Die Gartenlaube (1895)/Heft 20

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]

Nr. 20.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.
(6. Fortsetzung.)


Ditscha ist pünktlich um fünf Uhr von Bützow aus mit dem Hamburger Personenzug abgefahren; wie es verabredet ist, soll sie an der Kreuzungsstation, wo sie den Zug wechseln muß, auf Hans von Perthien warten, der nachts mit dem Zwölfuhrzug nachkommen will. Grete begleitet das junge Paar bis Helgoland; sie soll bei der Trauung zugegen sein und findet das höchst romantisch. Sie hat nur die eine Bedingung gemacht, daß sie spätestens am Tage vor Sylvester abends wieder abreisen kann, denn ihre eigene Hochzeit findet am zweiten Januar statt; man hat es ihr natürlich zugestanden – man braucht sie dann nicht mehr.


Eine Ueberraschung.
Nach dem Gemälde von C. von Reth.

[326] Hans von Perthien ist bereits um elf Uhr auf dem Bahnhof in Bützow. Er hat dem Herrn Domänenrat natürlich vorgelogen, daß er um diese Zeit mit dem Magdeburger Zug reise. Die Stunde des Wartens dort wird er ja überstehen; zusammenzureisen mit Ditscha zu so früher Tageszeit, wäre nicht ratsam gewesen. Auch mußte er noch den „Bescherungsschwindel“ in Uechte mit erleben, eine „tolle Geschichte“, weil nicht mehr und nicht weniger als dreizehn Enkelkinder des domänenrätlichen Ehepaares dabei sind, zu denen vier verheiratete Töchter nebst Schwiegersöhnen gehören. Natürlich war bei der Feierlichkeit sämtlicher üblicher „Klimbim“, als Singen, Weihnachtsmannbeten und kolossale Aufregung, ausgiebig vertreten. Er hat eine sehr schöne Meerschaumspitze mit Bernsteinmundstück und Cigarren bekommen, ein immerhin ganz acceptables Präsent, meint er, während er sich im völlig leeren Wartezimmer herumdrücken muß, in welchem es nach sauerm Bier riecht und kalt und ungemütlich ist.

Er hat sich ein Glas Punsch bringen lassen und mit der Kellnerin ein Gespräch angeknüpft. Das, was er vorhat, regt ihn nicht im mindesten auf, die Beetzener würden schon sorgen, daß die Geschichte glatt abgeht, bis Helgoland braucht man wahrscheinlich gar nicht erst zu gondeln. Morgen wird man Ditscha vermissen, ihren Brief finden, schleunigst hinterherreisen, und dann steht nach drei bis vier Tagen die Verlobungsanzeige in der „Kreuzzeitung“.

Er fragt das verdrießliche strohblonde Geschöpf, was sie zu Weihnacht bekommen habe, und was es Neues giebt. Aber sie ist nicht besonders aufgelegt und verschwindet nach ein paar einsilbigen Antworten wieder in das hinter dem Büffett befindliche Zimmer. Die Petroleumlampe qualmt, der Ofen raucht, es ist nicht mehr zum Aushalten.

Hans von Perthien beschließt, draußen auf und ab zu gehen. Er steht ein Weilchen vor dem erleuchteten Fenster des Telegraphenbureaus still. Bützow hat Nachtdienst; das Gut eines bekannten Staatsmannes liegt dort in der Nähe, und dieser ist dafür eingetreten.

Der Apparat spielt, der bedeutungsvolle Papierstreifen wickelt sich ab unter den Händen des jungen Beamten. Wem mögen die Zeichen gelten? Was haben sie zu bedeuten? – Plötzlich ruft der Mann nach dem Hintergrund des Zimmers gewendet. „Ein Eilbote – dringend – nach Beetzen!“

Der stellvertretende Inspektor, der im Nebenzimmer auf dem Sofa geschlafen hat, kommt herein. Der Bote steht schon da mit nichts weniger als erfreutem Gesicht. „Anderthalb Stunden in der Winternacht, Schwerenot!“ murmelt er. Hans von Perthien kann sogar dieses Murmeln verstehen, denn die Luftscheibe des Fensters ist halb geöffnet.

Jetzt sagt der Beamte lachend. „Man zu, Claussen, da setzt’s ein fettes Trinkgeld ab, das ist ’was Gutes. Oder meinen Sie nicht, daß Sie sich auch freuten, wenn Sie so’n Stammschloß hätten wie Beetzen und es wäre endlich ein Erbe da?“

Hans von Perthien steht wie angedonnert. Er sieht, wie die Depesche ausgefertigt, wie sie dem Boten übergeben wird und wie dieser das Zimmer verläßt. Er lehnt wie betäubt an dem Gebäude, hat den Hut abgenommen und fährt sich über die Stirn.

Was war denn das? Beetzen – ein Erbe? Ditscha sollte nicht – – alle Hagel! Gewißheit – Gewißheit um jeden Preis! Aber wo sie erfahren?

Da kommt ihm der Zufall wieder zu Hilfe. Der Inspektor und der Telegraphenbeamte unterhalten sich über den Fall weiter, und der erstere, der ein jovialer Herr ist, meint: „Na, da sinkt die hübsche Baroneß Kronen bedeutend im Preise. Hätt’ mancher gern die Kleine gehabt, wenn – Beetzen daran hängt. Wird auch nicht allzu freudig überrascht sein, ein Brüderl zu Weihnacht zu kriegen.“ Dann lachen sie beide.

„Se könn’ jetzt das Billet bekommen, Herr, de Schalter is apen,“ sagt plötzlich zu ihm der Mann, dem er vorhin seinen Koffer übergeben hat.

„Schön! Wann geht der Zug?“

„In eine Viertelstünn.“

„Nach Magdeburg?“

„Nee! Ich denk’, Se wölln na Hamborg, Herr?“

„Nach Hamburg? Blech! Nach Magdeburg will ich!“

„Ja, dann hev ick dat falsch verstahn. Nach Magdeborg, da geiht nu aberst lang kein, oder Se mötn jetzt mit’n Gütertog fahren, da is ’n Wagen drütter Klass’ an.“

„Nun denn, hinein zum Teufel in den Güterzug!“ sagt Hans von Perthien. „Holen Sie mir ein Billet und besorgen Sie den Koffer. Wann kommt denn dieser Zug?“

„In tein Minuten, Herr.“

„Schön,“ sägt Hans von Perthien. Und nach zehn Minuten sitzt er in dem völlig leeren Personenwagen des Güterzuges und zündet sich eine Cigarre an. „Ei, du Donnerwetter,“ sagt er halblaut, „das hat gerad’ noch geklappt! I der Deibel, wie leicht man doch hätt’ reinfallen können! Ditscha ohne Beetzen?“ – – Er pfeift vor sich hin – „Scheußlich, nun sitzt sie da in dem öden Bahnhof und wartet – armes kleines Mädchen! Kann ihr aber nicht helfen, muß wieder heim, werde ihr schreiben von Berlin aus – oder auch nicht – und dem Calwerwisch auch, der mich nun ebenfalls loswird. Ein herziges Käferl ist sie, aber – hungern mit ihr? Der Deibel! Glück muß ein junger Mann haben.“ Und er nimmt die Cigarre, bläst etwas Rauch aus, führt ihn mit der Hand zur Nase und nickt befriedigt – „nicht übles Kraut, das!“

Ditscha sitzt indes geduldig im Wartesaal der Kreuzungssation, neben ihr Grete.

Vor Grete, die in einem eleganten Wintermantel, Pelzboa und Federhut prangt, stehen die Reste eines Abendessens; sie trinkt eben noch den letzten Schluck Bier aus, setzt das Seidel klappernd auf den Tisch und sagt: „Nun noch zehn Minuten, dann kommt ‚Er‘! – Was ist so’n Warten doch langweilig, noch dazu Weihnachten; es tröstet mich nur, daß noch mehr Leut’ unterwegs sind, die den Christbaum verpassen.“

„Du wärst lieber daheim geblieben, Grete? – Es thut mir so leid,“ antwortet Ditscha matt, die den Schleier nicht zurückgenmmen und sich mit dem Rücken nach dem Gasleuchter gesetzt hat.

„O je! Keine Spur, gnä’ Fräulein; nee – so ’was!“

„Aber Dein Bräutigam?“

„Der amüsiert sich schon derweil in Bützow. Die Eltern denken, wir sind beide bei seiner Tante in Magdeburg, die uns ’mal ’was vermachen will – ’s ist zum Totlachen! Na, wenn sie dies wüßten, die Alten – o je! – Ueberhaupt, gnä’ Fräulein, das müssen Sie mir aber versprechen, wie’s auch kommt, daß Sie mich nicht verraten bei der Herrschaft, sonst ist für meine Eltern das letzte Brot auf Beetzen gebacken – nicht wahr, gnä’ Fräulein?“

Ditscha seufzt. „Gewiß nicht, Grete!“

„Einsteigen nach Lüneburg, Harburg, Hamburg!“ schreit der schlaftrunkene Portier.

Ditscha fährt empor und greift nach ihrer Tasche, aber sie fühlt, wie sie wankt, und stützt sich zitternd auf einen Stuhl.

Grete spricht ihr Mut zu und ergreift die halb Ohnmächtige beim Arm, um sie hinaus zu führen. Der Zug braust eben herein. Grete mustert alle Coupés, eine Menge Leute steigt aus, um den Hamburger Zug zu erreichen; Unmassen von Gepäck liegen plötzlich auf dem Perron.

„Jenseit des Gebäudes Abfahrt nach Hamburg!“ schreit ein Beamter, Grete hat Ditscha stehen lassen und schiebt sich suchend durch die Menge, Hans von Perthien ist nicht da! Sie schreit Ditscha etwas zu und läuft nach dem Hamburger Zug – er kann ja geglaubt haben, sie sind schon darin. Ditscha folgt ihr, mit einem wahnsinnigen Herzklopfen und einem Gefühl, als müsse sich die Erde vor ihr aufthun, wenn sie seiner ansichtig werde, und doch sehnt sie sich in diesem Augenblick nach ihm, als ob sie ihn wirklich liebe – sie weiß ja, die Brücke hinter ihr ist abgebrochen, sie hat nur noch ihn auf der ganzen weiten Welt.

Grete kommt atemlos ihr entgegen. „Was sollen wir thun – er ist nicht gekommen!“

„Nicht mit ge – –“

„Nein, gnä’ Fräulein – hat jedenfalls den Zug verpaßt. Eilen Sie sich doch ein bißchen, die Coupés werden schon geschlossen.“

„Ich fahre nicht ohne ihn,“ erklärt Ditscha und wendet sich dem Hause zu.

„Aber – du große Güte – wie – was? Er ist doch gewiß im nächsten Zuge!“

„Ich gehe nicht ohne ihn nach Hamburg, wir warten hier,“ sagt Ditscha, und sie wendet sich an einen Beamten. „Wann kommt der nächste Zug von Bützow?“

„Vier Uhr fünfzig,“ antwortet der Mann, und Ditscha geht gelassen nach dem Wartesaal zurück, gefolgt von der mißvergnügt dreinblickenden Grete. Als ob man den unpünktlichen Herrn Bräutigam – schöner Bräutigam, ihrer dürfte sich das nicht erlauben – nicht auch mit aller Bequemlichkeit in einem Hamburger Hotel [327] erwarten könnte, anstatt auf diesem schrecklichen Bahnhof mit seinem verräucherten Wartesaal in der Weihnachtsnacht!

Grete sieht die blasse Ditscha gar nicht an, legt sich ins Sofa zurück und schließt die Augen. Hinter dem Schenktisch nickt die verschlafene Büffettdame. Der Regulator über dem Sofa schwingt so leise seinen großen Messingperpendikel, als sei er eine Gespensteruhr, das Gas ist heruntergeschraubt und zischt leise, und Ditscha zermartert ihr Gehirn, wie es möglich gewesen, daß er nicht kam. Sie denkt, ob er einen Unfall gehabt hat, und malt sich eine Scene aus auf der nächtlichen Chaussee, einen zerbrochenen Wagen, einen hinausgeschleuderten Menschen, ein gestürztes Pferd. Oder, er hat sich nicht sogleich in Uechte frei machen können von der Weihnachtsfeier – natürlich!

Als sie gestern von ihm Abschied nahm, da war sein flüsterndes Wort: „Wir trennen uns heut’ zum letztenmal, Ditscha.“ – – Und sie ist ganz beruhigt. Man kommt ein paar Stunden später nach Hamburg, was schadet’s? Und sie denkt weiter – wann werden sie meinen Brief finden in Beetzen? Und wer? Und wie wird das sein? – Sie stellt sich alles vor, die mögliche günstige und die schlechte Aufnahme. Sie hätten es sich und ihr ersparen können, sie wäre gewiß auch lieber in der Beetzener Kirche getraut worden, im Beisein der Familie, als nun so allein in Helgoland. – Hin und wieder treffen ihre Augen die Uhr – „mein Gott, wie langsam die Zeit geht, und wie totmüde ich bin!“

Auf einmal schreckt sie auf – sie hat geschlafen. „Einsteigen nach Lüneburg, Harburg, Hamburg!“ Grete taumelt ebenfalls empor, noch völlig schlaftrunken stürzen sie beide nach dem Perron.

Der Zug fährt langsam an ihnen vorüber, sie mustern mit den Blicken die erleuchteten Coupés – warum erscheint er nicht am Fenster? Auf einmal schreit Grete auf. „Jesus, gnä’ Fräulein, der Herr Baron – der Herr Onkel und Fräulein Anna! Barmherzigkeit, sie sind uns nachgekommen – gnä' Fräulein – verraten Sie mich nicht!“

Und ehe die betäubte Ditscha weiß, wie ihr geschieht, ist Grete von ihrer Seite verschwunden, und sie steht allein unter einer flackernden Laterne, neben sich das Gepäck und nicht fähig, sich zu rühren, und sieht Onkel Jochen und sieht Tante Anna. Die beiden kommen eilig, ihrer nicht achtend, direkt auf sie zu, um sich nach der andern Seite des Bahnhofs zu begeben.

Ditscha fühlt, wie die Kraft, sich aufrecht zu erhalten, sie zu verlassen droht. Sie umfaßt den Kandelaber, und in diesem Augenblick wird sie von Tante Anna bemerkt.

„Jochen!“ schreit diese, „Jochen!“ Er ist schon weiter geschritten und wendet sich nun. Da sieht er in den Armen seiner Schwester die Gesuchte, blaß wie der Tod, mit halb geschlossenen Augen, und im nächsten Augenblick steht er bei ihr und faßt sie an den Schultern, und der Zorn übermannt ihn.

„Wo hast Du den Schurken?“ fragt er, „sag’s, wo ist er, auf der Stelle sag’s!“

Ditscha ist zu sich gekommen und macht sich empört von ihm los. „Ich weiß von keinem Schurken,“ antwortet sie und blickt fest in die rotunterlaufenen Augen ihres Onkels.

„Jochen!“ mahnt Tante Anna leise, „um Gotteswillen, nur hier keine Scene!“

„Ich frage Dich zum letztenmal,“ flüstert der aufgeregte Mann drohend, „wo hat sich Dein Liebster hingeflüchtet – Wahrheit – Wahrheit allein kann Dich noch retten!“

„Ich weiß es nicht – ich nicht.“

„War er nicht hier?“

„Nein, ich erwarte ihn erst.“

„So! Es wird sich finden, ob Du wahr sprichst – Anna, Du bleibst bei ihr, ich will suchen!“

Er stürzt vor den noch dastehenden Hamburger Zug und schaut in alle Coupés, er fragt die Schaffner, ob ein Herr – so und so habe er ausgesehen – eingestiegen sei. Aber der Zug ist fast ganz leer, die paar Insassen gleichen nicht Herrn von Perthien.

Er kommt atemlos zrück. „Es wird sich finden,“ droht er. „Und jetzt geht hier auf und ab, ich will Billets lösen nach Berlin. – Ihr betretet nicht den Wartesaal, es könnte ja doch jemand dort sein, der uns kennt und sich etwas wundern dürfte, daß Joachim von Kronen genötigt ist, seine Nichte in der Christnacht auf einem Bahnhof aufzulesen.“

Ditscha wankt neben Tante Anna her, aber sie kommt nicht weit, die Füße versagen ihr bald den Dienst. Sie stehen da nebeneinander an einer windigen finstern Stelle des Bahnhofgartens unter einer Akazie, an deren Stamm Ditscha sich lehnt; Tante Anna bebt vor Frost und tritt von einem Fuß auf den andern. Ditscha merkt nichts von Kälte, sie fühlt nur eins, daß sie verraten, beschimpft, vernichtet ist. Tante Anna hat eine Flut von Vorwürfen auf den Lippen, aber sie ist so aufgeregt, daß sie kaum zusammenhängend sprechen kann.

Sie stößt nur hervor: „Und Du – Du willst eine Kronen sein? Du willst zu uns gehören? Herabgewürdigt hast Du uns alle – alle. Was dachtest Du Dir eigentlich dabei? Hast Du denn keinen Funken von Religion und Moral?“

Als sie endlich im Coupé erster Klasse sitzen – Onkel Joachim hat dem Schaffner ein Trinkgeld gegeben, damit sie allein bleiben – schreit er Ditscha wieder an. „Heraus mit der Sprache, wo ist der Kerl?“

Ditscha zuckt die Achseln, sprechen kann sie nicht. Ihr Gesicht ist kalkweiß, die blauen Ringe unter den Augen ziehen sich bis auf die Wangen herab.

„Ich sage Dir – sprich!“ tobt der zornige Mann. „Wo ist er? Wer war Dein Helfershelfer? – Reinen Wein, wenn ich Dich, Deinen Ruf retten soll – reinen Wein!“

„Daß wir so etwas erleben müssen, Jochen,“ schluchzt Tante Anna, als Ditscha mit starren Augen an dem Onkel vorbeisieht, „daß eine aus unserem Hause heimlich mit einem Mann durchgeht! –“

„Durchgeht?“ donnert Jochen von Kronen, „der Lumpenkerl hat sie sitzen lassen! – Du siehst’s ja, er hat sich bedankt für so eine – eine –“

Ditscha greift mit den Händen an ihre Schläfen, ihre Blicke irren verzweiflungsvoll umher, und plötzlich springt sie auf, reißt das Fenster hernieder und beugt den Oberkörper weit hinaus, um die Thür zu öffnen – sie will sich hinausstürzen, sie will sterben, sie kann nicht weiter leben – sie –.

Joachim von Kronen hat sie im selbigen Augenblick um den Leib gefaßt, sie zurückgerissen und auf den Sitz geschleudert. Die Thür ist offen, der kalte Wind und einzelne Schneeflocken dringen in das Coupé.

Sein Gesicht ist erdfahl geworden; seine Augen sehen mit wahnsinniger Angst auf das blasse, leblose Antlitz des jungen Mädchens. „Ditscha! Ditscha!“ ruft er, „sei doch vernünftig! Kannst Dir doch denken, daß ich rasend bin, über Deine Dummheit. – Wach’ doch auf, Ditscha – wach’ doch auf!“

Aber das Mädchen hört nicht, sie ist ohnmächtig geworden.




Jahre sind dahingeschwunden.

Im Schloßgarten von Beetzen blühen die Linden. Auf der Terrasse des Herrenhauses sitzt Ditscha, neben ihr steht der Tisch, auf dem die unberührte wappengeschmückte Tasse des Hausherrn wartet, auch ein Kindertäßchen ist da und ihre eigene; frische Semmeln, Butter und Honig vervollständigen das Vesperbrot.

Ein paar Wespen summen darüber. Es ist sehr warm und am tiefblauen Himmel türmen sich weiße silberglänzende Wolken empor, ein echter Sommernachmittag. Auf dem Kiesweg ziehen sich frische Räderspuren hin. Die Thüre nach dem Speisesaal steht offen und man hört die große Standuhr drinnen schlagen – halb vier.

Ditscha läßt ihre Arbeit ruhen, legt die Hände in den Schoß, den Kopf zurück und schließt die Augen. Eine halbe Stunde noch, ehe Onkel Jochen und der Kleine erscheinen werden. Sie ist in tiefer Trauer; Ditscha ist überhaupt all’ die Jahre her, und es sind ihrer sechs, nicht aus der Trauer herausgekommen. Sie denkt eben darüber nach, als sich die helle Stickerei in dem Sonnenstrahl, der langsam zu ihr herübergeglitten ist, förmlich blendend von dem tiefen Schwarz ihres Gewandes abhebt.

Zuerst, gleich damals, als sie die große Thorheit ihres Lebens beging, starb Tante Klementine. – Ueber Ditschas Antlitz, das sich wenig verändert hat bis auf einen wehen Zug um den Mund, der ihm etwas Stilles, Ernstes giebt, fliegt bei dieser Erinnerung eine leichte Blässe. Sie gesteht sich ehrlich, daß sie schuld ist an dem raschen Tod der Kranken, obgleich man es ihr hat ausreden wollen. O, Ditscha hat furchtbare Zeiten erlebt, sie kann nicht darüber nachdenken, ohne das ganze Elend, den ganzen Schimpf der damaligen Lage immer wieder zu empfinden. Onkel Joachim hat seit jenem Augenblick im Coupé zwar niemals wieder ein Wort mit ihr über das Begebnis geredet, hat ihrem Vater keine

[328]

Ein Gedenkblatt für Gustav Freytag.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von A. Zick.

[329] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [330] Mitteilung gemacht und Tante Anna energisch untersagt, je auch nur das Unbedeutendste darüber zu reden, zu wem es auch sei. Man hatte sie halbtot an die Wiege ihres neugebornen Brüderchens geschleppt und war dann, andern Tages mit ihr wieder abgereist nach Beetzen, Der einzige Eindruck, den das Kind auf sie gemacht, war das Gefühl, daß sie nun erst recht überflüssig sei auf dieser Welt.

Als sie in Beetzen wieder angelangt war, hatte ihr Grete Busch einen Brief von Hans zugesteckt. Sie nahm ihn, riß ihn vor Gretes Augen in hundert kleine Stückchen und ließ diese von ihrer Handfläche fliegen, grüßte Grete hochmütig und wendete ihr den Rücken, ohne ein Wort zu sprechen, Grete, die auf viel Geld und auf ein Hochzeitsgeschenk für alle ihre Mühe gerechnet hatte, in sehr erbitterter Stimmung zurücklassend.

Tante Bertha betrachtete Ditscha mit aus Verwunderung und Entsetzen gemischten Blicken; Hanne war tödlich verlegen und wußte lange Zeit nicht, wie sie sich benehmen sollte. Einzig Tante Klementine, vor deren Bett das Mädchen kniete in stummem Jammer, weinte über sie. „O, Du mein armes Kind, mein armes Kind!“ Aber die Teilnahme der armen Kranken öffnete ihr auch die Augen über die Tragweite ihrer Verirrung. Und aussprechen konnte Ditscha sich auch bei ihr nicht; es war ihr, als sie den Versuch dazu machen wollte, als müßte ein einziger Schrei über ihre Lippen kommen, ein greller Schrei der Verzweiflung, der ihr selbst und anderen das Herz krank gemacht hätte.

Erst als Klementine ausgekämpft, als Ditscha am Sarge stand und Hanne sie kopfschüttelnd allein ließ mit der Toten, erst da fand sie, niederknieend und die Stirn gegen das Eichenholz des Sarges pressend, Thränen und Worte herzzerreißender Klagen und Fragen, eine Beichte, die ihr das Herz nicht erleichterte, sondern nur noch bitterer machte. Ihre Jugend – ist vorbei, vorüber! Sie hoffte nichts mehr, sie fühlte nichts mehr – sie lebte weiter in dem stillen Beetzen, ohne etwas zu vermissen, in starrer Abgeschiedenheit, ohne Sonne und Licht.

Dann kam der große herrliche Krieg. Ditscha atmete auf; sie bat auf den Knieen, man solle sie mitziehen lassen nach Frankreich als Krankenpflegerin – umsonst! Tante Anna trat ihren Posten als Vorsteherin eines großen Spitals nahe der deutschen Grenze an; Ditscha blieb bei Onkel und Tante, strickte Strümpfe und nähte Hemden, für die Soldaten im Felde, las geduldig Onkel Joachim die „Kreuzzeitung“ vor von A bis Z und verfolgte auf der Karte das Vordringen des siegreichen Heeres. Ihre Stiefmutter mit dem kleinen Joachim von Kronen kam damals ins Haus, ein nervöses seufzendes ungeduldiges zierliches Frauchen, das jeden Tag ein bis zwei Thränenscenen aufführte, sehr viel Romane las und ihrem prächtigen Buben etwas von seinem armen, armen Papa erzählte, der nie wiederkomme, ganz gewiß nicht wiederkomme, und der Onkel Bredow auch nicht. Dann ging das Weinen und Jammern von neuem an, und das geängstigte, damals dreijährige Kind schrie mit, als ob es am Spieße stäke. Ditscha stand dabei mit ihrem blassen Gesicht und wußte nicht, was sie dazu sagen sollte.

Frau Cilly von Kronen hatte in der Hauptsache recht gehabt: An einem entsetzlich heißen Sommertage traf die Kunde von dem Tode ihres Mannes ein; er war bei Mars-la-Tour gefallen.

Ditscha war nun ganz Waise, aber an sie dachte niemand. All’ und jede Teilnahme konzentrierte sich auf die junge Witwe und den kleinen Sohn. Selbst Tante Bertha rüttelte sich aus ihrer starren Zurückhaltung empor, die sie gegen den kleinen Burschen zu beobachten pflegte, und schloß weinend das Kind in die Arme, Onkel Joachim saß bei dem sich verzweifelnd gebärdenden, jungen Weibe stundenlang, und endlich machte er sich auf, um die Leiche des Bruders zu holen. Als er in Begleitung des verwundeten Adjutanten seines gefallenen Bruders mit dessen sterblichen Ueberresten zurückkehrte, hatte sich Frau Cilly so weit gefaßt, daß sie Herrn von Bredow empfangen konnte. Die Witwenhaube auf dem lichtblonden Haar, ganz in schwarzen schleppenden Krepp gehüllt, aus dem ihr Kindergesicht zart wie eine Apfelblüte hervorsah, erwartete sie ihn im Empfangszimmer. Ditscha, den Kleinen auf dem Arme, stand hinter ihrem Sessel.

Herr von Bredow trug den Arm in der Binde, ein schöner hochgewachsener Mann, in dessen jugendlichem Gesicht es zuckte wie von mühsam verhaltener Aufregung, als er der Witwe seines Kommandeurs die Hand küßte. Er machte Ditscha seine ritterlichste Verbeugung und strich dem Kleinen über den Blondkopf.

„Ach, Ditscha, bitte, darf ich Dir Herrn von Bredow vorstellen? – Herr von Bredow, dies ist die Tochter meines armen verstorbenen Mannes.“

Herr von Bredow hatte sich tief verbeugt und sich dann vor Frau Cilly, die jetzt das Kind auf dem Schöße hielt, niedergelassen auf einem kleinen Taburett; es sah fast aus, als kniee er vor ihr. Und nun kam der Bericht von seines Obersten Tode und seinen letzten Grüßen. Sie hatten „meiner Frau, meiner armen kleinen Frau“ gegolten und „dem süßen Jungen“. Cilly waren bitterliche Thränen über das weiße Gesichtchen gelaufen; Ditscha stand, die Arme schlaff herabhängend, die Hände die Falten ihres Kleides gekrallt, da und wartete auf den letzten Gruß ihres Vaters. Aber Herr von Bredow sagte nichts dergleichen; Frau Cilly sprach schon längst mit leiser Stimme von der Verwundung des Berichterstatters. Da wandte sich – Ditscha zum Gehen, ein eiskaltes, bitteres Gefühl im Herzen.

Nicht ’mal in der Sterbestunde hatte er ihrer gedacht!

Der Begräbnistag stand heute wieder so deutlich vor ihr. Alle hatten geweint, nur sie nicht: nicht bei der ergreifenden Rede des Predigers, nicht bei den verzweifelten Schmerzausbrüchen der jungen Witwe und den spärlichen Thränen, die in Onkel Jochens silbergrauen Bart rieselten; nicht, als sich die Pforte der Kapelle hinter Klaus von Kronens sterblichen Ueberresten schloß, und nicht bei den tröstenden Worten des zahlreichen Trauergefolges. Zu, dieser trüben Feier hatte sich der ganze Adel der Nachbarschaft vollzählig auf dem alten Beetzen eingefunden, und wenn Joachim von Kronen je geglaubt hatte, man habe ihn gestrichen aus der Zahl der Lebenden, so hatte er sich geirrt. Alle waren sie da, alle.

Ditscha weinte auch hier nicht; erst als sie allein war in der Nacht, da rüttelte es sie in wildem Schmerz; aber es war nicht Trauer, was sie bewegte, es war das vereinsamte gekränkte Herz, das mit dem Toten haderte, weil er sie nicht besser geliebt, weil es nicht so um ihn trauern konnte, wie es gewollt und gesollt!

(Fortsetzung folgt.)




Gustav Freytag.

Von Rudolf von Gottschall.
(Mit dem Bilde auf S. 328 und 329.)

Gustav Freytag ist nicht mehr! Die deutsche Nation hat einen ihrer Lieblingsschriftsteller verloren. Am 30. April ist er zu Wiesbaden in seinem 79. Lebensjahre gestorben. Tief wird dieser Verlust empfunden werden, wenn auch der Dichter sich in den letzten Jahren mehr beschaulicher Muße hingegeben und nur selten zur Feder gegriffen hat, um seine Meinung über eine nationale Angelegenheit, wie in der Schrift „Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone“, auszusprechen. Wie sein Bild der Berliner Nationalgalerie angehört, so gehören seine Werke unserer Nationallitteratur als dauernde Bereicherung.

Gustav Freytag ist ein Schlesier von Geburt; aber das phantasievolle und bewegliche Naturell seines Volksstammes war ihm nur in beschränktem Maße eigen. Die liebenswürdige Plauderhaftigkeit eines Karl von Holtei, die herausfordernde Keckheit eines Heinrich Laube würde man bei ihm vergeblich suchen. Freytag war von Hause aus maßvoll und hat nie eine überschäumende Sturm- und Drangepoche durchgemacht. Seine Jovialität war stets fein und hatte einen starken Zusatz von Ironie, sein Gemüt hatte etwas Inniges, das sich nie ausgab in überströmenden Ergüssen, das mit allen Empfindungen haushielt; aber stets traf er das bezeichnende Wort, das sie voll zum Ausdruck brachte.

Gustav Freytag stammt aus jenen Gegenden jenseit der Oder, die sich nicht gerade des Rufes malerischer Schönheit erfreuen; er ist am 13. Juli 1816 in Kreuzburg geboren, an der Grenze der „Wasserpolackei“, die ihren Namen davon hat, daß hier das Polentum im Osten und Süden dicht heranrückt an die von Deutschen [331] bewohnten Landstriche. In seinen „Erinnerungen“ bricht der Dichter eine Lanze für die Reize dieser Gegenden. Freytags Großvater war Geistlicher, sein Vater Arzt und später Bürgermeister von Kreuzburg; seine Mutter stammte aus einem ländlichen Pfarrhause. In seinen Romanen ist Freytag selten Kindermaler; aber in seinen Erinnerungen wetteifert er mit Oscar Pletsch, indem er uns allerliebste Genrescenen aus seiner Kindheit vorführt. Da schildert er uns den ersten großen Schmerz seines Lebens, als ein aus dem Neste gefallenes Sperlingskind, das seine Mutter künstlich mit Erfolg aufgepäppelt hatte, sein lieber Spielgefährte, plötzlich von des Nachbars Katze gemeuchelt wurde; er schildert uns, wie die Kinder das Waldmoos aus dem Stadtwalde holten für den Teppich, in welchen zur Weihnachtszeit die ausgeschnittenen Figuren der heiligen Familie gesteckt wurden. „Die meisten Kinderspiele,“ erzählt er, „wurden von uns geübt; der Drache flog, der ‚Mönch‘ brummte, die Bleisoldaten marschierten auf dem Fußboden, und was die Händler, welche ‚Spilleleute‘ hießen, von geschnitzter Holzware an den Jahrmärkten ausstellten, wurde so lange sehnsüchtig betrachtet, bis wir davon heimtragen konnten.“

Das Gymnasium in Oels, welches Freytag dann besuchte, bildete in ihm einen tüchtigen Lateiner und Griechen heran; die Lehrer sahen in ihm einen künftigen Philologen; aber als er die Universität bezog, wandte er sich dem Studium der deutschen Sprach- und Altertumskunde zu. In einem Kollegium über Handschriftenkunde war er der einzige Schüler Hoffmanns von Fallersleben, der ihm hierin tüchtige Kenntnisse beibrachte, ihm aber auch daneben seine neuesten lyrischen Gedichte vorlas. Im Jahre 1836 setzte er seine Studien in Berlin fort, wo er sich mit einer Abhandlung über die Anfänge der dramatischen Poesie der Deutschen den Doktorhut erwarb.

Wir finden ihn dann wieder als Privatdocenten in Breslau; er war schon 23 Jahre alt und hatte noch nicht seiner Militärpflicht genügt. Dabei begegneten ihm mehrere Unannehmlichkeiten. Der Oberstlieutenant des elften Regiments gewährte ihm noch einen halbjährigen Aufschub bis zum Herbst. Inzwischen war eine Verordnung erschienen, die alle aus seinem Geburtsjahr, welche ihrer Militärpflicht noch nicht genügt hatten, dringend aufforderte, sich bei der Polizei zu melden. Auch Freytag meldete sich und erhielt einige Wochen darauf den Befehl, sich bei der Ersatzkommission zu stellen. Ein alter mißvergnügter General behandelte ihn als säumigen Kantonisten und erklärte, daß er sein Recht auf einjährigen Dienst verloren habe, der Arzt habe ihn zu untersuchen. Ich war,“ wie Freytag selbst erzählt, „schnell aufgeschossen, damals schmal und kränklich, also versuchsweise einzustellen. Die Stiefeln aus, unter das Maß; die Fahne wurde herumgetragen und ich als Gemeiner für drei Jahre in Eid und Pflicht genommen.“ Als indes der Termin kam, wo er sich zum Eintritt in Breslau stellen sollte, lag er erkrankt danieder. Der Vater zeigte dies der Ersatzkommission an und legte für die Verhinderung ein Zeugnis des Kreisphysikus bei; doch umgehend erging der Bescheid an den Landrat, der Rekrut solle per Schub zum Regiment gebracht werden. Das war verzweifelt gesetzlich, wie Freytag später es nannte; er wurde einige Tage darauf eingepackt und nach Breslau gebracht, wo er zunächst vom Regimentsarzt behandelt wurde, bis er wieder für dienstfähig erklärt werden konnte; er wurde auf dem Bürgerwerder mit zwei andern ebenfalls zurückgebliebenen Rekruten gedrillt. Bald traf dann von Berlin die Ordre ein, welche die Schnur auf den Achselklappen bewilligte. Er nahm auch seine akademischen Vorlesungen wieder auf und bestieg zuweilen, wenn er aus der Kaserne kam, das Katheder in der Kommisjacke, was bei ernsten Professoren Anstoß erregte. Doch beim Exerzieren im leichten Anzuge erkältete er sich und verfiel in ein hitziges Nervenfieber. Einige Zeit blieb er als Revierkranker in seiner Wohnung, bis er als Armeereservist entlassen wurde.

Diese kurze militärische Laufbahn bewies, daß die kriegerischen Lorbeeren für ihn nicht gewachsen waren; aber auch mit den dichterischen sah es anfangs mißlich aus. Wenigstens die Sammlung seiner Gedichte, die damals unter dem Titel „In Breslau“ erschien, erweckte geringe Hoffnungen. Freytag selbst bekennt, daß er kein lyrischer Dichter sei; aber auch die größeren lyrisch-epischen Gedichte fanden nur wenig Anklang. Von Sturm und Drang, von innerer Gährung war darin nie die Rede, wie dies ja dem Charakter und der Entwicklung des Dichters gänzlich fern lag; obwohl Redakteur des studentischen Musenalmanachs und ein Vorsteher im akademischen Klub, hatte Freytag, wie sich alle erinnern werden, die damals die Universität besuchten, sehr viele Gegner. Diese Gegnerschaft hing damit zusammen, daß man ihm in gewissen akademischen Kreisen den engeren Anschluß an einzelne bevorzugte Kreise der Breslauer Handelswelt verdachte. Seine Bekanntschaft mit dem angesehenen Kaufmann Molinari, dessen Haus und Geschäft er einige Motive für „Soll und Haben“ entlehnte, brachte es mit sich, daß er in diesen Kreisen bald der Hahn im Korbe wurde, für die geselligen Vergnügungen des Börsenkränzchens sorgte sowie für die Unterhaltung anderer großer kaufmännischer Klubs, wo er allerlei Lustiges, zuletzt ein großes Maskenfest, einrichtete.

Inzwischen hatte aber Freytag auf anderem Gebiete einen Erfolg davongetragen, der seine Gegner nachdenklich machen mußte: er hatte auf Grund geschichtlicher Studien ein Lustspiel geschrieben, „Die Brautfahrt“, dessen Inhalt die Werbung des Erzherzogs Maximilian um Maria von Burgund war und in welchem der Hofnarr Kunz von der Rosen eine wichtige Rolle spielte. Da wurde gerade von der Hofintendanz von Berlin ein Preis für das beste Lustspiel höheren Stils ausgeschrieben; der Dichter sandte sein Manuskript ein und sein Lustspiel erhielt mit drei andern zusammen 1842 den Preis. Das Berliner Hoftheater selbst brachte indes das Stück nicht zur Aufführung, eine Thatsache, die noch mehr befremden müßte, wenn sie sich nicht später nach Verteilung des Berliner Schillerpreises mehrfach wiederholt hätte. Etwa zwölf andere Bühnen gaben das Stück. Der Dichter wohnte der Breslauer Vorstellung bei; er berichtet darüber: „Bei der ersten Aufführung war ich selig; ich saß wie verzückt und ertappte mich darüber, daß ich fortwährend die Lippen bewegte und die Worte der Schauspieler leise mitsprach. Es störte mich auch gar nicht und ich war beim Schluß nur etwas verwundert, daß das Publikum meine Begeisterung nicht recht teilen wollte und dem jungen Verfasser nur ein mäßiges Wohlwollen gönnte.“

Bei späterem Nachdenken fand er die Fehler heraus, welche den Erfolg beeinträchtigt hatten. Ein Hauptübelstand waren die häufigen Verwandlungen, aber auch die Vorliebe, welche der Dichter einer Nebenfigur, dem Kunz von der Rosen, zugewendet hatte.

Doch schon traf Freytag in seinem nächsten Stücke das richtige, was scenische Einrichtung und die Wirkung auf der Bühne anlangt. Damals war durch Gutzkow und Laube das Theater für eine jüngere Richtung erobert worden; Gutzkow hatte mit Vorliebe moderne Stoffe gewählt und war mit Erfolg auf theatralische Wirkung bedacht gewesen. Freytag trat in seine Fußstapfen und sein nächstes Schauspiel, „Die Valentine“, das er im Frühjahr 1846 dichtete, ging mit Erfolg über alle Bühnen und hält sich noch heute auf denselben. Der Stoff hat etwas gewagtes; die Errettung einer schönen Hofdame aus bedenklichen Verhältnissen durch die Liebe eines unternehmenden jungen Mannes, der aus Amerika, wohin er wegen politischer Verwicklungen geflüchtet, zurückgekehrt war und bei einem nächtlichen Besuch nicht scheute, sich als Dieb verhaften zu lassen, bildet die Haupthandlung. Freytag selbst war später, wo er den Jungdeutschen gegenüber den Standpunkt moralischer Tüchtigkeit hervorkehrte, nicht ganz mit diesem Stücke einverstanden.

Er ist geneigt, seinem nächsten Drama, „Graf Waldemar“, das er 1847 verfaßte, den Vorrang vor der „Valentine“ einzuräumen; er glaubte darin einen Fortschritt zu erblicken, trotz einiger Bedenken, die er selbst hervorhebt. So leicht wie er selbst setzte sich indes das Publikum und die Kritik nicht über das Gewagte der ganzen Begebenheit, die Unwahrscheinlichkeit, daß der Held Georgine nicht wiedererkennt, so nahe sie ihm gestanden; und die Unsicherheit, was die Nachhaltigkeit der Bekehrung des Helden am Schluß betrifft, hinweg. „Graf Waldemar“ ist ein Gegenstück zur „Valentine“; hier wird der Held selbst durch die Liebe zu einem schlichten braven Mädchen aus mißlichen Verwicklungen gerettet. Das ist bei der Valentine glaubhafter; denn über ein Frauenherz hat die Liebe eine bewältigende Macht, welche das ganze Leben ausfüllt: bei einem wüsten Genußmenschen wie Graf Waldemar ist ein Rückfall aus einem stillen für den Augenblick fesselnden Liebesglück in das frühere abenteuerliche Leben nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich.

Freytag war inzwischen von Schlesien nach dem Königreich Sachsen übergesiedelt. Die akademische Laufbahn hatte er aufgegeben; die Freude, selbst Dichterisches zu schaffen, ward allmählich stärker in ihm als der Drang, über dem zu verweilen, was andere in alter und neuerer Zeit geschaffen haben. Die äußere Veranlassung zu seinem Rücktritt gab die Weigerung der Fakultät, ihm [332] eine beabsichtigte Vorlesung über deutsche Kulturgeschichte zu gestatten. Der Wunsch, ein tüchtiges Schauspielensemble kennenzulernen, führte ihn zunächst nach Leipzig, wo Heinrich Marr als energischer und kundiger Regisseur das Scepter führte. Hier verkehrte Freytag viel in schauspielerischen Kreisen; dann ließ er sich ganz in Dresden nieder, wo er seine erste Frau, die geschiedene Frau des Grafen Dyhrn, die Tochter eines Breslauer Beamten, heiratete.

Schon sein „Graf Waldemar“ war in die politische Bewegung hineingeraten und bald sollte die „Dame Politik“, wie es in den „Journalisten“ heißt, den Dichter ganz in ihrem Banne halten. Da traf es sich im Einklang mit der Zeitrichtung und seiner eigenen Stimmung, daß er selbst mit einem Freunde zusammen ein Jourmal erwerben konnte, in welchem sein politischer Eifer zu Worte kam und seine litterarischen Tendenzen Vertretung finden konnten. Der Freund war Julian Schmidt, das Blatt die damals von Kuranda herausgegebenen „Grenzboten“. Bei einem Besuche in Leipzig traf er einen kleinen Herrn, dem hübsche blonde Locken ein rundliches rosiges Kindergesicht einfaßten und der hinter großen Augengläsern starr und schweigsam auf seine Umgebung sah. Mit diesem Herrn, der ihm als Julian Schmidt bezeichnet wurde, Verfasser einer gelehrten „Geschichte der Romantik“, geriet Freytag bald in ein Gespräch und es zeigte sich eine solche Uebereinstimmung in den Ansichten nicht nur über Preußen und die deutsche Unordnnung, sondern auch über litterarische Richtungen der Zeit, daß er mit größter Hochachtung von ihm schied. Sie erwarben beide zu gleichen Teilen Eigentumsrecht an den bisher von Kuranda herausgegebenen „Grenzboten“, und am 1. Juli 1848 begann die selbständige Thätigkeit der neuen Redaktion. Julian Schmidt besorgte die deutschen Artikel, schrieb über Litteratur und Kunst, Freytags Bereich war Oesterreich und das Ausland. Die „grünen Blätter“ fanden zwar nie einen ausgedehnten Leserkreis, aber ihre politischen Artikel wurden beachtet und die litterarischen Kritiken von Julian Schmidt machten Aufsehen durch ihr kaltes nüchternes Urteil, durch ihren Widerspruch gegen die damals herrschende Richtung, durch ihre hartnäckige Polemik gegen einzelne hervorragende Schriftsteller wie Gutzkow und die nachdrückliche Betonung der Charakterfestigkeit und sittlichen Tüchtigkeit als entscheidender Vorzüge auch auf litterarischem Gebiete. Ein großer Teil dieser Blätter fand sich wieder zusammengeheftet in der Julian Schmidtschen Litteraturgeschichte. Bisweilen aber erschien auch Freytag auf dem Kampfplatze der litterarischen Polemik, wo er mit feiner Ironie oft seine Gegner zu entwaffnen wußte. Freytag verkehrte in der Leipziger Gesellschaft viel mit einzelnen Universitätsprofessoren, außerdem mit Mathy, dem früheren Revolutionär und späteren badischen Minister, der damals Direktor der Leipziger Kreditanstalt war; ein traulicher Abendcircel vereinigte Freytag und Julian Schmidt öfter mit Heinrich von Treitschke und Wilhelm Hamm, dem schleswig-holsteinschen Freiheitskämpfer und späteren österreichischen Ministerialrat. In der Wintersaison fiel auf Freytag der Hauptanteil der Redaktion; für den Sommer hatte er inzwischen sich ein ländliches Heim erworben. Es war ein Landhaus mit Garten in Siebleben bei Gotha. Das altfränkische Haus, gerade ausreichend für einen bescheidenen Haushalt, anfangs von einem Gothaschen Minister eingerichtet, hatte oft die Gäste von Weimar, Karl August, Goethe und Voigt, auf ihren Fahrten nach Eisenach beherbergt und war in ihrem Kreise unter dem Namen „die gute Schmiede“ wohlbekannt. Jetzt stand der kleine alte Bau, wie Freytag selbst sagt, nach manchem Wechsel der Besitzer als ein Zeugnis, wie eng, anspruchslos und doch behaglich ein früheres Geschlecht gehaust hatte. „Ich fühlte mich in dem Besitz sehr wohl und siedelte jedes Frühjahr gern dorthin über. Die heitere Ruhe förderte mir auch die litterarische Thätigkeit, dort ist bei weitem der größte Teil meiner größeren Arbeiten entstanden.“ Hier genoß er den Zuspruch werter Männer aus der Nähe und Ferne.

Unter dem Blätterdach der alten Linden von Siebleben sind nun in der ersten Hälfte des sechsten Jahrzehnts die beiden Werke gedichtet worden, welche mehr als alle seine andern Schriften seinen Ruhm in weiten Kreisen verbreitet und für die Nachwelt gesichert haben: das Lustspiel „Die Journalisten“ (1852) und der Roman „Soll und Haben“ (1855). Seitdem Freytag selbst unter die Journalisten gegangen, hatte er die verschiedensten Arten und Abarten des beweglichen Völkleins kennengelernt; auch gaben ihm seine eigenen Erlebnisse manchen Anhalt für eine glückliche Erfindung. Sowohl dies Lustspiel als auch der Roman sind so bekannt, daß ihre Inhaltsangabe überflüssig ist und ihre Vorzüge keines eingehenden Lobes bedürfen. „Die Journalisten“, denen es längere Zeit nicht gelang, die Berliner Hofbühne zu erobern, sind jetzt ein beliebtes Repertoirestück aller Bühnen, trotz der gänzlich veränderten politischen Weltlage. Wenn sie in keiner Weise veraltet sind, so lag das an der feinen Kunst und glücklichen Vorsicht der Freytagschen Darstellungsweise. Wenn er auch die Parteikämpfe selbst und ihre Taktik mit vieler Lebenswahrheit und glücklicher Satire zeichnete, wenn man auch sah, daß es sich um einen Kampf der Konservativen und Liberalen handelte, so war doch keine der Parteien über die Taufe gehalten, und für alle Parteiverschiebungen der Zukunft konnten dieselben Charaktere und Situationen gelten; dennoch entstanden dadurch keine unsichern und verblaßten Umrisse; dafür sorgten die lebensfrisch gezeichneten Persönlichkeiten. Ein Piepenbrink konnte einen ganzen Akt den lebhaftesten Beifall des großen Publikums sichern; das war ein Vertreter des fest auf sich selbst stehenden Bürgertums in lustigen Scenen, in denen das Parteigespinst beiseitegefegt wird von einem fröhlichen Humor, der keine andern Götter kennt; Schmock und Bellmaus sind Gestalten, die man in der Tagespresse immer wieder findet wird; Bolz aber ist der glännzende Vertreter des eigenartigen Freytagschen Humors mit seinen übermütigen Launen und dem rücksichtslosen Geltendmachen geistiger Ueberlegenheit. Die Handlung, im ganzen durch lockere dramatische Fäden verknüpft, steigert sich gegen den Schluß des Stückes in glücklicher Weise; gerade der letzte Act sichert demselben den großen Bühnenerfolg, den es überall und bis zur Gegenwart davongetragen.

Und unter den rauschenden Linden von Siebleben hatte Freytag noch eine andere dichterische Eingebung; die Erinnerungen an seine schlesische Heimat, an seine Erlebnisse in Kaufmannshäusern und auf Rittersitzen und auf einer polnischen Reise befruchteten seine Phantasie mit jenen mannigfachen Bildern, die er in seinem großen Roman „Soll und Haben“ (1855) um eine freie Erfindung schlang, in welcher er einen dichterischen Grundgedanken verwertete und zugleich zwei gesellschaftliche Kreise, die kaufmännische Welt und den Adel, in ihren gegenseitigen Beziehungen schilderte.

Der liebenswürdige Humor dieser Schilderungen, die Charakteristik mit ihren Gegensätzen: Anton und Fink, der Kaufmann und der Aristokrat, Leonore und Sabine, Pix und Specht, darunter der Lieblingstypus Freytags, der etwas burschikose, flotte, ironisch überlegene Fink, der Geistesverwandte von Bolz in den „Journalisten“, trugen zu dem seltenen Erfolge des Werkes bei; der leitende Grundgedanke, wie er Freytag vorschwebte, war, der Mensch solle sich hüten, daß Gedanken und Wünsche, welche durch die Phantasie in ihm aufgeregt werden, nicht allzugroße Herrschaft über sein Leben erlangen: Anton und Itzig, der Freiherr und Ehrenthal und in geringerem Maße auch die anderen Gestalten haben mit solcher Befangenheit zu kämpfen; sie unterliegen oder werden Sieger. Einen andern Kreis des bürgerlichen Lebens schilderte Freytag in dem nächsten Roman, „Die verlorne Handschrift“ (1864), den Kreis der Universitätsprofessoren; Beziehungen von Gelehrten zu den kleinen Höfen schürzen die Konflikte, die fast eine tragische Wendung nehmen. Die Genremalerei bewegt sich hier nicht mit vollem Behagen; es sind ihr einige zu grelle Lichter aufgesetzt. Die Absicht des Dichters war, „zu zeigen, wie in die unsträfliche Seele eines deutschen Gelehrten durch den Wunsch, Wertvolles für die Wissenschaft zu entdecken, gaukelnde Schatten geworfen werden, welche ihm, ähnlich wie Mondlicht die Formen der Landschaft verzieht, die Ordnung seines Lebens stören und zuletzt durch schmerzliche Erfahrungen überwunden werden.“

Inzwischen hatte Freytag auch ein politisches Abenteuer zu bestehen gehabt, durch welches er in das schwarze Buch der Berliner Polizei kam. Er gab 1854 mit einigen Gesinnungsgenossen eine autographierte Korrespondenz heraus; die Eingänge wurden zunächst an ihn adressiert. Sie enthielten einmal eine Notiz, der preußische Mobilmachungsplan sei an Rußland verraten worden. Diese Mitteilung erregte in Berlin den höchsten Unwillen; gegen Freytag war sogar ein geheimer Haftbefehl erlassen worden; die höchsten Berliner Polizeibeamten kamen nach Leipzig, um nach dem Verbreiter dieser Nachricht zu forschen. Freytag, der sich in Siebleben aufhielt, konnte auf Grund der bestehenden Auslieferungsverträge dort

[333]

St. Leonhard im Pitzthal.
Nach der Natur gezeichnet von M. Zeno Diemer.

[334] abgefordert werden. Es gab nur ein Mittel, ihn in Gotha sicher zu stellen, ein kleines Hofamt, und Herzog Ernst gewährte dem verfolgten Politiker seinen Schutz, indem er ihn zu seinem Vorleser und zum Hofrat ernannte. Nach einem Jahre gab man in Berlin die Verfolgung auf. Sehr schön spricht Freytag selbst über sein Verhältnis zu dem vor ihm dahingeschiedenen Fürsten; es sei nicht nur ein Schmuck, auch eine Bereicherung seines Erdenlebens geworden.

Als die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag ausgeschrieben wurden, erlangte auch Freytag einen Sitz in demselben; er wurde 1867 in Erfurt gewählt. Doch ein Versuch auf der Tribüne blieb erfolglos; er selbst machte die Beobachtung, daß er noch nicht das Zeug zu einem Parlamentsredner besaß und dafür längerer Uebung bedurft hätte, daß seine Stimme zu schwach war, den Raum zu füllen, daß er bei dem ersten Auftreten nicht vermochte, die unvermeidliche Befangenheit zu überwinden – war er doch durch langjährige Beschäftigung in der stillen Schreibstube zu sehr an das langsame und ruhige Ausspinnen der Gedanken gewöhnt, das ein Vorrecht des Schriftstellers ist. Im Juli folgte er einer Einladung des Kronprinzen nach dem Hauptquartier und er verweilte bis zur Belagerung von Paris bei der Dritten Armee. Da, als er „mit der Wetterwolke, die über Frankreich dahinfuhr,“ über die Schlachtfelder zog, fielen ihm immer wieder die Heerzüge unserer germanischen Vorfahren in das römische Gallien, die schweren Heimsuchungen des eigenen Vaterlandes durch die Franzosen ein, und aus diesen Träumen und Erinnerungen erwuchs nach seiner Rückkehr jener große Cyklus von Kulturbildern in sechs Bänden, „Die Ahnen“ (1872 bis 1880), ein Bildersaal freier Erfindung auf geschichtlichem Hintergrunde, der sich an die schon früher erschienenen und sehr wertvollen „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (5 Bde. 1859 bis 1867) anschloß. Dieser in den germanischen Urwäldern beginnende Kreis von Erzählungen, der in den ersten, „Ingo und Ingraban“, das Seßhaftwerden deutscher Männer während der Völkerwanderung schildert, der später Bilder aus der Hohenstaufen- und Reformationszeit, mit besonderer Rücksicht auf die weltgeschichtliche Mission Preußens entrollt und nach Geschichten aus der Franzosenzeit bis in die Jugendzeit des Dichters führt, hat die Söhne und Enkel eines deutschen Geschlechts zu Helden, dessen Ahne der flüchtige Vandalenfürst Ingo, dessen noch lebender Enkel der Schriftsteller und Journalist Viktor König ist; in seinen Erlebnissen und seinem Wesen erkennen wir die Züge von Gustav Freytag selbst wieder.

Ueber Freytags Römertragödie „Die Fabier“ und die verdienstvolle „Technik des Dramas“ können wir hier flüchtig hinweggehen, da wir nur die Hauptzüge für das Charakterbild des hervorragenden Dichters und Schriftstellers hervorheben können. Auch die schmerzlichen Erfahrungen seines häuslichen Lebens erwähnen wir nur, ohne dabei zu verweilen. Im Jahre 1879 war er nach Wiesbaden übergesiedelt, nachdem er schon 1870 die Redaktion der „Grenzboten“ niedergelegt hatte. Der eben dahingeschiedene Veteran Gustav Freytag ist einer jener Dichter, welche nie auf spontane Erregung der großen Menge ausgegangen sind, dafür aber desto tiefere Wurzeln in der allgemeinen Geltung geschlagen haben. Frei von allem Sturm und Drang hat er sich ruhig und stetig entwickelt, aber auf zwei Gebieten, dem des Lustspiels und des Romans, das Beste geleistet von den Zeitgenossen. Als feinsinniger Genre- und Kulturmaler der Gegenwart und der Vergangenheit steht er unerreicht da; vor allem aber hat er stets ein warmes patriotisches Herz und eine nachhaltige nationale Begeisterung bewährt, wie in allem, was er geschaffen, so in seinem ganzen Leben und Wirken.

Und so leben auch die Gestalten seines Schaffens in kraftvoller Frische im Bewußtsein der Nation: nicht nur diejenigen, welche uns die Kunst der Bühne vergegenwärtigt, sondern auch jene, die in seinen Romanen lieben und kämpfen, Freudiges und Trübes erleben, Heiterkeit und hohe Empfindungen wecken. Mit ihnen bleibt der verstorbene Dichter unsterblich – wie es das künstlerische Gedenkblatt von Alexander Zick andeutet, auf welchem wir die Schar seiner „Ahnen“, dem Winke des Genius folgend, heranziehen sehen, um für den Ruhm des Dichters zu zeugen. Fern im Hintergrund zeigt das Bild Ingo und Irmgard sterbend in der brennenden Burghalle und die mit dem Kinde flüchtende Magd. Nun wallen von dort heran zu Roß und zu Fuß Ingraban und der junge Mönch Gottfried, Ivo, der Kreuzfahrer des Geschlechts und „Bruder vom Deutschen Haus“, der Friderun an sich zieht – Georg König als Landsknecht mit seiner Anna und ihrem Vater dem Magister Fabricius. Vorn im Zug schmiegt sich die treue Pastorstochter an den geliebten Ernst König, den Freiwilligen, von welchem abseits sein Rival und Gegner Oberst Dessalle steht. Gestalten aus den modernen Romanen gesellen sich dazu. Da kommt Anton Wohlfahrt und Leonore aus „Soll und Haben“, das verschmitzte Gesicht von Veitel Itzig wird hinter ihnen sichtbar, und sogar einer der epischen Charakterhunde aus der „Verlornen Handschrift“ stellt sich ein. Vorn aber schwebt eine sagenhafte Gestalt aus den „Bildern aus deutscher Vergangenheit“, der Geist des Kinds mit dem Thränenkrüglein, daher – eine Mahnung zu jener echten Trauer, wie sie auch dem verstorbenen Dichter gegenüber sich ziemt, dessen Sieblebener Poetenheim wir hinter seinem Bildnis erblicken.




Das Erdbeben von Laibach.

Die Feiertagsstille des Osterfestes wurde in diesem Jahre in weiten Gebieten der Kronländer Oesterreichs durch ein furchtbares Ereignis gestört. In der weihevollen Osternacht erbebte die Erde von Triest im Süden bis über Wien im Norden hinaus und weit über die Grenzen des Kaiserstaates, pflanzten sich ihre Zuckungen im südöstlicher Richtung, fort. Laibach, die Hauptstadt Krains, die über 30 000 Menschen in ihren schützenden Mauern birgt, wurde von dieser plötzlichen Katastrophe am schlimmsten betroffen. Erdstoß auf Erdstoß erschütterte ihren Grund und Boden, und als der Morgen graute, bot die Stadt ein Bild traurigster Verwüstung und unbeschreiblichen Elends. Geborsten waren die meisten Wohnhäuser, zerstört die Kirchen, und die Burg auf dem Berge über der Stadt war über Nacht baufällig geworden. Aber auch in den folgenden Tagen und Wochen beruhigte sich die Erde nicht; neue Stöße erfolgten, und wenn sie auch schwächer waren als die ersten, so versetzten sie die schwergeprüfte Bevölkerung von neuem in Furcht und Schrecken. Tausende flohen, aus der heimgesuchten Stadt und andere Tausende kampierten im Freien und bezogen die schnell aufgerichteten notdürftigen Baracken.

Der Boden Krains war von jeher unruhig. Er hat schon in früheren Zeiten so oft gebebt! Die alten Chroniken des Landes wissen davon zu erzählen. Im Jahre 1340 fand dort das erste Erdbeben statt, das urkundlich beglaubigt ist. Darauf bis zum Anfang unseres Jahrhunderts berichtet die Geschichte von dreizehn Erdbeben, die gespürt wurden, und im neunzehnten Jahrhundert fanden noch neun Erdbeben in Krain statt; aber keine dieser Zuckungen der Erde war so verheerend wie die unheimliche der letzten Osternacht. Wie nicht anders zu erwarten war, weckte das erschütternde Unglück Mitleid in Tausenden edler Herzen, Hilfe kam von allen Seilen und namentlich Wien erwies sich durch den schnell und freudig geleisteten Beistand als die liebende starke Schwester Laibachs.

Das gewaltige Naturereignis weckte aber auch die Wissensgier weitester Kreise. Auf welche Ursachen ist dieses Erdbeben zurückzuführen? Wird es sich wiederholen? Ist Laibach dem Untergange geweiht? Das sind Fragen, die man an die Vertreter der Wissenschaft stellte und auf deren Erörterung wir eingehen möchten.

Es giebt verschiedene Ursachen der Erdbeben. Vulkanische Kräfte, welche die Hülle der Erde zu sprengen suchen, können dieselben hervorrufen. In vulkanischen Gebieten beobachtet man häufig solche Explosionsbeben; aber Krain ist kein solches Gebiet. Die Erdbeben von Laibach sind nicht vulkanischer Natur. Abre Krain ist das Land der Höhlen; meilenweit durchziehen sie das Karstgebirge des Landes, liegt doch in der Nähe von Laibach die berühmte Adelsberger Grotte. Solche Höhlen können zusammenstürzen, und wenn solche gewaltige unterirdische Zusammenbrüche erfolgen, dann erbebt die Erde im Umkreise des Einsturzes. Deshalb dachte man im ersten Augenblick, daß Laibach von einem derartigen Einsturzbeben betroffen wurde. Diese Art von Beben erstreckt sich jedoch nur über verhältnismäßig geringe Strecken, während [335] das letzte Erdbeben ein weites Gebiet betroffen hat. Es muß darum als ein Beben bezeichnet werden, das die Wissenschaft ein tektonisches oder Dislokationsbeben nennt. Diese Art der Erdzuckungen ist die schlimmste, verheerendste von allen; sie ist auch die häufigste, und wie sie zustande kommt, wollen wir kurz erläutern.

Das Alter macht uns Menschen klein, körperlich schrumpfen wir in ihm zusammen, und also ergeht es auch der alten Mutter Erde. Sie hat noch immer ein warmes Herz, ein heißes, vielleicht glutflüssiges Inneres, aber auf ihrem Lauf durch den weiten eisig kalten Weltraum kühlt sie sich ab, und je mehr Wärme sie verliert, desto mehr schrumpft ihr Kern zusammen. Ist eine solche Schrumpfung erfolgt, dann ist die Hülle, die den Kern umgiebt, dann ist die feste Erdkruste zu weit geworden; zwischen ihr und dem Kern sind Höhlungen entstanden und die Kruste bricht ein und ihre Trümmer füllen die Höhlungen aus. Infolge solcher Schrumpfungen entstehen auf der Erdoberfläche tiefe Senkungen oder Verschiebungen der Erdschichten; die Erdoberfläche faltet sich, und unsern Augen erscheinen die Folgen dieser Faltungen als Gebirgszüge und Thäler. Die Kräfte, die unsere Alpen und andere Berge gebildet haben, sind noch heute thätig, denn die Erde kühlt sich immer mehr ab und schrumpft immer mehr zusammen. Die Natur nimmt sich jedoch Zeit in ihrer Arbeit, allmählich vollziehen sich solche Wandlungen und nur in langen Zwischenräumen erfolgen die Einstürze und Faltungen der Erdkruste. Es bedarf wohl keiner Erklärung, daß diese Verschiebungen in dem festen Gerüste derselben von Erdbeben begleitet sein müssen und daß diese Erdbeben für uns Menschen um so furchtbarer sind, je größere Erdschollen dabei in Bewegung geraten. Diese Erdbeben hat man tektonische genannt, weil bei ihnen der Bau des Erdgerüstes umgestaltet wird.

Wir ersehen daraus, daß Gebirgsbildung und Erdbeben eng miteinander zusammenhängen, und die Erfahrung lehrt in der That, daß Gegenden in der Nähe oder am Rande der Gebirgszüge am häufigsten von solchen Katastrophen heimgesucht werden. Unruhig ist auch darum der Boden am Rande der Süd- und Ostalpen. Hier sind in der Erdkruste verschiedene Risse entstanden, hier befindet sich eine Reihe von Einbruchsspalten, auf denen sich die Erdschichten hin- und herschieben und falten, und auf einer solchen zu Erdbeben geneigten Spalte liegt auch die Stadt Laibach.

Die Spannungen, die auf diesen Bruchlinien der Erdkruste entstehen, können in verschiedener Weise zum Ausgleich kommen. Bald lösen sie sich aus in einem einzigen gewaltigen Erdstoße, bald in einer Reihe mehr oder weniger heftiger Beben. Das letztere ist bei dem jüngsten Erdbeben zu Laibach der Fall. Es ist unmöglich, vorauszusagen, wie lange es dauern wird, bis die Erde sich dort beruhigt hat. Mitunter können solche Verschiebungen sich über weite Zeiträume erstrecken. Vor etwa zwanzig Jahren wurde z. B. die griechische Provinz Phokis durch ein furchtbares Erdbeben heimgesucht. Am 29. und 30. Juli 1870 erbebte die Insel Lissa und zugleich begann in Griechenland die Erde leise zu beben. Niemand beachtete die Erscheinung, da Erdbeben hier häufig sind. Da begann in der Frühe des 1. August der furchtbare Vertikalstoß, dem sogleich drehende Bewegungen von größter Heftigkeit folgten, 15 bis 20 Minuten anhaltend. In wenigen Sekunden sanken in Trümmer Jtea, Xiropigadi, Chrysso und Delphi. Neunzehn Minuten später erbebte die Erde abermals mächtig, und um 11/2 Uhr nachmittags warf ein ungeheurer Stoß den Rest der Trümmer zu Boden und veranlaßte am Parnaß, Korax und Kirphis ungeheure Bergstürze. Ungezählte Bewegungen der Erde, Donnern und mancherlei Getöse, Tag und Nacht nicht aussetzend, dauerten den ganzen August, September und Oktober. Am 25. Oktober erfolgte wieder ein furchtbarer Stoß und alles, was man in den letzten 10 bis 11 Wochen neu erbaut hatte, war wieder zerstört. Dreiundeinhalb Jahre dauerte das Beben, und Julius Schmidt, dem wir eine treffliche Studie über dieses düstere Naturereignis verdanken, schätzt die Zahl der einzelnen Erdbebenerscheinnngen auf 1/2 bis 3/4 Millionen.

Solche „Erdbebenschwärme“ kommen jedoch nur äußerst selten vor, und wir möchten hoffen, daß zur Zeit, da unsere Leser diese Zeilen lesen, der Boden Krains sich beruhigt haben werde.

Die tektonischen oder Dislokationsbeben werden dadurch hervorgerufen, daß ganze Erdschollen in Bewegung geraten und sich verschieben. Die Richtigkeit dieser Anschauung wurde durch Beobachtungen an dem furchtbaren japanischen Erdbeben vom 20. Oktober 1891 bewiesen, das über 7000 Menschen den Tod brachte und viele blühende Ortschaften zerstörte. Es hatte sich dort eine etwa 50 km lange Verwerfungsspalte gebildet, die wie eine von einem Riesenpflug gezogene Furche über Berg und Thal sich hinzog. Längs dieser Spalte hatte sich die Erdscholle um 1 bis 4 m in horizontaler Richtung verschoben. Dies sah man deutlich an Stellen, wo die Furche Wege und Gräben durchschnitt; jenseit der Bruchlinie waren dieselben nach dem Erdbeben seitwärts fortgeschoben, so daß sie nicht mehr in derselben geraden Linie lagen.

Bei anderen Erdbeben glaubte man auch deutliche Einwirkungen auf die Gestaltung der Gebirge wahrgenommen zu haben. Dies ist durchaus natürlich, da wir ja wissen, daß Gebirgsbildung und Erdbeben eng zusammenhängen. In der That sind gewaltige Abstürze von Bergmassen und Erniedrigungen von Berggipfeln von guten Beobachtern verzeichnet worden, ja man will auch ermittelt haben, daß Berge aus ihrer festen Lage durch Erdbeben verrückt wurden.

Laut Zeitungsberichten sollen sich ähnliche Ereignisse auch bei dem jüngsten Erdbeben in Krain zugetragen haben. So wird behauptet, daß ein Berg zwischen Zirknitz und Franzdorf sich gesenkt und der Kreuzberg bei Okroglo bedeutend an Höhe eingebüßt habe. Noch merkwürdiger lautet ein anderer Bericht. Im Nordwesten von Laibach liegt hoch über der Ebene der bewaldete Groß-Gallenberg, auf dessen Spitze sich eine Wallfahrtskirche befindet. Am Fuße des Berges liegt das Dorf Seebach. Früher konnte man von dem Dorfe aus die Wallfahrtskirche nicht sehen, jetzt nach dem Erdbeben ist dies der Fall; hier sind also Verschiebungen eingetreten, die augenfällig sind; es bleibt nur noch zu untersuchen, ob der Berg durch die unterirdischen Kräfte verrückt oder die Scholle, auf der Seebach steht, fortbewegt wurde.

Dies festzustellen bleibt der besonderen wissenschaftlichen Forschung vorbehalten. Dieselbe hat bereits begonnen und verschiedene Gelehrte haben das Erdbebengebiet, namentlich die Stadt Laibach, besucht und photographische Aufnahmen der arg beschädigten Häuser veranstaltet; denn auch die Beschädigungen, die an den Gebäuden entstanden sind, geben bei sorgfältiger vergleichender Beobachtung Aufschluß über die Natur, Richtung und Gewalt der Erdstöße. Freilich muß sich eine solche Untersuchung nicht nur auf Laibach beschränken, sondern auf das gesamte Erschütterungsgebiet erstrecken: denn es kommen hier noch verschiedene andere Fragen in Betracht.

Abgesehen von dem Verlust an Menschenleben und dem Schaden an Eigentum giebt das letzte Erdbeben noch zu anderen Besorgnissen Anlaß. Dasselbe hat den höhlenreichen Karst betroffen. Es ist nun leicht möglich, daß durch die fortdauernden Beben das Gefüge der Höhlen gelockert wird und nachträglich in denselben Zusammenstürze erfolgen. Da nun mit diesem Höhlensystem auch die Abflüsse der Gewässer des Karstes zusammenhängen, so könnten derartige Einbrüche auch auf diese einwirken, indem sie unterirdische Kanäle verstopfen und den Lauf der Ströme abändern würden. Bis jetzt ist von solchen Schäden nichts bekannt geworden; die berühmte Adelsberger Grotte ist von dem Erdbeben gar nicht beschädigt worden. Sie wird also nach wie vor den Anziehungspunkt der Touristen bilden. Zu derselben Zeit, da die Erde in Krain bebte, hat man auch in Kleinasien ein Erdbeben verspürt. Es bleibt festzustellen, ob es mit dem Laibacher zusammenhängt. Oefter ruft nämlich ein Erdbeben in weiter entfernten Orten, in denen die Spannung der Erdschichten besonders groß ist, ein zweites Erdbeben hervor. Vielleicht war das Erdbeben in Kleinasien ein solches Relaisbeben, wie diese Naturerscheinung in der Wissenschaft bezeichnet wird, ein Echo der Umwälzung, die sich in dem Boden Krains vollzogen hatte.

Vielfach wird die Frage aufgeworfen, ob Laibach die harte Prüfung wird überwinden können. Die Stadt steht allerdings auf unruhigem Boden, aber dieses Schicksal teilt sie mit so vielen anderen! Auch Agram und Belluno haben in den letzten Jahrzehnten furchtbare Erdbeben durchgemacht und doch sind sie schöner als früher aus den Trümmern auferstanden. Das vielgeprüfte Ischia, das durch das Erdbeben von Casamicciola (1883) so traurige Berühmtheit erlangt hat, ist heute wieder der Sammelpunkt der Touristen. Der Boden von Laibach wird auch zur Ruhe kommen und nach menschlicher Erfahrung wieder jahrhundertelang von Katastrophen verschont bleiben. Da wird auch Laibach wieder aufblühen können. Die Nächstenliebe, durch die unser Jahrhundert sich so edel auszeichnet, möge darum eifrig den Obdachlosen beim Wiederaufbau der Stadt helfen! *     




[336]

Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.
(4. Fortsetzung.)


Gerade als Herr Meier unter die Hausthüre treten wollte, weil sich der Schatten des Nachmittags über den Markt neigte und er um diese Stunde immer einmal aus dem Glasverschlag des Ladens heraustrat, wo sein Pult stand, kam der Doktor mit eiligen Schritten, wie es sonst gar nicht seine Gewohnheit war, quer über den Platz herüber und machte von weitem ein Zeichen mit der Hand.

Herr Meier fuhr mit der Hand nach seinem bloßen Kopf, als ob er die Mütze lüften wollte, die er wegen der Schwüle abgelegt hatte, und lächelte dem Doktor entgegen.

Der aber faßte ihn, ohne vorerst ein Wort zu sagen, an der Rockklappe und drängte ihn etwas in den Flur hinein.

Und beim ersten Worte, das der Doktor sprach, mit einem seltsam pfeifenden Ton, als ob ihm der Atem fehle, fuhr Herr Meier zurück, als hätte er einen Schlag vor die Stirne bekommen.

Käthe sah vom Fenster gegenüber, wie beide mit den Armen in der Luft gestikulierten und heftig aufeinander einsprachen. Dann liefen sie beide in den Flur zurück und verschwanden im Hause. Gleich darauf schlug man oben in Gustis Zimmer die Fenster zu.

Was mochte nur geschehen sein?

Käthe trat hinaus. Der Vater stand im Gange und putzte die dürren Blättchen von den Pflanzen fort, die dort auf einem langen Brette in die Kühle gestellt waren.

„Was mag es bei Meiers drüben geben?“

„Ich habe auch so eine Bewegung gemerkt,“ sagte der Vater.

Käthe sah auf den Markt hinaus.

„Sieh) da kommt er nun herübergelaufen!“

Herr Meier kam hastigen Schrittes über den Platz geeilt. Er war barhaupt wie früher und sein Gesicht war dunkelrot.

Kaum unter der Thüre, rief er keuchend: „Herr Krüger – wissen Sie –“

„Was giebt es denn?“

„Vom Hubert –“

„Wir wissen nichts –“

„Er ist tot!“ schrie Herr Meier und fuhr mit den Armen in die Luft. „Mausetot!“

„Großer Gott, was sagen Sie?“ rief der alte Mann erbleichend, und ein kurzer Aufschrei brach von Käthens Lippen.

„Heut’ mittag – im Wald. Sie haben ihn erschossen aufgefunden. Der Lump hat es gethan, der Stoser, der erst vor ein paar Tagen losgekommen. Herrgott! Herrgott!“

Herr Meier lief im Flur auf und ab und fuhr sich mit den Händen durch das triefende kurze Haar.

„Er hat sich gerühmt, im Wirtshaus, die Kanaille, daß er’s dem Jäger heimgezahlt! Herrgott, mein armes Kind! Meine Gusti! Sie bringen ihn eben herein. Herr Krüger, Fräulein Käthe – können Sie ’s nur fassen, so ’was Gräßliches?“

Der alte Mann stand wortlos da. Sein grauer magerer Kopf zitterte, wie er Herrn Meier unverwandt ansah in hilfloser Bestürzung, mit schwimmenden Augen. Seine entfärbten Lippen thaten sich immer wieder auf, als ob er nach Luft ringe, oder nach einem Wort – aber er brachte keines hervor.

Käthe lehnte an der Thür der Wohnstube, mit den Armen hinter dem Rücken. Eine Eiseskälte schauerte durch ihre Brust und über ihre Glieder. Ihr war, als ob ihr Herz stillstehe, selber starr und tot werde. Sie hatte den Kopf gesenkt, und alles Leben schien von ihren Wangen gewichen. Wie versteinert ruhte ihr Blick immer auf dem gleichen Punkt – auf dem häßlichen braunen Fleck auf der Diele gerade vor ihr, als ob sie gar nichts anderes mehr sähe. Der Fleck tanzte und drehte sich vor ihren Augen. Sie blickte immer hin auf seinen zerflossenen Rand. Ihr Herz zuckte wie ein verwundeter Muskel. Und der Fleck brannte vor ihren Blicken wie Feuer, wie Blut.

Herr Meier blieb vor ihr stehen. Er wischte sich mit der Faust über die Augen und sagte kläglich: „Fräulein Käthe, gehen Sie doch hinüber zur Gusti! Mein armes Kind, es möchte selber am liebsten sterben! Ach, geh’n Sie doch zu ihr, Fräulein Käthe! Herrgott, was für ein Grausen!“

Sie löste sich gewaltsam aus ihrer Erstarrung.

„Ja, ich gehe, jetzt gleich. Sei nur ruhig, Vater, sei nur ruhig! Wir müssen uns in alles fügen. Gott hat es gewollt!“

Der alte Mann legte die bebenden Arme um ihren Nacken und küßte sie weinend.

„Käthel! Käthel!“ wiederholte er leise schluchzend, und seine erloschene Stimme zerriß ihr das Herz.




6.

Käthe hatte sich sanft von der Umarmung des Vaters losgemacht und war hinausgeschritten. Auf dem Wege erwuchs in ihr eine übermenschliche Kraft. Sie strich das Haar aus den Schläfen, als wollte sie jede Schwäche beiseite schieben. Ihre festgeschlossenen Lippen regten sich nicht, und sie ging raschen und sicheren Schrittes den Markt hinab, als schritte sie einer heiligen Pflicht entgegen. – –

Als sie dann heimkehrte, war der Vater nicht da. Sie nahm einen Korb und ging in den Garten hinaus. Es dämmerte schon an der Hecke, wo sie Zweige abschnitt von den Fichtenbäumchen und von der Stechpalme. Dann ging sie durch die Beete und brach Astern und Levkojen. Der Abend sank nieder, als sie den Korb ins Haus trug.

Sie wollte die Arbeit machen, bevor der Vater kam. Mechanisch banden ihre Finger die Zweige zusammen, und der Kranz rundete sich unter ihren Händen. Sie sah darauf nieder und band die Blumen mit dem Draht fest. Einmal stach sie sich, und als ein Tröpfchen Blut auf das Blatt fiel, schauderten ihre Hände.

Mitten in der Arbeit erhob sie sich und ließ den Kranz raschelnd zu Boden gleiten. Sie ging durch den dunklen Flur hinaus, über den Kiesweg, unter den alten Baum und setzte sich auf die Bank.

Kein Laut regte sich; die Nacht brach an. Sie unterschied die Beete und Sträucher nicht mehr; nur an den hochstengeligen Lilien leuchteten die weißen Kelche wie bleiche Sterne und sahen beinahe gespenstisch durch die Finsternis.

Wo bist du, du anderer, du friedlicher weicher Sommerabend mit deinem Blütentraum? Wo bist du hin mit deinem Klang, du süßes, wortloses Lied des Herzens? Ihr seligen, geheimen Gedanken, wo seid ihr an das Ziel gelangt?

Wohin ist alles?

Und aus der Dunkelheit streckte sich ein beklommenes Angstgefühl nach Käthe aus, als griffe etwas Gestaltloses nach ihr. Sie fuhr vor der Kälte ihrer eigenen Hände zurück, und die Einsamkeit des Gartens wurde ihr unerträglich, so daß sie sich wieder erhob und ins Haus ging.

Als der Vater kam, schoben sie gleichgültige Reden vor die eigenen Gedanken. Sie beide wußten, daß sie keine Worte fänden für das unaussprechliche Leid.

Er war noch nie so spät ausgeblieben. Aber nicht einmal darum fragte Käthe. Sie wußte ja, woher er kam.

Der alte Mann berührte die Speisen kaum, erhob sich dann langsam vom Tische und setzte sich müde in seinen Lehnstuhl. Er vergaß seine Pfeife und ließ sie sich dann von Käthe stopfen.

„Ei! Ei!“ sagte er trübe lächelnd, „mir scheint, das kannst Du doch nicht gut, Käthel.“

Die Pfeife zog nicht, und er stellte sie neben den Stuhl hin.

„Soll ich es nochmals versuchen, Vater?“

„Ach nein, laß nur! – es schmeckt mir nicht so recht,“ und dann legte er die mageren Hände wieder ineinander und blickte schweigend vor sich hin.

Es war eine große Stille in der niederen Stube. Nur die Wanduhr tickte, und eine dicke Fliege, die das Lampenlicht wach erhalten hatte, klappte zuweilen summend an die Decke an.

„Ich bin recht müde,“ sagte der alte Mann nach einer Weile. „Laß uns zu Bette gehen!“

Sie trat zu ihm, und als sie sich bückte, um ihn zu küssen, wie sie es jeden Abend that, sank sie leise auf die Kniee und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Er hielt sie fest umschlungen, und so blieben sie lange und regten sich nicht. Eine Frage aber drängte sich der Tochter immer wieder auf die Lippen. Ganz leise sagte sie endlich:

„Vater – wie sieht er aus?“

Er seufzte tief.

[337]

Auf der Pfingstreise.
Nach einer Originalzeichnung von L. Blume-Siebert.

[338] „Wie lebend, mein Kind!“ Dann brach die arme alte Stimme und schluchzend setzte er hinzu: „Und doch ist er tot – mein armer, armer Junge!“

Und wieder war es still und die beiden lehnten stumm aneinander, der alte Mann, vornüber gebeugt, und die Augen fest schließend unter den weißen Brauen, als wollte er die Thränen zurückhalten in seinem Herzen, und das Mädchen, ihr Gesicht in die Arme drückend, die sie über des Vaters Kniee gestreckt.

Ein einziger Gedanke erfüllte Käthe, ein einziger Wunsch, in den sich ihre ganze Empfindung zusammendrängte. Sie wollte noch einmal ihre Lippen auf Huberts Stirne legen, ihn noch einmal küssen. In diesem Kuß sollte alles liegen, was ihre Seele ihm zu geben vermochte: der Abschied für ewig, Vergessen und Friede. Ihr schien, sie könnte ihn nicht hinübergehen lassen ohne diesen Gruß. Und alle Zärtlichkeit ihres Herzens erwachte wieder in diesem Wunsch.

O, warum hatte sie es damals nicht thun können, damals, als er darum bat – als sie beide noch dagestanden in des Tages Sonnenlicht? Und jetzt –

Sie wollte mit ihrem Kusse alles hingeben, was ihr Herz zur eigenen Sühne wußte. Zur Sühne für den eitlen Glückstraum, den es gewoben, und weil es vermessen das eigene Schicksal in sich zu tragen geglaubt hatte.

Nun wollte es sich beugen in Demut. Und er selbst sollte fortgehen mit dem Zeichen ihrer Sühne. Nicht ruhelos zitternd sollte seine Seele im Jenseits ihrer Härte gedenken und ihr selbst damit eine ewige Schuld zur Last legen.

Wie eine heilige Mahnung hörte sie es in sich, daß der Tote ihrer harre. Der Gedauke hielt sie fest, durchdrang und erfüllte sie. Er wich keinen Augenblick von ihr; er hatte sie angerufen im ersten Worte, das ihr die schwere Kunde brachte, er war laut in ihrem Herzen in der schlummerlosen Nacht, er leuchtete vor ihren Augen mit dem ersten Sonnenstrahl des neuen Tages und klang durch die Lüfte in jedem Glockenton, der an ihr Ohr schlug.

Am Nachmittag machte sie sich zu dem Gange auf. Sie hatte sich nicht früher dazu entschließen können, aus Angst, nicht allein dort zu sein.

Der Vater sah, wie sie fort wollte.

„Ja, ja, Käthe; Du mußt nun hingehen!“

Sie hielt sich knapp an den Häusern und scheute sich, aufzublicken.

Und immer mußte sie an die Worte des Vaters denken: „Er sieht aus wie lebend.“

Unten im offenen Flur des alten Hauses, wo er gewohnt hatte, hinter dem Thorflügel an die Wand gelehnt, stand der schwarze Sargdeckel.

Es gab ihr einen Stich ins Herz.

So ist es also wahr – wirklich wahr und unabänderlich!

Ihr Schritt wurde langsamer auf jeder der knarrenden ausgetretenen Stufen der Holztreppe. Und sie mußte sich fest auf das Geländer stützen. Niemand begegnete ihr, und sie sah sich mit einer Art gedankenloser Neugierde um.

Hier ist er auf und ab gegangen, jahrelang, mit dem eiligen, elastischen Schritte, der ihm eigen war, immer drei Stufen auf einmal und nun wird er zum letztenmal herabkommen, von den Leichenmännern getragen.

Oben auf dem Vorplatze stand die alte Hauswirtin mit rotgeweinten Augen. „Ach, Fräulein Käthe, der arme Herr Hubert! Er war immer so gut zu mir!“

Schweigend drückte sie der Alten die knochige Hand; sprechen konnte sie nicht.

„Sie wollen zu ihm? – Da liegt er,“ sagte die Frau und wies rechts hin nach der Thüre.

Mit der Hand an der Klinke, blieb Käthe einen Augenblick tief aufatmend stehen, da das Herz ihr in der Kehle klopfte. Dann trat sie hinein.

Ihr erster Blick fiel geradeaus, gegen die beiden Fenster, die weit offen standen. Man sah über den kleinen Hof auf die Felder hinaus und die sonnigen Wiesen. Ueber die Heide, in der Ferne, wie ein dunkles Band, zog der Forst sich hin. Wolkenlos spannte sich der blaue Himmel über der Sommerlandschaft.

Sie zögerte, ihre Augen davon abzuwenden. Aber sie wußte, dort war’s, an der Wand links in der Tiefe des leergeräumten Zimmers. Noch sah sie nichts als den Kerzenschimmer, der blaß aus dem Schatten leuchtend ihr Auge streifte. Und endlich wandte sie sich hin und sah ihn vor sich.

Das ist er!

Er lag auf einem niedrigen Feldbette, in seiner Uniform, die bleichen Hände auf der Brust ineinander gelegt.

Wie sie schmal und dünn aussahen! Das war nicht seine Hand! Kränze aus Tannenreis und Blumen lehnten an ihm und über ihm.

O du bitterer, trauriger Liebesschmuck! Nur die Toten tragen ihn so!

Das Kinn auf den Rockkragen mit dem goldenen Eichenlaub starr herabgeneigt, ruhte das wachsbleiche Gesicht mit den geschlossenen Augen auf dem Kissen.

Das ist er!

Nein, nein! – So war er lebend nicht! Etwas Kaltes und Fremdes, etwas Schreckliches hat sich über die vertrauten Züge gebreitet. Eine harte, grausame Hand hat die Linien des Lebens in Starrheit gestreckt und verwischt. – Vergeblich denkt sich die Sehnsucht den warmen Pulsschlag in die eingesunkenen Schläfen; vergeblich wartet der Blick, daß die farblosen Lippen sich bewegen – nur einmal noch, nur ein einziges Mal!

Und wenn sie seine Stirn berührt, wird sie kalt sein wie ein Steinbild in frostiger Nacht. Und seine Hände hart und leblos! Und kein Atemzug wird über seine Lippen gehen; nur der Hauch des Todes. Ein Schauer legte sich um ihr eigenes Herz, als zöge eine unsichtbare Hand auch sie in Grabeskälte.

Langsam schritt sie zu ihm, kniete zu seinen Füßen nieder und neigte das Haupt betend auf die gefalteten Hände.

Und dann klang es in ihrem Ohr: „Küß’ mich noch einmal, Käthe – nur noch einmal!“

Sie erhob den Kopf und schaute auf seine bleiche Stirn. Leise flackerten die zwei Kerzen im Luftzuge, und in dicken Tropfen spann sich das abfließende Wachs daran herunter.

„Küß’ mich noch einmal, Käthe!“

War es nicht, als hätten seine Lider gezuckt – war es nicht, als hätten sich seine fahlen Lippen bewegt? –

Und nein! Und nein! – Denn das ist er nicht. Er ist es ja nicht mehr! Er selbst ist hinweg, fort – in die Ewigkeit. Ohne Abschied gegangen, wohin kein Ruf, keine Klage, keine Bitte reicht; wohin kein Flehen dringt und kein Jammer unseres Herzens. Er ist es nicht mehr. Es ist kein Licht in seinen Augen, kein Schlag in seinem Herzen, kein Ton auf seinen Lippen. Das ist nicht er – es ist der Tod.

Und leise bebend senkte sie den Kopf wieder auf die Hände. Sie regte sich nicht. Sie lag wie versteinert auf den Knieen, wie ohne Leben, ohne Gedanken.

Nur eine gräßliche Empfindung, unklar und doch durch alle ihre Nerven greifend, überkam sie. Ein Schauder ging durch ihre Fingerspitzen und legte sich auf ihre Lippen; ein kaltes Grauen umflorte ihre Sinne.

Kein Laut regte sich.

Ein Vöglein flatterte auf das Fensterkreuz, drehte den Kopf, lugte in den stillen Raum und schoß dann laut schreiend wieder von dannen, als wäre ihm unheimlich zu Mute geworden.

*  *  *

Herr Krüger wurde unruhig über Käthens langes Ausbleiben. Endlich machte er sich auf den Weg. Sie konnte doch nirgends anders sein. Er fand sie auf den Knieen am Fußende des Totenlagers hingestreckt. Sie richtete sich auf, als er sie an der Schulter faßte, und sah ihn verwirrt an, wie aus einem ohnmächtigen Schlummer erwachend.

„Komm jetzt, mein Kind! Du bist so lange ausgeblieben!“

Sie sah zu Boden, als hörte sie ihn nicht.

„Ich wollte Abschied nehmen,“ sagte sie tonlos.

Den alten Mann beschlich ein ängstliches Gefühl.

Er legte den Arm um sie.

„Ja, Käthe, wir nehmen Abschied. Komm!“

Sie wollte sich losmachen, sie wollte ein Wort sagen – aber die Zunge klebte ihr am Gaumen. Willenlos ließ sie sich wegführen. Die Thüre schloß sich hinter ihr, und wie im Traum ging sie wieder hinab über die Treppe, neben dem Vater, der ihre Hand fest in der seinen hielt und ab und zu etwas sprach, das sie nicht hörte.

*  *  *

Der Sommer verlief, und es kam der Herbst. In dem kleinen Hause an der Ecke des Marktes wurde es recht still und einsam.

Der Vater wurde ganz wortkarg und in sich gekehrt. Sein [339] Kopf war müde, und sein altes Herz fand nicht mehr die Kraft, sich nach dem schweren Leid, das es betroffen, noch einmal aufzurichten.

Käthe konnte ihm so wenig helfen wie sich selbst. Das Letzte, das Bitterste, hatte ihnen beiden den Mut gebrochen. Sie standen nebeneinander wie früher, aber sie hielten sich nicht mehr im Geiste stets an der Hand; sie fanden kein frohgemutes Wort, kein Lächeln mehr, sich selbst zu täuschen und eines dem andern auf dem Wege fortzuhelfen, der so rauh und steinig geworden war.

Dann machten die Herbststürme den alten Mann verdrießlich und kränklich. Er hüstelte immer, die Pfeife schmeckte ihm nicht, und endlich hatte er gar kein Verlangen mehr, den Lehnstuhl am Ofen einmal zu verlassen.

Käthens bemächtigte sich eine dumpfe Ergebung in die Trauer des Lebens. Sie dachte nie mehr weiter als von einem Tage zum andern und schien in den häuslichen Beschäftigungen aufzugehen.

Daß Gusti wieder fortgegangen war, gereichte ihr zur Beruhigung. Ein lebendiges Zeugnis des vergangenen Jammers, das sonst immer vor ihr gestanden hätte, war damit ihr entrückt.

Der alte Doktor kam zeitweise ins Haus und schüttelte den Köpf, wenn er es verließ. Endlich konnte er nicht anders, als Käthe sagen, daß ihn des Vaters Zustand sehr besorgt mache, daß er sehr ernst sei.

Sie fügte sich auch in das, als gäbe es gegen nichts mehr eine Hoffnung, eine Abwehr, und wurde seine Krankenpflegerin.

Wenn sie ausging, war es stets derselbe Gang, durch die schmalen Gassen zur Kirche, wo sie sich still in einen Winkel setzte und lange dablieb, am liebsten gegen Abend, wenn die Kirche fast leer war und die Dämmerung zwischen den Pfeilern aufwuchs.

Mit dem Vater wurde es immer schlechter, er wurde schwach und hilflos wie ein Kind und konnte das Bett nicht mehr verlassen. Weihnachten rückte trostlos heran; der alte Mann keuchte und fieberte und fand keinen Schlaf.

„Fräulein Käthe,“ sagte der Arzt, dem ihre bleichen Wangen und ihre steinerne Ruhe nicht recht waren, „so können wir’s nicht fortmachen. Wenigstens für die Nächte muß eine ‚Schwester‘ ins Haus. Und es wäre doch wohl gut, wenn Sie Ihren Bruder benachrichtigen würden.“

Die Schwester kam dann jeden Abend, eine stille erfahrene Person, deren freundliches Wesen Käthe im Herzen wohl that. Manchmal heftete sie ihren Blick mit einer Art Verwunderung auf sie. Diese opfern ihr ganzes Leben, alle ihre Gedanken, alle ihre Kraft. Ihnen selbst bleibt nichts. Und doch sind sie zufrieden. So muß also das Opfer ein ganzes sein, damit das Herz ruhig wird.

Der Vater sah sie zuweilen fragend an, wenn sie an seinem Bette saß. Aber er sprach es nicht aus, an was er dachte, und dann wendete er sich plötzlich gegen die Wand um, wie um ihr seinen Blick zu verbergen.

Dann kam der Bruder, und so waren sie wieder beisammen zur Weihnacht, aber keiner sagte ein Wort von seinem Empfinden.

Am Christabend, als Käthe im Bette lag, irrte ein Lichtschimmer durchs Fenster, und gerade über sich sah sie den goldenen Papierstern an der Wand flimmern, den sie im vergangenen Jahre dort hinaufgehängt hatte. Sie kniete auf, machte ihn mit zitternden Händcn los, erhob sich und verschloß ihn in ihre Tischlade.

Und über Neujahr hatte sie zwei Gräber draußen auf dem kleinen Friedhof, und ihr war, als hätte man ihr eigenes Leben begraben und es wehte der Schnee darüber und die Winterstürme, die kein Grün und keine Blüten dulden. Der Bruder blieb ein paar Wochen da, und sie sprachen über die veränderte Lage. Er erzählte ihr, daß er einen eigenen Hausstand gründen wolle. Am liebsten möchte er dann hierher ziehen ins Haus. Käthe machte ihm die Zweifel leichter. Sie wollte nichts für sich. Ein lange gehegter Gedanke war zum festen Entschluß geworden und sie sagte dem Bruder, daß sie ihr Leben der Krankenpflege widmen wolle als barmherzige Schwester.

Er war sehr erschrocken und versuchte liebevoll, ihr es auszureden. Aber sie blieb dabei, und er merkte wohl, daß er nichts ändern könne. Und nachdem sie es ausgesprochen hatte, kam eine Art Beruhigung in ihr Herz.

Manchmal ja zuckte eine flüchtige Erregung darüber hin, als sie ihre kleinen Angelegenheiten zu ordnen begann, wie jemand, der auf eine lange Reise geht, oder einer, der für immer Abschied nimmt. Aber ihr Wille blieb stark und aufrecht. Sie wollte werden wie jene, die namenlosen Samariter, die um des einen Gebotes der Liebe willen das eigene Leben von allem entkleiden, was von dieser Welt ist, und um des Einen willen alles hingeben. Sie wollte das Entsagen lernen, als ein Opfer und ein Trost zugleich. Und wollte es hineinstellen in die unendliche Leere ihres Herzens. Dann wird wieder etwas da sein als Inhalt ihres Lebens, ein Sinn, ein Zweck, ein Ziel. Dann wird sie der furchtbaren Einsamkeit entrinnen, in der sie schmachtet. Und von ihrem Opfer soll der Rauch emporsteigen mit dem der andern. Ins Ewige begraben die Beter, was sie vom Ewigen empfangen, namenloses Hoffen und namenloses Elend.

Und so schied sie.

Fast wunderte ihr Entschluß niemand von den wenigen Bekannten: als ob ihr Wesen, das so still durchs Leben gegangen war, ein natürliches Ziel damit gefunden.

Ganz allein, auch in ihrem Herzen, knüpfte sie langsam einen nach dem andern von den Fäden los, die sie noch an die Vergangenheit banden. Ihr Herz war wie ein Fahrzeug, das im Port gelegen. Eins nach dem andern kappte sie die Taue ah, die es gehalten hatten, bis der Kiel sich hob und die Wellen es schaukelten, und dann trugen sie es hinaus in die offene See, so weit, daß das Gestade der Heimat am Horizont verblaßte und im zitternden Sonnenlicht verging wie ein Nebelstreif.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.


Moderne Diskuswerfer. Das in Nr. 2 dieses Jahrgangs unter dem vorstehenden Titel veröffentlichte Bild ruft einem unserer Leser ein Spiel ins Gedächtnis, das er Ende der sechziger Jahre in dem kleinen Dorfe Bordenau, dem Geburtsorte Scharnhorsts, oft gesehen und an dem er sich selbst damals mit Eifer beteiligt hat. Er schreibt uns: Dieses gymnastische Spiel, dort als ein wahres Volksspiel eingebürgert, war dem Diskuswerfen sehr ähnlich. Der „Diskus“ bestand aus einer Scheibe von Kiefernholz, Triele genannt, die entsprechend dem Alter und der Kraft der „Diskobolen“ einen Durchmesser von 15 bis 25 cm, eine Dicke von 2 bis 5 cm hatte. Beim Spiel selbst wurden zwei gleich starke Parteien gebildet, die, mit meterlangen dünnen Holzstäben versehen, auf einem möglichst ebenen Wege sich in einer Entfernung von 30 bis 60 m einander gegenüber aufstellten. Der Stärkste und Gewandteste der einen Partei warf dann die „Triele“, die, richtig geworfen, mit ungeheurer Schnelligkeit auf dem Boden dahinrollte. Die Aufgabe der andern Partei war es, den „sausenden Diskus“ durch einen Schlag mit dem Stabe zum Stillstand zu bringen oder gar zurückzutreiben, was sehr schwierig und bei ungeschicktem Schlagen oft nicht ganz ungefährlich war. Von der Stelle aus, wo die „Triele“ zur Ruhe kam, warf dann die zweite Partei und suchte die Scheibe über den Stand der Gegner hinauszubringen. So abwechselnd werfend, versuchte man, sich gegenseitig zurückzudrängen und damit den Sieg zu erringen. Leider wird dieses Spiel, wie auch ein anderes, das „Ballschlagen“, welches besonders an Sonntagnachmittagen Jung und Alt zum fröhlichen, Körper und Geist gesund erhaltenden Wettkampf auf dem Anger vereinigte, jetzt nur noch vereinzelt von der Schuljugend gepflegt. Dafür findet man aber, wie anderswo, die kaum den Kinderschuhen entwachsenen Jünglinge mit von Bier und Schnaps geröteten Gesichtern in qualmiger Wirtsstube beim Kartenspiel. Hier kann man wohl ohne Einschränkung sagen: O gute alte Zeit! W. G.     

St. Leonhard im Pitzthal. (Zu dem Bilde S. 333.) Eine der großartigsten Hochalpengegenden in Tirol, welche erst die Thätigkeit des Deutschen und österreichischen Alpenvereins dem größeren Touristenverkehr erschlossen hat, sind die Oetzthaler Alpen mit ihren schroffen Hochspitzen und mächtigen Gletschern. Von den wildbachdurchrauschten Thälern, durch die man in das Gletschergebiet gelangt, ist neben dem Kaunserthal das Pitzthal neuerdings zu besonderem Rufe gekommen. Von Imst aus führt durch dasselbe ein zwölfstündiger Marsch zu dem großartigen Taschachgletscher, an welchem die Sektion Frankfurt des genannten Vereins eine jetzt starkbesuchte Unterkunftshütte erbaut hat. Auch kann man von hier über das Pitzthalerjöchl in das Oetzthal hinübersteigen, wobei man am Karleskopfe zu dem Klubhaus der Sektion Braunschweig gelangt, das eine vorzügliche Aussicht auf das weite Becken des Mittelbergferners und den majestätischen Aufbau der Wildspitze gewährt. In der Mitte des langgedehnten Hochthals zwischen den anderen Kirchdörfern Zaunhof-Lehn [340] und Plangeroß liegt der Hauptort St. Leonhard mit seiner Kirche, welche die Bauern des Thals zum Unterschied von den zwei anderen die „Mitterkirch“ nennen. Die Kirche ist an der Stelle gebaut, wo Straße und Bach in eine steilabfallende Enge gedrängt sind. Die Wahl dieses Platzes ist um so merkwürdiger, als unterhalb und oberhalb dieser gefährlichen Stelle sich freundliche Thalflächen ausbreiten, die mit ihren sanften Hügeln viel geeigneter für den Stand einer Kirche erscheinen. Eine malerische alte Brücke führt hart unterhalb der Kirche über die wilde Pitzthaler Ache. Im Hintergrunde erhebt sich links die Hohe Geige und der Puikogel, während rechts der scharfe Felsengrat der Rofelewand ansteigt.

Volkstümliche Gesundheitsbüchlein. Die populäre Medizin ist zweifellos ein fruchtbarer Zweig am Baume des Buchhandels; alljährlich bringt er neue Bücher und Büchlein hervor, während altbewährte Schriften in neuen Auflagen erscheinen. Kein Wunder, denn alle Richtungen wie Strömungen der Heilkunde wenden sich an das große Publikum, um es zu belehren oder für sich zu gewinnen. Wir begrüßen das frische Fortschreiten auf dieser Bahn mit Freuden. War doch auf diesem Gebiete die „Gartenlaube“ einst die Bahnbrecherin, ist doch aus einem Teil ihrer belehrenden Aufsätze schon vor Jahrzehnten Bocks Buch vom gesunden und kranken Menschen hervorgegangen, das in seiner Vielseitigkeit unübertroffen dasteht und in seinen neuesten fachgemäß bearbeiteten Auflagen dasjenige aus dem Gesamtbereiche der Gesundheitswissenschaft, Heilkunde und Krankenpflege enthält, was überall bekannt sein sollte. Um diesem Wissensstoff eine noch größere Verbreitung zu verschaffen, ging Bock später daran, die Grundlehren und Regeln „zum Kennenlernen, Gesunderhalten und Gesundmachen des Menschen“ in der „Kleinen Gesundheitslehre“ in der gedrängtesten Form, welche der Zweck der Gemeinverständlichkeit erlaubte, darzustellen. Nach dem Tode des unvergessenen Mannes hat Dr. Max v. Zimmermann den „großen“ wie den „kleinen Bock“ nach dem Stande der neuesten Wissenschaft bearbeitet. Noch kürzer, aber auch ihrem Zweck nach weniger umfassend als Bocks „Kleine Gesundheitslehre“, ist die Flugschrift „Wie erhält man sich gesund und erwerbsfähig?“ von Stadtrat Fritz Kalle und Dr. Gustav Schellenberg gehalten. Sie ist vor allem für Krankenkassenmitglieder bestimmt und erfüllt ihren Zweck recht gut. Eine eigenartige Erscheinung ist ferner auf diesem litterarischen Gebiete „Das Frauenbuch“, ein ärztlicher Ratgeber für die Frau in der Familie und bei Frauenkrankheiten von der bekannten Aerztin Frau Dr. med. H. B. Adams. Die erfahrene Verfasserin hat aus dem weiten Gebiete der Gesundheitslehre und Heilkunde mit großem Geschick das herausgegriffen, was für die Frauen von Belang ist. Alle diese Bücher stehen auf dem Boden wissenschaftlicher Erfahrung und sind frei von den einseitigen Verirrungen, die gegenwärtig als sogenannte neue Heilkunden der Menschheit sich aufdrängen und nur eine bedauerliche Kluft zwischen dem wissenschaftlich gebildeten Arzt und dem Publikum schaffen. Im Gegensatz zu diesen Erzeugnissen wirken die mit dem nötigen Vorwissen und in redlicher Absicht geschriebenen populär-medizinischen Bücher in anderer ersprießlicher Weise; sie mehren im Volke das wahre Wissen und stärken das Vertrauen zu den wirklichen Aerzten. *     

Auf der Pfingstreise. (Zu dem Bilde S. 337.) Als das auf unserem Bild von der schönen Aussicht so mächtig gefesselte Elternpaar, das wir infolgedessen nur aus der Entfernung kennenlernen, in München den Pfingstausflug in die Berge antrat, da hatten sie ihr Töchterlein noch an der Seite und diese selbst keinen Begleiter. Aber der Vierte im Bunde, der ihr jetzt so galant den Alpenrosenstrauß darreicht, war doch schon mit von der Partie – im Herzen des lieben Mädchens nämlich, das mit merkwürdiger Voraussicht bereits ahnte, daß dieser ihren gestrengen Eltern noch gänzlich unbekannte Herr Doktor ganz zufällig in Partenkirchen auf dem Bahnhof auftauchen werde, sobald nur der Zug mit den Pfingstausflüglern dort einrollte. Wie er es nun verstanden hatte, an der Stelle seines Bildes sich selber den Drei zuzugesellen, das hatte ihr halt wieder zu gut gefallen! Das war dieselbe heitere Sicherheit, die ihr sein Wesen gleich beim ersten Sehen – auf einem der letzten Faschingsbälle war es – so ungemein sympathisch gemacht hatte. Und was die winterliche Ballzeit in Mädchenherzen zum Knospen bringt, das kommt zur schönen Frühlingszeit, wenn alle Knospen springen, zur vollen berauschenden Blüte. Das ist Naturgesetz! Und dann begegnet man sich draußen im Freien immer ganz zufällig – und in der Freiheit draußen kommt es zur Aussprache und schließlich zum vollen Einverständnis, dem nur noch der Segen der Eltern fehlt. Dafür ist dann solch ein Pfingstausflug die schönste Gelegenheit: die ganze Natur erstrahlt im Segen des Himmels und das wirkt ansteckend auch auf spröde Elternherzen, die mit vollem Recht in Bezug auf die Gattenwahl ihrer einzigen Tochter recht hohe Ansprüche stellen. Dieser Pfingstausflug soll aber auch ihr selbst noch einmal Gelegenheit zur Prüfung ihres Herzens und dessen Erwählten geben. Daß in dieser Beziehung das Resultat der Reise bereits ein günstiges war, beweist uns ihr in inniger Herzensfreude erstrahlendes Antlitz, der selige Blick, mit dem sie soeben zwischen den von ihm ihr dargereichten Alpenrosen, ganz heimlich verborgen, das Blümlein „Männertreu“ entdeckt.

Eine Ueberraschung. (Zu dem Bilde anf S. 325.) Kühlung ist in der heißen Sonnenglut auch dem Hunde erwünscht. Kein Wunder also, daß Flick und Flock, das muntere Fuchshundepaar, nach allerlei Kurzweil auf grüner Wiese einmütig um die Wette zu dem stillen Weiher in den Parkanlagen eilte, um ein kühles Bad zu nehmen. Die Warnungstafel „Das Baden der Hunde ist bei Strafe verboten“ war für sie „Luft“. Gedrucktes ist für den Menschen da und das Wasser war nach ihrem Hundeverstand ein Gemeingut aller lebenden Wesen. Doch siehe da! Wie festgewurzelt bleiben sie dicht am Ufer stehen und wagen nicht den Sprung in die Tiefe: denn da schaukeln auf der dunkeln Flut die blendend weißen Hüter des Weihers, die stolzen und herrschsüchtigen Schwäne. Flick fletscht die Zähne und Flock knurrt ingrimmig, aber das rührt wenig die drei Wassergrazien; im Gegenteil, mit rauschenden Flügelschlägen erwidern sie die Herausforderung. Herrschsucht und Eigensinn sind Charaktereigenschaften des Schwanes und ich kannte einen solchen Selbstherrscher auf einem Schloßteiche, der niemals leiden wollte, daß unser Mops in ihm badete. Die drei Schwäne auf dem Bilde scheinen ähnlicher Gesinnung zu sein. Aus der Ueberraschung wird es für Flick und Flock noch zu einer bitteren Enttäuschung kommen und mißmutig werden sie forttrollen – zum Vergnügen des Schutzmanns, der aus der Ferne dem Rencontre zusah und eine heimliche Genugthuung empfindet, daß die frechen Eindringlinge das Verbot auf der Tafel doch respektieren mußten. *     

Das Trocknen der Blumen in natürlicher Form und Farbe. Wer hat nicht schon den Wunsch gehegt, Blumen, die uns durch ihre Schönheit und Farbenpracht entzückten oder die uns als Geschenk aus lieber Hand wert und teuer sind, vor schneller Vergänglichkeit zu schützen und sie in ihrem farbigen Reiz, in ihrer anmutigen Form dauernd zu erhalten. Manche Versuche sind schon nach dieser Richtung hin gemacht worden; in München ist sogar eine besondere Fabrik entstanden, in welcher die Blumen nach einem von Professor Dr. Pfitzer in Heidelberg erfundenen Verfahren präpariert werden. Was in Fabriken im großen geleistet wird, das können indessen geschickte Blumenfreunde auch im kleinen annähernd erreichen.

Man nimmt trocknen, weißen Sand, siebt ihn recht fein und wäscht ihn mehrfach in einem großen Gefäß, bis das abgegossene Wasser ganz klar erscheint und alle erdigen Beimengungen entfernt sind. Hierauf wird der Sand an der Sonne oder im Ofen getrocknet und präpariert: auf je 1 Liter Sand rechnet man 100 Gramm Spiritus, 3 Gramm Stearin, 3 Gramm Paraffin und 3 Gramm Salicylsäure. Letztere Bestandteile werden in dem etwas erwärmten Spiritus aufgelöst und dann mit dem Sand vermischt, der nun nochmals getrocknet und gesiebt wird. Zum Einlegen der Blumen benutzt man am besten einen Kasten oder eine kleine Kiste mit Schiebedeckel. Um die Pflanzen beim Herausnehmen nicht zu beschädigen, thut man gut, sich ein passendes Siebgeflecht aus Draht anfertigen zu lassen, welches, nachdem der Boden der Kiste entfernt ist, unter dem Deckelfalze befestigt wird. Man setzt nun die Kiste mit dem Deckel nach unten, schüttet zunächst einen Finger hoch Sand auf das Drahtgewebe und bettet vorsichtig die Blumen, die man erhalten will, hinein. Durch ein kleines Sieb läßt man jetzt den präparierten Sand darüber gleiten, bis allmählich alle Zwischenräume ausgefüllt und die Pflanzen vollständig bedeckt sind; diese dürfen sich aber nicht berühren und müssen ihre natürliche Lage und Form behalten. Nach dem Auffüllen legt man den früheren Boden als Deckel über die Kiste und bringt diese an einen trocknen, warmen Ort, in die Sonne oder in einen Backofen, der eine Wärme von etwa 30 bis 40° Celsius hat; größere Hitze beeinträchtigt leicht die Farben. Nach Verlauf von ein bis zwei Tagen, je nach der Saftfülle der Pflanzen und der Wärme des Ortes, werden die Blumen vollständig trocken sein. Man setzt nun die Kiste, wieder mit dem Schiebedeckel nach unten, auf ein Gefäß, zieht den Deckel zurück und läßt den Sand ablaufen. Sollten hier und da Sandkörner an den Blättern haften geblieben sein, so entfernt man sie behutsam durch Abschütteln und Abklopfen; auch kann man wohl in einzelnen Fällen, z. B. bei ausgeblaßtem Grün, mit dem Pinsel und etwas Anilinfarbe nachhelfen. Statt des Paraffins leistet auch Walrat gute Dienste. Wem das Verfahren mit der Holzkiste zu umständlich erscheint, kann auch zu ersten Versuchen einfache Papiertüten benutzen, da der Sand aus diesen gleichfalls leicht abläuft, ohne daß die Blumen verletzt werden.

Die illustrierte Postkarte. Als „Generalpostmeister“ Stephan die Einführung der Postkarte ins Werk setzte, hat er schwerlich daran gedacht, daß er damit einen ganz neuen Zweig der graphischen Industrie ins Leben rufen würde; wir meinen die „Ansichtskarte“. Aus kleinen Anfängen heraus hat sich diese eigenartige Industrie zu einer Macht entwickelt, welcher niemand, der eine Reise thut, entrinnen kann. Wo man auch heutzutage hinkommen mag, nach welcher Gegend, nach welcher Stadt, die sich sehen lassen kann, es auch sei, flugs wird einem eine Postkarte mit mancherlei schönen Ansichten in die Hand gedrückt, bald mehr bald weniger kunstvoll ausgeführt, zuweilen sehr primitiv. Wir haben Ansichtskarten gesehen, die als Kunstwerke in ihrer Art gelten können; wir kannten aber auch einen Wirt, der dem Verlangen seiner Gäste nach einer Ansichtskarte dadurch entsprach, daß er der Rückseite einer gewöhnlichen Postkarte einfach einen Blaustempel mit den Umrissen seines heimatlichen Berges aufdrückte. In der That giebt es wohl nichts Einfacheres, den Lieben daheim ein Lebenszeichen und zugleich ein Abbild zu geben von dem, was man gerade Schönes anschaut, und indem die daheim eine Karte zu der andern legen, beginnt das Sammeln. Wie man Albums hat für Photographien, für Postmarken und Stempel, so beginnt man in unserer sammellustigen Zeit nun auch die illustrierten Postkarten in hübschen Umschlägen zu vereinigen und ziert damit den Tisch. Deutschland, Oesterreich-Ungarn, die Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark – sie alle müssen ihren Tribut hierzu liefern. Manche Sammler bilden Abteilungen nach Ländern und Provinzen, andere unterscheiden zwischen Schwarzdruck, Buntdruck etc. Hoffentlich übt dieser neue Sammlersport die gute Rückwirkung aus, daß von seiten der Industrie immer mehr Wert auf die künstlerische Ausführung der Ansichtskarten gelegt wird.


Inhalt: Haus Beetzen. Roman von W. Heimburg (6. Fortsetzung). S. 325. – Ein Gedenkblatt für Gustav Freytag. Bild. S. 328 und 329. – Gustav Freytag. Von R. v. Gottschall. S. 330. – St. Leonhard im Pitzthal. Bild. S. 333. – Das Erdbeben von Laibach. S. 334. – Schwester Brigitte. Novelle von Otto von Leitgeb (4. Fortsetzung). S. 336. – Auf der Pfingstreise. Bild. S. 337. – Blätter und Blüten: Moderne Diskuswerfer. S. 339. – St. Leonhard im Pitzthal. S. 339 (Zu dem Bilde S. 333.) – Volkstümliche Gesundheitsbüchlein. S. 340. – Auf der Pfingstreise. S. 340. (Zu dem Bilde S. 337.) – Eine Ueberraschung. S. 340. (Zu dem Bilde S. 325.) – Das Trocknen der Blumen in natürlicher Form und Farbe. S. 340. – Die illustrierte Postkarte. S. 340.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.