zumuthung! Welche Absurdität!

Ein gerechter Urtheiler muß aber dem Manne noch mehr zubilligen. Nämlich dieses, daß es sehr begreiflich und verzeihlich, wenn er in seiner korsisch-leidenschaftlichen Art, in seiner bekannten Feuerteufelsmanier gegen die Bourbons ausfiel. Hatten diese nicht an dem gegen ihn gesponnenen Mordkomplott sich betheiligt? Wenigstens von zwei derselben, Artois und Berry, war es erwiesen, durch die Eingeständnisse ihrer Mitverschworenen erwiesen. Ja, es war begreiflich und verzeihlich, wenn der Erste Konsul rachelustig ausrief. „Ein Bourbon gilt mir nicht mehr als ein Moreau und Pichegru, im Gegentheil weniger; fällt mir einer in die Hände, lass’ ich ihn erschießen!“ und man muß sagen, daß, wenn er in den Fall gekommen, diese Drohung etwa an dem Herrn Grafen von Artois, welcher an der Aussendung von Attenthätern mitarbeitete, aber wohl sich hütete, die Gefahren der mordlustigen Sendlinge zu theilen, in Erfüllung zu bringen, dies für Frankreich kein Schaden, sondern vielmehr ein Glück gewesen wäre, ein großes Glück.

Allein nicht an dem schuldigen Artois, sondern an einem schuldlosen, d. h. an dem Komplott gar nicht betheiligten Bourbon ließ Bonaparte seine Wuth aus. Das gab der Sache eine ganz andere Wendung. Dazu kam dann noch die zugleich tückische und grausame Art und Weise, allwomit der glückliche Verschwörer vom 18. Brumaire seine Rachedurststillung einleitete und durchführte. Schleichende Bosheit und erbarmungslose Brutalität vereinigten sich hier zu einer Schandthat, welche erschreckend und entsetzend darthat, wie tief dem Napoleone Buonaparte der korsische Bandit im Blute steckte.

Sein Zorn wurde noch heißer, als sich ihm zuvörderst keine Gelegenheit bieten wollte, denselben an einem Sprössling des Hauses Bourbon zu kühlen. Der Oberst Savary nämlich, welcher, selber verkleidet, mit seinen 50 in allerlei Verkleidungen steckenden Gendarmen nun schon seit drei Wochen am Felshang von Biville auf der Lauer lag, wußte von dort nur zu berichten, daß kein Prinz kommen wollte, um sich von ihm abfangen zu lassen. Zwar – so meldete er – zwar wäre draußen vor der Bucht eine englische Brigg, höchst wahrscheinlich die vom Captain Wright geführte, deutlich sichtbar. Auch näherte sich dieselbe allabendlich der Küste, aber statt zu landen lavirte sie nur eine Weile hin und her, um dann wieder in See zu stechen. Wie zu vermuthen, hätten die Emigranten, die sich am Bord des Schiffes befinden möchten, von Paris aus einen Abwink bekommen oder aber erwarteten sie von der Klippe her ein Signal, dessen Ausbleiben ihnen die Landung verböte.

Allein Bonaparte wollte und mußte einen bourbonischen Prinzen haben zum Todtschießen lassen, und da ihm keiner von England her ins Fanggarn laufen wollte, so suchte er anderwärts nach einem. Fouché und Talleyrand – dieser hat später die Spuren seiner Thätigkeit in solcher traurigen Sache fuchsschwänzig zu verwedeln gesucht – halfen ihm bereitwillig bei dieser Späherei. Die Liste der Bourbons wurde durchgenommen. Provence und Angoulème waren in Warschau, Artois und Berry, sowie der Prinz von Condé und der Herzog von Bourbon in London. An diese sechs Prinzen war also nicht zu kommen. Aber Condé’s Enkel, der Herzog von Enghien, der befand sich ja in erreichbarer Nähe, zu Ettenheim im (damaligen) Kurfürstenthum Baden. Der gesuchte Bourbon war gefunden. Freilich hatten alle die Verhöre der dingfestgemachten Verschwörer nicht die leiseste Andeutung von einer Betheiligung Enghiens an dem Cadoudal’schen Komplott ergeben. Aber was hatte das zu sagen? Er war ein bourbonischer Prinz, war erreichbar und folglich sollte er todtgeschossen werden – Punktum.

Die gute Frau von Staël hatte doch nicht so ganz Unrecht, wenn sie den Bonaparte einen „Robespierre zu Pferde“ nannte. Es war im ganzen Verfahren des Ersten Konsuls gegen den jüngsten und letzten Sprossen der Condé’s etwas jakobinisch-terroristisch Wildes, was an die schlimmsten Tage und Nächte der Sansculotterie erinnerte. Ganz in der Ordnung daher, daß, wie im Januar von 1793 unter den Ohnehosen das Wort umgegangen: „Man muß dem monarchischen Europa einen Königskopf als Fehdehandschuh hinwerfen!“ so jetzt in der betressten Sklavenschar, welche sich am Hofe des neuen Cäsars drängte, das Geraune umging: „Einen Bourbon todtschießen lassen? Recht so! Das heißt zwei Fliegen mit einem Schlage treffen, das heißt den Royalisten Schrecken einjagen und den Republikanern ein Pfand geben …“

Louis Antoine Henri de Bourbon, betitelt Duc d’Enghien, war am 2 August 1772 zu Chantilly geboren, folglich jetzt (März 1804) nahezu 32 Jahre alt, von männlich schöner Gestalt und gewinnendem Benehmen. Er hatte unter den Befehlen seines Großvaters und seines Vaters die Waffen gegen die französische Republik getragen und als Vorhutführer des Condé’schen Korps mehrfach im Felde sich hervorgethan. Eine solche Befehdung des Vaterlandes war und ist, vom menschlichen wie vom patriotischen Standpunkt aus angesehen, unbedingt verwerflich. Allein man muß, wenn man billig sein will, beachten, daß ein in legitimistisch-dynastischen Anschauungen gezeugter, geborener und erzogener bourbonischer Prinz es nicht nur für sein selbstverständliches Recht, sondern auch für seine gebieterische Pflicht ansah und ansehen mußte, die französische Republik zu bekämpfen. Denn er war ja des guten Glaubens, dieser Kampf gälte nicht Frankreich, sondern nur einer Frankreich tyrannisirenden, räuberischen und mörderischen Faktion. Wenn die drei Condé’s, Großvater, Vater und Enkel, in Verbindung mit den gegen die französische Republik verbündeten Mächten am Rhein im Felde gestanden, so waren sie [375] ihrer Ueberzeugung zufolge dazu nicht minder berechtigt gewesen, als seiner Zeit Ludwig der Dreizehnte oder eigentlich sein Minister Richelieu berechtigt war, die rebellischen Hugenotten, und Ludwig der Vierzehnte oder eigentlich sein Minister Mazarin, die Rebellen der Fronde zu bekämpfen. Es war also rein unmöglich, dem Duc d’Enghien daraus ein Verbrechen zu machen, daß er im Korps seines Großvaters mitgefochten – unmöglich nicht allein unter dem subjektiven, sondern auch unter dem objektiven Rechtsgesichtspunkt.

Dazumal, im Frühjahr von 1804, lebte der Prinz zu Ettenheim unweit Karlsruhe, ohne irgendwie nachweisbare Verbindungen mit den übrigen Emigranten, welche sich da und dort in den deutschen Rheingegenden aufhielten. Der französische Gesandte am badischen Hofe, Massias, überwachte den Prinzen, fand jedoch über denselben nach Paris nur zu berichten, daß er leidenschaftlich dem Vergnügen der Jagd nachginge und im übrigen ganz seiner zärtlichen Verbindung mit der Prinzessin Charlotte von Rohan-Rochefort lebte, einer Nichte des Halsband-Kardinals Rohan berüchtigten Andenkens. Dieser „hochwürdige“ Prälat, welcher vordem in der für Marie Antoinette so unheilvollen Böhmer-Lamothe’schen Diamanthalsbandgeschichte eine zugleich so lüderliche und so lächerliche Rolle gespielt hatte, war ein so liebevoller Oheim, daß er nicht umhin gekonnt, den leidenschaftlich in seine Nichte verliebten Duc d’Enghien im Jahre 1801 heimlich mit derselben zu trauen, obzwar König Ludwig der Achtzehnte in partibus dieser Ehe seine Zustimmung verweigert hatte. Alles zusammengehalten, muß man sagen, daß der Prinz ein liebenswürdig-harmloser Charakter war und in Ettenheim ein harmloses Leben führte. Er muß sich auch dieser Harmlosigkeit wohl bewußt gewesen sein. Denn sonst hätte er sich so nahe der französischen Gränze nicht für so sicher gehalten, daß er bezügliche Warnungen, die ihm vonseiten seines Vaters brieflich aus London zugingen, ablehnend und beschwichtigend beanwortete. Er kannte den Bonaparte wenig.

Sobald das Auge desselben auf den Prinzen gefallen, war dieser verloren. Shée, der Präfekt von Straßburg, erhielt Befehl, einen Spion nach Ettenheim zu senden, um die Oertlichkeit, den Haushalt und die Umgebung des Herzogs von Enghien auszukundschaften. Der Präfekt schickte einen verkleideten Unterofficier Namens Lamothe, welcher den Prinzen kannte, weil er früher im Hause Condé gedient hatte. Lamothe that seinen Späherdienst und meldete seinem Auftraggeber unter anderem, daß der General Dumouriez sich in Ettenheim befände. Dumouriez, was? Der weiland General der Republik mit D’Enghien, also mit den Bourbons verbunden? Ein Seitenstück zum Pichegru ganz zweifellos! Da haben wir demnach ein Stück bourbonischer Verschwörung auch in Ettenheim …. Es mochte dem Ersten Konsul so recht wohlthun, einen Schatten von Vorwand zu seinem justizmörderischen Vorgehen gegen den Prinzen gefunden zu haben. Einen Schatten von Vorwand. Denn in Wahrheit und Wirklichkeit befand sich Dumouriez nicht in Ettenheim und überhaupt nicht im Lande. Der Spion hatte den Namen des Generals und Marquis de Thumery, welcher sich in Ettenheim aufhielt, nennen hören und daraus wissendlich oder unwissendlich Dumouriez gemacht.

Am 10. März 1804 setzte sich Bonaparte hin und fertigte an den Kriegsminister Berthier die Anweisungen und Befehle aus, kraft welcher die Generale Ordener und Caulincourt, jener mit 300, dieser mit 200 Dragonern, von Straßburg und Schlettstadt aus nächtlicher Weile über den Rhein gehen und so rasch wie möglich nach Ettenheim marschiren sollten, um den Herzog von Enghien gewaltsam aufzuheben und nach Straßburg in die Citadelle zu führen, von wo er nach Paris gebracht werden müßte.

Daß dieser banditenhafte Einbruch in das deutsche Reich, bei Friedenszeiten, ein schnöder Bruch des Völkerrechtes war, kümmerte den französischen Machthaber wenig. So ein Ding wie das Recht gehörte ja überhaupt dem Bonapartismus zufolge nur in das Wörterbuch der „Ideologie“; in und mit der Politik hatte es nichts zu thun. Und auf die arme alte deutsche Reichsruine Rücksicht nehmen? Bah! Oder auf die deutschen Reichsfürsten? Ach, diese Pappenheimer kannte man sattsam in Paris. Oder auf den Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches Teutscher Nation“, den zweiten Franz? Du lieber Gott, zu der pappendeckeligen Reichskrone paßte vollständig ihr Träger, der ja auch nur ein Kaiser von Pappendeckel war.

Nach an Berthier gegebenen Befehlen erließ Bonaparte auf das Beabsichtigte und Bevorstehende bezügliche Weisungen an seinen Schwager Murat, als an den Militärgouverneur von Paris, sowie an den inzwischen von Biville zurückberufenen Savary, welcher zur Vollendung des Banditenstreichs das Meiste thun sollte und, wie bekannt, auch wirklich gethan hat. Hierauf, sich die Hände waschend wie weiland der römische Oberpräsident von Judäa, fuhr der Erste Konsul mit seiner Frau und etlichen Vertrauten nach Malmaison, allwo während der nächsten Tage nur ausdrücklich von ihm bezeichnete Leute Zutritt erhalten sollten. Er wollte nicht sehen und hören, wie der Mordklapf, den er angeordnet hatte, in Paris wirken würde.

Wohlverstanden, er beharrte bei diesen mörderischen Anordnungen auch dann noch, als er über das Mißverständniß Thumery-Dumouriez aufgeklärt und als er in den Besitz der in Ettenheim geraubten Papiere des Duc d’Enghien gesetzt worden war, aus welchen dessen Nichtbetheiligung an der Cadoudal-Pichegru’schen Verschwörung erhellen mußte. Er wollte eben, das steht zu seiner Schmach für immer fest, um jeden Preis einen Bourbon zum Erschießen haben, er, der „Robespierre zu Pferd“, wie vordem der Robespierre zu Fuß einen Bourbon zum Guillotiniren haben wollte.


8.0 Wie der Bandit sich in den Komödianten verwandelte.

In der Nacht vom 14. auf den 15. März, unlange nach Mitternacht, wurde der Duc d’Enghien, welcher, ermüdet von den Jagdstrapazen des letzten Tages, eines tiefen Schlummers genoß, aufgeschreckt durch den Schreckensruf seines treuen Dieners Canonne: „Monseigneur, das Haus ist umzingelt! Gendarmen stoßen die Thüren ein und erklettern die Fenster!“

Die Generale Ordener und Caulincourt hatten ihre Maßnahmen so sorgfältig getroffen und der Gendarmeriekommandant Charlot führte dieselben so genau und rasch aus, daß von Widerstand keine Rede sein konnte, obzwar der Prinz, noch halb schlaftrunken, nach seiner Jagdflinte gelangt hat. Die Ueberrumpler hatten übrigens leichtes Spiel. Sie brauchten nur den Anweisungen des Ersten Konsuls nachzukommen, allworin ja alle Umstände zum voraus berücksichtigt und berechnet waren. Plan und Ausführung des Handstreichs machten ein so echtkorsisches Banditenstückchen aus, daß selbiges ebenso gut wie zu Ettenheim in einer „Macchia“ Korsika’s hätte spielen können.

Man ließ dem Ueberfallenen kaum Zeit, sich anzukleiden. Dann wurde er auf ein Wägelchen gesetzt und fort ging’s in aller Hast, dem Rheine zu. Am Abend vom 15. März befand sich der Entführte hinter den Mauern der Citadelle von Straßburg. Seine sämmtlichen im Schlößchen von Ettenheim zusammengerafften Briefschaften gingen mittels Kuriers unmittelbar an den Ersten Konsul ab.

Am 18. März, Morgens halb 2 Uhr, wurde der Prinz in seiner Zelle geweckt und aufgefordert, sich rasch in die Kleider zu werfen, um sofort abzureisen. „Man wird mir doch gestatten, Canonne mitzunehmen?“ – „„Ueberflüssig.““ – „Aber doch meinen kleinen Hund Mylof, der mit mir von Ettenheim gekommen?“ – „„Nun ja.““ – „Und Wäsche muß ich doch auch haben.“ – „„An zwei Hemden wird es genug sein.““

Man setzte den Gefangenen in eine verschlossene Postkalesche und unter der Bewachung eines Leutnants, eines Quartiermeisters und zwei Gemeinen von der Gendarmerie ging die Eilfahrt Tag und Nacht gen Paris. Am 20. März, Abends 6 Uhr, war der Prinz im Donjon von Vincennes eingethürmt, ganz ausgehungert, denn man hatte ihm unterwegs zum Essen weder Zeit noch Gelegenheit geboten. Der Kommandant von Vincennes, Harel, vermochte ihm nur ein dürftiges Abendessen anzubieten. Er genoß es zur Hälfte, um die andere Hälfte seinem ebenfalls hungerigen Mylof zu geben. Dann warf er sich auf’s Bett, um sogleich in Schlaf zu fallen.

Derweil er schlief, wurde drunten im Festungsgraben, am Fuße des sogenannten „Pavillon der Königin“, ein Grab gegraben. Der Oberst Savary war mit dem Bataillon seiner Elitegendarmen in Vincennes und für diese Nacht mit außerordentlichen Vollmachten versehen. Er ordnete alles an und befahl unumschränkt. In dieser Nacht mag er sich ja wohl seinen nachmaligen Herzogstitel (duc de Rovigo) verdient haben.

[376] Um Mitternacht weckt man den Prinzen. Er wird in ein Gemach geführt, dessen Fenster auf den Forst von Vincennes hinausgehen. Hier ist die an Bonaparte’s Befehl durch Murat bestellte „Militärkommission“ versammelt, welche den letzten Sproß der Condé’s „richten“ soll. Die Namen dieser „Richter“ verdienen am Schandpfahl der Geschichte angenagelt zu bleiben. Es sind der General Hullin, Vorsitzender, die Obersten Guitton, Bazancourt, Barrois, Ravier, Rabbe und der Major Tautaucourt, welcher als „Rapporteur“ fungirt. Im Hintergrunde des Gemaches hält sich Savary, um darauf zu sehen, daß alles „nach Befehl“ zu- und hergehe und geschehe.

Der Major Dautancourt bringt sechs Anklagepunkte vor, der Hauptsache nach lautend auf Verschwörung gegen die Sicherheit des Staates und gegen das Leben des Ersten Konsuls, sowie auf Bekämpfung der französischeu Republik mit bewaffneter Hand. D’Enghien, obgleich erschöpft und abgemüdet durch alles, was er in den letzten Tagen und Nächten ausgestanden, hält sich gefaßt und würdig. Den ersterwähnten Hauptpunkt der Anklage bestreitet er ganz entschieden, den zweiten gibt er zu mit den Worten: „Ich vertheidigte die Rechte meiner Familie. Meine Geburt und meine Ueberzeugungen zwingen mich, ein Feind der republikanischen Regierung zu sein.“

Hieraus der Form halber eine Berathung der „Richter“ und als Resultat derselben einmüthiger Schuldigspruch des Augeklagleu, selbstverständlich ein Todesspruch.

Der General Hullin hat später, freilich erst zur Zeit der Restauration, behauptet, er hätte sich nach der Urtheilsfällung hingesetzt, um an den Ersten Konsul zu schreiben. Nämlich zu dem Zwecke, denselben zu bitten, dem Prinzen die von diesem erbetene Unterredung zu gewähren, sowie auch, den Verurtheilten der Gnade Bonaparte’s – ja, der „Gnade“ Bonaparte’s! – zu empfehlen. Da wäre aber Savary hinter ihn getreten und hätte ihm die Feder aus der Hand genommen mit den Worten: „Was noch zu thun, geht Sie nichts an; es ist meine Sache …“

In die Wohnung Harels zurückgeführt, hat der „Gerichtete“ wiederum den Schlaf gesucht und gefunden. Aber man gönnte ihm denselben nicht lange. Um 3 Uhr des Morgens aufgestört, wird er eine feuchte Wendeltreppe hinab in den Festungsgraben geführt, wo am Fuße des Pavillons der Königin schon vor der Fällung des „Richterspruchs“ sein Grab gegraben worden. Dort ist ein Peloton Gendarmen aufgestellt, in zwei Gliedern von je acht Mann. Das Geflimmer einer Laterne beleuchtet nothdürftig die unheimliche nachtdunkle Scene. Man heißt den Prinzen an den Rand der Grube treten und der Adjutant Pelé verliest das „Todesurtheil“. Nach einem Augenblick bangen Schweigens fragt D’Enghien: „Ist niemand da, der eimm Sterbenden einen letzten Dienst erweisen will?“ Der Leutnant Noirot nähert sich ihm und nach einigen mit demselben gewechselten Flüsterworten wendet sich der Prinz an die Gendarmen mit der Frage: „Hat einer von Euch eine Scheere bei der Hand?“ Es wird ihm eine Scheere hingereicht, er schneidet sich damit eine Haarlocke ab, wickelt dieselbe mit einem Ring in ein Stück Papier und richtet an Noirot die Bitte, diesen Scheidegruß der Prinzessin Charlotte von Rohan-Rochefort zukommen zu lassen. Dann erhebt er die Stimme und ruft aus: „Wie traurig ist es doch, durch die Hand von Franzosen sterben zu müssen!“

In diesem Augenblick gibt der Adjutant Pelé das verabredete Signal, indem er seinen Hut abnimmt. Die Gendarmen schlagen an, die Schüsse knallen und der Prinz fällt todt zu Boden. Der noch warme Todte wird in seinen Kleidern in die Grube gelegt. Man schaufelt Erde darüber und sucht alle Spuren der Unthat zu verwischen.

Als es Tag geworden, bemerkte man, daß ein kleiner Hund kläglich winselnd die Erde, worein das Opfer der schändlichen Mordthat vergraben worden, mit seinen Vorderpfoten aufzuscharren suchte. Man schlug den armen treuen Mylof todt. Auf eine Brutalität mehr oder weniger in diesem wüsten Zwischenspiel des Drama’s der Cadoudal’schen Verschwörung kam es ja nicht an …

Bonaparte, in der Erwartung, den heimlich ausgesonnenen und unwiderruflich befohlenen Schlag fallen zu sehen, hielt sich in Ermangelung einer korsischen „Macchia“ seit dem 18. März in seinem Malmaison nicht gerade versteckt, aber doch abseits. Monsieur Thiers hat mythologisirt, der Erste Konsul wäre in diesen Tagen unruhig, zerstreut und aufgeregt gewesen, so sehr, daß er gar nicht zu arbeiten vermocht hätte. Der Napoleonzinkenist will damit andeuten, die schwebende Sache hätte den Mann gemüthlich sehr angegriffen. Fabelei! Bonaparte hat, wie seine Korrespondenz klärlich darthut, in diesen Tagen so viel, wenn nicht mehr gearbeitet als sonst. Er hielt seine gewohnte Lebensführung ein und spielte Abends viel Schach. Sein Gebaren war heiter und ruhig („serein et calme“), sein Gesichtsausdruck friedsam („paisible“), wie die Zeugin sagt, welche wir hier anrufen.

Diese Zeugin, Frau von Rémusat, ist höchlich beunruhigt gewesen über das, was im Werke war. Es hatte ja doch nicht verhohlen bleiben können, so heimlich auch die Sache betrieben worden und betrieben wurde. Die Palastdame Josephine’s ließ nicht ab, diese zu bestürmen, daß sie ihrerseits Bonaparte bestürmte, das Leben des Herzogs von Enghien zu schonen. Josephine that es, aber ihre Fürbitten richteten nichts aus. Der Herr Gemahl sagte ihr: „Die Frauen müssen derartigen Angelegenheiten fremdbleiben. Meine Politik fordert diesen Staatsstreich“ – was er dann wortreich weiter ausführte. Ab und zu erschienen Régnier, Réal und Murat in Malmaison und hatten lange Audienzen. Am Morgen vom 20. März sagte die Frau des Ersten Konsuls zur Frau von Rémusat: „Alles ist vergeblich. Der Herzog von Enghien wird heute Abend nach Vincennes gebracht und in der Nacht abgeurtheilt werden. Bonaparte hat mir verboten, ihn weiter damit zu behelligen. Er sagte auch, Ihre Traurigkeit sei ihm aufgefallen. Nehmen Sie sich zusammen!“

Frau von Rémusat wußte aber nicht so gut zu schauspielen wie der Erste Konsul. Beim Diner ließ er seinen kleinen Neffen Napoleon, den erstgeborenen Sohn seines Bruders Louis und seiner Stieftochter Hortense, vor sich hin auf die Tafel setzen und hatte seinen Spaß daran, als das Kind alles, was es erreichen konnte, umwarf oder zerschmiß. Nach dem Essen setzte er sich auf den Boden und spielte ausgelassen heiter mit dem Kleinen. Dann wandte er sich zur Frau von Rémusat, welcher diese Heiterkeit doch „etwas gezwungen“ vorkam, und sagte zu ihr: „Sie sind zu blaß. Warum haben Sie kein Roth aufgelegt?“ – „„Ich habe es vergessen.““ – „Was? Eine Frau, welche ihr Roth vergißt? Das passirt Dir nie, Josephine, gelt?“ Dazu lachte er laut und fügte dann hinzu: „Die Frauen haben zwei Dinge, die ihnen sehr gut stehen, das Roth und die Thränen.“ Hierauf erwies er seiner Frau Zärtlichkeiten, die nicht eben von Geschmack und Takt zeugten, und dies gethan, lud er Frau von Rémusat zu einer Partie Schach ein. Während des Spiels murmelte er das bekannte geflügelte Wort: „Lass’ uns Freunde sein, Cinna!“ aus dem Trauerspiel Corneille’s. Dann begann er halblaut zu singen und endlich deklamirte er die berühmte Stelle aus dem 5. Akt von Voltaire’s „Alzire“, wo der Christ Guzman zum Heiden Zamor sagt:

Des dieux que nous servons connais la différence:
Les tiens t’ont commandé le meurtre et la vengeance;
Et le mien, quand ton bras vient de m’assassiner,
M’ordonne de te plaindre et de te pardonner
.“

Gut gespielt, Komödiant! In derselben Stunde, in welcher Bonaparte der Frau von Rémusat solche Gefühle christlicher Milde, Großmuth und Barmherzigkeit vorgaukelte, versammelte sich in Vincennes die „Militärkommission“, um den ihr anbefohlenen Todesspruch über den unglücklichen Enghien zu fällen.

Frau von Rémusat hatte sich durch das Lächeln, die Lustigkeit, die Deklamationsübung des Gewalthabers für den Augenblick täuschen lassen. Ihre Hoffnung auf Erbarmen sollte aber rasch zu schanden werden. Frühmorgens vom 21. März erschien Savary in Malmaison, bleich und verstörten Gesichts. Frau von Rémusat wagte keine Frage an ihn zu thun. Die Gemahlin des Ersten Konsuls kam in den Salon, traurig und niedergeschlagen. Sie fragte Savary: „Es ist also geschehen?“ – „„Ja wohl, Madame. In der ersten Morgenfrühe ist er gestorben und zwar, ich muß es sagen, sehr muthvoll.““

Den Tag über kam eine Menge von Besuchern nach Malmaison. Man sah nur Gesichter, die ihre Bestürzung zu verbergen suchten, so gut es gehen wollte. Niemand wagte dem Ersten Konsul davon zu sprechen, welchen erschütternden, welchen geradezu furchtbaren Eindruck die Hinmordung des Herzogs von Enghien in Paris hervorgebracht habe. Er mußte es aber wohl merken. Als am Abend in dem gedrängtvollen Salon ein unheimlich drückendes Schweigen herrschte, durchmaß Bonaparte [377] finsteren Gesichts mit großen Schritten das Gemach. Dann brach er los und redete allerlei bunt durcheinander. Zuletzt mußte er aber doch dem Gedanken, welcher, wie er wohl wußte, alle Anwesenden beschäftigte, sein Recht widerfahren lassen, und so sagte er: „Alle diese Leute da – die Verschworenen – wollten Unruhen in Frankreich erregen und in meiner Person die Revolution tödten. Ich mußte dieselbe vertheidigen und rächen und ich habe gezeigt, wessen sie fähig ist. Der Herzog von Enghien hat konspirirt wie ein anderer“ – (das war verlogen und der Komödiant wußte, daß er log) – „er mußte demnach auch behandelt werden wie ein anderer. Ich habe Blut vergossen, ich mußte es vergießen, ich werde vielleicht noch mehr vergießen; aber ich werde es thun ohne Zorn und ganz einfach darum, weil so ein Aderlaß zur politischen Medicin gehört. Ich bin Staatsmann, ich bin die französische Revolution, ich wiederhole es, und ich werde sie aufrechthalten.“

„Der Staat bin Ich!“ sagte Ludwig der Vierzehnte. „Das Vaterland bin Ich!“ sagte der Herzog Karl von Wirtemberg. „Die Revolution bin Ich!“ sagte Bonaparte. Immer dieselbe Melodie, nur mit etwas verändertem Text.

Später hätte bekanntlich der Bonapartismus den Frevel des an Enghien begangenen Justizmordes gern den Werkzeugen Bonaparte’s aufgebürdet und diese Werkzeuge haben dann die böse Bürde einander gegenseitig zugeschoben. Der „diable boitoux“ der Revolution und des Kaiserreichs, Talleyrand, soll der Legende zufolge bei dieser Gelegenheit das bekannte, übrigens auch andern zugeschriebene Wort gesprochen haben: „Das ist schlimmer als ein Verbrechen, das ist ein Fehler.“ In Wahrheit aber hat Talleyrand, als Herr von Hauterive, einer der Divisionschefs in seinem Ministerium, ihm von dem Entsetzen sprach, welches durch das Verbrechen von Vincennes hervorgerufen worden, wegwerfend zur Antwort gegeben: „Ach was! Das ist eine Geschäftssache, weiter nichts.“


9.0 Was nach verkrachter Verschwörung mit den Verschwörern geschah.

Der Tod D’Enghiens markirte den Höhepunkt unseres Verschwörungsdramas. Es wurde dabei so viel „Schrecken und Mitleid“ verbraucht, daß für die übrigen Opfer nicht mehr viel davon übrigblieb. Wenigstens nicht für den Plebeier Cadoudal und seine plebeischen Todesgefährten. Die mußten die Suppe ausessen, welche die vornehmen Herren eingebrockt hatten. Es ist ja immer und überall so in der Welt: die ehrliche Ueberzeugung muß büßen, was die berechnende Selbstsucht verschuldet hat.

Auch der weiland hochangesehene General der Republik, Pichegru, ist ein Opfer dieser historischen Tragödie geworden und noch dazu hat er mit eigener Hand sich geopfert. Denn daß er auf Anordnung Bonaparte’s selber oder wenigstens auf Anstiften von Bonapartisten in seinem Kerker erdrosselt worden sei, das war nur eine von der Parteigehässigkeit aufgebrachte Lüge und noch eine ganz dumme dazu, nicht der Mühe der Widerlegung werth. Der Selbstmord Pichegru’s dagegen war eine logische Folge seiner Lage. Monsieur Thiers, freilich eine fragwürdige Autorität, erzählt, der Erste Konsul habe den „Eroberer von Holland“ nicht nur schonen, sondern auch einer ersprießlichen Thätigkeit im Dienste Frankreichs zurückgeben wollen. Er habe nämlich beabsichtigt, im französischen Guyana (Cayenne), welches ja Pichegru als Verbannter kennen gelernt, durch diesen eine Kolonie im großen Stil gründen zu lassen, und habe den Staatsrath Réal beauftragt, dem General bezügliche Eröffnungen zu machen. Möglich immerhin, daß so ein Gedanke dem Gewalthaber gekommen, aber gewiß ist, daß es beim Gedanken verblieb. Pichegru wollte anfangs an die Großmuth Bonaparte’s gar nicht glauben, ließ sich aber dann durch Réal gern davon überzeugen und ging mit Lebhaftigkeit auf den Kolonisationsplan ein. Allein Réal ließ sich nicht mehr sehen oder von sich hören, und so verfiel der Gefangene auf die naheliegende Vorstellung, die Mittheilung vonseiten des Herrn Staatsraths wäre nur eine Flunkerei gewesen oder wohl gar eine List, um ihn, Pichegru, zu Geständnissen inbetreff der Verschwörung zu bewegen. Seine Stimmung mußte sich noch mehr verdüstern, als die Kunde von dem, was im Morgengrauen vom 21. März im Festungsgraben von Vincennes geschehen, auch in seine Gefängnißzelle drang. In seiner Vergrämung sagte er sich, daß ihm nichts übrigbliebe, als mit einer Bande von Chouans auf der Anklagebank zu erscheinen. Unerträglich das! Eines Frühmorgens im April schlug er einen Band von Seneca auf, welchen Réal ihm geliehen, las, was der Lehrer Nero’s über den freiwilligen Tod zusammenphilosophirt hatte, und machte hierauf das Gelesene zur That, indem er sich mittels seiner seidenen Halsbinde erwürgte.

In denselben April- und Maitagen spielten sich die groteskkomischen Scenen der Verkaiserungskomödie im Tribunat und im Senat ab. Am 18. Mai begrüßte der Senat in corpore im Schlosse von St. Cloud den weiland Artillerieleutnant als Empereur mit den Anredeformeln „Sire“ und „Majestät“. Zwölf Jahre zuvor war die Monarchie in Frankreich förmlich und feierlich abgeschafft worden, „für immer“. Komödie hüben und drüben!

Sieben Tage vor der Huldigung in St. Cloud, am 11. Mai 1804, begann vor dem Kriminalgerichtshof des Seinedepartements die Procedur gegen die 47 Angeklagten der Cadoudal-Pichegru’schen Verschwörung. Die Verhandlungen, deren Darstellung nicht in den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes paßt, währten bis zum 9. Juni. Am meisten Schwierigkeit verursachte Moreau, welcher sich in der Procedur mit Geistesgegenwart und mehr Talent, als man ihm hätte zutrauen sollen, auf den unbescholtenen Biedermann hinausspielte. Mit solchem Erfolg, daß die kaiserliche Regierung den 12 Richtern, von welchen zuerst 7 für Freisprechung und 5 für die Verurteilung des Generals zum Tode gewesen waren, nur mit Noth schließlich ein Schuldig entriß. In der Morgenfrühe vom 10. Juni verkündete der Gerichtshof die Urtheilssprüche. Sie lauteten für Cadoudal, Bouvet, Rivière, Lajolais, Armand Polignac, den Chouan Picot und 13 seiner Kameraden auf Tod; für Moreau, Jules Polignac und Rolland auf zwei Jahre Gefängniß. Von der Kriminalanklage entbunden wurden 21 Angeschuldigte, Leute, welche mit der Verschwörung nichts zu schaffen gehabt, sondern nur die Verschwörer beherbergt hatten.

Für die vornehmen Herren Verschworenen, welche zum Tode verurtheilt worden, traten sofort an dem frisch aus dem Backofen gekommenen Kaiserhofe alle Fräcke und Unterröcke in wetteifernde Thätigkeit. Infolge derselben wurde Napoleon bewogen, für Bouvet, Rivière, Lajolais und Armand Polignac die Todesstrafe in einfache Einsperrung zu verwandeln. Seinen tiefgedemüthigten „Nebenbuhler“ Moreau begnadigte der Kaiser zur Auswanderung nach Amerika, von wo der schwache Mann zum nicht wieder gutzumachenden Schaden seines Rufes im Jahre 1813 zurückkehrte, um im Quasidienst der verbündeten Monarchen gegen sein Vaterland die Waffen zu tragen und in der Schlacht von Dresden durch eine französische Kugel getödtet zu werden. Für Georges Cadoudal ließ sich von dem höfischen Geschmeiß niemand zu Bitten, Kniefällen und Thränen herbei: er war ja nur ein Müllerssohn. Am 24. Juni ist er, der beste Mann, welchen die bourbonische Partei aufzuweisen hatte, mit 11 seiner Chouans auf dem Grèveplatz unter dem Fallbeil gestorben.

Was Napoleon angeht, so ist man stark versucht, anzunehmen, daß in den Falten des Kaisermantels, den er umgethan, vom Anfang an der Kaiserwahnsinn gelauert habe, an welchem er später zu Grunde gegangen. Als er am 2. December von 1804 aus Notre-Dame, allwo ihn Papst Pius der Siebente gesalbt hatte, in die Tuilerien zurückgekehrt war, sagte er zu seinem Marineminister Decrès: „Ich kam zu spät zur Welt. Die Menschen sind heutzutage zu klug. Man kann nichts Großes mehr thun.“ – „„Wie, Sire? Was kann es denn Größeres geben, als, so man als Artillerieleutnant angefangen hat, den ersten Thron der Welt zu besteigen?““ – „Wohl, ich geb’ es zu, meine Carrière ist nicht übel. Aber welch’ ein Abstand z. B. gegen Alexander den Großen! Nachdem er Asien erobert und sich den Völkern als einen Sohn Jupiters dargestellt hatte, glaubte alle Welt daran, seine Mutter Olympias und etwa den Aristoteles und noch etliche andere Philosophen ausgenommen. Wenn aber ich heute erklärte, daß ich der Sohn Gottvaters wäre, und wenn ich nach Notre-Dame ginge, ihm dafür zu danken, jedes Fischweib auf meinem Wege würde mich auslachen. Ach, die Menschen und die Völker sind heutzutage zu klug. Man kann nichts Großes mehr thun.“

Fürwahr, es war ein gescheider Mann, welcher den Ausspruch gethan hat:

„Genie und Wahnsinn sind so nahverwandt,
Daß beide trennt nur eine dünne Wand.“


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Kap Palmas. Nach einer Originalskizze von Dr. Pechuel-Loesche.

Ein letztes Zusammentreffen mit Gustav Nachtigal.

Von Dr. Pechuel-Loesche.


Die Walfischbai, das einzige brauchbare Eingangsthor zu dem Hererolande in Südwestafrika, ist eine trostlose Gegend. Wer sie besucht, wird genügend vorbereitet auf das, was er in den periodisch verschmachtenden Hinterländern zu erwarten hat und lernt es im Voraus, die endlosen lockeren Gras- und Dornbuschbestände der Weideländer des Inneren, wenigstens um seiner armen unentbehrlichen Zugochsen willen, mit Befriedigung zu betrachten. Nichts ist in Sicht als Sand, Wasser, Himmel. Hinter einem von unserer rheinischen Mission errichteten Kirchlein liegt hart am Strande die Ansiedelung. Sie besteht aus einem Dutzend größtentheils eng an einander gedrängter, aus eingeführtem Holz und gewellten Blechen errichteter Baulichkeiten. Ihr Fundament ist künstlich erhöht, weil bei Springfluthen das Seewasser sie rings umfließt. An recht hellen Tagen erblickt man im Osten, jenseit der das Bett des periodischen Kuisibflusses abschließenden Dünen die gefürchtete Namib, die allmählich ansteigende Wüste, deren weite Ebenen hier und da von einem gerundeten Bergkopf durchbrochen werden.

Wenn die grauen Morgennebel verfliegen und die Sonne heiß niederzubrennen beginnt, treibt über dem fahlen Sande der in der Gluth zitternden Baifläche die Fata Morgana ihr wundersames Spiel und verwirrt die Sinne, indem sie Wasserspiegel hervorzaubert und den Gegenständen phantastische Formen verleiht. Dann aber erhebt sich der oft zu sturmähnlicher Stärke anschwellende Wind und füllt die Atmosphäre mit gespenstisch entlang ziehenden Staubmassen. Die schwereren Sandtheilchen fegt er in langen Streifen über die glatte Fläche, läßt sie in Haufen liegen, schüttet sie zu Dünen auf und lagert sie an den Gebäuden ab, sodaß die Bewohner sich wie bei Schneetreiben zeitweilig Bahn schaufeln müssen. Angenehm sind nur die frühesten Morgenstunden, während deren man sich bei Ebbe auf dem festen Strandboden ergehen kann; und manche Abende gewinnen einen hohen Reiz durch farbenprächtige Sonnenuntergänge.

So vergeht Tag um Tag, Jahr um Jahr an der Walfischbai. Der vorherrschend aus südlicher Richtung wehende kühle Wind kommt zur Abwechselung auch manchmal heiß und trocken aus Osten, seltener von Norden; zuweilen weichen die grauen Nebelschwaden tagelang nicht den Strahlen der Sonne, und vielleicht einmal im Jahre fallen Regentropfen.

Einförmig wie die Gegend ist das Thierleben. Ungeheure Flüge von Taucherenten ziehen über der Bai hin und wieder; vereinzelte Möven stoßen auf unvorsichtige Fische; gravitätische Flamingos waten in Reihen an flachen Stellen umher und erfüllen die Luft mit ihrem Geschrei, daß man glaubt, eine heimathliche Gänseherde sei in der Nähe.

Anfangs November des vergangenen Jahres waren wir, meine Frau, unser landeskundiger Reisebegleiter Herr Kleinschmidt und ich, nach monatelanger Fahrt durch die großartigen Einöden des Hererolandes wieder an unserem Ausgangspunkte, der Walfischbai, angelangt. Müde, ausgehungert und verschmachtet standen und lagen unsere bedauernswerthen Ochsen hinter der Häusergruppe und ließen sich als erfahrene Zugthiere nicht mehr, wie so oft die Neulinge aus dem Innern, durch die glitzernde Fluth verlocken, ihren Durst mit Seewasser löschen zu wollen. Siebzehn Stunden lang auf Tod und Leben mechanisch vorwärts schreitend, hatten sie die schweren Wagen über die letzte schlimmste Strecke des wüsten Küstenstriches bis zum Meere geschleppt. Nun stand ihnen die größere Aufgabe bevor, nach kurzer Rast abermals denselben Weg bergauf und dann mindestens noch eine Tagereise zurückzulegen, ehe sie sich wieder einmal annähernd sättigen konnten. Aber nicht alle sollten diese schwere Prüfung überstehen. Bereits an der Bai erlagen die stattlichen Leitochsen von dem Vierzehngespann des Wagens meiner Frau dem letzten Gewaltmarsch; nachdem sie ihre Aufgabe gelöst, uns wieder zum Atlantischen Ocean gebracht hatten, verendeten sie an Entkräftung. Ihre Schädel mit den schön geschweiften Gehörnen nahmen wir zum Andenken mit uns.

Zwei Schiffe, ein in diesem verlassenen Erdenwinkel überaus seltener Anblik, lagen in der Bai und boten uns Gelegenheit, sogleich nach Kapstadt weiterzusegeln. Da wir jedoch mit Kapitän Jensen, dem Führer der vornehmlich den Verkehr unterhaltenden und wiederum fälligen kleinen Brigantine „Louis Alfred“, die Heimreise bereits während der Herfahrt vereinbart hatten, blieben wir zurück. In den uns freundlich überlassenen Nebenräumen des Kirchleins, wo wir oft den wirklich anerkennenswerthen Gesangsleistungen der Zöglinge des Herrn Missionärs Böhm lauschten, richteten wir uns behaglich ein und verlebten unsere Tage in angenehmem Verkehr mit den deutschen, englischen und schwedischen Einsiedlern an der Bai. Nach zwei Wochen tauchten endlich die wohlbekannten Segel des „Louis Alfred“ am westlichen Horizonte auf, und bald begrüßte uns wieder Kapitän Jensen und seine vielsprachige junge Gattin. Die Abfahrt des Schiffes war in Kapstadt verzögert worden, weil es den Regierungs-Kommissar Mr. W. C. Palgrave, der in besonderer Mission zu Maharero, dem Oberhäuptling der Herero, entsendet wurde, aufzunehmen hatte.

Unsere Freude über die Befreiung aus einer, wenn auch angenehmen, so doch unvorhergesehenen Gefangenschaft sollte noch in anderer Weise vergrößert werden: wir sollten noch den Generalkonsul und Kommissar des Deutschen Reiches, Dr. Gustav Nachtigal, an der Walfischbai mit frohem Händedruck bewillkommnen.

[379] Während wir die Abreise vorbereiteten, die Sammlungen an Bord unterbrachten, tauchte ein neues Segel auf. Die Takelage ließ ein Kriegsschiff erkennen. Von Süden kommend umfuhr es Pelekan-Point, die Spitze der die Bai abgrenzenden Nehrung und stand auf die Ansiedelung zu. Bald wurden die Segel eingezogen, und nun erkannten wir deutlich die deutsche Kriegsflagge. Das Kanonenboot „Möwe“ ankerte in der Bai, wo bisher erst ein einziges deutsches Kriegsschiff und zwar Anfangs August das Kanonenboot „Wolf“ eingelaufen war.

Eine Dampfbarkasse löste sich von der „Möwe“ und schleppte ein Boot zum Strande; schon von Weitem erkannten wir den Generalkonsul unter den Insassen. Er war höchlich überrascht, mir nach Jahren wieder einmal so fern von der Heimath zu begegnen; noch mehr erstaunte er jedoch, als er hörte, daß meine Frau, auf deren besonderen Wunsch diese Reise unternommen war, mich nicht nur so weit begleitet, sondern mit mir auch die Wildniß durchzogen hatte. So gab es denn viel zu erzählen und Meinungen auszutauschen. Da nun gerade ungewöhnlich viele Deutsche an der Bai verweilten und auch der Kommandant der „Möwe“, Herr Korvettenkapitän Hoffmann, mit verschiedenen Officieren an Land kam, nahm die kleine Ansiedelung für einige Tage gewissermaßen einen deutschen Charakter an, und nur die im Winde flatternde englische Flagge gemahnte uns, daß wir nicht auf deutschem Boden standen. Ein Gastmahl im Hause des deutschen Hafenagenten, Herrn L. Koch, dessen liebenswürdige Gattin vor einem Jahrzehnte nicht nur die erste deutsche Heimstätte an der Bai schuf, sondern überhaupt als erste weiße Frau daselbst lebte, vereinte die so glücklich zusammengetroffenen Landsleute, und warmen Herzens wurde des Kaisers und Reiches, des Kanzlers und seiner Kolonialpolitik gedacht. Das wichtige Thema, das uns Alle gerade an dieser Stelle am lebhaftesten beschäftigen mußte, drängte sich stets wieder in den Vordergrund.

Noch immer gewann sich Gustav Nachtigal Aller Sympathien durch seine Liebenswürdigkeit, seine echte Höflichkeit des Herzens und seinen untrüglichen Takt. In seinem Wesen war sonach keine Veränderung zu erkennen, wohl aber in seinem Aussehen. Das Klima Westafrikas hatte den rastlos thätigen, ganz der Vollführung seiner Aufträge lebenden Mann nur zu deutlich gezeichnet, und ich konnte mein Erschrecken nicht verbergen, als er mir mittheilte, daß er nochmals einige Monate in jenen Gegenden zu verweilen haben würde, die selbst vollkommen Gesunden gefährlich sind. Am Lande litt er unter Fieberanfällen und auf dem Schiffe schwächte ihn die Seekrankheit, sodaß seiner Natur keine Pause der Erholung vergönnt war. Wohl fühlte er, welche zunehmende Gefahr ihn bedrohte und wie gut der Rath war, daß er entweder schnellstens heimkehren oder auf einige Zeit nach St. Helena oder Madeira gehen sollte. Er aber hielt trotz alledem die äußerste Erfüllung der ihm anvertrauten Aufgabe, der Pflichten gegen das Vaterland für wichtiger, als die Wiederherstellung der Gesundheit und sogar die Erhaltung des Lebens. Kein Zureden und Bitten, kein Hinweis auf das bereits von ihm Geleistete vermochte ihn in seiner Auffassung wankend zu machen.

So schieden wir nach einigen Tagen. Er, um ohne Zagen der wachsenden Gefahr entgegen zu treten; wir in bangen Befürchtungen um sein Wohlergehen. Zur nämlichen Stunde am 24. November verließen wir die Walfischbai. Ein letztes Winken, ein letzter Flaggengruß, und die stattliche „Möwe“ lief unter vollen Segeln nach Norden, während der kleine „Louis Alfred“ hart am Winde nach Südwesten stand. –

Noch fünf Monate lang hat Gustav Nachtigal seine Kräfte[WS 1] im Dienste des Vaterlandes verwerthen können, bis ihn das Schicksal ereilte, das er, der erfahrene Arzt und Reisende, wohl voraussah. Unter der deutschen Kriegsflagge, an Bord der „Möwe“, die ihn an der Küste Afrikas hin und wieder getragen, ist er aus dem Leben geschieden. In treuester Pflichterfüllung bis zum Tode und vollführend, was der Meister geplant, ist er in Wahrheit für das Vaterland gestorben – nicht minder auf dem Felde der Ehre, als Diejenigen, die im Getümmel der Schlacht ihr Leben lassen. Auf der sonnigen Höhe des Ruhmes, verehrt von Allen, die ihn kannten, und bewundert weit über Deutschlands Grenzen hinaus, ist er hinweggenommen worden: ein ganzer Mann, den Keiner je vergessen kann und darf, dem des Vaterlandes Größe und Zukunft das Herz erfüllt.

Und nicht allein ein Vertreter des Reiches war Gustav Nachtigal, dessen Muth und Umsicht, dessen Klugheit und unentwegte Energie das höchste Vertrauen rechtfertigte; er war auch ein Forschungsreisender ersten Ranges, der obenan genannt wird unter den Männern, welchen die Erdkunde die höchsten Ehren zuerkennt. Nicht nur als Entdecker hat er vordem weite unbekannte Räume Afrikas durchmessen, sondern auch als Forscher Länder und Völker mit klarem Blicke geprüft und, was er geschaut und ergründet, der Wissenschaft dargeboten in einem so mustergültigen Werke, daß dieses sein schönstes Monument sein und bleiben wird und allein schon genügt, den Namen Gustav Nachtigal der Nachwelt werth zu machen.

Die Walfischbai.0 Nach einer Originalskizze von Dr. Pechuel-Loesche.

Es war wohl eine sonderbare Fügung des Schicksals, daß jener Mann, der zur allgemeinen Trauer dem afrikanischen Klima erlag, den Boden Afrikas zum ersten Male in der Hoffnung betreten hatte, dort seine Gesundheit zu stärken. Ein Lungenleiden veranlaßte im Jahre 1863 den jungen Militärarzt – Gustav Nachtigal wurde am 23. Februar 1834 zu Eichstätt bei Stendal geboren – nach Algier und Tunis zu gehen. Während seines Aufenthaltes in diesen Ländern sammelte er die hohe Summe von Erfahrungen, die er [380] später mit dem auf deutschen Universitäten erworbenen Wissen in so glänzender Weise verwerthen sollte.

Die Grundlage zu dem schnell emporblühenden Ruhme Nachtigal’s bildete die glückliche Ausführung der schwierigen Mission, nach Bornu vorzudringen und dem dortigen Sultan Geschenke von König Wilhelm zu überbringen. Im Januar 1869 trat er diese Reise an, die sich zu einer der denkwürdigsten afrikanischen Expeditionen gestaltete und von der er erst im Jahre 1875 nach vielen Querzügen durch niemals von einem Europäer betretene Länder des Sudans glücklich in die Heimath zurückkehrte.

Von nun an galt Nachtigal als einer der ausgezeichnetsten Forschungsreisenden, dem Regierungen und gelehrte Gesellschaften hohe Ehrenbezeigungen erwiesen. Als Vorsitzender der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin und als oberster Leiter der deutschen Afrikaforschung förderte er die letztere in rastloser Weise und bestrebte sich, einen Jeden, der ihn um Rath anging, mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit zu unterstützen, während er an seinem Werke „Sahara und Sudan“ arbeitete, dessen Schlußband leider unvollendet geblieben ist.

Von dem Posten des Generalkonsuls des Deutschen Reiches in Tunis, den er seit 1882 bekleidete, wurde er, wie allgemein bekannt, im vorigen Jahre berufen, sich nach der Westküste von Afrika zu begeben, um dort in den neuerworbenen Gebieten die deutsche Flagge zu hissen.

Am 11. April d. J. verließ er, bereits schwer an der Malaria erkrankt, Kamerun. Schon vor der Ankunft auf der Rhede von Lagos nahm, wie die Zeitungen auf Grund amtlicher Mittheilungen berichten, die Krankheit eine ungünstige Wendung, und aus Rücksicht darauf genehmigte Admiral Knorr, welcher ebenfalls vor Lagos anlangte, daß die „Möwe“ sogleich die Reise fortsetzte, um die hohe See zu gewinnen. Das Wetter war gleichmäßig schön und trocken, man konnte deßhalb den Kranken unter einem luftigen Zelt auf Deck lagern; gleichwohl verschlimmerte sich sein Zustand. Am 19. April erkannte er selbst die Gewißheit seines nahen Todes und diktirte seinen letzten Willen. Am nächsten Morgen früh 4½ Uhr verschied er im Beisein des Kommandanten und des Arztes; das Fahrzeug befand sich gerade 100 Seemeilen von Kap Palmas entfernt. Dort, wo bereits im Januar 1856 ein hoffnungsvoller junger deutscher Forscher, Philipp Schönlein, ein Grab gefunden hat, fand am Nachmittage des 21. April die Beerdigung Nachtigal’s statt unter Betheiligung der Officiere und Mannschaften.

Nun ruht der pflichtgetreue echte Sohn der Mark in weiter Ferne, an jenen Küsten, an welchen er der Deutschen Antheil gesichert hat. Auf dem Kap der Palmen ist er in die Erde gesenkt worden, dort, wo vor zwei Jahrhunderten die brandenburgischen Schiffe vorübersegelten, die eine Kolonialpolitik verwirklichen sollten, welche fest zu begründen vorbehalten blieb dem mächtigen Kanzler des geeinten Deutschen Reiches und seinem thatkräftigen Helfer, Gustav Nachtigal.


(Ein Kranz)
Zu dem Bilde von Helene Stromeyer.

Ein Kranz, bei des Tageslichts Scheide,
Geflochten aus blühender Pracht,
Hing über der altgrauen Weide,
Im feuchten Stürmen der Nacht.

5
Im Frühroth die Blüthen zerfallen,

Vom Thauen des Morgens beschwert. –
Sie haben die Nachtigallen
Die klagenden Weisen gelehrt.

Zerrissen, verflattert die Kränze,

10
Gestorben die Blumen im Hag;

Doch wieder, vom Lenze zum Lenze,
Erweckt sie der Nachtigall Schlag.

Wohl dem, wenn ihm Hoffnungen starben,
Das Glück, wie das Abendroth sank,

15
Dem im Bild es sich webt aus den Farben,

Dem die Klage sich löst im Gesang.

Karlsruhe, 27. Mai 1884.  Gustav zu Putlitz.


Plaudereien über Romandichtung.

Von Rudolf von Gottschall.
1.0 Wahrheit und Dichtung im Roman.

Schiller nannte einmal den Romanschriftsteller den Halbbruder des Dichters: in der That ist er nicht heimisch in jenen „Regionen, wo die reinen Formen wohnen“; er hat sich zu viel mit der Welt, mit der Alltäglichkeit einzulassen; er muß in sein Werk viel Stoffartiges mit herein nehmen, was sich nicht künstlerisch modelliren läßt.

Wie sich Wahrheit und Dichtung im Romane verhält, das ist eine Frage, die auch bei modernen freierfundenen Romanen aufgeworfen werden kann. Geistreiche Theoretiker und erfolgreiche Praktiker auf diesem Gebiete behaupten sogar, daß kein echter Romanschreiber dichten kann, ohne wie der Maler und der Bildhauer seine „Modelle“ zu haben. Freilich sitzen sie nicht bei ihm im Atelier, aber sie schweben seiner Phantasie vor. Wir theilen diese Ansicht Spielhagen’s nicht; wir meinen, daß der Dichter aus eigener Machtvollkommenheit, aus seinem eigenen Innern heraus seine Gestalten schafft, daß dies eine Art von Urzeugung

[381]

Ein Kranz.
Nach dem Oelgemälde von Helene Stromeyer.

[382] ist, bei der keine Modelle mitwirken. Natürlich schafft die Phantasie nicht gerade aus nichts; aber wie sie aus einer Fülle von Eindrücken und Charakterbildern, die sie in sich aufgenommen, eine neue lebensvolle Gestalt hervorzaubert: das ist ein geheimnißvoller Proceß, den man erst ergründen kann, wenn man das A und O alles dichterischen Schaffens ergründet hat – das Genie.

Doch auch die zahlreichen Anhänger der Modelltheorie werden nicht behaupten, daß man ein Modell mit Haut und Haar in die Romandichtung aufnehmen darf. Es wird doch für die künstlerischen Zwecke zurecht gemacht, ganz wie der Maler, der ein Modell auf der Straße findet, es als Studienkopf portraitirt, aber dann für sein Gemälde nur einzelne Züge desselben, nur etwa die Augenbraue und die Augen, die Stirn und die Nase verwerthet, im Uebrigen die Physiognomie nach seinen künstlerischen Absichten ergänzt. Die Wahrheit spielt dabei gar keine Rolle, die Dichtung ist die Hauptsache. Es giebt zwar Autoren, welche ihre Modelle gleichsam lebend einfangen und dieselben so wie sie sind in ihre dichterischen Menageriekasten sperren; doch diese Sorte von Dichtern hat ihren Ruhm dahin. Nicht blos ihnen kann es indeß begegnen, daß ein solches „Modell“ sich selbst erkennt und dagegen protestirt, vor aller Welt zur Schau gestellt zu werden; auch die künstlerisch gestaltenden Romanschriftsteller, die nach Modellen arbeiten, sind nicht sicher davor, daß das Geschöpf sich gegen seinen Schöpfer auflehnt, daß sich irgend ein athmendes Wesen in der dichterischen Maske zu erkennen glaubt und gegen die Ausbeutung seines poor self für die Leihbibliotheken reklamirt: es tritt dies besonders dann ein, wenn die Aehnlichkeiten, die der Autor seinem Modell abgelauscht, größer sind, als die Unähnlichkeiten, die er in das Bild hineingeheimnißt hat. Vielen Modelldichtern sind schon derartige Unannehmlichkeiten passirt. Wenn freilich ein Romanautor so weit geht, wie Zola in „Pot-Bouille“, daß er sogar den Namen eines Juristen, der in dem Stadtviertel wohnt, wo sein Roman spielt, einem Charakter in demselben zueignet, so darf man sich nicht wundern, wenn er deßhalb einen Proceß verliert und genöthigt wird, seinen Justizbeamten umzutaufen: die vorsichtigeren Schriftsteller werden vielleicht einmal brieflich zur Rede gestellt, aber in einen solchen Proceß um „des Esels Schatten“ nicht verwickelt werden.

Neben dem freierfundenen socialen Roman haben wir aber auch einen zeithistorischen, und hier wird die Frage nach dem Verhältniß zwischen Wahrheit und Dichtung eine brennende; denn das Märchen braucht ein duftig Florgewebe, die Tagespolitik aber hat ein ganz unverschleiertes Gesicht. „Ein politisches Märchen“ erscheint als ein Widerspruch – und doch sind solche Märchen gedichtet worden. Ohne Frage gehört dazu der „Endymion“ jenes Lord Beaeonsfield, gegen dessen energische und großartige Politik die Krämer- und Quäkerpolitik Gladstone’s sehr in den Schatten tritt. Beaconsfield läßt weltgeschichtliche Charaktere in einer Draperie erscheinen, bei welcher die Geschichte zu kurz kommt, aber auch die Dichtnug wenig gewinnt, indem sie nur Räthsel aufgiebt, die sich nicht lösen lassen. „Prinz Napoleon“ erscheint in „Endymion“ als ein wahrer Märchenprinz; er ist es und ist es wieder nicht; die Gestalt läßt sich nicht festhalten; wenn sie es nicht ist, hat sie überhaupt keine Bedeutung; wenn sie es ist, so stimmen ihre Schicksale im Romane nicht mit ihren Lebensschicksalen. Beaconsfield liebt solche märchenhafte Arabesken für seine Zeitromane; doch sie geben kein ruhiges, sondern nur ein hin- und herzitterndes Bild. Der Scharfsinn der Leser will errathen und fühlt sich doch unbefriedigt durch die einzig mögliche halbe Lösung; deßhalb fehlt jenes Gefühl ruhiger Sicherheit, welches durch harmonische Kunstschöpfungen hervorgerufen wird und ohne welches ein reiner Kunstgenuß nicht denkbar ist.

Einer der talentvollsten neufranzösischen Romanschriftsteller, Alphonse Daudet, hat in ähnlicher Weise wie Beaconsfield das zeitgeschichtliche Märchen gepflegt; seine Helden sind Phantasiehelden, aber ihre Modelle kennt ganz Frankreich. Auch hier ein unlösbarer Widerspruch. Roumestan ist Gambetta, der schönrednerische Deputirte, der aller Welt alles Mögliche verspricht, ohne es je zu halten, ein Südländer von Kopf zu Fuß, der zuletzt der einflußreichste Mann in der Regierung Frankreichs wird; er ist Gambetta und ist es wieder nicht; denn Roumestan ist ja ein Legitimist, und Vieles, was er erlebt, paßt durchaus nicht auf das Modell Gambetta. Dennoch kennt man ja die tonangebenden Staatsmänner Frankreichs und weiß, da der Roman in der neuesten Zeit spielt, daß es keinen andern Politiker gegeben hat, der das Charakterbild Roumestan’s deckt. Dasselbe gilt von dem kaiserlichen Minister Rougon in Emile Zola’s großem Romancyklus; man kennt die Minister des dritten Napoleon; ein Rougon befindet sich nicht unter ihnen. Sollte aber Rouher dem Romandichter als Original vorgeschwebt haben, so decken sich wieder nur einzelne Züge, nicht das ganze Bild, weder der Charakter noch die Lebensschicksale. Wer ist der König Christoph von Illyrien in Daudet’s Roman „Die Könige im Exil“? Welcher Zauberspruch verwandelt ein österreichisches Kronland in ein selbständiges Königthum? Und das spielt alles in neuester Zeit: nicht blos die Abenteuer des entthronten Fürsten in Paris, sondern auch der Freischarenzug zur Wiedereroberung seines Thrones, der Kampf und die Niederlage desselben. Sollte man nicht glauben, eine Fee habe alle Zeitungsspalten verzaubert, daß lauter Märchen aus ihnen hervorquöllen, daß über alle Telegramme sich ein gespenstiger Flor legte, daß Namen und Thatsachen vor den Augen wie in einem Hexentanze vorüberwirbelten?

Doch neben diesem pseudonymen Zeitroman mit seinen Märchen und Räthseln giebt es einen andern, in dem schon bei Beginn der Handlung die Mitternachtsstunde geschlagen hat, in welcher die Personen ihre Masken abwerfen; freilich, die Gesichter, die dabei zum Vorschein kommen, sind trotzdem nicht immer die naturwahren, sondern sie sind oft wunderbar geschminkt und tätowirt: es ist dies der Zeitroman der Retcliffe und Samarow; da erschienen noch bei Lebzeiten der Helden die Napoleon und Garibaldi, da erscheinen noch jetzt die Bismarck und Keudell mit offenem Visir, werden mit ihrem vollen Namen eingeführt; da herrscht keine Geheimthuerei, keine Räthselfabrikation; Jedermann weiß, mit wem er’s zu thun hat; doch da tritt wieder ein anderer Mißstand ein. Der Dichter kann seine Personen nicht blos äußerlich photographiren; er muß sie doch auch sprechen lassen, und da legt er ihnen Worte in den Mund, die sie eben nicht gesprochen haben, die sie im besten Falle hätten sprechen können, aber auch jeden Augenblick Lügen strafen dürfen. Das ist keine Lage, in die ein Poet sich bringen darf; dergleichen paßt nur für einen Memoirenschreiber. Lebende Zeitgenossen eignen sich unbedingt nicht zu Romanfiguren. Solche Werke üben eine gewisse Anziehungskraft aus, wenn die Autoren genaue Kenntniß der Verhältnisse besitzen und aus dem Kabinet und aus der Schule plaudern; wenn sie in pikanter Weise Anekdoten zu erzählen und ein wenig den Kammerdiener der großen Herren zu spielen wissen. Das ist aber eine Wahrheit, die mit der Dichtung nichts gemein hat; die dichterische Erfindung kann dabei nur eine untergeordnete oder störende Rolle spielen.

Ganz anders verhält es sich mit dem geschichtlichen Roman und allen seinen Abarten: was der Vergangenheit angehört, gehört zugleich der Erinnerung und ist dadurch in ein dichterisches Licht gerückt. Die Aufzeichnungen der Geschichtschreiber, der Chronisten und Memoirenverfasser können nie erschöpfend sein; sie widersprechen sich oft, und schon die äußerliche Thatsache festzustellen, dazu gehört der Scharfsinn der Geschichtsforscher, und auch dieser Scharfsinn kommt nicht immer zu den gleiche Resultaten. Es giebt auch auf dem Gebiete der Wissenschaft genug geschichtliche Romane, und was früher für feststehende Wahrheit galt, wird von einer späteren Zeit als unhaltbare Erfindung nachgewiesen. Auch über die Motive, welche die Handlungsweise großer Männer bestimmten, herrscht oft Dunkelheit und Zweifel, ja vollständiger Widerspruch bei den gelehrten Fachmännern – wie verschieden nimmt sich das Bild Wallenstein’s aus in der Darstellung verschiedener und sehr gründlicher Geschichtsforscher! Ueber des Friedländers Charakter liegen sie ja in offener Fehde.

Es ist klar, daß, bei den eingeschränkten Grenzen der geschichtlichen Wahrheit, hier die Dichtung ihr Gebiet erweitern darf – und wo es den Tiefblick in geheime Beweggründe, in räthselhafte Falten geschichtlicher Charaktere gilt, da kann sie stets von neuem sich das Lob des alten griechischen Weisen vindiciren, daß sie philosophischer sei als die Geschichte; doch auch außerdem läßt ihr diese ein großes Feld frei, auf welchem die schöpferische Phantasie sich rückhaltlos tummeln darf.

So ist denn der historische Roman seit den Zeiten Walter Scott’s, der die anerkanntesten Vorbilder desselben geliefert hat, mit seiner Mischung von Wahrheit und Dichtung als legitimes [383] Kind epischer Darstellung von der Aesthetik in Gnaden aufgenommen worden und hat sich auch in der Gunst des Publikums befestigt.

Die Wahrheit der Thatsachen muß er respektiren, soweit es sich um feststehende Daten, um die großen geschichtlichen Haupt- und Staatsaktionen handelt, und es wird vortheilhafter für ihn sein, wenn er nicht die großen Charaktere zu den eigentlichen Helden der Erzählung macht, sondern eine freierfundene Gestalt in den Vordergrund stellt und jene nur in entscheidenden Momenten auftreten läßt: sonst sind ihm die Hände zu sehr gebunden; bei der breiten Schilderung, welche die Darstellung des Romans verlangt, muß er sonst zu sehr ins Fahrwasser der Geschichte gerathen, welche für das Bild großer Männer viel fertiges Material, viele unwandelbare Züge und selbst eine reiche anekdotische Ausschmückung gegeben hat.

Was man aber von dem geschichtlichen Roman verlangen darf, das ist Treue des Kolorits, nicht blos des äußern, sondern auch des geistigen, und da dasselbe eine gewisse Breite der Ausführung verlangt, so sollten geschichtliche Zeiträume, welche für die Gegenwart kein Interesse, welche keine ihren Bestrebungen verwandte Züge darbieten, gar nicht zum Hintergrunde des Romans gewählt werden. Sonst erhalten wir den gelehrten Roman mit seinen langen archäologischen Kapiteln, und werden in einem Museum spazierengeführt, während wir dem freien Fluge der dichterischen Muse folgen wollten.

Eine Abart des geschichtlichen Romans ist der litteraturgeschichtliche – und er muß nach denselben Grundsätzen beurtheilt werden. Bei der Vorliebe der Deutschen für Litteraturgeschichte hat dieser Roman bei uns große Verbreitung gefunden: schon die Romantiker schrieben ihre Shakespeare- und Camoens-Novellen; etwas später wurden unsere Klassiker selbst zu Helden solcher Erzählungen gemacht; wir erinnern an Otto Müller’s „Bürger“ und an „Schiller’s Heimathjahre“ von Hermann Kurz, zwei sehr beachtenswerthe Werke, während Hermann Klenke und Heribert Rau in ihren zahlreichen romanhaften Biographien die Klassiker für den Bedarf des Leihbibliothekenpublikums einschlachteten, ähnlich wie das Luise Mühlbach mit den Friedrichs, Josephs und Napoleons gethan. Es handelt sich bei diesen Schriften, wenn wir einen Tadel aussprechen, nur um die lässige und zwitterhafte Form. Die Berechtigung, unsere Dichter und Denker in ein romanhaftes Gewand zu kleiden, kann auch ihnen nicht abgesprochen werden. Der Roman von Hermann Kurz, welchem Laube seine „Karlsschüler“ nachgedichtet hat, beweist zur Genüge, daß sich auf diesem Gebiete bei einer richtigen Mischung von Wahrheit und Dichtung schätzenswerthe Werke von litterarischer Bedeutung schaffen lassen.

Dagegen ist aber neuerdings ein fulminanter Protest erhoben worden; er galt einer Erzählung, welche diese Zeitschrift brachte: „Brausejahre“, Bilder aus Weimars Blüthezeit von A. von der Elbe; sie wurde urbi et orbi als ein Verbrechen der beleidigten Majestät unserer klassischen Epoche denuncirt und ein kritischer Strohwisch aufgesteckt, der alle Journale der Welt warnen sollte, diese verbotenen Pfade zu wandeln. Es ist hier nicht der Platz, diese Erzählung vom ästhetischen Standpunkte aus zu beurtheilen; es handelt sich nur um das Princip, ob in litterargeschichtlichen Novellen und Romanen eine Mischung von Wahrheit und Dichtung als gänzlich unzulässig in die Acht zu erklären sei, und ob unsere Dichter und die Personen der gesellschaftlichen Kreise, in denen sie sich bewegten, wie man auf den Südsee-Inseln sagt, „tabu“ seien, sodaß jede Berührung des Unberührbaren verhängnißvoll und verderblich für die Novellisten würde, die sich dieselbe zu schulden kommen ließen.

Natürlich geht dies „Tabu“, diese Heiligsprechung von den Priestern aus – und so ist es auch hier. Fort mit dem profanen Volke aus den Tempeln und von den Altären, wo sie opfern! Ein Friedrich der Große, ein Napoleon darf von den Romanschreibern in freierfundene Abenteuer verstrickt werden; dagegen regt sich kein Widerspruch, aber ein Goethe – das ist ein Attentat auf die Goetheforschung, die mit so vielem, gewiß verdienstlichem Eifer die Thatsachen jener Epoche festzustellen sucht, das ist ein Angriff auf das Monopol derjenigen, welche den Goethe-Kultus als Lebensaufgabe betreiben. Da begiebt es sich, daß an diese Hohenpriester Fragen gestellt werden, ob alles wahr sei, was in jener Erzählung stehe, und mit bedauerlichem Achselzucken müssen sie dann erwidern: vieles darin sei schnöde Erfindung und es sei ein Frevel, mit einem Dunstkreise neuer Mythen das Gestirn zu umgeben, das sie mit ihren kritischen Teleskopen durchforscht hätten.

Gegen jede Ausnahmestellung, gegen jedes Monopol zu protestiren ist das Recht einer gesunden und freisinnigen Aesthetik. Entweder darf überhaupt der geschichtliche Roman nicht Dichtung und Wahrheit vermischen, mag er einen Helden nehmen, welchen er immer sich wählen will – oder wenn er’s darf, so haben ein Goethe und Karl August kein Vorrecht vor den Helden der politischen Geschichte – und was dem einen recht ist, das ist den andern billig. Vor allem aber hegen wir noch begründete Zweifel, ob die Goethe-Forschung selbst eine so vollkommene Klarheit über jene Epoche verbreitet hat, daß die Vertreter derselben ein Recht haben, sich vor jeder andern Auffassung zu bekreuzigen und Bilder, die nicht in ihrem Guckkasten zu finden sind, als Zerrbilder zu bezeichnen. Trotz aller Wäschkörbe voll Wäschzettel, welche überflüssiger Weise angesammelt worden sind, herrscht doch noch über einige gar nicht unwichtige Punkte, die das Leben und Treiben in jener klassischen Epoche betreffen, große Unsicherheit – und die Gelehrten widersprechen sich selbst in einer oft auffallenden Weise. So z. B. was das Verhältniß zwischen Goethe und Frau von Stein betrifft, welches übrigens von A. von der Elbe ganz in der kanonischen Weise nach dem Evangelium Düntzer als ein rein platonisches hingestellt worden ist, während andere Forscher dies als einen Mißgriff bezeichnen müßten und wir selbst mit ihnen der Ansicht sind, daß eine solche Auffassung wenig in Einklang steht mit dem Charakter und den Lebensanschauungen des Dichters und mit den späteren Eifersüchteleien und der Verbitterung der Frau von Stein über sein Verhältniß zur Vulpius. Da sind Berge von Briefen aufgehäuft und herausgegeben worden – aber glauben denn die Herren, daß alles in den Briefen steht, was sie gern wissen möchten? Es läßt sich nicht einmal alles zwischen den Zeilen lesen. Doch sie haben ja das Monopol: von Karl August, von Herzogin Luise, von Fräulein Göchhausen, von Corona Schröter darf sich Niemand ein anderes Bildniß und Gleichniß machen, als dasjenige, das die Fabrikmarke ihrer Goethe-Kritik trägt. Uns fällt dabei immer aus Gutzkow’s „Maya Guru“, seinem tibetanischen Jugendroman, die köstliche Geschichte von den tragikomischen Schicksalen des Besitzers einer Götzenmanufaktur ein, der wegen freigeistiger Abweichung von der Traditiou der göttlichen Physiognomien, besonders was die Proportion zwischen Mund und Nase betrifft, zum Tode verurtheilt werden soll. So sind die Proportionen und Maßstäbe für jedes Gesicht von den Hütern unserer klassischen Epoche gegeben – und wehe dem, der davon abzuweichen wagt!

Mögen sie nach der Wahrheit streben, die ihnen erreichbar ist, soweit es die aufgefundenen Dokumente und die eigenen Brillen zulassen, durch welche mehr oder weniger jeder auch erkannte Wahrheiten ansieht; doch mögen sie die Mischung von Dichtung und Wahrheit in freien Phantasie-Erfindungen auf geschichtlicher Grundlage nicht gleich in den Abgrund der Hölle verdammen, wenn ihre Studienkreise dabei berührt werden, oder mögen sie dann wenigstens so konsequent sein, über alle Dichter historischer Romane als Verfälscher geschichtlicher Wahrheit ohne Ausnahme den Stab zu brechen.


Blätter und Blüthen.

Der Berliner Tattersall. (Mit Illustration S. 373.) Im Jahre 1795 gründete Richard Tattersall in der Hauptstadt des sportfreudigen England ein Etablissement mit Versammlungszimmern für Pferdeliebhaber und einem Hofraume zur Ausstellung von Pferden. Das Unternehmen fand allgemeinen Anklang, bot bald den Mittelpunkt für Kauf und Verkauf von Pferden und Wagen und bildete eine Art Pferdebörse, auf welcher auch allerlei Wetten abgeschlossen und liquidirt wurden. Durch die Nachkommen Richard Tattersall’s wurde das Etablissement bedeutend erweitert und trug für alle Zeiten den Namen seines Gründers. Auch für ein ähnliches deutsches Institut, das in Berlin besteht, wurde diese englische Benennung beibehalten. Viele Leute, denen die Entstehungsgeschichte des Tattersalls unbekannt ist, sprechen und schreiben trotzdem konsequent von einem „Tattersaal“, ohne sich über die Bedeutung des eigenthümlich klingenden Wortes Rechenschaft ablegen zu können.

Aus dem oben Gesagten dürfte Jedermann klar sein, daß in diesem Etablissement der „Saal“ wohl das Nebensächliche ist und Stall und [384] Reitbahn die Hauptsache bilden. Diese finden wir auch auf dem lebendigen Gruppenbilde von Aurel Zimmermann wieder, das unseren Lesern ein interessantes Stück Berliner Lebens vor Augen führt.

Der Berliner Tattersall, der zwei Etablissements, in der Straße Schiffbauerdamm und in der Georgenstraße, besitzt, könnte seiner Bedeutung nach auch „deutscher Tattersall“ genannt werden, denn er ist der Centralpunkt für Pferdeliebhaber aus dem ganzen Deutschen Reiche.

Während nun Paris und London in ihren Tattersall-Stallungen fast ausschließlich Pferde beherbergen, welche in öffentlicher Auktion versteigert werden sollen, ist der Betrieb hier ein bedeutend vielseitigerer. In den beiden Berliner Etablissements findet man meist über 200 Pferde, welche zum Theil Privatleuten gehören, die ihre Thiere gut unterbringen und auch die Reitbahnen benutzen wollen, zum Theil des Verkaufes halber eingestellt worden sind.

Aber der Tattersall hält auch eigene Pferde, auf denen die Stallmeister Unterricht ertheilen und die zum Ausreiten im Freien vermiethet werden. Namentlich im Winter erhält man einen Begriff von der Großartigkeit des Tattersalls und lernt seine Vielseitigkeit kennen. Bei Gaslicht, in frühester Morgenstunde, werden die Verkaufspferde geritten, später erscheinen die Herren auf ihren eigenen Pferden, dazwischen wird Unterricht ertheilt, oder es werden Pferde von Käufern probirt. An mehreren Tagen der Woche spielt, von zwei Uhr ab, eine vortreffliche Kapelle und dann scheint es, als ob Alles, was Sportliebhaber ist, sich hier ein Stelldichein gegeben hätte. Auch das schöne Geschlecht ist stets zahlreich vertreten, und man glaubt in einen Cirkus mit seinem bunten Leben versetzt zu sein, wenn man von den Tribünen herab in das lebhafte Treiben hinabschaut. Hier bäumt sich ein schneeweißer Renner und macht, von den Sporen unsanft berührt, einen Seitensprung, dort jagen zwei Füchse, Kopf an Kopf, in gleichmäßigem Tempo vorüber. Das Geräusch des Lederzeuges und der sich fest auf den weichen Erdboden eingrabenden Hufe, ein „he! he!“ oder ein Lachen dringen in eigenartiger Zusammensetzung an unser Ohr. Wir sehen die Schleier biegen und die graziösen Frauenkörper sich wiegen, beobachten das Temperament jedes einzelnen Thieres, wie es sich in Gangart und kleinen Eigenheiten bemerkbar macht. Wie genau hält jedes Pferd mit seinem musikalischen Sinn die Takte inne und fügt sich doch der leitenden Hand zugleich!

Zum Schluß setzen die Thiere auch zum Galopp an und das Hürden-Ueberspringen beginnt. Es ist meist in der Rennbahn so voll, daß es wie ein Wunder erscheint, wenn fast nie ein Unglück passirt, und doch zeigt unser Bild, daß eine weniger geschickte Hand auch einmal ein Thier zum Straucheln bringt.

Dem Publikum wird in der bereitwilligsten Weise der Zutritt zu den Tribünen gestattet, um dem Vergnügen zuzusehen und sich ein Urtheil über die Leistungen der einzelnen Reiter zu bilden. Später, bis 11 Uhr Abends, reiten dann noch geschlossene Gesellschaften unter der Leitung eines Stallmeisters. Diese Gesellschaften bestehen fast ausschließlich aus Kaufleuten, denen bei Tage die Zeit mangelt, sich diesem anziehenden und gesunden Sport hinzugeben.


Jugendspiele. Der Sommer ruft unsere Jugend wieder hinaus ins Freie, wo Alles grünt und blüht; auf den Wiesen und Spielplätzen wird’s wieder lebendig, und selbst die kleineren Kinder tummeln sich wieder im warmen Sonnenschein. Da heißt es nicht mehr: „Wollen wir spielen?“ Diese Frage ist längst selbstverständlich mit einem „Ja“ entschieden. Es soll ja so viel in der Schule gelernt, so lange still gesessen sein. Es ist ja so schwer, bei den häuslichen Arbeiten geduldig auszuharren, während draußen der Himmel lacht und die Vögel singen. – Aber endlich ist die Pflicht gethan, und jetzt winkt die Erholung. Also, hinaus ins Freie! „Laßt uns spielen!“ „Mit wem?“ – Zunächst mit den Altersgenossen, die schon bereit stehen. Aber auch Erwachsene, die Eltern, der Lehrer, der und jener Kinderfreund betheiligen sich gern; man ordnet an, überwacht, bringt zu rechter Zeit Abwechselung hinein und sieht überhaupt selbst im kindlichen Spiele den Nutzen für Auge und Ohr, für Blutumlauf und Muskelkraft, für Körper, Geist und Charakter.

Da kommen eben zwei Büchlein so recht zu passender Zeit. Das eine, von einem Leipziger Lehrer, L. Mittentzwey, betitelt sich „Das Spiel im Freien“ (Leipzig, R. Merseburger). Angeregt durch die Spielgärten des dortigen Schreber-Vereins, die der Jugend viel Genuß gewähren, giebt der Lehrer hier für Jeden, der gern Spiele leiten und arrangiren möchte, eine Anleitung. Ein theoretischer Theil erörtert den Nutzen des Spiels, das im Wechsel zwischen Arbeit und Erholung bei unseren kleineren und erwachseneren Kindern Frohsinn, Heiterkeit, Gewandtheit und Thatkraft weckt, das Sinn für das Gesetzmäßige bildet, harmlose, edle Gesinnungen fördert und so überaus bedeutungsvoll für das spätere Leben ist. Der praktische Theil giebt dann die Beschreibung von Ball-, Lauf- und Fangspielen. Kampf-, Ziel- und Wurfspiele schließen sich an, und den Schluß bilden die Singspiele, denen die Noten zu den einfachen Liedern beigefügt sind.

Ein Thüringer Lehrer, Constantin Kümpel in Lauscha, ist der Verfasser der anderen Schrift: „Das Spiel der Jugend“ (Hildburghausen, F. W. Gadow und Sohn), die einem Berichte auf einer Lehrerkonferenz in Sonneberg, wo Herr Kümpel seine Schüler die Spiele vorführen ließ, ihr Entstehen verdankt. Dem guten Willen zur Anordnung von Jugendspielen fehlt oft die Kenntniß. Hier den Lehrern und Erziehern Unterweisungen und Winke zu geben, ist dem Verfasser durch Beschreibung, zum Theil auch bildliche Darstellung der Spiele für die verschiedenen Altersstufen gut gelungen. Vom einfachsten Kinderspiel bis zum Croquet und Fußball ist Alles vertreten.

Auf die Frage: „Was spielen wir?“ ist also eine Fülle von Antworten für Groß und Klein, für Knaben und Mädchen bereit. Nun denn!

„Laßt nur die Kinder spielen,
So lang’ sie froh und frei;
Bringt erst die Arbeit Schwielen,
Ist’s mit dem Spiel vorbei.“

Dr. L. Fürst.     

Der Wortschatz einer Sprache. Marsh giebt an, daß die Zahl der bei guten Schriftstellern und richtig Sprechenden gebräuchlichen englischen Worte, einschließlich der Ausdrucke in Wissenschaften und Künsten, wahrscheinlich nahe an 100000 beträgt. Jedoch kommt ein großer Theil dieser Worte in dem gewöhnlichen Gebrauche des täglichen Lebens nicht vor. Berühmte englische und amerikanische Redner verfügten gelegentlich über etwa die Hälfte dieser ungeheuren Wortfülle, obwohl sie gemeinhin sich mit sehr viel geringerem oratorischen Aufwande begnügten. Nur wenige Schriftsteller oder Redner wenden mehr als 10000 Worte an, gewöhnliche Menschen von geistiger Durchschnittsbegabung kaum mehr als 3000 bis 4000. Sollte ein Gelehrter ohne vorherige Prüfung diejenigen Autoren nennen, welche über den reichsten englischen Sprachschatz verfügen, so würde er wahrscheinlich den vielseitigen Shakespeare und den Allwisser Milton anführen und doch kommen in allen Werken des großen Dramatikers nicht mehr als 15000 und in Miltons Gedichten nicht über 8000 verschiedene Worte vor. Das Alte Testament wendet 5642 Worte an. Sämmtliche ägyptische Hieroglyphenzeichen betragen nicht mehr als 800 und das ganze italienische Gebrauchsvokabularium ist kaum ausgedehnter. B. R.     


Herzliche Bitte. Seit länger als 20 Wochen herrscht in der Familie des Lehrers Arndt in Reckenthin, Kreis Ost-Prignitz, eine mörderische Krankheit, der Typhus. Zuerst legte sich eine erwachsene Tochter, darauf die Ehegattin, dann Arndt selbst, zuletzt eine zur Pflege der Kranken herbeigeeilte Tochter. Selbst noch todtkrank, mußte Arndt es erleben, daß seine Ehefrau, die Mutter seiner sieben noch unversorgten Kinder, durch den Tod von seiner Seite gerissen ward. Schon vor diesen Krankheiten mit schweren Sorgen um die Existenz seiner zahlreichen Familie ringend, steht Arndt jetzt vor einer trüben und dunklen Zukunft. Die Rechnungen für Aerzte und Apotheke belaufen sich allein auf weit über 300 Mark. Hat nun auch die königliche Regierung dem schwergeprüften Manne auf meinen Vorschlag eine Unterstützung gewährt, so bleiben doch Noth und Bedrängniß des Unglücklichen noch immer so groß, daß, wenn derselbe je wieder seines Amtes mit Freudigkeit warten soll, ihm ausgiebigere Hilfe zu theil werden muß. Wohlan Brüder und Freunde des Lehrerstandes, helft mit, damit ich dem braven Lehrer Arndt in Eurem Namen sagen kann: „Sieh, die Liebe hört nimmer auf!“

Kuhsdorf bei Pritzwalk im April 1885.
Ramdohr, Pastor. 
Vikar für die Parochie Reckenthin. 


Allerlei Kurzweil.


Die Treppe als Wegweiser.

Die durch den Teppich verdeckten mittleren Buchstaben der sieben, auf den Treppenstufen stehenden Wörtlein sagen, zu wem die Treppe führt. Die sieben Wörtlein nennen, jedoch in anderer Reihenfolge: einen Gebirgszug, einen Fluß, einen Kanton der Schweiz, zwei Vögel, einen Schauspielabschnitt, einen Papst.


Kleiner Briefkasten.

Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.

J. M. in Wien. Wenden Sie sich an die medicinische Fakultät der betreffenden Universität, mit der Bitte um nähere Auskunft.

M. B. Das betreffende Buch beziehen Sie durch jede Buchhandlung.

A. H. in A., Uckermark, v. d. W. in Wien, J. T. Nicht geeignet.


Inhalt: Trudchens Heirath. Von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 369. – Gustav Nachtigal. Portrait S. 369. – Eine Verschwörung. Von Johannes Scherr (Schluß). S. 374. – Ein letztes Zusammentreffen mit Gustav Nachtigal. Von Dr. Pechuel-Loesche. S. 378. Mit Abbildungen S. 378 und 379. – Ein Kranz. Gedicht von Gustav zu Putlitz. S. 380. Mit Illustrationen S. 380 und 381. – Plaudereien über Romandichtung. Von Rudolf von Gottschall. 1. Wahrheit und Dichtung im Roman. S. 380. – Blätter und Blüthen: Der Berliner Tattersall. S. 383. Mit Illustration S. 373. – Jugendspiele. Von Dr. L. Fürst. – Der Wortschatz einer Sprache. – Herzliche Bitte. – Allerlei Kurzweil: Die Treppe als Wegweiser. – Kleiner Briefkasten. S. 384.



Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Kräft0