Die Pflege der Kindesseele

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Autor: Hermann von Bezzel
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Titel: Die Pflege der Kindesseele
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Auflage: 3
Entstehungsdatum: 1912
Erscheinungsdatum: 1918
Verlag: Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission
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Erscheinungsort: Nürnberg
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Die
Pflege der Kindesseele.


Vortrag
von
Oberkonsistorialpräsident D. Dr. v. Bezzel,
gehalten am 10. November 1912


im


Evangelischen Schulverein Nürnberg.



3. Auflage



Nürnberg 1918.
Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission,
Ebnersgasse 10


Druckereigenossenschaft Noris, e. G. m. b. H., Nürnberg.


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Verehrte Anwesende!

Wir stehen gegenwärtig zwischen zwei einander fast ausschließenden Anschauungen über die Pflege des Kindes und der Kindesseele in ihren ersten Jahren. Die eine Anschauung, mehr von äußeren physiologischen Erwägungen aussgehend, will das Kindesleben noch vor die Anfänge seiner äußeren Erscheinung verfolgen, um, wenn es anginge, schon Gesetze für die Kindererziehung aufzustellen, ehe dass Kind das Licht der Welt erblickt hat. Wenn nun dieses Wunder der Natur ans Tageslicht gekommen ist, wird jeder Atemzug, das Lallen des Kindes, werden alle die äußeren Verrichtungen und Verpflichtungen so genau analysiert, daß folgerichtig auch das sich regende Innenleben, soweit es überhaupt nicht in Abrede genommen wird, einer strengen Beobachtung, ja einer Sektion, unterstellt wird.

 Während es dem Kinde gesagt wird, es möge doch eine eben in die Erde eingesetzte Pflanze in seinem Wachstum nicht beirren und hindern, nicht immer nachgraben und die zarten Wurzeln aufdecken, wird das Seelenleben des kleinen Kindes in einer Weise bloßgelegt, genau verfolgt, in’s Einzelne beschrieben, daß das Geheimnis, das Gott in und mit einer Seele hat, aufgedeckt wird und in die verborgenen Kammern, in die „Adyta“ des Seelenlebens mit ungeschickter und uns ungeweihter Hand hineingeleuchtet werden will. Dadurch entstehen frühzeitig Karikaturen. Ein Kind, das von den ersten Tagen seines Lebens an so in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird und dessen heranwachsende Tage so genau unter die Lupe sich genommen sehen, muß uneinfältig werden. Wenn dann später die Beachtung ihm nicht mehr geschenkt wird, wie in frühesten Tagen geschehen, wird es verdrießlich, unbräuchlich und ungut und mehrt dann die Zahl derer, die über das Leben zetern, das sie nie kannten und darüber Vorwürfe machen, daß sie an dem großen Tisch des Lebens keinen Ehrenplatz erhalten haben. –

 Neben dieser überstiegenen Beobachtung des Kindes und seiner Seele haben wir jetzt vielleicht noch mehr die Geringwertung des Kindeslebens zu beklagen. Wem das Kind, das werdende Leben eines Kindes nicht eine Gabe und ein Geheimnis Gottes ist, der es liebt, ein Rätseln zu uns zu reden und eben in solchen Problemen sich uns naht, dem ist das Kind eine schwere, bittere Last, das man möglichst wenig beachtet, um es sich ganz selbst zu überlassen und frühzeitig in ihm das Gefühl zu erwecken, daß es besser nie geboren wäre.

 Wenn wir jetzt die Aufrufe eines entweihten weiblichen Wesens, einer Lilly Braun lesen, wie sie das Kind und die Kindesseele pflegt, frühzeitig in die zarten Keime das Gift des Mißtrauens und des Ungehorsams einträufeln will, damit ja das Kind all der von außen her, wie sie sagt, an die Seele herantretenden Autorität sich kräftig erwehre, wenn wir all die Anstalten, die ich an sich hoch segene und doch als einen| traurigen Notbehelf betrachte, ansehen, in denen dem Kinde ein kärgliches Obdach bereitet ist, weil eben Elternliebe sich ihm versagt oder entzieht, dann möchte ich glauben, daß das vielgepriesene „Jahrhundert des Kindes“ auf der einen Seite zum Zerrbild verdrängt und verschwommen, auf der anderen Seite mit Fluchen und Schelten begleitet ist. –

 Wie aber stehen wir, verehrte Anwesende, zu diesen Problemen, die wir wissen, daß man sich an den Kindern, an seinen Kindern oder an fremden, Himmel und Hölle erwerben kann? Wie stehen wir zur Frage, die wir den großen Kinderfreund ein wenig kennen, der ein verfehltes, verworfenes und verkehrtes Leben da einsetzen und eintreten läßt, wo einem dieser Geringsten, die an ihn glauben, ein Aergernis bereitet wird?

 Wie stehen wir zur Pflege der Kindesseele, die der große Herr, der um unfreiwillen selbst arm und Kind geworden ist, uns an’s Herz gelegt und auf das Gwissen gebunden hat? –

 Ich muß wohl, um der Frage näherzukommen, die andere in der Eile zu erledigen suchen. Was ist eigentlich die Seele? Wie entsteht sie? Haben die recht, welche uns erklären, Seele sei eine rein äußerliche Funktion, rein mit dem Leibesleben zusammenfallend und mit ihm vergehend? Wenn der Leib blüht, wächst und gedeiht, freut auch die Seele sich dieser Entwicklung und wenn der Leib in Asche verloht, zerbricht die Seele und zerflattert in der Luft.

 Zwar ganz neu ist diese Anschauung nicht. Wer meint, daß sie ein Geschenk des aufblühenden 20. Jahrhunderts ist, dem rate ich, ein Buch aufzuschlagen, das im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geschrieben ist, der „heiligen Schrift“ zwar nicht gleich zu achten, aber doch nützlich und gut zu lesen „die Weisheit Salomos“. Im 2. Kapitel findet er diese neufassonierte Weisheit mit dürren Worten und wem das noch nicht genügt, der nehme vielleicht das Buch des Lukretius Carus „Ueber die Natur der Dinge“. Dort kann ers weit genauer finden, was man jetzt monistische Religion, monistische Lebensanschauung nennt. Wenn eine moderne Lebensanschauung durch ihr antikes Gewand sich empfiehlt, so kann ich für die Antike dieses Gewandes volle Bürgschaft, für die Empfehlung freilich nicht die geringste übernehmen. -

 Ist also die Seele zugleich mit dem Leibe entstanden und vergangen, dann ist Gebet Unsinn, denn der Gedanke ist nichts anderes als eine äußere Funktion deines Gehirns; so wie dir der Schweiß auf der Stirn steht, wenn du arbeitest, so erheben sich allerlei Bläslein in deinem Gehirn, welche die altmodischen Leute Gedanken nennen, wobei nicht zu leugnen ist, daß manche Gedanken an Bläslein erinnern. –

 Oder ist es anzunehmen, wie man uns jetzt von geschätzter pädagogischer Seite sagt, daß die Seele ein ganz leeres Blatt ist, auf das mit der Zeit allerlei Schriftzüge eingetragen werden, ein Blatt ohne Inhalt und ohne Formung, von dem ein Dichter sagst: „Wie auf ein zitternd Blatt man mag nicht schreiben, so auf der Seele auch nichts fest mag bleiben.“

 Verehrte Anwesende! Vielleicht waren unsere alten Vorfahren, obwohl sie im Heidentum sich befanden, etwas klüger als ihre Nachtreter,| wenn sie den Begriff der Seele – Saivala – das Schwebende, das Lebendige, das in sich wieder sich Bewegende und aus sich Heraussetzende und Heraustretende nannten, wo Gustav Freytag anmerkt, mit Recht, wie ich glaube, „Seele ist also die vieldeutige Bewegung des Geistes im Körper, Seele ist dieses Auf- und Abwogen von Sinn und Stimmung, von außen her erregt, im Innern bewegt und bewirkt“. –

 So hat vielleicht Goethe recht, wenn er im bekannten „Gesang der Geister über den Wassern“ sagt: „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser“! – Wir sprechen noch deutlicher und sagen: Seele ist der Gottes-Geist, der sich in dem Einzelleben, individualisiert, der in einem Einzelleben sich ausgestaltet, der Gottesgedanke, der als Idee in Ewigkeit vor Gott bestehend als Wirklichkeit in’s Leben eines Menschen und in ihm eintritt. Seele ist nicht etwas, was da vergehen könnte, sondern es ist Abglanz, ewiger Schöpferwille und Ausstrahlung ewiger Schöpfergedanken in das Einzelleben.

 Und wie wird die Seele? Große Denker, die dann auch von einer Wanderung der Seele redeten und von einem Weg, den die Seele durch 10 000 Jahre gehen müsse, bis sie wieder in ihren Ursprung zurückkäme, haben die Seele vor aller Ewigkeit bestehen lassen. Große Väter der Kirche haben versucht, diesen Gedanken als einen wahrhaften darzulegen und auszuweisen, daß also vor aller Weltzeit die Seele sich bereits gegen den entschieden habe, in dem sie doch urständet und von dem sie ausgeht, daß bereits in einer all unseren Begriffen entnommenen Welt diese Scheidung und Entscheidung sich vollzogen habe, also daß das Menschenleben bereits unter dem Druck einer vor seiner zeitlichen Wirklichkeit erfolgten Entscheidung stehe.

 Ich glaube das nicht, und die Kirche meines Bekenntnisses hat nie so gelehrt, sondern ich glaube, daß auf demselben Weg, auf dem nach Gottes Schöpferwillen oder auch nach Gottes Zulassung, ein Menschenleben sich bildet, auf demselben Wege auch die Gottes-Idee diesem sich bildenden Menschenleben sich mitteilt und in ihm zur Seele wird. Ich glaube, daß wir von Vater und Mutter ganz bestimmte Bestandteile auch unseres Seelenlebens übererbt und mit in’s Leben bekommen haben, glaube aber auch, daß wir nicht mühselige Kopien von Menschen sind, die, bloß der Zeitlichkeit entnommen, jetzt noch auf uns fortwirken müßten und unter deren Schuld wir fortlitten, oder unter deren Guttat wir uns folgerecht entwickeln müßten, sondern daß in dieses geheimnisvolle Weben fortschaffender und fortwirkender Natürlichkeit Gott seinen Einzel- und besonderen Gedanken eingesetzt hat. Ich möchte das am liebsten mit einem Bild Dante’s in seiner „Göttlichen Komödie“ veranschaulichen. Er sagt dort, daß der Wein von dem Weinstock, von den Reben, sich ergebe, das sei wohlbekannt, wenn aber der Sonne Strahl und des Mondes helles Licht die Reben nicht bescheine, werde nie der Wein ausreifen. Wenn nicht Gottes heiliger Gedanke, der freilich auch zum Fluch sich wenden kann, auf ein werdendes Menschenleben niederschaut, niedertaut, so wird dieses Menschenleben nie eine Selbständigkeit, nie eine lebendige Seele sein.

|  Darum, verehrte Anwesende, weil wir glauben, daß jede einzelne Menschenseele einen geheiligten Ratschluß Gottes voraussetzt und einen besonderen Gottesgedanken in sich darstellt und auswirkt, darum sagen wir: „Habt Achtung vor der Kindesseele, denn sie ist einmal von Gott in diese Welt gebracht, und eine gleiche kommt nimmermehr“. –

 Daß Tausende von uns als armselige Kopien sterben, ist nicht eine Anklage gegen Gott, den mangelhaften Urheber, der uns nach so viel Dürftigkeit wieder besäße, sondern ist unsere höchsteigene Schuld, die wir das Original Gottes verderbt, verzerrt und verkehrt und schließlich in sehr mäßige Kopien verwandelt und verunehrt haben. –

 Wie aber soll die Pflege der Kindesseele sich darstellen und vollzogen werden? Wenn ich recht sehe, auf indirektem und auf direktem Wege. Auf dem indirekten Wege, von dem man freilich in unseren Tagen nicht allzuviel mehr wissen will, auf dem Wege des Gebets. Hier gilt es für die Eheleute, denen die Hoffnung, daß ihr Name und ihres Namens Ehre und Habe und Gut durch ein neues Leben fortgesetzt wird, das Herz erfüllt, eine Einheit zu bilden über dem, was sie bitten wollen, eins zu werden in dem Hingehen zu dem Thron Gottes. Das Gebet der Eltern, das die Kinder, ehe sie das Licht des Tages erblicken und wenn sie nun an’s Tageslicht getreten sind, begleitet, ist eine Schutzmauer, die sie vor dem Gemeinen und Unreinen, vor dem Gewöhnlichen, dem zersetzenden Tagesgeschrei und der vergifteten Luft der Straße behütet und abschließt. Das Gebet der Eltern, nicht in leere Worte gefaßt, nicht mit feierlicher Rede bekräftigt, sondern in dem Seufzen der Mutter, die ihre Stunde herankommen sieht, in der Angst des Vaters, daß das an sein Leben gekettete geliebte Wesen nicht leiden und umkommen müsse, dringt als stiller Gedanke zu Gott empor, daß Er etwas werden und sein lasse zum Preise seiner Gnade. – Denn wenn die Kinder das Licht der Welt erblicken, haben sie – das ist nicht eine schwarzseherische Theologie, die mit ihrem Blick die ganze gottbeglänzte Welt verheert, sondern das ist die Anschauung auch der Philosophen, die man jetzt als die Leiter der Menge auf den Schild hebt – eine Mitgift, das ist die Sünde, die durch das Geschlecht hindurch wirkt. Nachdem einmal das ganze Meer der Menschheit mit Gottwidrigkeit erfüllt ist, wird der einzelne Tropfen dieses Meeres nicht ausgenommen sein und nachdem einmal die Wurzeln des viel verästeten, reich verzweigten Lebensbaumes kranken, kann auch die entfernteste Blüte und die von den Wurzeln fernab gelegene Knospe sich dieser Wirkung nicht ganz entziehen.

 Ein großer Philososph hat gesagt: „Wenn ich von der Schrift etwas glaube, so ist es das Wort im ersten Johannis-Brief: Die ganze Welt liegt im Argen“. Wenn also das Kind, umströmt von einer Menge schwerer Eindrücke, bereichert mit einer von Gott gelösten Armut und eingestiftet in einen gottwidrigen Prozeß, das Leben begrüßt, so begrüßt es ein Leben, das mit allen Fasern zu Gott hin wollte und mit aller Widrigkeit von Gott sich löst, das nicht zum Frieden kommt, bis es in seinen Ursprung wieder einkehrt und Heimkehr gehalten hat und das doch die Ruhe nicht will, die allein in diesem geheimnisvollen Wesen ihm geschenkt| ist. Das Kind tritt in eine Reihe von Entwicklungsstadien und Entwicklungsprozessen ein, die alle das Gute, das sie wollen, nicht tun, während das Böse, unter dem sie leiden, ihr Herr ist.

 Wie soll nun, wenn das Gebet ein ernstliches und die Fürsorge für die Kindesseele eine treuliche ist, hier das Erste in direkter Hilfe getan werden? Ich rede hier unter Christen, rede, näher gesprochen, unter Christen meiner Kirche und weiß, daß es kein leerer Brauch und eine Tradition der Altvordern ist, die man noch mit allem alten Spielwerk herübergenommen hat in unser lichtes leuchtendes Jahrhundert, sondern als höchste Gnadenwirklichkeit habe ich zu rühmen, als ein Machterbot ewigen Erbarmens zu diesem schwachen, hilflosen und doch der Hilfe so bedürftigen Menschen, wenn Er das Gnadenbad der heil. Taufe jedem Kinde, das nach ihm verlangt, darbietet und gewährt.

 Wir sind die letzten, die einem alten Brauch das Wort reden, damit eine äußere Folgerichtigkeit bestehe. Wir sind auch nicht zu den Leuten zu rechnen, die um des Herkommens willen Sklaven einer lange nicht mehr bestehenden, heimlich eingeredeten Bräuchlichkeit wären, sondern wie es vor Jahrhundert heilkräftig war, glauben wir jetzt noch, daß eben in dem Brunnquell der heiligen Taufe, in diesem „fons salutis“ dem Kinde ein wahrhaft reales Recht, ein wunderbar neues Leben geschenkt wird, groß genug, um das Alte zu verderben, reich genug, um das Alte vergessen zu machen. –

 Wir glauben, daß einer, der dieses Kindes Armut höchst persönlich zu der seinigen gemacht und sich ganz zugeeignet hat, eben um dieser Armut willen das Kind in seine Arme schließt und in Lebenskontakt und Beziehung zu ihm selbst bringt, wissen, daß er, der die Mühlseligen zu sich ladet und Beladne bei sich herbergen will, in der Taufe dem Kinde eine außerordentliche Gabe verleiht. Denn das ist nicht die Art Christi, daß er mit müßiger Symbolik Hoffnungen erweckt, die dann vor der ärmsten Wirklichkeit zerflattern. Das ist nicht die Art Christi, daß er mit leeren, losen Versprechen einer Welt sich nahe, zu deren Einlösungs- und Erfüllungsrecht er nimmer sich bekennen wird, sondern indem er die Taufe einsetzte, rief er den Eltern zu: Säumet nicht, laßt nicht in euren Kindern all das Böse, das Naturgemäße, was in Wirklichkeit Unnatur ist, in wildem Wachstum aufsprießen, ehe ihr nicht die Gegengewalt ihnen gebt und die Gegengabe ihnen vermittelt. Grund der Gnade, Reichtum des Friedens, Fülle der Gottesgedanken, die in der Taufe einem Kinde, das in den Namen des Heilsgottes hereingestellt wird, geschenkt und gewährleistet ist. –

 Ich beklage es darum als ein Unrecht gegen die Kindesseele, wenn bei hoch und niedrig die Taufe so verzögert, ja wohl versäumt wird und denke gerne heute an den Tag Martin Luthers, den seine frommen Eltern noch am selben Tage dem Herrn seines Lebens anvertrauten, an welchem er das irdische Leben erblickte.

 Wer es mit den Kindern gut meint, bitte die Eltern und ermahne sie: Bringt sie früh zum Born der Gnade, entzieht ihnen nicht so lange das freundliche, leutselige Antlitz ihres besten und treuesten Freundes.| Ihr habt für das äußere Leben so gut gesorgt und allerlei wichtige Vorbereitungen dafür getroffen, so sorgt auch für das Innenleben! Und den Taufstein möchte ich in unseren Gemeinden mehr umkränzt sehen vom Dank der Eltern, mehr umblüht vom Lob der Verwandten. Ich möchte nicht die Taufe zu einer dürftigen Zeremonie ohne Weihe und Wert herabgesetzt wissen, zu der sich die Väter nicht mehr einfinden, von der die Mütter fernbleiben, bei der die Taufpaten nicht mehr einkehren, so daß der arme Diener der Kirche mit einem armen Kind ganz allein steht, das weder Vater noch Mutter zu diesem wichtigsten Akt seines Lebens geleiten.

 Wenn das Kind in der Taufe seinem Herrn und Heiland an’s Herz gelegt und von ihm das Gelübde bezahlt ist, er wolle sich seiner Herde selbst annehmen, dann setzt nach dem Christuswort, das nicht dem Mechanismus Vorschub leistet, sondern die Arbeit segnet, eben die große ernste Arbeit der Erziehung sein. Denn als der Herr seine Jünger mit dem Werk der Taufe betraute, hat er nicht dieses Sakrament isoliert, es wie einen hohen Bergkegel, der aus der Niederung einsam hervorragte, eingesetzt, sondern hat sie geheißen, durch Taufe und Erziehung, durch Anfang und Fortbau all die Kinder zu seinen Jüngern zu machen.

 Wenn die Kirche das Taufsakrament ganz entwerten will, dann fahre sie weiter, ohne Wahl und ohne Unterschied das Taufwasser wie ein schlichtes geringes Wasser hinzusprengen, dann fahre sie fort, nicht mehr um die Hausaltäre der christlichen Erziehung sich zu mühen. Daß wir hohe Prozente der Taufzahl haben, kann niemanden eine Stunde in schlafarmer Nacht erleichtern und daß unsere Taufsteine noch von verschiedenen Kreisen umlagert sind, kann dem keinen Trost geben, der da sieht, wie die Erziehung ihre Voraussetzung verleugnet und wie der Fortgang des Lebens dem Anfang des Christenstandes nicht im mindesten entspricht. Darum, christliche Eltern, christliche Freunde der Jugend, auf die Taufe des Kindes folgt die Erziehung zuerst durch das Vorbild. Als ein großer Denker gefragt wurde, welch’ negativer Trieb sich im Kinde zuerst entfalte, sagte er: „der Zerstörungstrieb“, und welcher positive, gab er den Bescheid „der Nachahmungstrieb“. – Sie wissen es alle, das Kind sucht nach wenigen Tagen sein Eigentum zu zerstören, um des Zerstörten sich mehr zu freuen als des Unverletzten. Es ist das nicht ein rein äußerlicher Prozeß, wie manche sagen, sondern Nachwirkung aus dem verlorenen und versäumten Paradies, aus dem verscherzten Kindesleben heraus, das zur Heiligkeit der persönlichen Freiheit sich erheben sollte. Das Kind, der Mensch, will seines Glückes nie froh werden, ehe er es zerstört hat und den süßen Schmerz genießen, auf Trümmern zu weinen. Das Kind kann nie der ersten Habe und Gabe sich recht annehmen, es sei denn beides zerstört und zerpflückt, damit es dann den einzelnen Teilen eine besondere Liebe zuwende, wenn das Ganze seinem Auge entfällt und sein Herz ihm gram wird.

 Aber wie dieser Zerstörungstrieb im Kind, erwacht als erstes Positives, Leben behauptend und Leben bestellend, der Trieb der Nachahmung, nicht der Nachfolge. Die Nachfolge ist ein ethischer Begriff,| aus der Nachahmung entstanden und in der Ernstlichkeit von Maß und Größe des Nachzuahmenden wie des Nachahmenden bedingt. Nachahmung ist ein, ich möchte sagen, vegetativer Trieb. Was das Kind sieht und hört, hört, ehe es reden kann, das behält es nicht in seinen, aber in einem getreuen Herzen. Darum sollten Eltern und solche, die mit kleinen Kindern und ihrer Pflege betraut sind, wohl sich hüten bei jedem Blick, bei jedem Wort und Tun. Das Kind sieht den bittenden Blick der Mutter, den sie dem hart scheltenden, schwer redenden Gatten nachsendet, nimmt diesen Blick herein in seine kleine unberührte Welt und sendet aus dieser Welt dem Vater auch seine Abgunst. Das Kind nimmt wahr, wie die Mutter vor dem kommenden Vater dieses und jenes verbirgt und wenn es heranwächst, lernt es auch verheimlichen und verbergen. Wenn die Eltern sich nicht hüten, in all der Bezeigung von Freundlichkeiten und Freundschaft das würdige und rechte Maß zu halten, das auch im unsichtbaren Gott seine Bemessung findet, so werfen sie in die Kindesseele den Feuerbrand, der dann lange nachglüht und -glimmt. Und wenn dann die Mutter erschrocken fragt, „woher das Unkraut“? und der Vater händeringend bei dem heranwachsenden Kinde zerstörende widrige Einflüsse bemerkt, können sie nicht sich trösten, daß das der Feind getan habe, sondern die tiefste Anklage wendet sich gegen sie selbst. Ehe das Kind Vater und Mutter sagen kann, nimmt es harte Scheltworte, rohe Schmähreden, bittere Vorwürfe in einen Verstand auf, der über Recht und Unrecht des Gesagten nicht reflektieren kann, der einfach das Wort auf sich selbst gestellt und an sich genommen hereinbezieht, um es zu gelegener Zeit wiederzugeben. – Ach, daß das Vorbild der Eltern und Erzieher recht geweiht und geheiligt würde! „Ein Vater, der soll stets zu seinem Herrn beten: Herr, lehre mich dein Amt bei meinem Kind vertreten.“ (Rückert.) Ein anderer Dichter – Hebbel – hat einmal gesagt unter allen Rätseln und Problemen, die Gott dieser Welt aufgab, sei das Kind das allergrößte. Nur die Liebe könne es lösen und die Vorsicht sein Schicksal bewahren. Wenn das Vorbild ein geheiligtes, wenn das Kind von einer Friedensatmosphäre umringt ist, die höher ist als alle menschliche Psychologie, weil sie über allem Erwarten ist und vom Kreuz Nahrung und Stellung findet, dann wächst dieses Kind in dem Bereich der Friedensgedanken zu einer gottgefälligen Entwickelung empor. –

 Wir müssen das Kind schonen, sagt das Volk und hat aus diesem Begriff das Wörtlein „schön“ herausgeholt. Alles, was schön und rein und reich ist, soll dem Kinde dargestellt werden, all die Herrlichkeit in der Natur, all die Schönheit im Bildwerk, die Wunderbarkeit in Sang und Klang. Noch nach Jahren wirkt der mütterliche Sang in dem Herzen des Mannes nach. Nach vielen Jahren denkt er noch des ersten lieben Grußes, den er mit Bewußtsein aus dem Lächeln der Mutter entnahm. Und diese Friedensgrüße des wahrhaft Schönen aus zarter Sorgfalt mütterlicher Treue und aus ernster Behütung väterlichen Gewissens wirken weiter und glänzen bis an das Ende der Tage, denn die Kraft, die bei der Erziehung des Kindes zuerst in Betracht genommen werden muß, ist die wundersame Kraft, wie Plato sagt, des Gedächtnisses.

|  Laß dein Kind, sobald es „Ich“ sagen kann, im Gedächtnis bewahren, daß es ein „Du“ gibt. Fichte der Aeltere (im Anfang des 19. Jahrhunderts) hat als Geburststag seines ersten Knaben den Tag gefeiert, wo er zum erstenmal „ich“ sagen konnte. Aber der größere Philosoph sagt, wenn einmal ein Kind das Wörtlein „ich“ erlauscht habe, gehe alle seine Eigenwilligkeit an. Eben darum, weil das Gedächtnis jetzt einsetzt, präge man dem Kinde das Wörtlein „Du“ ein. Zeigt ihm, daß es nicht auf sich selbst gestellt und für sich selbst bezogen alles zu sich hinwendet und hinweist und nach sich ausmessen darf, sondern daß da und dort ein anderer ist, dem das Kind sich selbst schuldet.

 Armselige Eltern, die des Kindes Einfälle bestaunen und dann vor den Ohren und Augen des Kindes die ersten kleinen Gedanken beweihräuchern, weil sie in Ermangelung fremden Lobes in dem Kinde selbstsüchtig sich verjüngt und glorifiziert erblicken. Es ist ein Fluch, wenn ein Kind aus der Verborgenheit der „kleinen Art“ herausgezerrt wird. Die Mutter, die das Kind zu einem Gegenstand der Bewunderung aller möglichen Teilnehmenden und Uninteressierten herausputzt, hat diesem Kinde einen bitteren Dienst getan. Und der Vater, der töricht genug jeden Einfall des Kindes belächelt und weiter erzählt und sich in der Geistreichigkeit des Kindes sonnt, da es ihm in der eigenen nicht immer gelingen wollte, hat diesem Kinde gar schlimm genützt; er hat es zu einem eitlen selbstsüchtigen Wesen gemacht. Sage dem Kinde, es habe auf andere Rücksicht zu nehmen. Versprich ihm aber auch nichts, was du nicht halten kannst. Manche Eltern meinen, sie müßten ihre Kinder mit allen möglichen Herrlichkeiten anfüllen. „Wenn du groß bist, will ich dir dies und jenes geben und in den nächsten Wochen da und da hingehen mit dir und dir das und jenes zeigen.“ Das Kind erhebt nun das Wort der Autorität in ein innerstes Geheimnis. Es kommt der Tag, der Vater hat das Wort vergessen, oder ist zu halten es gar nicht mehr willens und imstande, und das Kind wird mit etlichen Worten abgespeist. Aber der Stachel des Mißtrauens ist in seine Seele gesenkt. Es kann sich nicht mehr auf seinen Vater verlassen. Aber das ist ja doch eine göttliche Gnade, daß dem Kinde die ganze elterliche Autorität als Liebstes und Höchstes erscheint. Der Vater kann alles und die Mutter, die weise, vermag alles und niemand ist so klug und schön wie Vater und Mutter. Ihr wollt den Kinderglauben nicht mit täppischer Hand zerstören, aber, ihr Eltern, zerstört ihn mit leichter. – Versprecht darum wenig und haltet das wenige! Verheißt geringes und gebt mehr als ihr verheißt! Und vor allen Dingen jetzt in der Frühzeit des Lebens laßt in das Gedächtnis des Kindes manch’ schönes, edles Bild und manch’ gutes, reines Wort fallen. –

 Wir, die wir noch zu den altmodischen Leuten zählen, glauben, daß man für das Kind das Beste wählen sollte. Die meisten Kinderbücher, die in unzähligen Auflagen in Kinderstuben herumliegen, sind für die zarte, dem Schönen zugewandte Seele Gift. Denn dadurch, daß man das Unschöne in Karikatur darstellt, lehrt man nicht die Freude am Schönen und die Liebe zu ihm, dadurch daß man Unarten des Kindes in allerlei Schreckgestalten malt, erweckt man Angst, dann Spott, aber nicht wirkliche Liebe zum Schönen. –

|  Gebt dem Kinde die herrlichen Bilder unserer deutschen Märchen, so wie sie vielleicht Heinrich Vogel illustriert hat in dem wunderbaren Märchenbuch von Grimm. Zeigt ihnen die Herrlichkeiten auch der Bilderbibel und glaubt nicht, daß man dem Kinde den Anblick des Gekreuzigten fernhalten müßte, weil dieses Bild so leicht den Sinn verwirre. Die ahnende Seele sieht in der Schmerzensgestalt eine wunderbare Liebe ausgegossen, in dem Leiden, ich möchte sagen, die geheiligte Schöne der Treue. All die Bilder, wie sie mit deutschem Griffel mit evangelischem Ernst Schnorr von Karolsfeld in seiner Bilderbibel uns darstellte, mögen dem Kinde langsam gezeigt werden, damit seine Seele mit wunderbaren Gestalten sich bereichere und erfülle, die es im Schlafe denkt, mit denen es im Wachen sich beschäftigen kann. Statt daß ihr die Kinder immer wieder ihre Geistreichigkeiten erzählen laßt, laßt sie Geistreiches hören. Zwar ein geliebter Erzieher, Jean Paul, ein Mann, auf dessen Worte ich gerne höre, sagt in seiner „Levana“, man solle nie mit Kindern beten, vor allen Dingen seien Tischgebete für die Kinder eine Tortur, sie wollten essen, nicht beten. Und doch meine ich, das erste Gebet, dass das Kind von seiner Mutter hört, die gefalteten Hände, die es bei seiner Mutter erblickt, sind Gewalten, die das Kind in die Ferne seines Lebens, in die Weite seiner Entwickelung, bis an das Ende seiner Tage geleiten. –

 Das sind Großtaten der Mutter für ihr Kind. Das Kind weiß sich, wie die Mutter, von Gott abhängig und sich und die Mutter, die geliebte, in Gott geborgen. Sagt also dem Kinde manchmal ein kurzes Gotteswort und glaubt nicht, es müsse alles verstandsmäßig erklärt werden. Wir Alten müssen so viel lernen, können uns auch manches nicht erklären und setzen dann mit der Willigkeit des Glaubens ein, nicht weil wir müßten, sondern weil wir wollen. Unser ganzes Erkennen bleibt als ein dürftiges, stückweises, hinter den großen Objekten weit zurück. Wir sehen nur Stück um Stück und wenn eines uns klar geworden ist, entzieht sich das andere, das eine kommt, das andere entschwindet. Sollten wir denn unseren Kindern zumuten, daß sie alles auf’s Trefflichste und Klügste verstünden? Wollen wir nicht Gott trauen, daß er das schlichte Wort dem Kinde recht gedeihen läßt? Aber freilich nicht Ueberlastung und Ueberfüllung des Kindes mit heiligen Dingen. – Von jenem Pfarrerssohn aus Schwabach in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Claude Barratier, dem Sohne eines französischen Geistlichen, wird erzählt, daß er mit 3 Jahren Französisch, Latein und Englisch fertig sprach und daß er das ganze Neue Testament wiederholt gelesen hatte. Mit 9 Jahren hatte er so ziemlich alles gelernt, was ein Mann zu lernen hat. Mit 18 Jahren ist er an der Auszehrung gestorben. –

 All diese Frühreife, besonders im Geistlichen, die Ueberfüllung des kindlichen Gedächtnisses mit Sprüchen und Liedern erzeugt leicht ein Mißtrauen gegen Gott, als ob er durch Quantitäten seine Gemeinde erbaue und erweckt ein Mißbehagen an dem Herrn, der durch Fülle geben wolle, was die Einfalt sich versagt sieht.

|  Gebt dem Gedächtnis des Kindes das Gute, das Beste, aber gebt ihm wenig! Ehrt und pflegt das Gedächtnis, diese große sittliche Kraft des Menschen, die Kraft, von der ein Denker sagt, sie sei eine Größe, die in allen wiederholt wird, also daß der Greis im Gedächtnis sich verjüngt. Oder ist es nicht, wie wenn beim Photographieren Platten zur Nachbestellung aufbewahrt würden, daß in alten Tagen längst verschwundene Bilder, vergessene Verse und Begebenheiten, die wir längst aus unserem Kopfe herausgedacht hatten, wieder in deutlicher Klarheit hervortreten? –

 Der alte Meister sagt: „So will ich trauern, wenn ich im Alter nicht wieder jünger werde“. Und der selige Bengel schreibt einmal: „Mein Gedächtnis hat mich im Alter viele Personalien darstellen lassen“.

 Pflegt das Gedächtnis, ihr tut den Kindern ein Gutes! Lehrt sie das gute Sprüchlein, den rechten Vers und den frohen Sang und erzählt ihnen all das, was mit wunderbarer Treue eure Kindheit wahrhaft verschönte. Auch Unwahres? Es gibt einen Purismus und Fanatismus der Wahrheit. Als ob man dem Kinde nicht die Fabel erzählen dürfte und das Märlein, das sich, wie Jakob Grimm in seiner Vorrede so fein sagt, mit seinen großen, lieben Kinderaugen dem Kinderherzen so sehr empfiehlt. Was ihr dem Kinde an Gutem gebt, sei es Wirklichkeit, oder sei es Wahrheit, sei es holde Dichtung oder große Offenbarung, das habt ihr ihm auf dem Lebenssweg gegönnt.

 Und dann erweckt und pflegt das Denken, das Denken, das sich beim Kinde zuerst in seiner Phantasie zeigt, denn Phantasie ist die Netzhaut der Seele, die alle Eindrücke hereinnimmt und dann weitergibt und ausgestaltet. Es liebt die Fähigkeit, sich eine Welt zu bauen. Darum segnen wir die Eltern, die ihrem Kinde wenig Spielsachen geben und sie an dem wenigen Genüge haben lassen, damit sie das Wenige mit ihrer blühenden Phantasie bereichern. Wir loben alle die Erfindungssgabe des Kindes, das mit etlichen Hölzchen sich eine Burg, Kirche, Kirchenzug und Hochzeitsleute darstellt. Fürwahr wir freuen uns, wenn der Kinderphantasie auch manchmal dass rasche Wort enteilt. Das Kind sieht mehr wie die Alten, erlebt mehr wie die Alten, lebt in einer Traumwelt, die uns nicht mehr und noch nicht beschieden ist. Das Kind läßt alle Gestalten in seiner Umgebung auf sich wirken, merkt sich das Einzelne und bereichert es, läßt Hunde an der Hütte reden und die Katze in dem Hausflur, läßt Bäume, Blumen und Blätter ein Gewand annehmen, hält mit ihnen trauliche Zwiegespräche und denkt dabei soviel, daß ein Dichter fein gewünscht hat: „Daß wir wie die Kinder weinen, daß wir wie die Kinder lachen, daß wir seien und nicht scheinen. – Hat nicht der Herr selbst mit heiligem Wohlgefallen den Kindern auf dem Marktplatz zugesehen, wie sie einander zurufen und winken, wie die einen klagen und die anderen wollen nicht weinen, die einen den Festreigen aufführen und die anderen wollen nicht mittanzen? Hat er nicht an diesen Kinderbildern sich ein großes Wohlgefallen gesehen und dann die Kinder in ihrer Unmittelbarkeit des Denkens, in der Unbeeinflußtheit ihrer Behauptungen und Ansichten hochgepriesen? – Hat nicht das Kind einen tiefen Eindruck von dem, was recht und von dem,| was nicht gemäß ist? Wen ein Kind nicht liebt, der möge in sich gehen und Buße tun, denn er muß dem Kind irgendwo sein Aergernis gegeben haben. Vor wem Kinder sich zurückziehen, der möge wohl Einschau halten, ob er nicht eine Kindesseele, unwillentlich vielleicht, gekränkt hat.

 Ihr Eltern, laßt die Phantasie leben, blühen, wachsen, laßt sie nur nicht üppig werden. Wenn sie in Lüge verfällt, mag man sie beschneiden. Es ist etwas Großes, wenn die Kinder sich so einfach mit Wenigem genügen lassen, und nun vor ihren Blicken die ganze weite, holde Zauberwelt sich auftut und aufbaut. In dieser Zauberwelt walten sie und sind heimisch und vergessen Sorge und Kummer und, wenn es fromme Kinder sind, tritt in diese Zauberwelt der Glaube ein, der die ganze Welt der Verderbnis, die auch in der Kindesseele erwacht, überwindet. – So einfach, wie ein Kind betet, das in sein Gebet alle kleinen Gedanken mit hereinnimmt, das im besten Sinn des Wortes „frei betet“, können wir Alten es nimmer und müssen erst vom Kinde wieder lernen auf die Hände des Herrn schauen, in rechtem und unmittelbarem Glauben, daß er denen, die sich zu ihm halten, seine Treue nicht entziehen wird. – Laßt dem Kinde seine Gedanken über Gott, über den Heiland, über göttliche Dinge, Himmel und Hölle! Laßt ihm seine Gedanken über Welt und Kirche, über alles, was das kleine Leben umgibt und glaubt, daß in diesem Denken der heiliges Geist sich rege und zeige.

 Denken aber und Danken, verehrte Anwesende, ist innig verwandt. Wenn Eltern ihre Kinder nicht danken lehren, erziehen sie Revolutionäre. Wenn ein Kind nicht für die kleinste Gabe danken kann, als ein unverdientes Geschenk der Freundlichkeit, die sich zu ihm tat, so wird es anspruchsvoll, begehrlich, überreizt, blasiert, unzufrieden mit allem, was ihm geworden und geht schließlich in Trübsinn und Verbitterung unter. Darum lehrt die Kinder danken, ohne daß ihr doch die Größe einer Wohltat ihnen lange vorhaltet, denn das heißt den Dank ersticken, wenn man dem Kinde drei und viermal des Tages immer wieder vorstellt, daß es empfangen habe und wie es empfangen habe und wie Großes ihm geworden sei. Aber sagt ihm, daß Danken Pflicht ist und zeigt ihm, daß es Freude und Ehre ist. Gedächtnis und Dank nennt der alte Weise als Hauptstücke. Ich füge ein Drittes hinzu: „Streben und Wille“. Hier, verehrte Anwesende, muß ich mit kurzen Strichen mir genügen lassen, weil das große weitumgrenzte Gebiet beginnt, das in der Kürze einer Stunde nicht durchmessen werden kann.

 Wenn das Kind neidisch wird – Augustin im ersten Buch seiner Konfessionen hat ein wunderbar herbes Bild des Neides gezeichnet, dann zeigt ihm, daß andere weit weniger haben. Eltern, die ihr euren Kindern Freude machen könnt’, laßt es auch in das Leid des Lebens sehen. Das arm gekleidete, kranke Kind, die mühselige Hütte der Armut, sollen dem Kinde nicht verschlossen bleiben, damit es ahnt, wie freundlich es sein Gott geführt hat. Und wenn der Neid sich regen will, dann entsage und entziehe auch deinem Kinde, damit es| wisse, was es gehabt hat. Es gibt Eltern, die ihre Kinder mit einer Liebe umgeben, für die unsere Sprache die Bezeichnung aus der Tierwelt sich geholt hat, die alle Wünsche ihres Kindes erfüllen, selbst mit Darangabe des eignen, die ihr Kind nicht weinen sehen können und ihrem Kinde alles zugestehen. Ihr habt wohl solche Eltern und ihre Dialoge mit Kindern vernommen: „Darf ich noch ein Stück haben? Nichts mehr, kein Stück mehr! Aber soviel, soviel, soviel?“ Und in einer etwas anderen Folge, als der große Beter mit Gott abhandelte, handelt dann das Kind mit seinen Eltern ab und die Eltern sind noch stolz über das erfindsame Kind. Das kleine Kind soll zuhause gebracht werden, zuhause sein, wenn die Glocke läutet, aber es möchte noch auf dem Wege spielen. Die Mutter sagt: „Jetzt gleich, jetzt augenblicklich!“ und überläßt dem Kinde das „gleich“ und „augenblicklich“ nach seinem Sprachgebrauch auszulegen und hat dadurch das Kind mit dem Fluch der Unpünktlichkeit und mit dem Laster der Ungenügsamkeit bekannt gemacht. – Versagt, entzieht, verweigert dem neidischen und ungehorsamen Kinde, damit es lerne, es sei kein Recht, was es beanspruche, sondern eine Freundlichkeit, die ihm widerfahre. Und wenn dein Kind anspruchsvoll im Essen werden will, wenn es naschhaft ist? Zwar Jean Paul sagt einmal: „Kinder haben Wachs- und Honig-Mägen, wir Erwachsenen haben bloß Wachsmägen, wenigstens im Durchschnitt“, und darum müsse man auch den Kindern die Fleischtöpfe Aegyptens gönnen, ehe sie in die Wüste des Lebens hinaus den Zug wagen, und je mehr man dass Kind mit Näscherei und Süßigkeit füttere, desto leichter werde ihm später die Wüste. Das ist dieselbe Theorie, die wir jetzt überall sehen, jene von dem seligen Philanthropin herübergenommene, daß man den Kindern in der Jugend alles recht leicht machen müsse, weil sie es später doch „nicht mehr so bekommen“.

 Der große Erzieher, der sagt, daß es dem Mann ein köstliches Ding sei, wenn er in der Jugend das „Nein“ erfährt und sein Joch trägt, ist längst überaltet und vergessen.

 Glaubt es, wenn eure Kinder nichts stehen sehen können, immer mehr begehren, als sie haben, an Süßwerk und Bäckerei ihre Lust tragen, so werden sie später auch hinüber in eine andere Sphäre greifen, die der Feind mit Süßigkeit bekleidet hat, während in ihr die Bitternis der Reue und das Verderbnis von Leib und Seele lauert. Wenn eure Kinder jetzt sich nichts versagen können, greifen sie später über Gehalt und Grenze der Ehre und des Namens hinein in das Eigentum des Nachbarn, sind nicht mehr keusch und rein, nicht mehr lauter und wahr. Anspruchsvolle Kinder, naschhafte Kinder, sind auch verlogene Kinder. –

 Wiederum sagt ein alter Erzieher: „Wenn die erste Lüge kommt, dann wisse, daß ihre Kinder alsbald hinter ihr dreingehen“. Und wie es für Kinder die bitterste Enttäuschung ist, die keiner vergißt, der sie einmal erlebt hat, daß auch die geliebtesten Menschen unwahr erfunden werden, auch die Eltern nicht mehr ganz klar bei der Wahrheit stehen, wie es für die Kinder ein „Sterben ohne Ende“, ein Leid und| unaussprechliches Weh ist, wenn auch die liebste Sonne verbleicht, so ist es für Vater und Mutter ein bitterschwerer Tag, wo sie erstmals die Lüge bei ihrem Kinde vernehmen. Und doch möchte ich rufen: Macht ihnen dann die Beichte leicht! – Ach wenn eure Kinder, die euch Befohlenen, irgendwie in Sünde geraten, macht ihnen das Geständnis leicht. So beginnt im neuen Bund jedes Gebot: „Wir sollen Gott fürchten und lieben“. Aus der Liebe zu euch sollen die Kinder sagen, was sie wider die Liebe zu euch getan haben und aus anhänglicher Treue bekennen, wie sie euch verletzten. Wenn sie es gestehen, laßt sie eure Tränen sehen, die als bitteres, herbes Weh ihnen auf die Seele brennen sollen. Laßt sie eure Leiden und euren Kummer wohl wahrnehmen. Man muß ihnen weisen und erklären, wie „sauer du deiner Mutter geworden bist“.
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 Wenn die Kinder ehrgeizig, hochmütig und streberisch werden? Wenn sie Gefallen haben am Schaden, wie der Herr einmal sagt: „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen“. Ach dann reißt dieses Verlangen, eine Rolle zu spielen und diese Freude am Unterliegen des Nächsten, dieses elende Aufbauen aus Resten der Hütte des Nachbars mit allem Ernst aus der Seele und habt den Mut zu strafen, denn gegenüber einer Theorie, die da lehrt, daß man nicht strafen dürfe, rufen wir hinein in diese Menge: „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“. – Der Hebräer-Brief stellt der zeitlichen und oft unklaren Züchtigung der leiblichen Väter die große Züchtigung des Vaters der Geister als Korrektio gegenüber. So wie bei uns altgewordenen Kindern der Vater der Geister eingreift und uns das Liebste nimmt, das Größte versehrt, die Ehre zerpflückt, das Ansehen raubt und den guten Namen, das Beste, was ein Mann haben kann, manchmal verwerfen läßt, so wie der König der Geister da klein werden heißt, wo einer groß zu sein meinte und da arm werden läßt, wo er seines Reichtums Fülle vermutete und sich dessen tröstete und vermaß, so soll ein rechter Vater, eine rechte Mutter, den Mut haben zu strafen, zu strafen in heiligem Affekt, nicht in jener falschen Weise, daß man etliche Fehler aufsummiert, um dann nach Wochen Generalmusterung zu halten und Abrechnung zu machen, nicht in jener unfeinen und kläglichen Weise, mit der man dreimal etwas übersieht, um ein viertes Mal alle vier Fälle zusammen zu behandeln, sondern im heiligen Affekt, daß der ewigte Gotteswille mit Füßen getreten und treuester Ernst vernachlässigt und Mutterliebe vergessen worden ist, strafe man mäßig. Straft, wo es geht, mit dem Blick und Wort. Das Kind muß, wenn die Hand der Mutter sich ihm versagt und der Gutenachtgruß ihm entzogen wird, merken, daß zwischen ihm und der Mutter eine Scheidewand aufgerichtet ist, die nur durch Ernst der Buße und durch Gnade und Freundlichkeit der Mutter hinaus getan und niedergelegt werden kann und in dem scharfen, ernsten Blick, den der Vater dem Kinde zuwirft, in dem seine werbende und eine strafende Gewalt zumal liegt, soll das Kind merken, daß es die Liebe des Vaters verwirkte. Dann nehmt dass rechte Wort, nicht dass Wort, das die Wut geboren hat und falsche Reue dann vergebens zurückzunehmen versucht, nicht| die Scheltrede, sondern das ernste, bestimmte, klare Wort, das den Mut hat, auch die Fehler zu nennen. Wir leben jetzt in der Zeit der Umschreibung. Wer die besten Umschreibungen weiß, der ist zur Zeit Meister. Wehe den Eltern, die die Fehler, ihrer Kinder mit zarten, süßen Worten umschreiben, um schließlich das Kind merken zu lassen, daß seine Fehler nicht einmal so groß waren. Nennt die Fehler unumschrieben mit den rechten Worten und dann straft auch mit der Tat. Gott hat euch Strafgewalt anvertraut, hat euch auch Verstand gegeben, das Rechte hier abzumessen und zu begrenzen. – So kann man die Kindesseele pflegen, daß sie heranwachse zu der göttlichen Größe, von der Paulus im 5. Kapitel des Epheser-Briefes schreibt, zu dem Maße des vollkommenen Alters Jesu Christi. – So kann ein Kind Gottes ein Mann Gottes werden, zu allem guten Werk geschickt. (2. Tim. 3, 17.)

 Liebe, verehrte Anwesende! Euch ist eine große, weittragende Aufgabe befohlen. Ihr sollt unsere Totengräber, die einst an unseren Gräbern die Glocke rühren werden, erziehen, nicht, daß sie mit uns unseres Volkes und unserer Kinder Zukunft bestatten und wenn es hoch kommt, mit etlichen kargen Tränen beweinen, sondern daß sie an unseren Gräbern eine Zukunft heraufführen, lichter, reicher, wahrer als die Vergangenheit war, die wir jetzt Gegenwart nennen. Euch ist ein großes Stück des Wohles unseres Volkes und unserer Kirche anvertraut. Tragt diese Kleinen und die mit ihnen gegebene Verantwortung auf betendem Herzen und in sorgenden Händen.

 Heute ist der 10. November. Wie könnte ich des Mannes vergessen, der ein echtes deutsches Haus gebaut und seine Kinder in Zucht und Ernst, in Mäßigung und Schlichtheit erzogen hat, des Dichters und Sängers des deutschen Hauses und der deutschen Familie. Wer „Die Glocke“ einmal auf sich hat wirken lassen, weiß, wie dieser deutsche, ich sage gerne, dieser prophetische Dichter ein Haus sich erbaute, Zierde und Schmuck gegenüber dem verfallenen und unschönen Haus seines größeren Freundes. Wir danken heute, an dem Geburtstag Friedrich Schillers, diesem teuern Mann für alles, was er an Erziehungsweisheit, an Erziehungsernst im eigenen Hause geübt und unserem Hause geschenkt und gegönnt hat. Aber wenn der Name Schiller vielleicht, ich möchte sagen gottlob, in den Kreisen unserer bäuerlichen Bevölkerung noch nicht bekannt ist, ein anderer Name geht durch Stadt und Land und so lange evangelische Herzen noch von Ehre wissens, denken sie des schlichten Bergmannssohnes, der alle Erziehungsweisheit aus den Schachten göttlicher Erbarmung hervorgeholt, Kinderspruch im Katechismus, Kinderlieder an Weihnachten geschenkt und gesungen hat. Solange evangelische Herzen glauben, daß Danken den Mann ziert, lesen wir die kindlichen Briefe Luther’s an sein Söhnlein und rufen dem, der ihn jetzt nicht mit Lorbeer, sondern mit Siegespalmen ehrt und krönt, dankend zu: „Er verdient es, daß du ihm dies erweisest, denn er hat unser Volk lieb gehabt und die Schule hat er uns erbaut!“

 Und wenn wir Alten unseres Luther vergäßen, so werden unsere Kinder unsere Richter sein, so oft sie an Weihnachten anstimmen: „Vom| Himmel hoch, da komm’ ich her, ich bring euch gute neue Mär“, – und wenn sie treulich später aus ihrem Katechismus lernen, daß der Herr alles uns gegeben habe, auf daß wir sein Eigen seien und in seinem Reiche unter ihm leben. – Weil er ein Mann des Willens und ein Kind des Glaubens, ein Held des Kampfes und doch voll Liebe war; weil er so gar nichts sein wollte, konnte er so viel sein. Wir lassen uns gerne heute von ihm zurufen: „Weint nicht, die Kindlein beten für uns!“ –

 Ich bin am Schluß. Als der große Meister Michel Angelo Buonarotti einst in einem florentinischen Kloster nächtigte, zeigten ihm die Mönche einen mächtigen Marmorblock. Bei dessen Anblick sagte er: „Welch’ ein Christus steckt in diesem Block! Während er schlief, machten die Mönche treulich sich auf und arbeiteten mit Meisel und Hammer die Nacht durch, um aus dem Steinblock den „verborgenen Christus“ hervorzuholen. Es gelang ihnen nicht, aber am anderen Morgen zeigte der Meister die Kunst und ließ den Meisel fallen, den Hammer spielen und seine Weisheit Rat geben, und ehe der Abend kam, war das Christusbild vollendet.

 Welch’ ein Christus steckt in diesem deutschen Volk trotz aller Verzerrungen, Mißbildungen und Mißgefüge! Aber kommt nicht, mit harter, plumper Hand, das Geheimnis herauszuzaubern! Laßt euch nicht beigehen, mit ungeschickten Fingern das Wunder zu enträtseln, sondern mit betendem Ernst, mit liebendem Eifer, mit treuer Sorge geht herzu, Eltern, Freunde, Erzieher und gestaltet aus Kinderherzen das Geheimnis des Christussgedankens. Stellt in Kinder die Größe der Christusstreue dar. Am Kinde legt den Dank für beide. Der aber, von dem Jakobus sagt, daß er dem der Weisheit Bedürftigen Weisheit gebe, ohne Murren und ohne Vorhalt, der Gott aller Weisheit, gebe euch und uns erleuchtete Augen, daß wir am Abend die Morgenröte, am Untergang den Aufgang und in zerstörenden Zeiten aufbauende Kräfte gewahren. Er gebe uns die Weisheit, unsere Hände zu rühren, auf daß die Gestalt Jesu Christi aus der Zukunft unseres teuren Volkes erscheine.

 Er spricht in dieser Abendstunde: „Weil du bist vor mir wert gehalten, darum habe ich dich lieb, darum will ich auch meine Geduld über dir verlängern. Und flüchtend in den Schatten dieser zuwartenden Geduld, dieser hoffenden Liebe, glauben wir, es werde unserem Volke noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, ein Frührot geschenkt und unserer Kirche Luthergeist und -Gabe nicht ganz verkümmern.

 In solchem Glauben treten wir ans Werk, ein jeder an seinem Teile, erziehen die Kinder und werden wie die Kinder, damit wir ernstlich und heilig nach Wille, Weise und Gabe endlich Den erblicken, in dessen Wille unsere Seele einst Gedanke war, zu dessen Willen unsere Seele als Wirklichkeit zurückkehren soll.