Die Letzte des altsächsischen Geschlechtes von der Sahla

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Ein Priestermord 1513 Die Letzte des altsächsischen Geschlechtes von der Sahla (1893) von Adolf Lothar von Göphardt
Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 1 (1892 bis 1896)
Zu dem Briefe des Generals v. Thielmann an den Hofrath Böttiger 1811
  Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
[77]
Die Letzte des altsächsischen Geschlechtes
von der Sahla.
Von
Oberjustizrath a. D. von Göphardt.

Fast 98 Jahre alt, ist in unsrer Stadt im Monat Juni 1891 Fräulein Henriette Magdalene von der Sahla aus dem Leben geschieden; obwohl nicht hier geboren, darf sie doch als Dresdnerin in Anspruch genommen werden, da sie während der letzten 37 Jahre ihres Lebens ohne Unterbrechung Bewohnerin unsrer Stadt gewesen ist.

Ihre dem deutschen Uradel angehörende Familie, deren Traditionen bis in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichen, kommt urkundlich von Anfang des 13. Jahrhunderts an in Thüringen und von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an im Meißnischen vor. Zur Zeit der Trennung der Ernestinischen und der Albertinischen Linie des Wettiner Fürstenhauses (1485) waren die von der Sahla schon auf Schönfeld und auf anderen Gütern „in der Pflege zum Hayn“ (Großenhain) seßhaft und viele von ihnen haben seitdem ihren Landesherren mit Auszeichnung gedient.

Fräulein Henriette Magdalene von der Sahla war der letzte Sproß dieses alten Stammes.

Nimmt dieser Umstand schon ein allgemeineres Interesse in Anspruch, so wird dasselbe verstärkt durch die edle, liebenswerthe und durch und durch originale Persönlichkeit der Verstorbenen.

Sie war das zweite Kind und die einzige Tochter Christoph Augusts v. d. Sahla auf Ober- und Mittel-Sohland a. d. Spree (Oberlausitz) und seiner Gemahlin Ernestine geb. von Burgsdorff, einer Tochter des Präsidenten des kursächsischen Oberconsistoriums und nachmaligen Conferenzministers Christoph Gottlob von Burgsdorff in Dresden, welcher vordem, bis 1788, über zwanzig Jahre lang mit dem Wohnsitze in Eisleben, die Sequestration der Grafschaft Mansfeld ebenso geschickt als für die Bevölkerung segensreich geleitet hatte.

Christoph August v. d. Sahla, ein hochgebildeter Mann, geboren den 17. Juni 1749, hatte nach dem Besuche der damals zu Kamenz i. S. bestandenen Gelehrtenschule zu Ostern 1769 die Universität bezogen,[1] sodann große Reisen unternommen und war dem Illuminaten-Orden [2]beigetreten. Die väterlichen Güter Ober- und Mittel-Sohland a. d. Spree besaß er zufolge Erb-Recesses vom 12. September 1772, confirmirt den 30. September 1774. [3] Mit Freiherr von Knigge, dem bekannten fruchtbaren Schriftsteller, und mit Lavater in der Schweiz, welchen Beiden er während seiner Lehr- und Wanderjahre freundschaftlich nahegetreten war, stand er auch später noch lange in Briefwechsel; [78] auch mit verschiedenen anderen interessanten Persönlichkeiten pflegte er Beziehungen, welche anregend auf ihn wirkten; und doch fehlte es ihm an wirklicher innerer Befriedigung. Da machte er von Sohland aus die Bekanntschaft des aus der Schweiz stammenden Herrnhuter Arztes Dr. Kaufmann, eines Mannes von mannigfachen Lebenserfahrungen und nicht gewöhnlicher geistiger Bedeutung, welcher einen großen Einfluß auf sein inneres Leben in religiöser Beziehung gewann. August v. d. Sahla hielt sich nun zu der Herrnhuter Brüdergemeinde und ward hierdurch mit der schon genannten Familie von Burgsdorff bekannt, welche von Dresden aus in innigen Beziehungen zu Herrnhut stand. Am 16. Januar 1791 fand in Dresden die Vermählung des 42 jährigen v. d. Sahla mit der 22 jährigen Ernestine von Burgsdorff statt. Während ihres nur elfjährigen, aber sehr glücklichen Ehestandes lebten die Gatten zur Sommerzeit in Mittel-Sohland, wo das Herrenhaus steht, die übrige Zeit des Jahres bald in traulichem Verkehre mit den Eltern der Frau v. d. Sahla in Dresden, bald in Herrnhut. In Herrnhut ward am 6. Oktober 1795 Henriette geboren.

Acht Jahre später, im Herbste 1801, traf die Familie das Verhängniß, daß Herr v. d. Sahla schwer erkrankte und infolge eines dazugekommenen Schlaganfalls gelähmt wurde. Da die maßlos schlechten Landwege eine schnelle Erlangung ärztlicher Hülfe unmöglich machten, so siedelte die Familie nach Dresden über, wohin der Kranke nicht ohne große Beschwerde in einer Sänfte getragen wurde. Hier, in dem Hause Nr. 1 der kleinen Schießgasse (damals Nr. 664), vollendete er bereits am 13. Januar 1802, noch nicht 53 Jahre alt, und wurde auf dem Eliasfriedhofe beigesetzt.[4]

Die Güter Ober- und Mittel-Sohland a. d. Spree fielen dem elfjährigen Sohne Ernst Christoph August zu, für welchen sie vormundschaftlich verwaltet wurden.

Die Heimstätte der Familie blieb Sohland; zur Winterszeit jedoch wurde, so lange die Eltern der in ihrem 33. Lebensjahre verwittweten Frau v. d. Sahla sich am Leben befanden, mit Vorliebe Dresden, dann von 1807 an das geliebte Herrnhut aufgesucht. In dem Gottesfrieden, von welchem die Brüdergemeinde durchdrungen war, fanden die beiden Frauen, Mutter und Tochter (der Sohn war seiner Studien halber auswärts), Erholung von der Unruhe, den Sorgen und dem Ungemache verschiedenster Art, als den Gefolgschaften der damaligen Napoleonischen Zeit.

Das Frühjahr 1813 brachte Henriette v. d. Sahla infolge des Krieges ein kleines Erlebnis freundlicher und nicht uninteressanter Art, dessen sie später noch oft und gern sich erinnerte. Es war die Zeit des Durchmarsches der dem Frankenkaiser entgegenrückenden russischen Heeresmassen durch die Oberlausitz. Die beiden Damen befanden sich in Herrnhut, als in der 11. Vormittagsstunde des 21. April 1813 Frau v. d. Sahla, durch Pferdegetrappel und Wagengerassel an das Fenster ihrer Wohnung gelockt, in einem vorbeifahrenden offenen Gefährte die imponirende Gestalt des Kaisers Alexander I. von Rußland erkannte, welchen sie im November 1805 in Dresden gesehen hatte, wo er damals drei Tage lang weilte, als er, von Potsdam kommend, sich auf dem Wege befand, zu seinen in Mähren stehenden Truppen zurückzukehren. Jetzt war er (was wenig bekannt sein dürfte) aus seinem derzeitigen Hauptquartiere, dem Schlosse Mengelsdorf bei Reichenbach O.-L., ganz allein und unverhofft, von einem reitenden Bauer geführt, in Herrnhut eingetroffen, um, wie er den im dasigen sogenannten Herrschaftshause ihm aufwartenden Vorständen, Predigern und sonstigen Notabilitäten mittheilte, den Hauptort der Brüder-Unität kennen zu lernen, da eine Kolonie derselben (Sarepta) auch in seinem Reiche sich befinde, für welche er sich interessire. Er besuchte das Brüder- und das Schwesternhaus, den Betsaal und die weltbekannte Handlung von Abraham Dürninger & Co., welche (seit 1747) noch jetzt besteht.

Dem Schwesternhause, einer Anstalt, in welcher unverheirathete Herrnhuterinnen der verschiedensten Altersstufen nach einer bestimmten Ordnung zusammenleben, stand damals als „Pflegerin“, d. h. als geistige Leiterin, eine Comtesse Einsiedel vor. Auch sie hatte dem Kaiser mit aufgewartet und Alexander I. hatte mit ihr alsbald einen angenehmen Berührungspunkt gefunden durch die Gemeinsamkeit der Bekanntschaft mit der geistreichen und berühmten kurländischen Baronin Juliane von Krüdener, geb. Freiin von Vietinghoff. Der Kaiser hatte zugesagt, in der Wohnung der Gräfin Einsiedel im Schwesternhause eine Erfrischung annehmen zu wollen. Hierzu war eiligst auch Frau v. d. Sahla eingeladen worden, welche sich jedoch entschuldigen ließ. Die lebhafte 19jährige Henriette aber konnte unmöglich die günstige Gelegenheit vorübergehen lassen, den Gründer der heiligen Alliance in Person zu sehen, und schloß sich deshalb der Schaar der Schwestern an, welche auf dem Korridor des Schwesternhauses zu huldigender Begrüßung des Kaisers Aufstellung genommen hatten. Fräulein v. d. Sahla, welche schon wegen ihrer, von der gleichförmigen Tracht der Herrnhuterinnen abweichenden modischen Kleidung, mehr wohl aber noch durch die anmuthige Vornehmheit ihrer ehrerbietungsvollen Verbeugung die Aufmerksamkeit des vorüberschreitenden Kaisers erregt hatte, wurde in das Empfangszimmer beschieden, während die Schwestern außerhalb einen Festgesang ertönen ließen. Alexander I. kam der [79] jungen Dame mit der ihm eigenen herzgewinnenden Freundlichkeit bis an die Thüre entgegen und unterhielt sich mit ihr in französischer Sprache ziemlich lange in der liebenswürdigsten Weise. Jedes Wort dieses Gespräches war ihr noch im hohen Alter geläufig. Unnachahmlich aber sind die jugendliche Lebendigkeit, die geistige Grazie und der schelmische Humor ihrer Darstellung, wenn die verehrte Greisin solche Episoden aus ihrem langen und stillbewegten Leben einem lauschenden Freundeskreise monodramatisch vorführte. –

Der Vollständigkeit halber möge hinzugefügt werden, daß inzwischen auf dem Platze vor dem Schwesternhause die Schulkinder und die jungen Mädchen der schon damals bestehenden Pensionsanstalt sich versammelt hatten und beim Heraustreten Sr. Majestät den Liedervers: „Nun danket alle Gott“ anstimmten. Der Kaiser blieb, mit sichtbarer Rührung dem Gesange zuhörend, entblößten Hauptes in der Mitte der Kinder stehen und küßte einige der Kleinen, welche ihm Blumen darreichten. Endlich, vor der gegen 1 Uhr Mittags erfolgten Rückkehr nach Mengelsdorf nahm der Kaiser noch eine Adresse des Direktoriums der Brüderkirche aus der Hand des Bruder Goldmann huldvoll entgegen, in welcher die Herrnhuter Gemeinden seinem Schutze empfohlen wurden.[5]

Drei Tage später, am 24. April 1813 war es, als Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. in Dresden einzogen. –

Die beiden Damen eilten aber nun auch wieder nach Sohland, um von etwaigen kriegerischen Ereignissen auf ihrem Posten gefunden zu werden. Von der bald darauf am 20. und 21. Mai 1813 gelieferten Schlacht bei Bautzen wurde Sohland nicht unmittelbar, sondern nur durch Truppenmärsche und Einquartierung betroffen. –

Der Besitzer der Güter, Henriettens älterer Bruder Ernst v. d. Sahla, hielt sich nur selten dort auf, anfänglich wegen seiner Studien, später weil er mancherlei Reisen unternahm. Unruhigen und ziemlich excentrischen Wesens, wie er war, verkaufte er Anfangs 1815 den gesammten Familienbesitz an seine inzwischen großjährig gewordene Schwester, [6]verließ darauf die Heimath und starb noch im nämlichen Jahre im Auslande. Mit ihm ist sonach schon im Jahre 1815 die Familie v. d. Sahla im Mannesstamme erloschen. –

Fräulein Henriette hat dann, unterstützt von ihrer durch den Verlust des einzigen Sohnes tief erschütterten Mutter, mit ebensoviel Eifer als Geschick sich der Verwaltung ihrer Güter gewidmet. Für das Landwirthschaftliche hatte sie ein lebhaftes Interesse und ein nicht gewöhnliches Verständniß. Beispielsweise ist es ihr gelungen, ein Verfahren zu entdecken, durch welches der Flachs, ohne ihn der üblichen vorgängigen Röste unterwerfen zu müssen, in einen sofort spinnbaren Zustand versetzt wird. Das Recht auf diese, wie versichert wird, nicht unwichtige Erfindung ist seiner Zeit in den Besitz einer bekannten landwirthschaftlichen Autorität übergegangen, merkwürdiger Weise aber im Großen bis jetzt noch nicht praktisch verwerthet worden.

Viel Freude fand sie von Jugend auf bis in ihr Greisenalter an der Malerei. Anregung, Unterweisung und Förderung auf diesem Gebiete hatte sie – wie hier aus ihrer früheren Jugendzeit nachgetragen werden mag – mag durch Karl Christian Vogel von Vogelstein, den nachmaligen Hofmaler und Professor an der Dresdner Kunstakademie, erhalten, welcher schon als junger Mann, ehe er (1813) nach Italien ging, Wochen und Monate lang als gern gesehener Gast in Sohland weilte.

Von seiner Hand, in Blei und Buntstift ausgeführt, existirt ein Brustbild Henriette’s v. d. Sahla etwa aus ihrem 14. Lebensjahre.

Sohland a. d. Spree (im 12. Jahrhundert den Herren von Schleinitz gehörig und damals einen Theil des von Hohnstein bei Stolpen bis nach Böhmen hineinreichenden sogen. „Schleinitzer Ländchens“ bildend), bekanntlich eines der wichtigsten Weberdörfer des Markgrafenthums Oberlausitz, umfaßt, außer den mehrgenannten beiden Gütern Ober- und Mittel-Sohland, welche Ausgangs des 17. Jahrhunderts in Sahla’schen Besitz gelangt waren, noch zwei weitere Rittergüter: Nieder- und Wendisch-Sohland. Der Ort liegt drei Stunden südlich von Bautzen in einem freundlichen, von Bergen eingefaßten Thale, welches 1 1/2 Stunden breit und 2 Stunden lang, in seinem unteren Theile von der Spree durchflossen wird und dessen südliche Berge schon Böhmen berühren.

In der Zeit nach Beendigung der Freiheitskriege bis in die erste Hälfte der fünfziger Jahre beherbergte Mittel-Sohland in seinem Herrenhause fast in jedem Sommer zahlreiche Gäste, deren Anwesenheit keineswegs bloß dem geselligen Vergnügen galt, sondern mehr noch als Bethätigung des Wohlwollens und des Samaritersinnes der Sahla’schen Damen bezeichnet werden muß. Leidende und Erholungsbedürftige nicht nur aus Verwandten- und Bekannten-, sondern auch aus anderen Kreisen, darunter viele Angehörige der Herrnhuter Brüdergemeinde, wurden eingeladen und genossen Monate lang die Wohlthat eines die Gesundung fördernden Aufenthaltes in waldreicher Gegend. Nicht geringer waren die Annehmlichkeiten, welche [80] ihnen von liebenswürdiger Gastfreundschaft in einem behaglichen und anregenden Kreise geboten wurden, innerhalb dessen Henriette v. d. Sahla nicht nur als erfahrene und fürsorgliche Leiterin eines ziemlich großen Hauswesens waltete, sondern auch mit der Harmonie ihres beweglichen Geistes und ihres reichen Gemüthes, mit ihrer tiefen Religiosität auf der einen und dem schalkhaften Humor auf der andern Seite, ungesucht den geistigen Mittelpunkt bildete.

Bei solchen Eigenschaften konnte es nicht fehlen, daß sie als Gutsherrin die allgemeinste Liebe und Verehrung sich erwarb.

In das erste Jahrzehnt ihrer Besitzzeit fällt die Erbauung eines neuen Gotteshauses, an der Stelle des zu diesem Zwecke im Jahre 1823 abgetragenen alten Kirchengebäudes, auf einer aussichtsreichen Höhe in Mittel-Sohland gelegen. War dieser binnen 5/4 Jahren zu Ende geführte Kirchenbau von ihr, als der Mitpatronin, schon wesentlich gefördert worden, so stattete sie, aus Anlaß der am 18. Oktober 1824 erfolgten Weihe, den Altar und die Kirche mit Krucifix [7] und verschiedenen Schmuckgegenständen neu aus.

Ferner schenkte sie der Gemeinde Ober-Sohland aus eigener Bewegung 11/2 Scheffel Land, erbaute darauf aus ihren Mitteln ein Schulhaus, ließ ein freundliches Gärtchen dabei anlegen, versah die Schule mit allen Lehrmitteln und wies auch für die Zukunft aus ihren Waldungen das nöthige Brennholz für Schulzimmer und Lehrerwohnung, außerdem aber eine alljährlich zahlbare Summe an, um damit das Schulgeld für arme Kinder zu decken. Auch eine Näh- und Strickschule für kleine und größere Mädchen unterhielt sie auf dem Hofe zu Mittel-Sohland und leitete dieselbe persönlich.[8]

So ist es erklärlich, daß das unruhige Jahr 1848, in welchem vielen Gutsbesitzern unfreiwillige Verzichte auf wohlerworbene Vermögens- und andere Rechte abgenöthigt wurden, in Mittel und Ober-Sohland a. d. Spree ohne aufregende Ereignisse und ohne Störung des Friedens zwischen Gutsherrschaft und Gemeinde verlaufen konnte.

Neununddreißig Jahre lang hat dort dieses wahre Edelfräulein als Herrin gewaltet. Mit welch’ segensreichen Erfolgen die Letzte des alten Geschlechtes derer von der Sahla die Belebung des religiösen Sinnes und die Ausbreitung von Bildung, Zucht und Sitte gefördert und als thatkräftige, man darf sagen als aufopferungsvolle Freundin, Beratherin und Wohlthäterin der Nothleidenden aller Art gewirkt hat, das ist, nach mir vorliegenden glaubwürdigen Zeugnissen, noch jetzt, nach weiteren neununddreißig Jahren, unvergessen in Ober- und Mittel-Sohland a. d. Spree.

Im Frühjahre 1854 entschloß sich Fräulein Henriette, damals im 61. Lebensjahre stehend, wenn auch nicht ganz leichten Herzens, zum Verkaufe der beiden Güter, welche, mit einigen kleinen Unterbrechungen, 186 Jahre lang im Besitze ihrer Familie sich befunden hatten.

Aber auch nach diesem bedeutungsvollen Wendepunkte ihres Lebens stand sie, wie hier sogleich eingeschaltet werden mag, bis an ihren Tod mit Bewohnern jener beiden Dörfer in freundlichen Beziehungen – und von Beweisen ihres Wohlwollens und ihrer Güte gegen Viele derselben wäre Manches zu berichten.

Bei Gelegenheit des Gutsverkaufs trat Fräulein v. d. Sahla eine Galerie von Ahnenbildern an eine ihr anverwandte Familie ab, welche früher bereits durch Heirath in den Besitz des ältesten Sahla’schen Stammsizes, des Rittergutes Schönfeld bei Großenhain, gelangt war; denn sie meinte, daß da, wo jene Vorfahren ehedem vorzugsweise gelebt, die passendste Stätte sei für die Aufbewahrung der Bildnisse derselben. In dem Schlosse zu Schönfeld befindet sich diese Ahnen-Galerie auch jetzt noch. –

Kurz nachdem sie das liebe Sohland verlassen, ward Henriette v. d. Sahla durch einen, ihr Herz in seiner ganzen Tiefe erschütternden Schmerz niedergebeugt. Ihre edle, fromme Mutter, von welcher sie Zeit ihres Lebens kaum auf Tage sich getrennt hatte, vollendete zu Herrnhut im angetretenen 86. Lebensjahre und im 52. Jahre ihres Wittwenstandes am 29. Juni 1854. Ein von derselben verfaßter Lebenslauf mit einem Schlußworte von der Hand der Tochter, welcher ebenso rührend, als erbaulich zu lesen ist, befindet sich in dem Archive der Brüder-Unität.[9]

Der Verlust der geliebten Mutter, an deren Seite sie während eines Zeitraums von 47 Jahren (seit 1807) stets einen großen Theil des Jahres in Herrnhut zugebracht hatte, wirkte auf Henriette so mächtig ein, daß sie zu dem Entschlusse sich gedrängt fühlte, ihre dortige liebe Heimstätte aufzugeben.

Noch in demselben Jahre 1854, welches so überreich an Trennungsschmerzen für sie geworden war, schlug Fräulein v. d. Sahla ihren Wohnsitz hier in Dresden auf, um den Rest ihres Lebens, dessen Ende sie damals näher glaubte, als es in den Sternen geschrieben stand, in der Nähe von Verwandten und Freunden zu verbringen.

Die hier ihr entgegengebrachte Liebe und vor Allem ihr demuthsvoller Christenglaube ließen nach und nach [81] die tiefe Wunde ihres Herzens soweit vernarben, daß sie, unter dem gleichzeitigen Eindrucke der Neuheit der Verhältnisse, die frühere Daseinsfreudigkeit wiedergewann. So hat sie, wie schon Eingangs erwähnt wurde, fast siebenunddreißig Jahre lang noch unter uns gelebt, behaglich für sie selbst und zur genußreichen Freude des sie umgebenden Kreises, aber auch zum Segen für viele Andere. Dem anspruchslosen und bescheidenen Sinne der Verklärten, welcher einen Grundzug ihres Wesens bildete, würde zunahegetreten werden, wenn hier mit vielen Worten von ihrer stets offenen Hand und von ihrem, oft ins Große getriebenen, stillen Wohlthun gesprochen werden wollte.

Nur Einiges noch zur Vervollständigung des Bildes.

Ihren Jugend-Eindrücken nach, einer längst vergangenen und ganz anderen Zeit angehörend, hat sie die durchgreifenden Wandelungen, welche während des 19. Jahrhunderts in den Erscheinungen und in den Anschauungen auf sozialem, politischem und literarischem Gebiete sich vollzogen haben, nicht bloß äußerlich miterlebt, sondern sie hat alle diese Wandelungen in ihrem klaren und vielseitig gebildeten Geiste stetig verarbeitet, frei von derjenigen Voreingenommenheit, welche dem Neuen gegenüber bejahrten Personen so oft eigen ist. Im Gegentheile erkannte sie stets willig an, daß gar Vieles jetzt besser geworden sei und daß die vielbelobte „gute alte Zeit“ niemals bestanden habe. Andrerseits war sie den mancherlei, von der modernen Gegenwart gezeitigten Uebertreibungen durchaus abhold, beispielsweise auf dem Gebiete der weiblichen Jugend-Erziehung. Bei allem Interesse für Kunst nicht nur, sondern auch für Wissenschaft – dessen ausgiebigere Bethätigung sie jedoch erst in den Jahren des Ausruhens von ihrem Tagewerke sich gegönnt hat – war sie früher eine tüchtige Hausfrau gewesen. Sie beklagte daher, daß jetzt viele junge Mädchen einen Haupttheil ihrer Zeit in Maler-Ateliers und in Musikschulen verbrächten, während doch die Vorbereitung für den beglückenden Hausfrauen-Beruf obenanstehen sollte. Gelegentlich eines Gespräches über dieses pädagogische Thema äußerte sie in ihrer originell humoristischen Weise: „Wenn sie zwanzig Jahre jünger wäre, würde sie eine gemeinnützige Anstalt gründen zum Zwecke der Unterrichtung angehender Ehemänner im Kochen, Nähen, Stopfen, Plätten und dergleichen, da ihren zukünftigen Frauen kaum zugemuthet werden könne, mit solch trivialen Dingen sich abzumüßigen.“

Ihre Unterhaltung war überhaupt fesselnd und reizvoll, und zwar keineswegs nur, wenn dieselbe im Tone leichter Plauderei geführt wurde. Mit ihrer regen Antheilnahme an Allem, was die höheren Interessen der Menschheit berührt, verfolgte sie die humanitären und die künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart. Fern von dem Anspruche, für eine Künstlerin gelten zu wollen, hat sie zeitlebens, wenn ihr Muße dazu geboten war, gern und hübsch gemalt. Noch im Alter zwischen 80 und 90 Jahren ließ sie in einem damals beliebt gewordenen Genre, der sogenannten Gobelin-Malerei, sich unterweisen und sie benutzte die schnell gewonnene Fertigkeit, um mit kleinen Werken ihrer geschickten Hand, deren Festigkeit und Sicherheit die Jahre zu beeinträchtigen nicht vermocht hatten, Andere zu erfreuen.

Aber auch den ernsteren Gebieten von mancherlei, sogar von abstrakter Wissenschaft wandte ihr Interesse sich zu; sie nahm mitunter Bücher zur Hand, welche aufzuschlagen mancher Mann sich nicht versucht fühlt,und sie besprach den Inhalt, wenn sie darauf gebracht wurde, geistvoll reflektirend, anregend und doch mit bescheidener Zurückhaltung.

Unterstützt wurde sie bis in ihr hohes Alter durch ein auch das Kleinste festhaltendes Gedächtniß, dessen Treue und Lebendigkeit geradezu staunenswerth war. Beim Anschlagen irgend eines Tones, welcher einen verwandten Ton in ihrem Seelen-Instrumente zum Anklingen brachte, standen Erinnerungen nicht bloß aus ihren Jugendjahren, sondern auch aus späteren Perioden ihres langen Lebens sofort zur bereitesten Verfügung.

Hiervon hatte der Verfasser dieser Aufzeichnungen in überraschender Weise Gelegenheit, schon bei seiner ersten Begegnung mit der damals etwa Sechsundachtzigjährigen sich zu überzeugen. Als ich, in einer Gesellschaft mit Fräulein v. d. Sahla von ungefähr zusammentreffend, ihr vorgestellt wurde, wiederholte sie halb fragend meinen Namen und knüpfte daran ohne irgend welches Besinnen die Bemerkung: sie habe einmal – freilich sei dies schon lange her – einen jungen sächsischen Hauptmann meines Namens kennen gelernt, welcher mit einem anderen höheren Offizier, dessen Adjutant er wohl gewesen, um die Zeit der Schlacht bei Bautzen (Monat Mai 1813, also vor damals 65 bis 66 Jahren) auf ihrem väterlichen Gute Mittel-Sohland a. d. Spree einige Tage lang einquartiert gewesen, auf ihrem späteren Lebenswege aber niemals ihr wieder begegnet sei. Meine Gegenbemerkung: jener höhere Offizier dürfte vielleicht der General von Mellenthin gewesen sein, wurde lebhaft bejaht, nicht ohne leisen Anflug schalkhafter Selbstironie darüber, daß sich der Name und auch die Persönlichkeit jenes älteren Herrn ihrem Gedächtnisse nicht gleich gut eingeprägt habe, – und so konnte ich der liebenswürdigen Greisin meine Dankbarkeit aussprechen für das freundliche Andenken, welches sie meinem, nicht lange zuvor verewigten Vater bewahrt habe. [82] Anmutig, wie ihr ganzes Wesen, waren ihre Briefe; warme Menschenliebe, tiefe Religiosität, ungekünstelte Bescheidenheit durchdrangen dieselben und ein köstlicher Humor trieb seine Blüthen, auch noch, wie es in einem Briefe an eine ihr besonders theure Freundin aus dem Jahre 1882 heißt: „bei dem langsamen Pendelschlage des 89. Lebensjahres“.

Vor einigen Jahren war es aufgekommen, seine Freunde in ein Buch einschreiben zu lassen, in welchem zugleich eine Menge vorgedruckter Fragen zum Zwecke der Selbstcharakterisirung zu beantworten waren. In einem solchen Buche lautet auf die Frage: „Welchen geschichtlichen Charakter liebst Du am wenigsten?“ ihre ebenso humorvolle als tiefernste Antwort: „Den alten Adam!“

Bei der im Ganzen guten Gesundheit, welcher auch noch die Greisin sich zu erfreuen hatte, – nur die Füße wollten in den letzten Jahren den Dienst etwas versagen, – konnte es nicht ausbleiben, daß von befreundeter Seite auch in ihrer Gegenwart mitunter der Wunsch und die Hoffnung zum Ausdrucke gebracht wurde, sie noch das Alter von hundert Jahren überschreiten zu sehen. Mit größter Bestimmtheit erklärte sie stets, daß sie dies durchaus nicht begehre. Als einmal in heiterer Weise in sie gedrungen wurde, zu sagen, weshalb sie, bei ihrem Wohlbefinden, dem Wunsche der Freunde sich nicht anschließen wolle, erwiderte sie scherzend: „Allenfalls 99 Jahre alt; mehr aber nicht!“ und es kam nun zutage, daß, obwohl sie mit vollem Rechte noch Freude am Leben empfand, der Grund jener Ablehnung lediglich der, ihrer Bescheidenheit zuwiderlaufende Gedanke war, daß man sie als Hundertjährige besonders werde feiern wollen.[10]

Vor Vielen war sie in ihrem selten hohen Alter dadurch begnadet, daß die Zeit, die mit ihrem Flügelschlage alle Jugendblüthen abstreift, den schlimmsten, die Gedankenwelt treffenden Raub bis an den Abschluß ihrer Wallfahrt kaum merklich an ihr begangen hat.

Am 11. Juni 1891 ist Fräulein Henriette v. d. Sahla, beinahe 98 Jahre alt, in der von ihr lange Jahre hier innegehabten Wohnung (Eliasstraße 22, Parterre, rechts) sanft und ohne Todeskampf entschlummert. Ihre Ruhestätte befindet sich auf dem Trinitatisfriedhofe.

Was vergangen, kommt nicht wieder, -
Aber, ging es leuchtend nieder,
Strahlt es lange noch zurück
!“


  1. Aus einem Kamenzer Schulprogramm v. 12. April 1769. Vgl. Lausitzisches Magazin v. J. 1769 S. 123.
  2. Der 1776 zu Ingolstadt gestiftete Illuminaten-Orden, welcher in seiner kurzen Blüthezeit mehr als zweitausend der gebildetsten Männer hauptsächlich Süddeutschlands umfaßte, sollte eine heilige Legion unüberwindlicher Streiter für Weisheit und Tugend bilden, die Vernunft zur Herrschaft bringen und religiöse und politische Aufklärung befördern, wurde aber, als für Kirche und Staat gefährlich, bereits 1784 vom Kurfürsten von Bayern aufgelöst.
  3. Aus Lehnsakten des Kgl. Amtsgerichts zu Bautzen (vormals Lehnhof).
  4. Nr. 45 des Sterberegisters der Kreuzkirche zu Dresden v. J. 1802, mit dem Beisatze: „Das Lauten ist bezahlt, aber nicht gelautet worden.“
  5. Dieser Kaiserbesuch ist in dem „Diarium der Brüdergemeinde zu Herrnhut v. J. 1813“ ausführlich beschrieben. Gütige Mittheilung des Herrn Pastor emer. Glitsch, Archivar der Brüder-Unität.
  6. Bautzener Lehnsakten.
  7. Das Krucifix, später durch ein größeres ersetzt, hat seinen Platz jetzt in der Sakristei. Mündlich von Herrn Pastor emer. Ficker, vormals zu Sohland a. d. Spree, jetzt in Dresden.
  8. Vgl. „Sachsens Kirchen-Galerie“, Oberlausitz, S. 218.
  9. Viele der oben mitgetheilten Thatsachen sind diesem „Lebenslaufe“ entnommen.
  10. Was in der obigen Darstellung nicht durch Citate belegt ist, beruht auf zuverlässigen Mittheilungen einiger hochverehrten Damen, welche theils verwandtschaftlich, theils freundschaftlich der Verewigten nahe gestanden haben, und auf eigenen Erinnerungen des Verfassers.