Die Gartenlaube (1893)/Heft 37

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[613]

Nr. 37.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



„Um meinetwillen!“

Novelle von Marie Bernhard.
 (4. Fortsetzung.)

Als Oberlehrer Claassen seine Jüngste auf dem Arm seiner Gattin sah, eilte er mit strahlendem Gesicht auf die beiden zu. „Hurra, die Grete!“ rief er fröhlich, nahm die Kleine, die ihm mit allen Gliedern entgegenzappelte, und schwang sie hoch durch die Luft. „Du Taugenichts – Du Unband – Du loser Strick! Mehr, immer mehr? Wir gehen doch noch ’mal unter die Kunstreiter, ich seh’ es kommen, wir verrathen eine ganz bedenkliche Neigung zu körperlichen Kraftübungen!“

„Ach Gott, Gustav,“ unterbrach ihn seine Frau, „laß’ doch das Kind, es ist so schon wild genug mit den drei Jungen! Ich bin so in Sorge –“

„Theures Weib, gebiete Deinen Thränen! Was denn nun wieder für Sorgen? Wirf sie getrost auf meine starken Schultern, ich fahr’ damit ab wie mit der Grete. Reiß’ mir nicht die Haare vom Kopf, Wildfang! Na, also – heraus damit!“

„Ach, denk’ Dir, die Eleonore von Schmieden, vielmehr ihre Mutter, hat die Pension aufgekündigt, sie soll schon zu Neujahr –“

„Herrlich, mein Frauchen, prachtvoll! Ist nicht die Eleonore von Schmieden jederzeit das schwarze Schaf unseres sonst mustergültigen Pensionats gewesen und war nicht ihre Mutter, mit Respekt zu vermelden, eine alte Gans, die uns hundertmal mit ihren lächerlichen Anmaßungen das Leben sauer gemacht hat?“

„Das wohl, das schon – aber nun so schnell – es ist ja kein Gedanke daran, daß ein Ersatz …“

„Hier haben wir ihn!“ Der Oberlehrer schlug mit der flachen Hand so kräftig auf den Brief, daß er mitten durch riß. „Hier in diesem verrückten Brief meines alten Gregory steckt der Ersatz drin! Hör’ mir zu! Grete, lauf’ spielen – Du kannst den großen Atlas ansehen; wenn Du eine Seite entzweireißt, kriegst Du auf die Finger! Also hier: junge Dame seiner Bekanntschaft, alter Adel, arm, Malstudien behufs späteren Erwerbs – lieber Gott, was will sie damit erwerben? – alte adelsstolze Großmutter, sehr schwierig zu behandeln, soll nichts von Sparen und Geldverdienen hören, man soll ihr schreiben, wie wenn die Enkeltochter ein reiches Mädchen wäre, das etwa nur zum Vergnügen … na, die Alte hat also einen Sparren zu viel, das ist sicher. Daß Gregory sich zu solchen Geschichten hergiebt!“

„Ach, Gustel, das ist ja alles egal – wenn ich einen Ersatz bekäme –“

„Bekommst Du! Hier steht es doch schwarz auf weiß! Wenn wir der verdrehten alten Schraube den Willen thun –“

„Wie heißt sie denn?“

„Die Alte? Wart’ mal, hier: verwitwete Generalin, Excellenz von Guttenberg.“

„Bei uns zu Hause war zuweilen von einer Familie von Guttenberg die Rede, die war aber sehr reich!“

„Wird ein anderer Zweig gewesen sein, ein grüner, während dies vermuthlich ein dürrer ist! Das junge Fräulein heißt Annaliese.“

„Solch hübscher Name!“

„Natürlich, der ganze alte Dessauer und seine Liebste stehen einem da vor Augen! Was thut übrigens der Name? Name ist Schall und Rauch – und so weiter.“

„Und wann will sie kommen?“

„Ja, denk’ Dir, noch vor dem Weihnachtsfest! Scheint es ungeheuer eilig zu haben, scheint es gar nicht erwarten zu können, die Welt als eine zweite Rosa Bonheur zu verblüffen. Ich werde mich also sofort nach meinem wohlverdienten Mittagsschlaf niedersetzen und, ehe ich meine Tertianer-Aufsätze

Von der Weltausstellung in Chicago: Die Wasserburg im „Deutschen Dorf.“
Nach einer Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[614] korrigiere, den diplomatischen Brief an die merkwürdige Großmutter verfassen. Hoffentlich hat Paul mir die Adresse – ja, hier steht sie, und hier haben wir auch noch eine Nachschrift: ‚Vielleicht freut es Dich und Deine Frau ein wenig, wenn ich Euch bald nach Neujahr meinen Besuch ankündige – ich muß wieder nach Litauen, und daß ich damit einen längeren Aufenthalt in Königsberg verbinde, versteht sich wohl von selbst. Vale‘ – und so weiter! Dieser Duckmäuser! Das schreibt er so ganz beiläufig zuletzt! Muß wieder nach Litauen! Sieh’ mal! Ob wir uns freuen! Was meinst Du, Melly? So viel gute Bekannte und angenehme Kollegen ich auch habe, mein Freund ist doch bloß immer dieser gewesen!“

„Ach, Gustav, ich bin so froh, daß Gregory kommt – und auch über die neue Pensionärin, obgleich man da nie wissen kann, was man übernimmt! Wenn ich an Eleonore von Schmieden denke –“

„Na, solch ein Grasaff’ wie die wird unser neuer Stern am Himmel der Kunst doch nicht sein!“

„Schreibt Paul denn gar nichts über ihr Aussehen, ihr Wesen? Er kennt sie ja, da müßte er es doch thun!“

„Er müßte es, aber er thut es nicht. Der ganze Brief ist fürchterlich einsilbig gehalten, nur über die verrückte Großmutter verbreitet er sich des näheren, die legt er uns warm ans Herz! ‚Was die junge Dame betrifft, so werdet Ihr ja selbst sehen und urtheilen,‘ sagt er hier. Ja, so klug wären wir am Ende auch! Nun bitt’ ich mir aber ein freundlich lachendes Gesicht aus und einen Kuß für meine guten Nachrichten. So, das lob’ ich mir! Ob es bald ein Mittagessen giebt? Ich hab’ mich schon heiser geredet –“

In diesem Augenblick erhob sich ein Gepolter hinter der Thür, die drei Heinzelmännchen stürmten herein und riefen im Chor: „Angerichtet! Angerichtet! Die Suppe steht auf dem Tisch!“

„Zu den Waffen!“ kommandierte der Hausherr. Damit griff er seine Grete vom Boden auf und setzte sie auf seine Schulter, bot seiner kleinen Frau ritterlich den Arm und überschaute mit einem leuchtenden Blick seine Truppen.


6.

In B. war soeben die Parade beendet. Auf dem schönen weiten Leopoldplatz wogte es von Uniformen – Militär, Militär, soweit das Auge reichte! Dazu das köstlichste Wetter: ein ganz leichter Frost, ein klein wenig Schnee, der die entlaubten Bäume rings um den Platz wie mit Streuzucker überpulvert hatte, und eine freundliche Sonne, die über all die hübschen Uniformen hinweglachte, sich in den blanken Knöpfen spiegelte und die Helme wie Gold funkeln machte. Langsam wanden sich ein paar Equipagen durch die dichten Gruppen; die schönste unter ihnen gehörte ohne Zweifel der alten Excellenz Guttenberg. Schon allein ihr Kutscher war eine Sehenswürdigkeit – ein bärtiger Riese von überwältigender Würde. Er regierte die prachtvollen schweren Braunen, mit denen die alte Gnädige stets fuhr – die junge Gnädige hatte zwei schlanke feurige Rappen ohne jedes Abzeichen – mit tadelloser Geschicklichkeit, jeder Zoll ein hochherrschaftlicher Kutscher; sein vielbewunderter Patriarchenbart fiel ihm auf die halbe Brust nieder und erhöhte nur noch die Würde seines Aussehens. Martin saß mit gekreuzten Armen neben ihm auf dem Bock, auch er vom Scheitel bis zur Sohle ein vollkommenes Bedientenexemplar.

Die alte Excellenz lehnte in ihrem Zobelpelz in den Seidenkissen und erwiderte huldvoll nach rechts und nach links die vielen Grüße, die ihr zutheil wurden. Neben ihr, sehr reizend, eine duftige lange Boa von weißen Straußenfedern um den Hals, ein Mützchen von dunkelrothem Sammet keck auf dem Kopf, saß Annaliese und spähte ungeduldig vorwärts, ob denn gar keine Aussicht sei, einmal aus diesem Dickicht von Offizieren herauszukommen. Vergebens! Wohin sie sah, flogen weißbehandschuhte Hände an den Helmrand, grüßten respektvolle und erfreute Augen, die Säbel und Sporen vollführten das ihr so wohlbekannte Geklirr, und jeden Augenblick mußte sie erwarten, daß der Wagen stillhielt und ihre Großmutter irgend einen ihrer „Adjutanten“ ausführlich begrüßte.

Diese „Paradefahrten“ waren ihr früher so hübsch erschienen, hatten ihr Vergnügen gemacht – was hatte ihr nicht Vergnügen gemacht vor drei, vier Monaten? – jetzt verursachten sie ihr nur Pein, und während sie den Freundinnen zunickte, die gleich ihr in ihren Wagen saßen oder zu Fuß vorbeipromenierten, um sich die Osffiziere anzusehen und von ihnen angesehen zu werden, hatte sie nur den einen Wunsch: „Wär’ ich erst wieder zu Haus! Wer weiß, wen man noch trifft und sprechen muß!“

Da richtig! Die Großmama gab das Zeichen zum Halten und winkte freundlich einen schönen lichtblonden Offizier zu sich heran. Annaliese zuckte zusammen. „Warum läßt Du halten, Großmama?“

„Warum soll ich nicht halten lassen? Dort ist ja Steinhausen, ich will ihn doch begrüßen!“ Ganz harmlos sagte das die alte Excellenz. Sie hatte das Zusammenzucken der Enkelin recht gut bemerkt und hielt es für ein günstiges Zeichen. Sie muß sich doch etwas aus ihm machen, für nichts und wieder nichts zuckt man nicht so, dachte sie. Inzwischen war Steinhausen herangekommen; Annaliese grüßte kurz und drehte den Kopf nach der anderen Seite – erschien ihr denn kein Retter?

Gott sei gedankt – da kam es durch die bunten durcheinanderwimmelnden Uniformen daher, schlicht und schwarz, keinen strahlenden Helm auf dem Kopf, sondern nur einen dunkeln breitgerandeten Filzhut, keinen Schleppsäbel unter den Arm hinausgezogen, sondern einen dickleibigen Folianten – es war sonderbar, daß das für Annaliese von Guttenberg, die Soldatentochter, ein so erfreulicher Anblick war! Mit Auge und Hand winkte sie ihn, der sich mit einem höflichen Gruß begnügen und weitergehen wollte, näher heran, und als er es nur zögernd that, setzte sich ein ungeduldiges Fältchen zwischen ihren geraden Brauen fest und ihr funkelnder Blick schien dem Unschlüssigen zuzurufen: „Schneller, schneller – merkst Du denn nicht, daß ich Hilfe brauche?“

Der Professor sah jetzt den blonden Offizier, und nun beschleunigte er seinen Schritt bedeutend; es war ja eine peinliche Lage für das Mädchen, ewig in Erwartung eines Heirathsantrages dazusitzen, den es doch ablehnen mußte!

„Mein lieber Steinhausen, ich muß Sie schelten!“ rief die alte Excellenz mit ihrem liebenswürdigsten Ton. „Warum in aller Welt kommen Sie denn nie mehr zu meinem Montagabend? Ich empfange noch immer am Montag, müssen Sie wissen. Annaliese – – ah so, Du bist es, Paul? Guten Tag!“ Sie hatte sich ahnungslos umgewendet, um ihre Enkelin mit ins Gespräch zu ziehen, und gewahrte nun erst ihren lieben Neffen, der wie aus der Erde emporgewachsen dastand und in demselben Augenblick seine Hand auf den linken Wagenschlag legte, in dem Steinhausen die seine auf den rechten stützte. Das verbindlich lächelnde Gesicht der Generalin wurde kälter, und ihre Begrüßung des Neffen hatte nichts Erfreutes. Sie mochte Paul sonst gern, aber eben jetzt, wo sie eine geschickte militärische Rekognoscierung vornehmen wollte, kam er ihr ganz ungelegen. Daß Annaliese ihn herangewinkt hatte, war ihr zum Glück entgangen.

„Guten Tag, verehrte Tante, wie geht es Ihnen?“ Der Professor lüftete höflich den Hut und lehnte sich gemächlich an den Wagenschlag, augenscheinlich zu einer längern Unterhaltung bereit.

„Ich danke, so leidlich! Aber wir wollen aussteigen, Annaliese, und ein paar Minuten promenieren! – Die Herren kennen sich doch? Nicht? Herr Lieutenant von Steinhausen – mein Neffe, Professor Gregory. So, und nun geben Sie mir den Arm, Steinhausen, Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig!“

„Exzellenz sind zu gütig!“ Der Offizier zögerte einige Augenblicke, um zu warten, bis Annaliese und der Professor in ein Gespräch gekommen waren, was merkwürdig rasch geschah, dann ging er mit der Generalin voran. „Ich weiß ja“ – Steinhausen dämpfte vorsichtig seine Stimme – „daß Excellenz mir stets das gleiche Wohlwollen bewahrt haben, ich habe diese für mich sehr beglückende Thatsache aus verschiedenen Umständen ersehen, und Excellenz dürfen mir glauben, daß ich aufrichtig dankbar dafür bin. Allein ich erfahre von – von – anderer Seite leider so wenig Ermuthigung, daß ich es in der That nicht wagen kann –“

„Aber sagen Sie mir, seit wann ist denn das? Und woran liegt denn das? Es war doch früher anders!“

„Daß es anders gewesen ist, macht mir die Sache noch unendlich peinlicher und schmerzlicher. Hätte ich nie eine Hoffnung hegen dürfen ... aber es wollte mir doch scheinen, als ob eine Zeitlang, wenn auch nicht Erwiderung meines Gefühls, so doch ein gewisses aufkeimendes Interesse, das mich sehr beglückte ... Excellenz verzeihen, wenn ich ganz offen rede –“

„Bitte, lieber Steinhausen! Habe mir das schon lange gewünscht! Aber ich muß meine Frage wiederholen: seit wann ist das, und woran kann es liegen?“

„Ich hatte gerade gehofft, Excellenz würden mir einen [615] Fingerzeig geben können, wie diese mir völlig unerklärliche und unvermuthete Wandlung –“

„Ich? Nein, mein Lieber! Eine alte Frau von siebenundsechzig Jahren ist für ein junges Mädchen von zwanzig nicht die Vertraute. Ich habe wohl einer Persönlichkeit, die ich für geeignet hielt; Auftrag gegeben, das kleine launenhafte Ding auszuforschen . . . aber ich habe diesen Jemand seither noch nicht allein gesprochen, fürchte auch, daß er ebenso klug ist wie wir, denn was junge Mädchen nicht freiwillig sagen wollen, das sagen sie einmal nicht, und wenn man sie auf die Folter spannt. Wer wird aus ihren Ueberspanntheiten klug? Neuester Plan der Kleinen ist nun, fortzugehen und das Malen aus dem Fundament zu erlernen – und wenn sie nicht bald Vernunft annimmt und mit sich reden läßt, dann habe ich nicht übel Lust, ihr den Willen zu thun. Mag sie die Strafe für ihren Eigensinn haben und sehen, wie sie in der Fremde zurechtkommt!“

„In der Fremde? Wo ist’s denn?“

„Königsberg in Ostpreußen!“

„Um Gotteswillen – das ist ja die Verbannung! Das Schreckgespenst aller Kameraden – Königsberg! Und da hinein will sich das gnädige Fräulein freiwillig begeben?“

„Denken Sie sich: ja! Ich kann allerdings nicht leugnen, daß ich es der Kleinen mehrfach nahegelegt habe, den Winter auswärts zu verbringen, falls sie mir nicht die Freude machen wollte, sich zu verloben. Man wird alt, mein lieber Steinhausen – nein, nein, widersprechen Sie nicht! – und das gesellige Treiben bis in die Nacht, oft bis in den hellen Morgen hinein, fängt an, mir schwer zu werden, Ich hätte gern einmal Ruhe – so oder so! Würde das Kind vernünftig sein, so könnte ich Ihre liebe Mama bitten, sie für diesen Winter unter ihre Flügel zu nehmen – sie ist bedeutend jünger als ich, und jedermann würde es natürlich finden, wenn sie die zukünftige Schwiegertochter zu den Gesellschaften begleitet. So aber . . . eine Entfernung wäre am Ende ganz heilsam, Ortswechsel und Zeit haben schon manchem eigensinnigen Mädchenkopf gut gethan. Sie hat eine Einladung zu einer sehr lieben Freundin nach Wien – Sie wissen, die reizende Komtesse Minnie Rödern, die den Oberlieutenant Wallbach geheirathet hat – aber wenn Annaliese sich durchaus weigert, dahin zu zu gehen, was soll, was kann ich dann thun?“

„Aus welchem Grunde weigert sich die Baroneß, wenn man fragen darf?“

„Ach, es ist gar kein eigentlicher Grund – wer wird aus all den Gründen klug! Noch heute früh hieß es: ,Zu Minnie fahr’ ich in keinem Fall – Militär hier, Militär dort; Schaustück hier, Schaustück dort!‘ Sagen Sie selbst, liegt da irgend ein Sinn drin?“

Steinhausen sah beunruhigt aus und strich mechanisch sein weiches blondes Bärtchen. Er hatte keinen bestimmten Verdacht, aber es war ihm sehr unbehaglich zu Sinn. Die „Partie“ mit Annaliese von Guttenberg war nachgerade eine Art Lebensfrage für ihn geworden, seine Gläubiger hatten sich so hübsch darauf hin vertrösten lassen ... in neuester Zeit lebte er sehr solide, aber er hatte einige alte Schulden, die ihm allmählich ungeheuer lästig wurden. Und welch eine Karriere würde er machen können, welch einen Sporn für seinen Ehrgeiz würden diese weit hinaufreichenden Verbindungen seiner Braut für ihn abgeben! Dann dies stolze Vermögen – wie sicher und geborgen man sich fühlen, welches Haus man machen und wie man den Seinigen das dürftige Leben erleichtern könnte! Auch für sein Herz, das ihn immer noch gewaltig zu der schönen Erna von Torsten zog, für sein Gewissen, das ihm doch oft recht böse Stunden bereitete, wäre diese Verlobung der sicherste Damm gewesen! Und es wußten so viele davon, man erwartete das Ereigniß allgemein – die Kameraden fingen schon an, schnöde Bemerkungen zu machen. Fatal! Und das alles vielleicht nur um einer kindischen Laune willen, und zwar ihm, Konstantin von Steinhausen gegenüber, dem elegantesten Kavalier, dem begabtesten Offizier, dem Liebling aller Damen – ihm, der die Großmutter des Mädchens, die einflußreiche alte Excellenz, ganz und gar auf seiner Seite hatte! Mit finsterem Vorwurf warf er einen Blick über die Schulter zurück und seine Augen blieben auf dem reizenden Profil Annaliesens haften – mehr konnte er nicht sehen. Aber das Gesicht des Herrn, in den sie eben so eifrig hineinredete, war ihm voll zugewendet; es war ein kluges, energisches Gesicht, nicht gerade schön, aber –

„Ihr Neffe scheint eine vorzügliche Unterhaltungsgabe zu besitzen,“ sagte Steinhausen mit zusammengezogenen Brauen zu der alten Excellenz und deutete mit einer leisen Bewegung des Kopfes rückwärts zu dem nachfolgenden Paar.

„Nicht daß ich wüßte – er ist ja ein sehr guter, achtungswerther Mensch, ich habe sogar eine Vorliebe für ihn – aber was ist denn dabei so sorgenvoll auszusehen? Ah so, Sie meinen, die Unterhaltung sei zu angelegentlich? Da können Sie sehr ruhig sein, mein Lieber – das hat keine Konsequenzen!“

„Excellenz haben sicher recht – ich – ich – bin nur etwas nervös und entmuthigt –“

„Schämen Sie sich, Steinhausen, so etwas nur auszusprechen! Nervös und entmuthigt, ein Mann wie Sie – ist es erhört? Zu meiner Zeit kannte man das nicht, da gab es keine Offiziere, die Nerven hatten und entmuthigt waren! Guter Gott, haben denn die Herren Offiziere von heutzutage gar kein Selbstvertrauen mehr?“

„Doch, Excellenz, doch, sie haben! Und ich für meine Person – man hat mir sogar oft gesagt, ich hätte zuviel davon. Indessen – in diesem besondern Fall – das gnädige Fräulein hat ein Benehmen mir gegenüber, das eigentlich sonnenklar beweist, wie sie gesonnen ist, und nur die Erinnerung an frühere Zeiten sowie die Größe und Tiefe meines Gefühls ... ich meine, mein inniges Bestreben – die wichtigste Frage meines Lebens –“ Steinhausen hatte sich beim Betonen des großen und tiefen Gefühls verwirrt – „das alles läßt mich die Hoffnung noch nicht gänzlich aufgeben. Die Baroneß ist mir gegenüber von einer Unbefangenheit, einer kameradschaftlichen Vertraulichkeit, die mich unter anderen Verhältnissen sehr erfreuen würde, die mich aber jetzt schmerzlich niederdrückt. Sehe ich doch deutlich daraus, daß, wenn jemals ein flüchtiges Interesse für mich vorhanden war, dasselbe jetzt spurlos verflogen ist. Ich bin nicht ohne Erfahrung auf solchem Gebiet –“

Die Generalin drohte leicht mit dem Finger. „Ist man wirklich ein solcher Don Juan gewesen, wie Frau Fama behauptet?“

„Frau Fama pflegt in solchen Dingen gründlich zu übertreiben – das Studium des weiblichen Herzens ist indessen ein so anziehendes und vielgestaltiges –“

„Und man hat Ihnen dieses Studium nicht allzusehr erschwert, nicht wahr, mein guter Steinhausen?“

„Ich hätte nie gedacht, daß Excellenz so satirisch werden könnten!“

„Wir werden noch mancherlei Neues an einander entdecken, wenn wir in nähere Beziehungen treten, ein Gedanke, den ich durchaus nicht aufgebe, Wenn es aber so ist, wie Sie sagen – dann – hm – ich schicke dann alles Ernstes die Kleine nach Königsberg. Mag sie da Vergleiche ziehen zwischen den Offizieren dort und einem Konstantin Steinhausen – nun, ich will Ihnen keine Komplimente machen. Ob sie übrigens dort viel mit Offizieren verkehren wird, scheint mir fraglich; ich habe, auf eine vorläufige Anfrage, einen Brief von Königsberg erhalten – sonst nicht übel geschrieben – der mir über diesen Punkt nicht genügende Auskunft giebt.“

„Excellenz meinen bestimmst bei der Baroneß käme nur das militärische Element in Betracht?“

Die Generalin lachte ihr tiefes, etwas rauhes und kurz abgebrochenes Lachen. „Wie kommen Sie mir vor, mein lieber Steinhausen? Sie wissen, wie weit zurück die Guttenbergs datieren, ich brauch’s Ihnen nicht erst zu sagen. Nun, die gerade Linie hat auch nicht eine einzige nichtmilitärische Heirath aufzuweisen . . . nicht eine einzige! Diese Stammtafel ist meine ganze Freude, mein ganzer Stolz. Und Annaliese hat nicht ein versprengtes Tröpfchen unmilitärischen Blutes in ihren Adern, auch ihre Mutter stammte aus einem alten Soldatengeschlecht, mein Sohn hatte diesen Umstand bei seiner Wahl besonders berücksichtigt. Nein, in diesem Punkte bin ich sicher. Und eben darum mag sie ihre Vergleiche anstellen.“

Unterdessen war bei dem andern Paar das Gespräch nicht minder eifrig geführt worden.

„Bis jetzt geht alles nach Wunsch!“ hatte Annaliese mit strahlendem Gesicht begonnen. „Großmama ist halb und halb entschlossen, mich nach Königsberg zu schicken; sie wird sich ganz entschließen, ich weiß es, denn sie ist ärgerlich auf mich, daß ich ihr nicht den Willen thue – Sie wissen schon, was ich meine – und darum will sie mich los sein. Ihr Freund hat an Großmama einen herrlichen Brief geschrieben, ich hab’ ihn gelesen – er ist so famos, so zweckentsprechend, Sie müssen ausgezeichnet vorgearbeitet haben! Schönsten Dank!“ Aus dem kleinen Muff schlüpfte ein niedliches Händchen hervor und schmiegte sich warm in des Professors Rechte – es war ein angenehmer Augenblick, leider nur, wie das meiste Angenehme im Leben, sehr kurz!

[616] „Also Sie sind zufrieden? Freut mich ungemein! Mein Freund hat auch an mich geschrieben, wenn auch nur wenig . . . cr wünscht von mir einige vorbereitende Einzelheiten.“

„Ueber was denn?“

„Ist das eine Frage! Ueber Sie natürlich!“

„Geben Sie ihm keine, gar keine, ich bitte Sie! Er und alle sollen einen ganz unmittelbaren Eindruck bekommen – kein Vorurtheil, kein Einfluß! Denn wenn ich auch nicht denke, daß Sie mich sehr loben würden –“

„Wer weiß!“

„So sind Sie doch,“ fuhr sie unbeirrt fort, „Kavalier genug, um nichts Unvortheilhaftes über mich zu schreiben.“

„Hm, also Sie wollen ganz persönlich wirken wie Cäsar: ich kam, ich sah, ich siegte!“

„Pfui, nun sind Sie schon wieder mit Ihrem spöttischen Gesicht und Ihren sarkastischen Redensarten da!“

„Sie thun mir großes Unrecht! Wie würde ich mir erlauben –“

„Damit können Sie sich mir ganz verleiden!“

„Aber ich habe es nicht spöttisch gemeint, im Gegentheil!“

„Schweigen Sie nur still, ich glaub’ Ihnen kein Wort! Ich bin ganz böse!“

„Ganz und gar?“

„Ja!“ Der Professor seufzte so schwer, daß Annaliese gegen ihren Willen lachen mußte. „Für diesmal will ich Ihnen noch verzeihen, weil Sie den Königsberger Plan so schön gefördert haben!“

Gregory hoffte, daß zum Zeichen der Versöhnnug wieder das Händchen aus dem Muff schlüpfen werde, aber nein – es blieb, wo es war.

„Ich kann es nämlich kaum mehr abwarten,“ fuhr das junge Mädchen fort, „bis ich hier die ganze Stadt und alles, was damit zusammenhängt, im Rücken habe. Sie werden wieder von meiner fixen Idee sprechen, und vielleicht mit Recht, wenn ich Ihnen sage, daß ich es gar nicht mehr ertragen kann, einen Offizier zu sehen!“

„Glauben Sie denn, daß Sie in Königsberg keinen einzigen Offizier –“

„Mein Himmel, natürlich glaub’ ich das nicht, ich bin ja nicht ohne Menschenverstand! Aber die dort gehen mich nichts an, während hier alles, aber auch alles, was in zweierlei Tuch steckt und den Degen trägt, mich kennt und sich für verpflichtet hält, mir zu huldigen und zu schmeicheln!“

„Und Sie wollen wirklich schon zu Weihnachten fort? Das Fest fern von den Ihrigen –“

„Sie denken sich das wohl anders, als es ist!“ Annaliesens bewegliches Gesichtchen verlor den unmuthigen Ausdruck und wurde ernst, beinahe traurig. „Was ist denn das für ein Weihnachtsfest, das ich habe? Großmama ladet so und soviele Menschen ein, die mir gleichgültig sind – es ist nicht ein einziger darunter, den ich lieb habe, denn meine Freundinnen sind natürlich alle in ihrer Familie, Dann wird im großen Tanzsaal ein pomphafter riesengroßer Tannenbaum, der vom Boden bis zur Decke reicht, mit hundert Kerzen und glänzenden Ketten und Sternen geschmückt und kostbare Geschenke für alle werden hingelegt. Die Leute dürfen nicht hereinkommen, sie erhalten ein reiches Geldgeschenk, und damit sind sie abgefunden. Armen Menschen wird nicht beschert, Großmama zeichnet in ihrem und in meinem Namen einige hundert Mark für die verschiedenen Vereine, und damit ist auch das abgethan. Kein vergnügtes Kind tanzt bei uns um den Weihnachtsbaum, kein Choral wird gespielt, keine feierliche Stimmung herrscht. Jeder nimmt seine eleganten unnützen Dinge in Empfang und bedankt sich bei der theuern Excellenz und sagt ihr Komplimente; nebenbei steht die Chmnpagnerbowle bereit, und im Eßsaal ist ein feines Souper hergerichtet – das ist Weihnachten bei uns!“

„Sie möchten es anders haben?“

„Ganz anders! Ich weiß doch, wie manche von meinen Freundinnen das Fest feiern – Meta von Thielen zum Beispiel. Je älter ich werde, um so trauriger bin ich am Heiligen Abend.“

Gregory nickte ihr ermuthigend zu. „Im Hause meines Freundes sind Kinder, herrscht ein glückliches Familienleben, ich hoffe, dort wird es Ihnen behagen, dort wird Ihnen auch das Weihnachtsfest zur wirklichen Feier werden.“

„Nun, ich muß Ihrem Freunde und den Seinigen natürlich störend sein als fremdes Element, aber ich kann wirklich nicht helfen. Sehen Sie, unter Großmamas eingeladenen Gästen würde sich auch zweifellos ein gewisser Jemand befinden, der das Fest und den Lichterbaum zum Vorwand nehmen würde, um eine Aussprache herbeizuführen. Und wenn ich auch genau weiß, was ich antworten müßte, so bleibt es immer peinlich, und Sie wissen, ich möchte das bestimmt vermeiden, daher geh’ ich ja eben so weit fort – daher habe ich Sie ja auch vorhin so eifrig herangewinkt!“

Der Professor mußte das ebenso gut wissen, dennoch machte er ein enttäuschtes Gesicht. „Also das war der einzige Grund?“

„Der einzige, das hab’ ich nicht gesagt – ich wollte Sie noch so gerne wegen Königsberg ausfragen, ob Sie auch schon einen Brief bekommen hätten, was darin stünde, und so weiter!“

„Sie sind sehr aufrichtig, Fräulein Annaliese!“

„Gewiß bin ich das, aber wenn Sie mir etwas Angenehmes sagen wollen, dann, bitte, machen Sie auch das betreffende Gesicht dazu!“

„Ist Ihnen mein Gesicht so unangenehm?“

„Wer spricht nun wieder davon? Sie hätten Jurist werden sollen – Sie drehen einem ja die Worte im Mund herum, Sie empfindlicher Herr!“

„Ich empfindlich? Das hat mir noch niemand gesagt!“

„Dann bin ich der erste, der es mit vollem Recht thut! Aber genug Gezänk – das können wir dort oben in Ostpreußen bequemer haben! Sagen Sie mir lieber, was Ihr Freund Ihnen sonst noch schreibt!“

„Ich wiederhole: viel ist es nicht. In der freudigen Hoffnung des baldigen Wiedersehens begnügt sich der gute Gustav mit einer zierlichen Karte. Ja doch, eines noch: er schrieb mir, in Königsberg herrsche scharfer Frost und der Schnee liege fußhoch!“

„Prachtvoll!“ Annaliesens schillernde Augen leuchteten auf vor Freude. „Sagen Sie schnell, giebt es gute Eisbahn dort und kann man Schlitten fahren?“

„Die Eisbahn auf dem Schloßteich gilt für ausgezeichnet, und Schlitten kann man schon fahren – es ist nur recht theuer!“

„Das schadet ja nichts!“

„Wenn man als ganz unbemitteltes Mädchen dort auftreten will, das die Malerei als Broterwerb betrachten muß –“

„Ach so!“

„Ich fürchte, Sie werden noch sehr oft: ,Ach so!‘ sagen müssen, denn Sie werden bei jeder Gelegenheit vergessen, daß Sie dort eine kleine Komödie zu spielen haben. Ich erlaubte mir gleich, den ganzen Plan abenteuerlich und romanhaft zu nennen, aber davon mochten Sie nichts hören.“

„Mag ich noch nicht! Es ist doch so einfach: ich will die Probe machen, ob man mich, der Mensch den Menschen, gern haben kann, ohne den Firlefanz von Geld und Ahnen und einflußreichen Verwandten, und zu dem Zweck werfe ich besagten Firlefanz von mir und zeige mich, wie ich bin! Ist das nun ein Verbrechen?“

„Ein Verbrechen nicht, wohl aber ein schwer durchzuführendes Wagestück! Sie werden, fürchte ich, in hundert kleine Verlegenheiten kommen und der Aufgabe nicht gewachsen sein.“

„Doch, ich werde! Sie kennen mich wenig, daher trauen Sie mir nichts zu. Ich werde mich mit Glanz aus der Sache ziehen, Sie sollen sehen! Und außerdem – warum denn Verlegenheiten? Worin sollten die bestehen?“

„In vielen Dingen! Gleich Ihre Reise zum Beispiel! Wie gedenken Sie die in Scene zu setzen?“

„Nun, ganz einfach! Ich setze mich mit der Kanapé in einen Wagen erster Klasse und fahre nach Königsberg!“

„Hm! Eine arme Malerin, die mit ihrer Kammerfrau erster Klasse fährt!“

„Sie meinen, es gehe nicht, man würde sich wundern? Ja, aber allein läßt Großmama mich in keinem Fall reisen. – Wissen Sie, was – zwei Stationen vor Königsberg steige ich in einen Wagen zweiter Klasse, die Kanapé in einen anderen, ich nehme zuvor Abschied von ihr, und gut ist’s!“

„Dritter Klasse wäre noch besser!“

„Ach nein, das wäre doch zu hart . . . in jedem Sinn!“

„Und in einem Aufzug wie heute können Sie sich doch auch dort nicht sehen lassen!“

Annaliese blickte betroffen an sich herunter. „Aufzug? Wieso?“

„Glauben Sie, daß arme junge Mädchen, die sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen, in einem solchen Mantel, in einer solchen – wie nennt man dies Ding doch gleich?“

„Meinen Sie die Boa?“

„Ja, die meine ich – also in solch kostbarer Boa und in so eleganten Kleidern einhergehen?“

[617]

Photographie im Verlag von Gustav Schauer in Berlin.
Tief gekränkt.
Nach einem Gemälde von F. Andreotti.

[618] Das junge Mädchen schwieg eine Minute, sie war ganz nachdenklich geworden. „Soll ich gar nichts Hübsches mehr anziehen dürfen?“ fragte sie endlich fast kleinlaut.

Gregory zuckte mit ernster Miene die Achseln. „Es ist Ihr Plan – wollen Sie den durchführen, dann müssen Sie auch die Folgen auf sich nehmen! Von Eleganz und Pracht müssen Sie einstweilen Abschied nehmen!“

Sie lachte ihn schon wieder ganz fröhlich an. „Es giebt auch für wenig Geld hübsche Sachen,“ entschied sie zuversichtlich, „und die kauf’ ich mir dann. Aber ein bißchen kleidsam müssen sie sein! Ich will mich noch nicht absichtlich zur Nachteule machen!“

„Das sollte Ihnen wirklich schwer werden!“

„Meinen Sie? Wie drollig es Ihnen zu Gesicht steht, wenn Sie ein Kompliment sagen! So wie etwas ganz, ganz Ungewohntes kommt das heraus!“

„Sehr fein und richtig beobachtet! Ich sagte Ihnen neulich schon, der Verkehr mit jungen Damen sei mir ein ganz fremdes Gebiet – Sie würden einen Bären an mir finden, den Sie auszulachen haben!“

„Auslachen – Sie, bei Ihrer Empfindlichkeit? Nein, das würde ich nicht wagen, vollends bei meinem Respekt vor Ihnen!“

„Respekt? Um Gotteswillen!“

In diesem Augenblick drehte sich die Generalin mit ihrem Begleiter um und kam rasch näher. „Annaliese, verabschiede Dich jetzt, wir fahren weiter! Adieu, Paul! Man sieht Dich wohl noch vor Deiner nordischen Reise? Wann gedenkst Du denn zu fahren?“

„Etwa Mitte Januar – selbstverständlich komme ich vorher noch – leben Sie wohl, verehrte Tante! Ich empfehle mich Ihnen, gnädiges Fräulein!“

Die Damen stiegen ein, grüßten nach rechts und links, der würdevolle Kutscher lockerte ein wenig die Zügel, und die Equipage

rollte davon.
(Fortsetzung folgt.)




Zum Gedächtniß eines deutschen Fürsten.


Herzog Ernst als Schütze auf dem ersten deutschen Bundesschießen zu Frankfurt a. M. 1862.

Ja, ein deutscher Fürst im echten Sinne ist es gewesen, der in den späten Abendstunden des 22. August auf seinem Schlosse zu Reinhardsbrunn seinem Land, unserem ganzen Volke entrissen wurde! Wer immer die Männer zählt, die in den letzten fünfzig Jahren an die große Wendung in den Geschicken unseres Vaterlandes ihre beste Kraft gesetzt haben, der wird den Namen des Herzogs Ernst von Koburg mit in die erste Reihe schreiben müssen. Welche Erinnerungen weckt nicht dieser Name, welche Bilder führt er herauf! Als der sechsundzwanzigjährige Herzog im Jahre 1844 seine Regierung antrat, da hatte Deutschland Dutzende von Herrschern, aber keinen Herrn, da hatten Einigkeit und Freiheit des Volkes wohl im Reiche des begeisterten Gedankens, des glühenden Wunsches eine Heimath, aber nicht in der Wirklichkeit – nun, da er an der Grenze menschlicher Jahre geschieden ist, steht unser Vaterland geeinigt und gebietend da, offen im Innern für die freie Bewegung des einzelnen, für die Mitarbeit aller am gemeinsamen Wohl. Und daß dieses letzte halbe Jahrhundert für unser Dasein nach außen wie nach innen so viel geändert und gebessert hat, das danken wir nicht zum letzten dem Wirken jenes wahrhaft deutschen und modernen Fürsten.

Ein Sohn seiner Zeit zu sein, ihre besten Regungen zu verstehen und daraus die Zukunft, den Fortschritt anzubahnen – welch’ schönere Aufgabe könnte es für einen sann geben, sei er nun in den einfachen Wirkungskreis des Bürgers oder an einen verantwortlichen Posten im Staat, ja auf die Höhe eines Thrones gestellt. Aber welch schwerere giebt es auch für einen Regenten, der durch tausend Hindernisse der Gewohnheit und Erziehung zurückgehalten wird! Das Leben des Herzogs Ernst, das jetzt abgeschlossen vor uns liegt, zeigt, wie tief er jene Aufgabe erfaßte. Sein Entschluß von Anfang an war: im großen Kampfe der Geister sich mitten unter sein Volk zu stellen, mit ihm zu fühlen, zu sorgen, zu handeln. Er wollte als Landesfürst in demselben Sinne wie jeder andere auch zugleich ein deutscher Patriot, ein thätiger Bürger des Gesamtvaterlandes sein. Und die Natur hatte ihm zur Durchführung dieses Ziels die schönsten Gaben mit auf den Weg gegeben; einen eisernen Körper, einen frischen beweglichen Geist, ein lebhaftes Gefühl für alle Tüchtigkeit, für jedes selbständige Streben, einen muthigen Willen; sie hatte ihm auch die leichteren Talente nicht versagt, die ein Leben freundlich schmücken, besonders das der Musik. Dazu kam, daß er durch seine Verwandtschaften – sein Oheim, Leopold I., war König der Belgier, sein einziger jüngerer Bruder, Albert, wurde der Gemahl der Königin Viktoria von England – von selbst in einen weiten politischen Gesichtskreis gestellt und zu einem hervorragenden Einfluß berufen war. Das alles mußte, im Dienst der beherrschenden volkstümlichen Sache verwendet, dem Herzog ein reiches Wirken, unserem Vaterland eine zuverlässige Hilfe in seinen Nöthen sichern.

Es kann hier nicht der Ort sein, die Verdienste des Fürsten, welche die „Gartenlaube“ so oft und so gerne zu würdigen bestrebt war, im einzelnen zu verfolgen. Nur einen Kranz dankbarer Erinnerung möchten wir auf sein frisches Grab legen, indem wir im Gedächtniß unserer Leser noch einmal mit flüchtigen Umrissen jene Bilder erstehen lasten, in deren Mittelpunkt seine kernige Gestalt sich zeigt.

Was man sich voll dem jungen Herzog versprechen durfte, das bewiesen schon die ersten Jahre seiner Regierung. Statt wie die meisten seiner Standesgenossen zu erschrecken vor dem Geist der neuen Zeit, der überall in den deutschen Landen sich regte, ließ er den kräftigen Athem desselben frei auf sich einströmen. Und es bekümmerte ihn wenig, daß er damit nicht eben in den Ueberlieferungen des Koburgischen Hauses wandelte. „Wir Koburger müssen wieder ehrlich deutsch werden“, dieses goldene Wort, das er damals an seinen Oheim Leopold I. schrieb, kam aus dem tiefsten Grund seiner Seele. Zunächst zeigte er im eigenen Land, welche Bahn er sich vorgezeichnet hatte. Er fand seine Stände im Streit mit der Regierung; nachdem er erkannt hatte, daß sie in mehreren Punkten nur das Billige verlangten, stand er nicht an, zu erklären: „Ihr habt Recht und sollt es behalten!“ Und was ein offenes gerechtes Fürstenwort vermag, trat alsbald zu Tage. Die Gemüther beruhigten sich, und als sie in den stürmischen Jahren 1848 und 1849 aufs neue tiefer und nachhaltiger aufgewühlt wurden, gelang es ihm auch da, sich den Frieden mit seinem Volke zu bewahren. Wo er begründete Klagen hörte, stellte er die Mißstände ab, tumultuarischen Ausschreitungen trat er muthig entgegen. Sein persönliches Eingreifen machte den Herzog bald jedem bekannt und gewann ihm Vertrauen und Dankbarkeit. Denn die Bürger seines Landes fühlten, daß er handelte nach seinem Wort: „Ich bin frei davon, meine Person vom Volke zu trennen“, daß in seinem Herzen Blut von ihrem Blute quoll

Und dieser Eindruck seiner Person war es auch, der seinem Wirken in der großen nationalen Sache Deutschlands von Anfang an einen ungeahnten Erfolg verlieh. Von 1848 an war des Herzogs Name überall zu treffen, wo es die freiheitliche und einige Gestaltung unseres Vaterlandes galt. Als 1849 die Bundestruppen zum Schutz der Stammesbrüder in das bedrohte Schleswig-Holstein einrückten, ließ sich Ernst II. den Oberbefehl über eine Brigade geben, und unter seinem Kommando fand am 5. April jener Kampf bei Eckernförde statt, durch welchen der

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Herzog Ernst II. von Koburg bei Eckernförde.
Nach einem 1854 in der „Gartenlaube“ erschienenen Holzschnitt..

Landungsversuch der Dänen glänzend vereitelt, ihr bestes Schiff, Christian VIII., vernichtet wurde. Der jubelnde Wiederhall, den dieser Sieg in ganz Deutschland hervorrief, verwandelte sich aber nur zu bald in schmerzliche Entrüstung, als die Schleswig-Holsteiner an Dänemark ausgeliefert, alle Hoffnungen betrogen wurden. Der Herzog lieh dem allgemeinen Empfinden seine gewichtige Stimme, er protestierte laut gegen das Unrecht, das man hier an einem heldenmüthigen deutschen Stamme verübte, und ließ nicht nach, für die Befreiung der Herzogthümer einzustehen, bis das Jahr 1864 ihr Schicksal zum Besseren wandte, freilich in anderem Sinne, als er es sich gedacht.

Herzog Ernst im 70. Lebensjahr.

Was die schleswig-holsteinische Frage von allen Patrioten verlangte: ein langes, überlanges Kämpfen und Harren, das forderte nicht weniger der Streit um die Einheit und Freiheit des Vaterlandes. Ernst II. fühlte so lebhaft wie einer die Erbärmlichkeit der deutschen Kleinstaaterei den Mangel einer festen Kraft nach außen und innen. Freudig begrüßte er daher das erwachende Selbstgefühl der Bürger, das sie zu politischer Macht erheben mußte, und die Frankfurter Nationalversammlung des Jahres 1848, in der endlich eine Vertretung des gesamten Volkes vorhanden war. Freilich, die Freude war auch hier nur von kurzer Dauer. Weder ein deutscher Kaiser noch ein deutsches Parlament erhob sich aus der Sturmfluth jener gährenden Zeit. Nun galt es, in den kommenden Jahren des Rückschrittes den Glauben an die höhere Bestimmung unseres Volkes, die Hoffnung auf bessere deutsche Tage nicht zu verlieren und mehr als ein Jahrzehnt lang in mühsamer Arbeit jene Kräfte zu sammeln und zu leiten, die auf das eine große Ziel unentwegt hindrängten. Und hier hat Herzog Ernst seinen schönsten Platz gefunden. Er suchte erst durch die Fürsten selbst das Werk der Einigung zustande zu bringen, er war es vor allem, der den Gedanken des deutschen Fürstenkongresses in Berlin faßte, auf welchem im Mai 1850 die Regierenden noch einmal sich daran machen sollten, den alten Bundestag zu begraben und den Grund zu legen zu einem festen deutschen Staatenbau unter Preußens Führung. Der Versuch mißlang, und der Herzog richtete nunmehr sein unermüdliches Bestreben darauf, durch die Begeisterung und Sammlung der breiten Schichten des Volks von unten her in die Bahn zu leiten, was von oben her nicht gelingen wollte. Zunächst bot er im eigenen Lande allen eine sichere Statt, die um ihrer freien Meinung willen verfolgt wurden. Koburg-Gotha war eine Oase, in der die vor den Dänen flüchtenden Holsteiner ebenso gastlich aufgenommen wurden wie die Kurhessen, welche ein schmähliches Gewaltregiment aus ihrer Heimath verjagte. Hier galt eine liberale Verfassung, hier war die Presse frei von jeder Censur. Und als 1859 von den besten Männern der Nationalverein gegründet wurde, lieh Ernst II. auch ihm Schutz und Förderung. Den Höhepunkt seiner Volkstümlichkeit aber erreichte er in den Jahren 1861 und 1862 auf jenen großen Schützenfesten zu Gotha und Frankfurt am Main, deren Urheber er selber war. Er wollte mit dem „Deutschen Schützenbund“ , dessen Gründung ihm in Gotha gelang, ein neues nationales Band um die getrennten Stämme schlingen, der Fluth der Einheitsbestrebungen einen neuen gesammelten Strom zuführen.

Wir Alten können den Heutigen nur schwer eine Vorstellung geben von der Begeisterung, die sein Vorgehen entfesselte, von dem Gewicht, das es ausübte. Das Fest in Gotha vom 7. bis 11. Juli 1861 war eine That. Von 236 Städten und Ortschaften eilten die Schützen auf die Einladung der Gothaer herbei, jedes Land von Bedeutung war vertreten, jede Stadt von Königsberg und Danzig bis nach Aachen und Freiburg, von Rendsburg bis München. In Gotha war Haus für Haus bekränzt und beflaggt, das Schwarz-Roth-Gold der Fahnen stach überall bedeutungsvoll hervor. Bis in die Kleinigkeiten herab zeigte sich der große Hintergrund, der tiefere Sinn des Festes. Die Scheiben trugen die Namen der Kampfes- und Geisteshelden aus den Befreiungskriegen, viele ihrer Inschriften wiesen auf das „eine Ziel“. Am Giebel des Gabentempels prangte das Bild Barbarossas, wie er sich erhob von jahrhundertelangem Schlaf. Und als der Herzog in seiner Ansprache frei bekannte: „Das edle deutsche Volk fühlt sich in seiner Kraft. Nach Einigung drängen die Massen … Das Hauptziel des gemeinsamen Strebens sei Wahrung der Ehre und Schutz des großen deutschen Vaterlaubes – in diesem Gedanken laßt uns die Bruderhand reichen!“ – da brach ein Beifall, ein Enthusiasmus ohne gleichen los, da drang weithin das Gefühl durch, daß die Zeit, in Worten zu glänzen, vorüber sei, daß man nach Thaten verlange.

Was in Gotha sich ereignete, war aber nur das kleinere Vorspiel für das erste deutsche Bundesschießen zu Frankfurt am Main im nächsten Jahre. Als Ehrenpräsident des Bundes erschien auch der Herzog, und das Bild, das er hier bot, die Gesinnung, die er zum Ausdruck brachte, gewannen ihm vollends aller Herzen. Wie seine stattliche Gestalt in der einfachen Schützenjoppe unter die Versammelten trat, ungezwungen und frei, begrüßten die Zehntausende, die herbeigeeilt waren, jubelnd in ihm die seltene Erscheinung eines Fürsten, der sich mitten im Volk als ein Theil des Volkes bewegte. Was er ihnen galt, das zeigt im kleinen jener Zuruf eines Arbeiters, der dem Herzog, als dieser auf dem Frankfurter Fürstentag von 1863 mit anderen Standesgenossen vorüberfuhr, erst ein schallendes Hoch zurief und dann die Worte folgen ließ: „Das gilt dem Koburger, daß Ihr’s wißt!“

Freilich, dieser Jubel der Feste führte auch zu einem [620] Rückschlag. Man ersehnte mit Schmerzen die lebendige Frucht, die aus dem allem erwachsen sollte und doch so lange auf sich warten ließ; man sah tausend Wege, aber keine Bahn. In einem Gedicht an den Herzog gab Friedrich Hofmann dieser Enttäuschung beredten Ausdruck. Er sprach dem Fürsten von denen,

„Die jubeln in den Tag hinein
Ob unsres Siegs vor fünfzig Jahren
Und sehen nicht den Feuerschein
Der tückisch züngelnden Gefahren.
Sie ziehen stolzerfüllt von Fest
Zu Fest mit schwarz-roth-goldnen Fahnen,
Soweit man die sie tragen läßt –
Nur was uns droht, will keiner ahnen!“

Schloß Reinhardsbrunn.

Und in seiner Antwort bestätigte Ernst II: „Ja wohl, die Zeit ist trüb! Zwietracht und Schwäche auf den Thronen, Mißgunst und Eigenliebe im Schoße der Parteien, viel hohle Phrasen und schöne Worte, wehende Fahnen und donnernde Hochs! Wo sind die Handlungen, wo die Thaten?“ Aber die Thaten sollten folgen, der Handelnde war da. In rascher gewaltiger Folge vollzog sich unter Bismarcks Leitung, was jahrzehntelang die Besten vergebens erträumt hatten: in Krieg und Sieg wurde die deutsche Kaiserkrone neu geschmiedet.

Der Herzog sah erfüllt, was er mit scharfem staatsmännischem Blicke schon lange als die einzige Rettung erkannt und doch eine Zeitlang kaum mehr zu hoffen gewagt hatte, daß Preußen „die in so viele Staaten zersplitterte Kraft Deutschlands in sich politisch, militärisch und geistig vereinige“. Und wie er sich 1866 der Sache des Königs Wilhelm von Preußen angeschlossen hatte, so war er auch 1870 und 1871 einer der Eifrigsten von denen, die zur Gründung eines deutschen Kaiserreiches drängten. Er legte schon im Oktober 1870 seinen Plan für Deutschlands Neugestaltung in einer Denkschrift dem Grafen Bismarck vor und hatte die Genugthuung, von diesem zu hören, daß alle wesentlichen Gedanken der Denkschrift von dem Kanzler seit langer Zeit als die seinigen verfolgt worden und seit dem Beginn des Kriegs fast ohne Einschränkung in der Ausführung begriffen seien. Die schönste Belohnung aber für die Treue und die Bedeutung seiner Arbeit durfte er in den Worten finden, die am 18. Januar 1871 der neue Kaiser der Deutschen an ihn richtete. „Ich vergesse nicht,“ sprach dieser, „daß ich die Hauptsache des heutigen Tages Deinen Bestrebungen mit zu danken habe.“

So war denn, doch noch früher als er gedacht, der Wunsch in Erfüllung gegangen, den Herzog Ernst bei seinem 25jährigen Regierungsjubiläum 1869 ausgesprochen hatte: „Sollte mir der Himmel bescheren, das Silberfest des heutigen Tages dereinst im Greisenalter als goldenes zu feiern, dann gebe er mir auch – das ist der Wunsch meines Lebens – daß ich Deutschland einig und mächtig sehe.“ Es war dem Fürsten vergönnt, nun, da die eine große Aufgabe gelöst war, im Schutze des Friedens, dessen mächtiger Hort das neue Reich wurde, noch lange Jahre mitzuarbeiten an einer anderen Aufgabe, die er nicht minder werth hielt: sein Land zu einer Pflanzstätte der Wissenschaft und Kunst zu machen, alles Schöne zu fördern. Das goldene Jubiläum seiner ehelichen Verbindung mit der Prinzessin Alexandrine von Baden brachte noch im vorigen Jahre ein besonderes Glück in dieses Leben, das dem Ende zugehen sollte.

Nun ist es geschlossen. Die Anstrengungen, die sich der Herzog bei den jüngsten Opernaufführungen in Gotha zumuthete, waren auch für seinen Körper zu viel.

Sehen wir zurück auf das, was er gewollt und geleistet hat und was er in einem hervorragenden schriftstellerischen Denkmal, in den Denkwürdigkeiten aus seiner Zeit und seinem Leben, selbst erzählt, so müssen wir gewiß bekennen, daß auch er zuweilen das Rechte auf dem falschen Pfad gesucht hat. Aber Täuschung und Irrthum bleiben dem Wanderer auf keinem Wege erspart. Er durfte das Bewußtsein unbeirrter Vaterlandsliebe auch in seinen Fehlgängen mit sich nehmen, das Bewußtsein, sein Bestes gethan zu haben für sein Volk.

Herzog Ernst auf dem Totenbett.
Nach einer Photographie von Rudolf Kühn in Erfurt und Friedrichroda.

Daß die Gegensätze, die er einst durchleben mußte und die seine Arbeit schwer machten, für immer vernichtet und begraben sein möchten, das ist der Wunsch, mit dem wir von diesem Bild eines echten deutschen Fürsten scheiden. Ihm selbst aber ein dankbares Gedächtniß! M. A.     


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Das schöne Limonadenmädchen.

Erzählung von E. M. Vacano.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

     (Fortsetzung.)

Der geheimnißvolle Greis setzte seine Besuche bei Frau van Eyckens fort. Seine Gesellschaft wurde der Armen in ihrer Hilflosigkeit und Verlassenheit fast zum Bedürfniß, Sie fühlte sich weniger vereinsamt, wenn Herr Mussault neben ihrem Lager saß und ihr seine Zeitungsnachrichten und seine Beobachtungen über das Wetter und die Marktpreise vortrug. Denn merkwürdigerweise sprach dieser vielgereiste Alte nie von seinen Fahrten und Abenteuern, nie von seinem ehemaligen bunten Geschäftsleben, das doch sicher interessant genug gewesen wäre. Er schien ganz und gar Spießbürger geworden zu sein und sich glücklich zu fühlen, das Treiben der Welt und die Kämpfe des Daseins in seiner wohlerworbenen behaglichen Ruhe vergessen zu können.

Eines Tages, als er wie gewöhnlich kam, „um ein wenig nachzusehen“, fand er Frau van Eyckens aufrecht auf ihrem Lager sitzend, die Hände an ihre Stirn pressend und ein Ausgabenbuch durchblickend, das vor ihr lag. Frau Hinrik stand dabei, ganz niedergeschlagen und zerknirscht, denn seit vierzehn Tagen hatte sie die spärlichen Ausgaben des Haushaltes nur dadurch bestreiten können, daß sie ihre besten Kleidungsstücke ins Leihhaus trug, und nun hatte sie nichts mehr zum Versetzen und war gezwungen, ihrer geliebten Herrin dieses niederschmetternde Geständniß abzulegen, obwohl ihr dabei fast das Herz brach.

Aber die schlimme Wirkung, die sie von dieser neuen Unheilsbotschaft für die Kranke fürchtete, trat zu ihrem freudigen Erstaunen nicht ein. Der drohende Ausblick auf die äußerste Noth riß Pauline aus ihrer Apathie und erfüllte sie mit plötzlich wiedererwachender Lebenskraft; ein größerer Schmerz hatte den schwächeren vertilgt.

„O Gott, ich will ja arbeiten, will alles thun, was in meiner Macht ist, aber was soll ich beginnen?“ fragte sie gerade, als Herr Mussault eintrat.

Der alte Mann hatte auf den ersten Blick die ganze Lage, die ganze Rathlosigkeit der beiden Frauen übersehen. Sein verdorrtes Herz fühlte sich von seltsamem ungewohnten Mitleid bewegt angesichts der Verzweiflung, welche sich in den Zügen der jungen Witwe aussprach. Und wie geisterhaft schön sah sie dabei aus in dem Halbdunkel, das die Vorhänge ihres Bettes um sie verbreiteten!

„Nirgends Hilfe, nirgends!“ murmelte Pauline, ohne auf die Gegenwart des alten Mannes zu achten.

Herr Mussault ließ einen kleinen trockenen Husten hören, um an sein Hiersein zu erinnern.

„Ah,“ rief sie emporschauend mit aller Bitterkeit, die der Augenblick ihr eingab, „Sie sind da, Herr Mussault? Sie wollen wohl den Miethzins eintreiben? Der Doktor hat mir mitgetheilt, daß Sie der geheime Besitzer dieses Hauses seien. Aber fürchten Sie nichts! Morgen schon ziehe ich aus, wenn es sein muß, und was ich noch besitze, wird eben hinreichen, Ihre Forderungen zu befriedigen!“

„Aber, aber, liebe Frau Nachbarin!“ begütigte der Alte verlegen. „Glauben Sie doch nicht, daß es mir in den Sinn kommt, Ihre traurige Lage noch zu erschweren! Im Gegentheil! Bleiben Sie in dem Stübchen da, so lange es Ihnen gefällt! Zum Glück bin ich wohlhabend genug, um eine so kleine Miethe entbehren zu können.“

Pauline reichte ihm die Hand. „Verzeihen Sie mir! Aber wenn Sie wüßten, was ich leide! O, wie glücklich sind doch die Toten!“

„Madame, das sind schlimme Worte, die man nicht aussprechen sollte, Gedanken, die Sie nicht denken dürfen, wenn Sie sich nicht an sich selbst und an Ihrem hübschen Jungen versündigen wollen!“ unterbrach sie Herr Mussault mit tieferem Gefühl, als er sonst zur Schau zu tragen pflegte. „Die Verzweiflung führt zu nichts. Wenn Sie sich entschließen, meinen Rathschlägen zu folgen und meine Dienste nicht zurückzuweisen, so will ich sehen, wie Ihnen zu helfen ist.“

„O gewiß werde ich jeden Rath dankbar annehmen!“ rief Frau van Eyckens tief aufathmend.

„Nun, dann erlauben Sie mir, daß ich offen von der Leber weg rede! Sie müssen sich mit Gewalt aus der Theilnahmlosigkeit herausreißen, in die Sie seit dem Tode Ihres Gatten versunken sind. Ein bißchen fester Wille wird Ihnen das möglich machen. Sie sind jetzt schon fast genesen durch diesen heilsamen Schrecken, durch den Einblick in Ihre erschöpfte Kasse. Sie sind Mutter, Sie haben ein Kind – bedenken Sie, daß es Ihre Sorge, Ihre Hilfe nöthig hat. Sie müssen also an eine Beschäftigung denken, die Ihnen so viel einträgt, daß Sie Ihren Knaben erziehen lassen können. Doch nicht durch Stickereien und indem Sie Nächte hindurch nähen, werden Sie das erreichen. Aber Muth, ich habe einen Plan! Er wird Ihnen vielleicht unannehmbar erscheinen, und ich erlaube Ihnen im voraus, daß Sie sich darüber entsetzen. Aber denken Sie dann doch darüber nach. Nun also! Sie sind jung – einige Wochen der Gesundheit werden Ihrer Schönheit wieder den vorigen Glanz verleihen; und Sie haben eine gute Erziehung genossen, die es Ihnen leicht machen wird, die Pflichten zu erfüllen – die sehr einfachen und leichten Pflichten der Stellung, die ich Ihnen bieten kann. Ich will Sie als Büffettdame in ein Kaffeehaus des Palais-Royal bringen.“

Frau van Eyckens hatte Herrn Mussault mit gespannter, fast ängstlicher Aufmerksamkeit angehört. Bei seinen letzten Worten konnte sie eine Bewegung der Ueberraschung, ja der Entrüstung nicht unterdrücken.

„Bitte, bitte!“ beeilte er sich zu sagen. „Ich weiß, ich begreife, daß für eine Dame, die in der vornehmen Welt den ersten Rang einnahm, dieser Vorschlag etwas Unfaßbares, Unleidliches haben muß. Wir haben aber keine Wahl. Sie müssen sich entscheiden zwischen dem Elend oder der Nothwendigkeit, welche Ihnen die Abwehr der Noth auferlegt. Mein Sohn ist jetzt der Eigenthümer dieses Kaffeehauses, durch das ich mein Vermögen oder wenigstens einen Theil desselben erworben habe. Eine chronische Krankheit nöthigt seine Gattin, das Büffett zu verlassen, in welchem sie selber bisher glücklich und stolz gethront hat. Sie werden den Platz dieser geachteten Frau einnehmen und es wird Ihnen jede mögliche Rücksicht, alle erforderliche Achtung zu theil werden. Mein Sohn ist ein guter verträglicher Mensch, der Ihre Dienste zu schätzen wissen wird, denn ich bin überzeugt, das Ihre Erscheinung von großem Nutzen für beide Parteien sein wird. Für das erste Jahr erhalten Sie tausend Franken Gehalt, Ihre Toiletten und der Friseur werden von meinem Sohn bestritten. Und nun leben Sie wohl für jetzt – ich bitte, mir für den Augenblick keine Antwort zu geben. Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag wohl, ehe Sie ihn von sich weisen. Morgen hole ich mir die Antwort.“

Und das dürre alte Männchen schlüpfte aus der Stube, indem er der Dienerin ein Zeichen machte, ihm zu folgen.

„Da,“ sagte er draußen zu der Verblüfften, „da haben Sie hundert Franken für die nöthigsten Ausgaben. Es ist eine Abschlagszahlung auf das zukünftige Gehalt Ihrer Herrin. Pflegen Sie die Dame nach Kräften!“

Pauline war ganz bestürzt zurückgeblieben. Sie fühlte [622] einen unüberwindlichen Abscheu gegen den Plan des alten Mannes; denn obgleich sie sich alle Mühe gab, den Vorschlag ohne Vorurtheil zu betrachten, so empörten sich doch ihre Grundsätze, ihr Schicklichkeitsgefühl gegen den Gedanken, ein Gegenstand der Ausstellung zu werden, gleichsam eine Lockung, ein Aushängeschild. Sich in einem Büffett den Huldigungen aller rücksichtslosen Kaffeehausbesucher auszusetzen, ihre Witzeleien anzuhören, sich sogar zwingen zu müssen, deren Wohlwollen zu gewinnen, erschien ihr als eine tiefe Erniedrigung. Sie sollte sich putzen für dieses Gewerbe, lächeln wie eine Schauspielerin und sich vielleicht den Blicken von Leuten darbieten, welche sie früher in ganz anderer Stellung gekannt hatten ... nein, nie, niemals! Lieber sterben! Aber ihr Knabe, ihr Adrian, der keine andere Stütze hatte als sie! Ihr Kind, das Noth und Elend zu erwarten hatte, das ins Leben hinausgestoßen werden sollte, verlassen, schutzlos, ohne Erziehung! Was galt gegen solch’ heilige Pflichten die Welt mit ihren nichtigen Vorurtheilen! Würde sie in ihrer erzwungenen Stellung sich weniger zu achten haben vor ihrem eigenen Gewissen? Wenn sie zögerte, war das nicht ein unverzeihliches Unrecht gegen ihr Kind, eine Feigheit gegenüber der nichtigen Meinung der Menge? Nein, sie wollte sich dessen nicht schuldig machen, sie wollte alles unternehmen für ihren Sohn, alles dulden und wenn ihr der Muth sank, dann wollte sie sich in den Armen ihres Knaben neue Kraft, neue Entschlossenheit holen!

Während sie sich solchen Gedanken hingab, solche Kämpfe durchkämpfte, kam Doktor Destrée und war ganz überrascht über die Veränderung in ihrem Zustande. Sie erzählte ihm alles: ihre Noth, das Anerbieten des alten Herrn und ihren Entschluß, trotz ihres innerlichen Widerstrebens dasselbe anzunehmen.

Der Arzt gab ihr recht und ermuthigte sie noch. „Glauben Sie mir, Madame, jeder, der Sie kennt, wird Ihrem Vorsatz beistimmen,“ sagte er wohlwollend, „und man wird es gewiß in keiner Weise an Achtung und Verehrung für Sie fehlen lassen. Aber vor allen Dingen kommen Sie jetzt auf einige Zeit in unser bescheidnes Landhaus zu meiner Frau – sie wird sich freuen, die Bekanntschaft einer so liebenswürdigen Dame zu machen. Und den Kleinen nehmen wir auch mit – die frische Luft wird Ihnen beiden gut thun. Geben Sie mir Ihre Hand darauf – wir können die Uebersiedlung gleich auf der Stelle wagen! Machen Sie rasch Toilette, ich will unterdesen zu Herrn Mussault hinabgehen und ihm melden, daß Sie sein Anerbieten annehmen und in vierzehn Tagen Ihre Stelle antreten werden. Dann hole ich den Kleinen aus seiner Schule. Mein Wagen steht unten und wird uns rasch vor die Stadt bringen.“


4. Der Thron.

Wenn die Krankheit die Seele zu etwas Körperlichem herabdrückt, so vergeistigt dafür die Erholung von der Krankheit gleichsam den Leib. Und man fühlt sich so glücklich in seiner Wiedergeburt, will das Leben so recht benutzen – etwas von der geheimnißvollen Freude des Himmels, dessen Schwelle man schon betreten hatte, ist in uns zurückgeblieben. Alles wird zur Freude, alles verursacht uns einen Genuß. Der blaue Himmel mit seinen weißen Wölkchen, das Vogelgezwitscher, die balsamische Luft, die unscheinbarste Blume – alles! Man hat seine Schmerzen vergessen, man erinnert sich an nichts und formt keine Pläne mehr: die Vergangenheit und die Zukunft haben für den Augenblick keine Bedeutung mehr; nur das eine große beglückende Gefühl erfüllt uns: ich lebe! ich bin!

Pauline, die sich so lange in eisernen Fesseln gefühlt hatte, die jetzt nach dem langen Gebanntsein in die dumpfe Krankenstube mit wohligem Vergessen den hellen Glanz ihres ländlichen Aufenthalts genoß, die der Gesundheit, ihrem Kinde wiedergegeben war, konnte nichts thun, als den gütigen Freunden um sie herum wortlos die Hand drücken. Sie hatte in der Gattin des Doktors, die von ihrem Mann die ganze Geschichte ihres Gastes erfahren hatte und daher doppelte Zuneigung zu der Verlassenen fühlte, eine schlichte herzliche Person gefunden und schloß sich schwesterlich an sie an. Unter diesen Umständen that der Landaufenthalt bei Pauline wahre Wunder. Schon nach wenigen Tagen begann ihre Schönheit wieder im alten Zauber zu erstrahlen. Die Blässe und die Durchsichtigkeit ihrer Züge verschwanden, die Rosen ihrer Wangen erblühten, die Augen leuchteten, das alte reizvolle Lächeln umspielte ihre Lippen.

O die glückliche Zeit und die glücklichen Tage! Diese Spaziergänge in der Morgenfrische, zur Seite die neugewonnene Freundin und den jauchzenden Jungen, der nach Faltern haschte, Blumen sammelte oder nach schillernden Eidechsen jagte! O selige Zeit, wo ein Frauenherz Mutter, nur Mutter sein darf!

Aber wie rasch diese vierzehn Tage verflogen! Vierzehn Tage ohne einen einzigen trüben Gedanken, ohne ein Zurückwandern in die Schmerzen der Vergangenheit, vierzehn Tage des Vergessens, des Glücks, wo die Natur selbst sich gütig und absichtlich in ihr schönstes Gewand zu hüllen schien.

Als Pauline am letzten Tage ihres Aufenthalts mit Frau Destrée und dem Kleinen von einem Spaziergang zurückkam, fand sie zwei Näherinnen aus dem größten Könfektionsgeschäfte von Paris auf sich warten. Sie brachten einen Brief von Herrn Mussault; derselbe lautet:

 „Madame!
Ich sende Ihnen hier einige Toiletten, von denen mein Sohn wünscht, daß Sie dieselben anprobieren möchten, damit die Näherinnen bis morgen, den 15. Juli (wo Sie Ihre Stelle anzutreten versprachen, alles fertig stellen können.
Mit besonderer Verehrung 
      Ihr Mussault.“  

Dieser Brief machte mit einem Schlag dem seligen Vergessen, das die junge Witwe umfangen hatte, ein Ende. Die Zukunft mit allen ihren herben Forderungen that sich düster vor ihr auf. „Kommen Sie!“ sagte sie leise zu den beiden Mädchen.

Sie ging mit ihnen in ihr Zimmer. Dort öffneten die Näherinnen die Schachteln, die sie mitgebracht hatten und die sechs vollständige Gewänder aus den theuersten und hellsten Stoffen enthielten.

„Das muß ein Irrthum sein,“ sagte Frau van Eyckens athemlos. „Ich befinde mich nicht in der Lage, solch überreiche Toiletten anschaffen zu können, die zudem mit ihrem Ausschnitt an Arm und Schulter nur für Bälle oder für große Gesellschaft passen. Auch trage ich Trauer um meinen Gatten, die ich vor einem Jahre nicht ablegen kann.“

Die beiden Modistinnen schauten einander überrascht, achselzuckend an. Die eine derselben beeilte sich mit einem schlechtverhehlten Lächeln zu sagen: „O, Madame können die Trauer außerhalb des Geschäftes nach Belieben tragen; aber am Büffett kann Herr Mussault doch keine Dame im Hauskleid und vollends gar in Trauer brauchen!“

„Das würde auch von dem Sessel, in dem Sie sitzen werden, schön abstechen!“ warf die andere dazwischen.

„Was für ein Sessel ist denn das?“ fragte Pauline bestürzt. „Der Thronsessel Napoleons, den Herr Mussault soeben um einen enormen Preis erstanden hat.“ – Man befand sich damals in der Periode nach den hundert Tagen, und der Riese Europas war abgethan für immer.

Pauline erbleichte und konnte sich kaum fassen. Das also war das Schicksal, das ihr bevorstand! Sie sollte wirklich als Schaustück prangen, der niedrigen gemeinen Schaulust der Menge dienen wie irgend eine andere Rarität auch! Sie brach in Thränen aus.

Da kam Frau Destrée mit dem Kleinen herbei; der Knabe eilte bestürzt auf seine Mutter zu und umfing sie unter den zärtlichsten Worten. Es war merkwürdig, welche Wirkung sein Erscheinen auf die junge Frau ausübte. Sie richtete sich entschlossen auf, trocknete ihre Thränen und dankte ihrer Freundin für den Dienst, den sie ihr eben geleistet, mit einem ausdrucksvollen Blicke. Mit einer Art ruhiger Verzweiflung, mit anscheinender Gleichgültigkeit ließ sie sich nun die übersandten Toiletten anprobieren und zurechtstecken, und als die Modistinnen sich entfernen wollten, ließ sie Herrn Mussault sagen, daß sie am nächsten Tag zu seiner Verfügung stehe.

Am folgenden Morgen wollte die mitleidige gutherzige Gattin des Doktors ihren Gast nach Paris zurückbegleiten. Pauline aber lehnte ihr Anerbieten dankbar und tapfer ab, indem sie meinte: „Das wäre nur ein doppeltes Scheiden – von diesem herrlichen Ort, der mich so froh gesehen hat, und dann noch von Ihnen. Nein, nein, ich will mit einem Mal mein ganzes Glück hier zurücklassen.“ Und als sie, neben dem Doktor und Adrian im Wagen sitzend, die letzten Grüße erwidert hatte, die ihr vom Gartenthor des Landhauses her zugewinkt wurden, ergriff sie die Händchen des Knaben, und sie krampfhaft festhaltend, lehnte sie [623] sich erschöpft in den Wagen zurück, indem sie murmelte: „Für Dich, mein Kind, für Dich!“

In Paris brachte Frau van Eyckens vor allen Dingen den Knaben in eine Pension, die der Doktor ihr empfohlen hatte und in der er selbst Hausarzt war. Sie gab dem weinenden Kind noch eine kurze zärtliche Ermahnung, fleißig zu sein und seine Mutter liebzubehalten, schnitt sich eine Locke seines seidenweichen hellblonden Haares ab, die sie in ihr Medaillon verschloß, und nahm mit einem stummen Händedruck Abschied von ihrem Gönner. Dann stieg sie in einen Fiaker und ließ sich zum Haus des alten Herrn Mussault fahren.

Dieser erwartete sie schon, führte sie aber nicht in ihre frühere Stube, sondern in ein kleines hübsch eingerichtetes Quartier, wo Frau Hinrik ihre Herrin ganz gegen ihre sonstige gelassene Art stürmisch begrüßte.

„Hoffentlich wird es Ihnen hier gefallen, Madame,“ sagte Herr Mussault freundlich, als die Hinrik sich wieder beruhigt hatte. „Morgen um zwei Uhr wird meine Schwiegertochter kommen, um Ihre Toilette zu überwachen; um vier Uhr werde ich Sie dann in das ‚Café des mille colonnes‘ begleiten.“ Darauf gab er ihr genaue Anweisungen, wie sie das Büffettbuch zu besorgen, und zugleich rücksichtsvolle Winke, wie sie sich gegen die Stammgäste und die Kaffeehausbesucher überhaupt zu verhalten habe. Endlich schloß er mit jener wahren Theilnahme, welche weder Spekulation noch Reklame an seinem alten Herzen hatte vertilgen können: „Ich will, wenn das Wetter nicht gar zu schlecht ist, alle Tage in die Pension gehen und mich nach dem Befinden des Kleinen erkundigen. Die Bewegung wird mir ganz gut thun, und Sie werden sich ruhiger fühlen, wenn ich Ihnen täglich Bericht erstatte. Leben Sie also wohl für heute! Morgen bleibe ich an Ihrer Seite, um Ihr Debüt in der neuen Stellung zu überwachen.“

„Ja, mein Debüt!“ dachte Pauline bitter, nachdem der Alte sich entfernt hatte. „O gewiß, ich werde fortan auf der Bühne stehen, jedem Gaffer ausgesetzt, eine Komödiantin, der nur Talent und Ruhm fehlen werden!“

Punkt zwei Uhr am nächsten Nachmittag trat die Schwiegertochter des Herrn Mussault bei ihrer neuen Büffettdame ein; sie brachte einen Friseur mit, dessen „Kunstwerk“ sie selber überwachen wollte. Derselbe legte die prachtvollen schwarzen Haare Paulinens in eine künstliche thurmähnliche Form, die in keiner Weise mit den feinen vornehmen Zügen der schönen Frau zusammenstimmte, und so sehr sich diese auch vorgenommen hatte, alles ohne Widerrede über sich ergehen zu lassen, fühlte sie doch bei diesen Vorbereitungen das Weib in sich erwachen und wagte einige Bemerkungen. Frau Mussault schnitt ihr aber die Rede kurz ab mit der Erklärung, das sei ihre Sache, die sie besser verstehe. Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden, und Pauline nahm geduldig alle Prozeduren hin, denen man sie auf Geheiß ihrer neuen Gebieterin unterwarf. Nachdem der Friseur sein schwieriges Werk erledigt hatte, zog man ihr ein karmesinrothes Sammetkleid an, das die schönen Formen ihrer Arme und Schultern freiließ. Dann öffnete Frau Flora Mussault ein Schmuckkästchen, das sie mitgebracht hatte, und entnahm ihm ein kostbares, aber schwerfälliges Diamantenhalsband, das sie Pauline umlegte, indem sie zugleich deren feine Handgelenke mit gigantischen Goldspangen umschloß. Und ein paar Schritte zurücktretend, rief sie mit einem befriedigten Blick auf die ganze Toilette: „Prächtig sehen Sie so aus, meine Liebe!“

Pauline warf einen Blick in den Spiegel und fühlte sich verwirrt, gedemüthigt durch ihren ungeschickten und grotesken Aufzug. Der Gedanke an ihr Kind aber verscheuchte bald wieder diese peinliche Empfindung, die jedoch aufs neue und verstärkt in ihr aufstieg, als sie beim Gehen ein Umschlagetuch von ihrer Dienerin verlangte und Frau Flora mit ihrer tiefen Stimme dazwischenrief: „Ein Tuch? Wozu?“

„Aber ich kann doch in dieser Toilette nicht über die Straße gehen!“

„Und warum nicht? Ich habe mich fünfzehn Jahre lang so ins Geschäft begeben!“ entgegnete Frau Mussault scharf.

Und Pauline fügte sich schweigend.

(Schluß folgt.)     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Weltausstellungsbriefe aus Chicago.

Von Rudolf Cronau.
IV.
Deutschland auf der Weltausstellung.

Der Haupteingang zum „Deutschen Dorf“.

Nicht nur im politischen, auch im wirthschaftlichen Leben der Völker giebt es glänzende Siege und beschämende Niederlagen, Eine Niederlage war es, die Deutschland erleben mußte, als es sich im Jahre 1878 an der Weltansstellung zu Philadelphia betheiligte; nicht nur fremdländische Besucher beurtheilten damals Deutschlands Schaustellung abfällig, sondern selbst der Vertreter der eigenen Regierung mußte die Erzeugnisse der deutschen Industrie, die man dort sah, als „billig und schlecht“ bezeichnen. Denn klein an Umfang und kleinlich an Charakter war die deutsche Abtheilung jener Weltausstellung gewesen, sie trug, obwohl die Jahre 1870 und 1871 vorangegangen waren und für Deutschland Einigung und politische Größe gebracht hatten, noch den Stempel der alten Zerrissenheit, jener zopfigen Kleinstaaterei. Die Mehrzahl der deutschen Fabrikanten hatte noch nicht gelernt, im geschäftlichen Leben groß und weitsichtig zu denken, und anstatt die Herrschaft im Welthandel durch Ueberbieten der fremden Waren an innerem Werth anzustreben, suchten sie durch kleinliches Unterbieten im Preise Vortheile zu erhaschen. Es war naturgemäß, daß bei solchen Grundsätzen in erster Linie die Qualität der Waren sich verschlechtern mußte, und ebenso naturgemäß entstand daraus jene Niederlage in Philadelphia, an deren Folgen Deutschlands Handel lange zu leiden hatte.

Siebzehn Jahre sind seitdem verflossen, siebzehn Jahre, während deren Deutschland aus politischen oder sonstigen Gründen sich gar nicht oder nur in begrenztem Maß an Weltausstellungen betheiligte. Daß aber die bitteren Mahnworte, welche Professor Reuleaux im Jahre 1876 an Deutschlands Fabrikanten richtete, wohl beherzigt wurden, daß in Deutschlands Industrie sich eine Läuterung vollzogen hat wie sie schneller und erfolgreicher nicht leicht vollbracht worden sein dürfte, das lehrt ein einziger Blick auf die deutsche Abtheilung der Kolumbischen Weltausstellung zu Chicago.

Allenthalben erkennen wir, daß Deutschland die hier gestellte Aufgabe nicht nur wahrhaft groß aufgefaßt, sondern auch mit Ernst und Gründlichkeit durchgeführt hat. Seine Gesamtausstellung überragt sowohl an Mannigfaltigkeit und Reichthum wie an Solidität diejenigen aller anderen Völker. Schon die Zahl der deutschen Aussteller in Chicago unterscheidet sich aufs beste von der Betheiligung in Philadelphia. Waren es dort nur 700 Deutsche, die auf einem Raum von 70000 Quadratfuß ausstellten, so sind es in Chicago 6134 auf einer Fläche von über einer halben Million Quadratfuß, und sogar diese hat sich als kaum ausreichend erwiesen.

Als ein geschlossenes vollendetes Ganzes steht die deutsche Abtheilung da; aus dem verachteten Aschenbrödel ist eine gefeierte Prinzessin geworden, der selbst die Ausländer den Preis der Schönheit nicht versagen können. „O ces Allemands! O diese Deutschen!“ seufzte ein mit den Erfolgen seines Vaterlandes [624] nicht ganz zufriedener Franzose, und ingrimmig knurrten einige danebenstehende Engländer und Amerikaner: „These Germands beat us all to pieces! Diese Deutschen schlagen uns alle in Stücke!“ Dieser großartige Erfolg Deutschlands, der gewiß nicht weniger in die Wagschale fällt als glänzende Siege der Armeen, ist natürlich in erster Linie den Leistungen der deutschen Industrie zu verdanken, dann aber auch der Reichsregierung, die es als ihre Pflicht erkannte, ihrerseits die Leitung in die Hand zu nehmen. Sie sah ein, daß Chicago der Platz sein werde, wo die Völker der Erde um die Herrschaft auf dem Gebiete des Welthandels streiten würden. Daß der Wettkampf heftig und die Palme des Sieges nur durch eisernen Fleiß, durch Anspannung aller Kräfte zu erringen sein werde, war gewiß, und in dieser Erkenntniß hat die Reichsregierung nicht gezögert, ihr Bestes zu thun. Ein Beweis dafür ist schon das herrliche, hart am Ufer des Michigansees errichtete deutsche Staatsgebäude, das nicht wie die Repräsentationsbauten der anderen Völker nur aus Holz und „Staff“, sondern massiv aus Stein, Eisen, Holz und Stukk ausgeführt wurde und Jahrhunderte überdauern kann. Dieses Bauwerk ist unstreitig das malerischste und eigenartigste des ganzen Platzes; es verdankt seine Entstehung dem Baumeister Radke.


Augenscheinlich war es dem Urheber dieses „Deutschen Hauses“ weniger darum zu thun, ein Kunstwerk von bestimmtem, streng durchgeführtem Stil zu schaffen, sondern er beabsichtigte, eine jener wunderbar pittoresken Bauten vor Augen zu führen, wie sie das deutsche Mittelalter geschaffen hat und wie sie bei uns noch oft genug gefunden werden. Wie verschiedene Jahrhunderte, verschiedene Bauherren an derartigen Schlössern, Burgen und Rathhäusern je nach Bedürfniß oder Laune da einen trotzigen Thurm, dort einen lauschigen Erker erstehen ließen, wie man neben den stolzen Hauptbau die Wohnungen für die wehrhafte Besatzung und das Gesinde klebte und wie man auch dem religiösen Bedürfniß durch Anfügung einer Kapelle Rechnung trug – so sollte das „Deutsche Haus“ das alles zusammenfassen. Darum entlehnte der Architekt den Schlössern und Rathhäusern zu Aschaffenburg, Goßlar und Rothenburg ob der Tauber die schönsten Motive, verschmolz dieselben in geschickter Weise zu einem harmonischen Ganzen, schmückte die Giebel mit bunten Arabesken und sinnigen Sprüchen und schuf so ein Bauwerk, das wie eine Verkörperung der mittelalterlichen Romantik vor uns steht. Selbst in dem träumerischen alten Nürnberg sucht man vergeblich eine entzückendere Vereinigung all jener märchenhaft anmuthenden Eigenthümlichkeiten, über welche die mittelalterliche Baukunst verfügte. Auf den mit bunten glasierten Ziegeln gedeckten Dachfirsten drehen sich groteske Wetterfahnen; die Traufen endigen in grimmige Drachenköpfe; das Sonnenlicht fällt durch Fenster mit Butzenscheiben und Glasgemälden, und aus den Fresken, welche die Außen- und Innenwände des Hauses schmücken, schauen jene verführerischen Nixen und reckenhaften Helden auf uns herab, von denen die deutsche Sage so viel zu erzählen weiß.

Das große Mittelthor der deutschen Ausstellung im Industriepalast.

Und auch das Innere des Gebändes hält, was das Aeußere verheißt. Das Haus beherbergt die trefflichsten Leistungen der Bildschnitzerei und Kirchenkunst, ganz besonders aber fesseln uns die reichen Geistesschätze, die in den weiten Hallen von den Buchhändlern, Schriftstellern, Zeichnern und Komponisten Deutschlands ausgebreitet wurden.

Wie viel frohe Tage sind schon über dies „Deutsche Haus“ dahingezogen, wie viel schöne Feste hat das herrliche Glockenspiel eingeläutet, das, für die Kaiserin Augusta-Gedächtniskirche zu Berlin bestimmt, im Glockenthurm des Hauses aufgehängt ist! Aber einen ganz besonders feierlichen Klang hatten diese Glocken, als sich am 15. Juni dieses Jahres Tausende und Abertausende von Deutsch-Amerikanern in Chicago versammelten, um in Gemeinschaft mit ihren deutschen Brüdern die Liebe und Anhänglichkeit zum alten Vaterlande zu beweisen und den „Deutschen Tag“[1] festlich zu begehen. Von weit und breit, von Wisconsin und Minnesota, von Indiana, Michigan, Ohio und New-York, von Missouri, Kentucky und selbst vom fernen Texas waren Angehörige sämtlicher deutschen Stämme herbeigeströmt, um vormittags an dem imposanten Festzug durch die Straßen Chicagos theilzunehmen und nachmittags vor dem „Deutschen Hause“ den von mächtigen Chören vorgetragenen heimathlichen Liedern oder den Rednern zu lauschen, deren Worte alle in dem einen Spruch zusammenklangen, welcher hoch über ihren Häuptern an der Stirnseite des mächtigen Baues prangte:

„Wehrhaft und nährhaft,
Voll Korn und Wein,
Voll Kraft und Eisen,
Klangreich, gedankenreich,
Dich will ich preisen,
Vaterland mein!“ -

Bildet das „Deutsche Haus“ mit seinen Schätzen den Kernpunkt der deutschen Ausstellung, so enthalten doch die in den verschiedenen offiziellen Gebäuden der Kolumbischen Weltausstellung untergebrachten deutschen Sektionen nicht weniger großartige Werke schöpferischen Geistes. Ganz besonders feiert in dem Palast für Industrie die deutsche Kunstfertigkeit einen glänzenden Triumph. Ja sogar in ihrer äußeren Anordnung läßt hier die deutsche Abtheilung diejenigen der anderen Völker hinter sich, die der Franzosen, dieser Meister der Dekoration, nicht ausgenommen. Drei gewaltige eiserne Thore, Meisterwerke der Kunstschlosserei, von denen das mittlere Hauptthor elf Meter hoch ist und viele Centner wiegt, schließen die Stirnseite der deutschen Sektion gegen die Columbia Avenue ab, welche das Gebäude seiner ganzen Länge nach durchschneidet. Durch ihr reiches, entzückend gearbeitetes Gitter- und Blumenwerk hindurch gewähren sie dem Auge einen ungehinderten Einblick in den weiten Ehrenhof, dessen Rückseite durch einen Kuppelbau geschlossen wird, welcher nach rechts und links Seitenflügel entsendet. Hoch über dieser Kuppel thront die für das neue deutsche Reichstagsgebäude bestimmte, von Reinhold Begas modellierte und von dem Münchener Heinrich Seitz in Kupfer getriebene Gruppe der Germania.[2]

Vor dem Kuppelbau und seinen Seitenflügeln haben die herrlichen Erzeugnisse der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin Aufstellung gefunden, während der Ehrenhof die kostbarsten Schätze des Hohenzollernmuseums enthält, ferner Prunkgeräthe und Ehrengeschenke aus dem Besitz der Kaiserin Friedrich, des Fürsten Bismarck und der Familie Moltke. Das alles sind überaus werthvolle Arbeiten, hergestellt von Künstlern und Kunsthandwerkern ersten Ranges.

Neben diese glänzende Darbietung stellt sich ebenbürtig die von unserer Reichsregierung mit einem Aufwand von 270000 Mark geschaffene Universitäts- und Allgemeine Unterrichtsausstellung.

[625]

Von der Weltausstellung in Chicago: Das Fest vor dem „Deutschen Hause“ am 15. Juni.
Nach einer Originalzeichnung von Rudolf Cronau.

[626] Sie ist die Bethätigung eines so ungeheueren Fleißes, daß unwiderstehlich der Wunsch in uns rege wird, diese einzig dastehende Sammlung möge dem deutschen Volk für alle Zeit als ein werthvoller Schatz erhalten bleiben.

Die Kruppschen Riesengeschütze.

Von den mannigfachen Anstalten, welche der Pflege des Kunstgewerbes gewidmet sind, hat die Kunstgewerbeschule zu Karlsruhe die Auszeichnung erfahren, als die alleinige Vertreterin unserer Kunstgewerbeschulen ausgewählt zu werden. Was diese Anstalt an Ergebnissen ihres Wirkens bietet, ist überraschend und berechtigt zu den schönsten Erwartungen auch für die Zukunft. Nicht minder stehen die von Bayern gelieferten kunstgewerblichen Arbeiten, kostbare Elfenbeinschnitzereien, Metallarbeiten, Kunstmöbel, prachtvolle Teppiche und Gobelins, ganz auf der Höhe der Zeit und bestechen um so mehr, als sie in Räumen untergebracht sind, die den Gemächern des prachtliebenden Königs Ludwig II. nachgebildet wurden. Die sächsische Regierung sandte eine höchst interessante Sammlung aus der Porzellanfabrik Meißen, eine-Fülle von schönen Vasen, Kandelabern, Kronleuchtern, Spiegeln, Tischen und jenen Rokokoscenen, die Meißen auszeichnen und einen wirkungsvollen Gegensatz zu den Kolossalwerken bilden, welche von der Berliner Porzellanmanufaktur hierher geschickt wurden.

Bedeutend ist auch die von Sachsen veranstaltete Ausstellung seiner Textilindustrie, deren Erzeugnisse sich in den Vereinigten Staaten einen guten Absatz erobert haben.

Wie diese Veranstaltungen der Reichsregierung oder der einzelnen Bundesstaaten allenthalben den Eifer erkennen lassen, Mustergültiges zu bieten, so haben auch die privaten Aussteller des Industriepalastes die Gelegenheit, zu Deutschlands Ruhm und Ehre beitragen zu können, nicht unbenutzt gelassen und zum großen Theil bedeutende Summen dafür geopfert. Leider müssen wir es den Fach- und Tagesblättern überlassen, die Darbietungen der vorzüglich vertretenen Berliner Kunsttischlerei, der Crefelder Sammet- und Seidefabriken, der Solinger Messerindustrie, der Hanauer, Pforzheimer und Gmünder Gold- und Silberschmiedekunst, der Nürnberger, Sonneberger und anderer Thüringer Spielwarenfabrikanten, der deutschen Chemiker und der sonstigen Industriezweige im einzelnen vorzuführen, wollen wir anders Raum auch nur für einen flüchtigen Ueberblick über die anderen deutschen Sektionen behalten.

Fast in allen ist Deutschland würdig, in einigen sogar hervorragend vertreten. Wenn im Kunstpalast Deutschlands Künstler, in koloristischer Hinsicht durch die Franzosen vielleicht übertroffen werden, so überbieten sie diese wieder durch geistige Tiefe. Einen glänzenden Eindruck machen die Werke der deutschen Bildhauer, die nicht weniger als 118 Arbeiten nach Chicago sandten. Auch hier haben Reichsregierung und Bundesstaaten zum Gelingen des Ganzen wesentlich beigetragen, indem sie bereitwillig aus den großen nationalen Sammlungen die edelsten Schätze herliehen. Endlich bietet die Ausstellung der Architekten viel des Sehenswerthen, unter anderem das Modell des Reichstagsgebäudes und die Entwürfe zum Kaiser Wilhelm-Denkmal für Berlin.

Wie reich Deutschlands Betheiligung an der Blumen- und Gartenbauausstellung ist, geht schon aus dem großen Raum hervor, den die ausgestellten Gegenstände einnehmen. Ein ganz besonderer Anziehungspunkt ist die in einem romanischen Klosterkeller untergebrachte deutsche Weinbauausstellung mit ihren trefflich gemalten Panoramen von Rhein und Mosel.

In dem Bewußtsein, daß es sich mit dem Reichthum Amerikas an Nährpflanzen nicht messen könne, hat Deutschland davon abgesehen, seine landwirthschaftlichen Erzeugnisse zur Schau zu stellen; dagegen bringt es im Ackerbaupalast eine Menge anderer interessanter Dinge. Eine umfangreiche Sammelausstellung landwirthschaftlicher Maschinen und Geräthe läßt erkennen, daß Deutschland auch auf diesem Gebiet gewaltige Fortschritte gemacht und selbst die Amerikaner fast überflügelt hat. Viel des Neuen bieten auch die Maschinen zum Destillieren, Filtrieren, Abschäumen, Abziehen und Kühlen von Getränken. Wir bewundern ferner die Reichhaltigkeit der von fast allen deutschen Bädern beschickten balneologischen Ausstellung, die Produkte der deutschen Kaliwerke, die Abtheiluug für Konserven, diejenige der deutschen Bierbrauer und Likörbrenner. Viel betrachtet wird, auch der von einer Kölner Firma aus Chokolode aufgeführte Pavillon, der sich über einer drei Meter hohen Chokoladefigur der Germania vom Niederwald wölbt.

Vorzüglich tritt Deutschland im Elektricitätsgebäude auf. Die bedeutendsten Firmen haben ihre Dynamomaschinen, ihre Beleuchtungsapparate und Straßenbahnwagen hierhergeschickt. Weiter ist hier eine von der Reichspostverwaltung zusammengestellte Sammlung untergebracht, die in bewundernswerther Anordnung die Apparate der Telegraphie, des Fernsprechwesens, der Rohrpostverbindung, Modelle deutscher Postanstalten, sowie reichen statistischen Stoff über die Entwicklung von Post und Telegraphie enthält.

Im Palast für das Verkehrswesen treffen wir auf Modelle der großartigsten deutschen Bahn- und Brückenbauten, sowie der Bahnhöfe zu Frankfurt am Main und zu Berlin, die alles weit hinter sich lassen, was Amerika bisher in dieser Richtung leistete. Auch die Vermittler des großen überseeischen Weltverkehrs, die Paketfahrt-Aktiengesellschaft in Hamburg und der Norddeutsche Lloyd, haben äußerst sorgfältig gearbeitete Nachbildungen ihrer besten Schnelldampfer gesandt; daneben finden wir einen vollständigen Personenzug, einen mit verschwenderischer Pracht ausgestatteten Salonwagen, sowie eine außerordentlich interessante Sammlung, welche die historische Entwicklung der Schienenwege und Bahnkörper veranschaulicht.

In der Maschinenhalle behauptet Deutschland gleichfalls einen der ersten Plätze, nicht minder im Palast für Bergbau. Ja das großartigste Objekt im Bergwerkspalast, eine aus lauter Schienen und Schrauben zusammengefügte gewaltige Triumphpforte, entstammt einer deutschen Firma, den Eisenwerken der Gebrüder Stumm, welche außerdem riesige Pyramiden aus gebogenen Eisenröhren, Bildsäulen aus Gußeisen und tausend andere Dinge vorführen.

Wird die von dieser Firma gestellte Gruppe als eine der umfassendsten bezeichnet, die jemals von einem einzelnen Geschäft geboten wurden, so gilt das in noch höherem Sinne von der Sonderausstellung der Firma Friedrich Krupp in Essen. Hart am Ufer des Michigansees erhebt sich ein burgartiger, mit Thürmen und Zinnen geschmückter Pavillon, in welchem eine Reihe der gewaltigsten Kanonen aufgestellt ist. Unter diesen Riesengeschützen erregt ein Ungeheuer von 14 Meter Rohrlänge und 122 Tonnen Gewicht berechtigtes Aufsehen. Es ist dazu bestimmt, bei der Küstenvertheidigung verwendet zu werden, und vermag mit seinen 1000 Kilogramm schweren Geschossen die stärksten Panzer auf alle jene Entfernungen zu durchschlagen, welche beim Kampf zwischen Schiffen und Küstenwerken vorzugsweise in Betracht kommen.

Ein anderes dieser Geschütze zeigt, bis zu welch unglaublicher Höhe und Weite die Schußlinie ausgedehnt werden kann. Es ist eine Küstenkanone im Kaliber von 24 Centimetern. Das 9,6 Meter lange Rohr ist imstande, ein Geschoß von 250 Kilogramm Gewicht 20000 Meter weit zu werfen, wobei die Flugbahn eine Scheitelhöhe von 6540 Metern erreicht. Was das heißen will, das veranschaulichen die Kartenskizzen der nächsten Seite. Würde man einen [627] solchen Schuß statt auf dem Kruppschen Schießplatz bei Meppen, wo er thatsächlich abgegeben und hinsichtlich seiner Weite genau gemessen wurde, 1000 Meter über dem Meere in Pré St. Didier am Mont Blanc abfeuern, so müßte das fünf Centner schwere Geschoß im Scheitelpunkt der Schußlinie sich noch um 2730 Meter über den Gipfel dieses höchsten europäischen Berges erheben und jenseit des Gebirgsstocks in der Nähe von Chamonix einschlagen. Und zu diesem ganzen Weg würde es etwas mehr als eine Minute brauchen, nämlich 70,2 Sekunden. Wahrlich, eine fast unglaubliche Leistung!

Im Forstgebäude wie in der Fischerei- und Lederausstellung ist Deutschland weniger reichhaltig vertreten. Desto bemerkenswerther aber sind die Leistungen verschiedener Cementfabriken, die sogar große Denkmäler und Bildsäulen aus Cement errichtet haben. Im Frauengebäude zeichnen sich Deutschlands Frauen nicht nur durch vorzügliche Proben ihrer Geschicklichkeit in allen möglichen Handarbeiten aus, sondern auch durch ihre künstlerischen Leistungen und ganz besonders durch ihre Bestrebungen für das Gemeinwohl, für Krankenpflege und Fortbildung, unter denen diejenigen des Lette- Vereins zu Berlin, des Evangelischen Frauenvereins Edelweiß, des Frauenbildungsvereins zu Breslau, des Sophienstifts zu Weimar, des badischen Frauenvereins und der Münchener Nationalschule besonders erwähnt zu werden verdienen. In geschmackvoller Zusammenstellung sehen wir ferner die Porträts der hervorragendsten Schauspielerinnen und Sängerinnen Deutschlands; in der Bibliothek des Gebäudes finden wir über 500 Bände, die von deutschen Frauen verfaßt und eingeschickt wurden.

Der Mont Blanc mit Umgebung.

Der Kruppsche Schießplatz bei Meppen.




Maßstab
1 : 300 000.




Die Schußlinie der 24 cm.-Kanone.


Die Flugbahn eines Geschosses der 24 cm.-Kanone.

Und nun von diesen Stätten des Fleißes zu einem ganz anders gearteten Ort, zu der Midway Plaisance, jener breiten Straße, die den Jacksonpark mit dem Washington- oder Südpark verbindet und an der sich ein wahrer Völkerjahrmarkt entfaltet! Auch hier hat Deutschland die größte Grundfläche eingeräumt erhalten und auf ihr in dem sogenannten „Deutschen Dorf“ fraglos die lehrreichste und werthvollste Schaustellung der ganzen Midway Plaisance geboten.

Alle jene Bauten, welche für die verschiedenen Gaue Deutschlands charakteristisch sind, findet der Besucher hier in getreuer Nachahmung wieder, der Schwarzwälder sein niedriges Bauernhaus, der Bayer seine romantische Heimstätte aus dem Gebirge, der Hesse sein thurmgekröntes Rathhaus, der Westfale seinen strohgedeckten Meierhof, der Spreewälder sein einsam gelegenes Gut; ja selbst eine jener malerischen, von breiten Gräben umgebenen Wasserburgen ist vorhanden, wie wir sie im Flachlande Deutschlands da und dort noch treffen (siehe das Bild S. 613). Sie ist eine Nachbildung der im Lahnthal gelegenen Wasserburg Langenau, ein Stück echten Mittelalters, und schreiten wir über die Zugbrücke, an dem Thorwart vorbei, der die Tracht aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges stolz zur Schau trägt, so enthüllt uns das Innere der Burg neue Wunder. Da finden wir nicht nur eine Sammlung von alten Urkunden, Gildenhumpen und von anderen dem Kunstgewerbe des Mittelalters entsprossenen Meisterstücken, sondern auch die berühmte Zschillesche Waffensammlung mit ihren kostbaren, zum Theil aus dem Besitz der edelsten Geschlechter stammenden Rüstungen und Kriegstrophäen.

Westlich von dieser Wasserburg dehnt sich ein weiter, mit schattigen Bäumen besetzter Konzertgarten aus, ein Sammelplatz aller derjenigen, die deutsch denken und Interesse an deutschem Leben und Wesen nehmen. Hier mögen sie, die fernher über den Ocean kamen, den Klängen deutscher Militärmusik lauschen und von ihren Weisen sich zurücktragen lassen in ihr Vaterland.

Fassen wir alles zusammen, so sehen wir Deutschland auf der ganzen Weltausstellung würdig und glänzend vertreten, und wenn trotz dieser erfreulichen Thatsache einige nach Chicago gesandte deutsche Journalisten die Behauptung aufgestellt haben, ein gutes Stück der auf die deutsche Abtheilung verwendeten Arbeit und des hineingesteckte Geldes sei verloren, weil diese Abtheilung hoch über die Köpfe der Amerikaner hinweggehe, so braucht sich niemand dadurch die Freude verkümmern zu lassen. Nicht nur besitzt Amerika unter seinen Bürgern intelligente Köpfe genug, welche den hohen Werth der deutschen Ausstellung wohl zu schätzen verstehen - diese wird außerdem für viele Deutsche und Deutsch-Amerikaner, für manchen Angehörigen anderer Nationen eine Quelle des Genusses und der Belehrung. Und dann die hervorragende, ja epochemachende Bedeutung, die der Kolumbischen Weltausstellung für den Welthandel der Zukunft beizumessen ist! Es sollte nicht vergessen werden, daß die Neue Welt das vorzüglichste und kaufkräftigste Absatzgebiet für europäische Waren ist und voraussichtlich noch lange Zeit bleiben wird. Deshalb galt es für Deutschland, in Chicago dem Wettbewerb Englands und Frankreichs zu begegnen und zugleich den mittel- und südamerikanischen Markt, an dem es in hervorragendem Maße betheiligt ist, gegen die beginnende Konkurrenz der Nordamerikaner zu vertheidigen, deren ganzes Streben dahin gerichtet ist, die europäische Einfuhr auch hier abzuschneiden, getreu der „Monroe-Doktrin“: „Amerika den Amerikanern!“ Angesichts dieser Thatsache können keine Anstrengungen und Opfer zu groß sein, um der deutschen Industrie jene wichtigen Absatzgebiete zu erhalten. In dieser Erkenntniß haben sich Regierungen und Aussteller zu bedeutenden Opfern verstanden, die sicherlich gute Früchte tragen werden. Deutschland hat daher jenen Männern zu danken, welche sich die Mühe nicht verdrießen ließen, die Gleichgültigkeit zu überwinden, welche anfänglich von Seiten vieler Industriellen dem Ausstellungsgedanken entgegengebracht wurde. Neben den persönlichen Bemühungen unseres Kaisers, der die Firmen Krupp und Stumm zu ihrer großartigen Betheiligung veranlaßte, ist hier noch ein Name besonders zu nennen, der des deutschen Reichskommissars Wermuth.

Hoffen wir denn, daß der Sieg Deutschlands der auf der ganzen Linie unbestritten ist, der erfochten wurde auf demselben Boden, wo wir vor siebzehn Jahren eine schwere Niederlage erlitten, die segensreichsten Nachwirkungen haben werde für unsere Kunst und unsere Industrie!


[628]
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Blätter und Blüthen.

Herzog Alfred von Sachsen-Koburg und Gotha. (Mit Bildniß.) Es ist eine eigenartige Wendung, daß ein englischer Prinz die Regierung eines deutschen Staatswesens übernimmt. Am 23. August hat Herzog Alfred von Edinburg, der zweite Sohn des Prinzgemahls Albert und der Königin Viktoria von England, der Bruder der Kaiserin Friedrich, die Herrschaft in den Herzogthümern Koburg und Gotha angetreten, auf welche er nach dem am Abend zuvor erfolgten Tode seines Oheims von väterlicher Seite, des Herzogs Ernst II., das nächste Anrecht hatte. Der neue Fürst ist am 6. August 1844 geboren. Seine Erziehung hatte von Anfang an das Ziel, ihm für den Dienst in der britischen Marine die beste Schulung zu geben, und schon mit vierzehn Jahren wurde er als Kadett in die Flotte eingereiht. Aber bereits das Jahr 1862 drohte ihn seinem Berufe wieder zu entführen – die Griechen wählten ihn zu ihrem König. Der Vater des jungen Prinzen lehnte jedoch diese Krone, die nicht ohne Dornen war, für den Minderjährigen ab. Als Kommandant des Kriegsschiffes „Galatea“ machte dann der zum Herzog von Edinburg ernannte Prinz große Seereisen, die sein Wissen und sein Urtheil in gleichem Maße erweiterten und den Grund legten zu seiner seemännischen Erfahrung, welche ihm später die Stellung eines Admirals der englischen Marine eintrug. Im Jahre 1874 vermählte er sich mit der Großfürstin Maria von Rußland, der einzigen Schwester Kaiser Alexanders III. Fünf Kinder sind dieser Ehe entsprossen, darunter ein jetzt neunzehnjähriger Sohn, der den Namen seines Vaters führt und als Offizier im deutschen Heere dient.

Ernst II. hat seinem Nachfolger ein reiches Erbe an Liebe hinterlassen. Möge der neue Herzog, dessen gerechter Sinn gerühmt wird, dieses Erbe durch seine eigene Regierung vermehren und für das Glück seines Landes und unseres ganzen Volkes in dem hohen Sinne wirken, der seinen Oheim stets beseelt hat!

Herzog Alfred von Sachsen-Koburg und Gotha.
Nach einer Photographie von Hofphotograph Prof. Uhlenhuth in Koburg.

Das Schillertheater. Dem Volk eine Schaubühne zu eröffnen, welche das Beste der ganzen dramatischen Litteratur bietet und doch zugleich auch dem Unbemittelten um einen geringen Preis offen steht – das ist ein Gedanke, dessen Nützlichkeit, ja Nothwendigkeit schon oft erörtert wurde, aber ohne daß man bisher zu einem dauernden Ergebniß gelangt wäre. Jetzt aber scheint er endlich seiner Verwirklichung nahezukommen. In Berlin ist ein Ausschuß von hundert der angesehensten Männer aus den Kreisen der Litteratur und Künste, der Gelehrten und Schulmänner, der Beamten und Gewerbetreibenden zusammengetreten, um ein solches Volkstheater im wahren Sinne des Wortes zu schaffen. Nach dem Plane dieser Männer wird in einem ansehnlichen Theaterhause von einem eigens hierzu angestellten Personal das Schönste gespielt werden, was die Litteratur aller Zeiten und Völker an Dramen zutage gefördert hat. Nicht für die Wohlhabenden sind diese Vorstellungen bestimmt, sondern für die Armen und Unbemittelten. Diesen haben bisher die hohen Preise der Spekulationstheater den Genuß und das Bildungsmittel verschlossen, die eine richtig geleitete Schaubühne ihnen bieten könnte. Das Schillertheater aber wird ihnen diese Schätze öffnen. Die besten Plätze sollen hier nicht mehr als eine Mark kosten, die letzten auf dem obersten Rang sinken herab zum Preise von fünfundzwanzig und wohl auch nur zehn Pfennigen. Die aufgestellten Berechnungen beweisen, daß dieser Plan wohl durchführbar ist, obwohl man das altberühmte Wallnertheater, das keine geringe Jahresmiethe erfordert, für den Zweck ausgesucht hat.

Erstaunt wird man fragen: wie ist ein solches Unternehmen möglich? Kommen doch selbst solche Theaterdirektoren vielfach auf keinen grünen Zweig, die für ihre Plätze so hohe Preise nehmen, daß nur der Wohlhabende sie erschwingen kann! Wie in allen Fällen eines entschiedenen Fortschritts ist es immer eine glückliche Idee, die das scheinbar Unmögliche möglich macht, und zwar ist es hier der Gedanke, die vielen Berliner Vereine, den großen Handwerkerverein voran, mit dem Unternehmen zu verbinden. Alle bestehenden Theater, selbst solche, die den größten Ausstattungsluxus treiben, könnten ihre Vorstellungen zu einem viel geringeren Preise geben, wenn allabendlich das Haus ausverkauft wäre. Um also Vorstellungen zu einem ganz billigen Preise zu bieten, muß eine Gewähr für stets ausverkaufte Häuser vorhanden sein. Nun, das Wallnertheater hat 1200 Plätze, die Berliner Vereine haben über 100000 Mitglieder. Lassen sich hiervon 7200 feste Abonnenten für das Schillertheater gewinnen – und die sind bereits so gut wie gewonnen – dann ist das Unternehmen zur Noth gesichert. Jedes weitere Tausend verbessert seine Daseinsbedingungen, und bei 15000 Mitgliedern kommt sogar schon ein solcher Ueberschuß heraus, daß man das Ensemble verbessern und vielleicht auch an eine Ergänzung durch musikalische Kräfte denken kann.

Schiller war es, der den Traum träumte, das Theater zur Hochschule der ästhetischen Erziehung des Volkes zu machen. Wie die meisten seiner Ideale, so blieb auch dieses im Reiche des Gedankens gebannt. Aber das Schillertheater ist ein Schritt, sich seinem Ideal anzunähern. Nach wem könnte es besser benannt werden als nach ihm? Er ist sein geistiger Vater, und seine Muse wird auch die hauptsächlichste Nährmutter der jungen Volksbühne sein, denn mit einem Kreis Schillerscher Stücke wird sie das erste Jahr ihres Bestehens vorwiegend ausfüllen. Möge der schöne Plan gelingen! O. N.     

Die Erforschung der Brandwunden. Es ist eine Thatsache, daß Hautverbrennungen beim Menschen fast immer tödlich verlaufen, wenn mehr als ein Drittel der gesamten Hautoberfläche verbrannt oder verbrüht wurde. Der Tod pflegt alsdann unter Abgespanntheit, Schlafsucht, Abnahme des Blutdrucks und Sinken der Temperatur bis zu 33° C. zu erfolgen. Diese Erscheinung ist bis jetzt eine der dunkelsten, die dem Arzte begegnet. Bald wurde als Ursache des schlimmen Ausganges die Unterdrückung der Hautthätigkeit, bald eine außerordentliche Abkühlung des Körpers durch die verletzte Hautfläche angenommen; in neuester Zeit aber neigt man immer mehr der Ansicht zu, daß der Kranke unter Erscheinungen sterbe, die auf eine Vergiftung schließen lassen. Diese Ansicht erhielt neuerdings eine wesentliche Stütze. Es wurden gleichzeitig Arbeiten von Aerzten aus Wien und Kijew veröffentlicht, nach denen es gelungen ist, in den Säften der Verbrannten Gifte nachzuweisen, die sich infolge der Verletzung im Körper gebildet haben, Dr. W. Reiß untersuchte in der Klinik des Professors Kaposi in Wien die Nierenausscheidungen der Verbrannten und fand, daß sie giftig waren und bei Thieren die Symptome, welche die Hautverbrennung begleiten, hervorriefen. Dr. Kijanitzin dagegen gelang es im Laboratorium des Professors Obolensky in Kijew, aus dem Blute und aus Organen verbrannter Thiere ein alkaloidartiges Gift darzustellen, das eine etwas gelbliche, scharf riechende Masse bildete und Kaninchen schon in einer Gabe von 0,5 g binnen 24 Stunden unter den oben geschilderten Symptomen der Hautverbrennung tötete.

Wenn wir bedenken, wie häufig in Fabriken etc. Hautverbrennungen vorkommen und wie wenig bis jetzt in schweren Fällen dem Kranken geholfen werden kann, so müssen wir die Tragweite dieser Entdeckung hoch anschlagen. Sicher wird sie uns später in die Lage versetzen, die Krankheit besser bekämpfen zu können. Nach den bisherigen Versuchen ist bereits im Atropin (Belladonna) ein Mittel gefunden worden, das in vielfacher Beziehung als Gegengift bei Hautverbrennungen sich wirksam erweist. *      

Das Nachreifen der Birnen. Jahrelang versorgte Frankreich die Nachbarländer mit ausgezeichneten Tafelbirnen, deren Aroma und Wohlgeschmack man nicht genug rühmen konnte. Die Vorzüge dieses Pariser Obstes wurden anfangs auf das milde französische Klima zurückgeführt, bis man erfuhr, daß die gleichen Erfolge durch ein zweckmäßiges Nachreifenlassen der Birnen auch in Deutschland erzielt werden können. Das Kunststück läßt sich sehr leicht ausführen.

Zuvörderst sind die Tafelbirnen schon dann zu pflücken, wenn die Spitzen ihrer Kerne sich schwarz zu färben beginnen, wovon man sich durch probeweises Pflücken und Anschneiden überzeugen kann. Die Fruchtsporen werden dabei nicht abgerissen, sondern mit einer Schere abgeschnitten. Das Nachreifen geschieht nun an einem kühlen, trockenen und geruchfreien Orte, derart, daß man auf einer Horde ein wollenes Tuch ausbreitet, die Birnen darauf legt und sie wieder mit einem wollenen Tuch zudeckt. So bleiben die Früchte drei bis vier Wochen liegen, worauf sie zum Verbrauch oder Versand reif geworden sind. Sie gewinnen durch dieses Verfahren so sehr an Schmelz und Aroma, daß die am Baume ausgereiften Birnen derselben Art sich gar nicht mit ihnen messen können. Nur die sehr spät reifenden Winterbirnen sind für eine solche Behandlung ungeeignet, sonst werden sämtliche Sorten durch das Lagern in Wolle in hohem veredelt. *      


KLEINER BRIEFKASTEN.

E. M. in Dresden. Wir verweisen Sie auf die früher in der „Gartenlaube“ erschienenen Artikel „Eine Wanderung durch die Adelsberger Höhle in Krain“ und „Entdecker in der Unterwelt“, welche einige der von Ihnen genannten Grotten behandeln.

J. B. in Oberstein. Nehmen Sie einen Atlas, lieber Freund, und stechen Sie darauf mit einem Zirkel die Entfernung Bremerhaven – Newyork ab. Dividieren Sie das Ergebniß mit der Personenzugsgeschwindigkeit von rund 40 km in der Stunde – dann brauchen Sie die „Gartenlaube“ nicht mehr für so einfache Dinge in Anspruch zu nehmen.


Inhalt: „Um meinetwillen!“ Novelle von Marie Bernhard (4. Fortsetzung). S. 613. – Tief gekränkt. Bild. S. 617. – Zum Gedächtniß eines deutschen Fürsten. S. 618. Mit Abbildungen S. 618, 619 und 620. – Das schöne Limonadenmädchen. Erzählung von E. M. Vacano. Mit Abbildung. S. 621. – Weltausstellungsbriefe aus Chicago. Von Rudolf Cronau. IV. S. 623. Mit Abbildungen S. 613, 623, 624, 625, 626 und 627. – Blätter und Blüthen: Herzog Alfred von Sachsen-Koburg und Gotha. Mit Bildniß. S. 628. – Das Schillertheater. S. 628. – Die Erforschung der Brandwunden. S. 628. – Das Nachreifen der Birnen. S. 628. – Kleiner Briefkasten. S. 628.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Die Behörden der Weltausstellung haben die Vereinbarung getroffen, daß jedem Volk, das sich offiziell an der Weltausstellug betheiligt, ein besonderer Festtag eingeräumt werde, den es mit seinen eingeladenen Gästen in nationaler Weise begehen kann. Der „Deutsche Tag“ fiel auf den 15. Juni.
  2. Eine genaue Abbildung dieser Gruppe ist auf S. 133 des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ enthalten.