Die irische Frage

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Autor: Valerius
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Titel: Die irische Frage
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 111–115
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die irische Frage.
Eine culturgeschichtliche Skizze.

In der ältesten Colonie Englands, die nur durch den schmalen Georg-Canal von dem Gestade Albions getrennt wird, in dem sagenumwobenen Lande Erin’s, wird, wie in allen übrigen Colonien des mächtigen englischen Handelsstaates, das Ansehen der britischen Regierung bekanntlich nur durch Waffengewalt aufrecht erhalten. Auch dort glüht in der Urbevölkerung ein unversöhnlicher Haß gegen den fremden Eroberer und lodert von Zeit zu Zeit zu hellen Flammen des Aufstandes empor. Der wilde Schlachtruf erschallt heute wiederum auf der grünen Insel; wiederum stehen wir vor dem Beginn einer jener blutigen Metzeleien, in welchen im Laufe der Jahrhunderte Irland so schwer gelitten und England so oft seinen Namen mit fraglichem Ruhme bedeckt hat. In solchen Momenten des nahenden Kampfes ist es selbst für den kalten Zuschauer ungemein schwierig, über zwei Nationen zu Gerichte zu sitzen und gerecht abzuwägen, ob und inwieweit das geistig höher stehende Volk in vermeintlichen Culturinteressen die Freiheit des weniger civilisirten antasten darf. Das freie, gebildete, reiche England pocht heute dem abergläubischen, von Priestern beherrschten, wirthschaftlich herabgekommenen irischen Volke gegenüber auf seine culturelle Mission, und hat sich so die Sympathien derjenigen erobert, die nur mit der klingenden Münze der bestehenden Machtverhältnisse rechnen. Aber die Weligeschiche, welche die auf den Schlachtfeldern entstandenen Gesetze nur dann als Recht anerkennt, wenn sie der allgemeinen Gerechtigkeit entsprechen, wird vermutlich ein von dieser Anschauung weit abweichendes Urtheil über die englischen Ansprüche fällen.

Klingt es nicht wie eine bittere Ironie des Schicksals, wenn wir in Anbetracht der Klagen über die Verfolgung der katholischen Iren durch die anglikanische Kirche mit der wohlbeglaubigten geschichtlicher Thatsache beginnen müssen, daß der erste Rechtstitel auf den Besitz Irlands den englischen Königen von dem heiligen Stuhle zu Rom verliehen wurde? Papst Hadrian der Vierte, von Geburt ein Engländer, hat Irland an Heinrich den Zweiten von England für so viele Pfennige jährlicher Abgaben überlassen, wie Häuser auf der Insel standen. Dieser seelenverkäuferische, im Jahre 1156 abgeschlossene Contract wurde selbstverständlich von dem keltischen Volke der grünen Insel niemals anerkannt, aber für die Engländer bildete er das gute Recht, auf Grund dessen sie schon im Jahre 1170 mit bewaffneter Macht in Irland landeten und die Unterjochung des Nachbarvolkes begannen. In einer Reihe blutiger Expeditionen blieb der Sieg an die englischen Fahnen gekettet, und bald nannte sich der König von England auch „Herr von Irland“.

Diese langwierigen Kämpfe um die nationale Unabhängigkeit wurden noch durch den religiöser Gegensatz verschärft, als England eine eigene Staatskirche begründete, das irische Volk dagegen beim katholischen Glauben beharrte. Wie intolerant die anglikanische Kirche gegen Andersgläubige verfuhr, das haben wir bei einer anderen Gelegenheit erst vor Kurzem dargelegt (vergl. „Die Civilehe“, „Gartenlaube“, Jahrg. 1880, Nr. 47). In Irland aber feierte dieser hierarchische Fanatismus seine blutigsten Orgien, und so konnte Lord Deputy Montjoy der Königin Elisabeth berichten: „Majestät, Sie haben in Irland über nichts, als über todte Leiber und Asche zu gebieten.“

Aber die Lage der Besiegten verschlechterte sich noch, als das englische Volk unter Cromwell der Krone politische Freiheiten abtrotzte. Die Republik verfuhr gegen die Rebellen mit geradezu barbarischer Grausamkeit, und als im Jahre 1653 das Land in Friedenszustand versetzt wurde, befand sich kein Rebell mehr unter den Waffen. Da wurde ein hoher Gerichtshof eingesetzt, der über die im Bürgerkriege von den Katholiken an Protestanten verübten Frevelthaten aburtheilen sollte, und er ließ 200 der angesehensten Iren hinrichten, während 30,000 bis 40,000 Männer zur freiwilligen Auswanderung veranlaßt wurden. Alle Kriegsgefangene hatte man schon früher als Sclaven nach Westindien verkauft, aber auch das genügte nicht der Ausrottungspolitik des Parlaments. Man ließ nunmehr 20,000 Jünglinge, Weiber und Kinder aufgreifen und sie nach Jamaika und anderen fernen Inseln hinüberführen. Nachdem auf diese Weise das nationale Element genügend geschwächt worden war, suchte man mit anderen Maßregeln brutalster Art den Rest des Volkes zu vernichten. Alle geborenen Iren wurden über den Shannon nach Connaught vertrieben, und man erließ die Verordnung, daß jeder Verpflanzte, der das linke Ufer dieses Flusses beträte, von Jedem, der ihm begegne, niedergestoßen werden dürfe, während das irische Land an englische und schottische Soldaten und Colonisten vertheilt wurde.

Außerdem ward die Ausübung des katholischen Cultus untersagt, kein Katholik durfte ohne Paß sein; alle katholischen Pfarrer mußten bei Strafe des Hochverraths Irland innerhalb zwanzig Tagen verlassen und die Ortsbehörden erhielten die Ermächtigung, den Katholiken ihre Kinder wegzunehmen und sie zur Erziehung nach England zu senden. Aber wohl gemerkt! England wollte nicht die Besiegten von der tiefen Culturstufe der römischen Finsterniß zu der Morgendämmerung der religiösen Freiheit emporheben - es wollte nur mit Schwert und Feuer erobern. Und England selbst hat es durch den Druck verschuldet, daß Derjenige, der die Seelen der grünen Insel an den Bedrücker verkaufte, dennoch die geistige Oberherrschaft über die Verkauften bis heute besitzt - der Papst zu Rom. Das war in allgemeinen Zügen die trostlose Lage, in welcher das irische Volk Jahrhunderte hindurch unter englischer Herrschaft seufzte. In politischer Beziehung geknechtet, in religiöser verfolgt und wirthschaftlich, wie wir es später sehen [112] werden, förmlich geplündert, fristete es ein Leben der Sclaven in dem freien britischen Reiche. Erst die große politische Umwälzung am Ende des vorigen Jahrhunderts, welche die despotischen Regierungsformen fortspülte und der Freiheit fast in der gesammten civilisirten Welt zum Siege verhalf, sollte auch ihm eine Besserung seiner unerträglichen Lage bringen. Im Jahre 1798 erfolgte eine neue Erhebung, die umsomehr Aussicht auf Sieg hatte, als sie von der ersten französischen Republik unterstützt wurde. Aber auch diesmal wurde die Hoffnung getäuscht, der Aufstand niedergeworfen und das Standrecht verkündet. Das irische Parlament wurde gedrängt, sich aufzulösen und die Union Irlands mit England gutzuheißen, die Stimmen der Abgeordneten aber kaufte man hierzu mit englischem Golde. Niemals war Irlands Stern so tief gesunken wie damals. Jedoch bald sollte die Welt das wunderbare Schauspiel erleben, daß dasselbe Volk, welches auf den blutigen Schlachtfeldern stets unterlegen war, in den Parlamentssälen seines Gegners mit den friedlichen Waffen des lebendigen Wortes und der Ueberzeugung den größten Theil der ihm entrissenen Freiheiten wieder eroberte. Der Lenker dieses denkwürdigen, in der Geschichte einzig dastehenden Befreiungskrieges war ein schlichter Privatmann, Daniel O’Connel, der Befreier der Iren, von dem unser Bluntschli sagt: „es hat wohl größere Staatsmänner, aber es hat keinen größeren und reineren Volkstribun gegeben, als ihn.“ Fast durch ein halbes Jahrhundert blieb die Geschichte des irischen Volkes an seinen Namen gekettet.

Der fühlbarste Druck, welcher damals auf Irland lastete, ging von der anglikanischen Staatskirche aus. Schon seit Elisabeth’s Zeiten hatte diese Staatskirche alles katholische Kirchengut in Irland, von den Bisthümern bis zu der kleinsten Pfarrei hinab, an sich gerissen; außerdem waren die katholischen Einwohner zur Unterhaltung der anglikanischen Pfarrer genöthigt. Doch müssen wir hier mit Nachdruck hervorheben, daß dieser Makel dem freien Geiste der Reformation, aus welchem auch die anglikanische Kirche hervorgegangen, niemals angehängt werden darf. Es wiederholte sich nur das oft Erlebte, daß, sobald die lebendige Lehre der Reformatoren durch hierarchische Institutionen zu einer todten Formel gemacht wurde, die Freiheit und die Toleranz in derselben sofort verloren gingen. Die Conservativen Englands, die ihren Söhnen und Vettern die irischen Pfarreien übertrugen, sträubten sich aus leicht erklärlichen Gründen gegen die Emancipation der Katholiken, die für sie den Verlust jener kirchlichen Einkünfte bedeutet hätte, während die liberalen Protestanten diese Staatskirche im Verein mit den Iren bekämpften und schließlich ihre Auswüchse beseitigten. Es war also kein Kampf um Glaubensgrundsätze, sondern ein Kampf um rein weltliche Dinge, in welchen jetzt Irland eintreten sollte. Außerdem war die Bezeichnung katholisch gleichbedeutend mit irisch, und während es scheinen konnte, daß man um kirchliche Freiheit stritt, stritt man thatsächlich um nationale Unabhängigkeit.

Gegen die Staatskirche war die Hauptagitation O’Connel’s gerichtet, da er wohl wußte, daß das ungebildete Volk, welches sich nur schwer für rein politische Ziele begeistern läßt, für den Glauben Gut und Blut geben würde. Er selbst war keineswegs vom blinden Glaubenswahne gefesselt; wo es für seine patriotischen Ziele nutzbringend war, da scheute er vor einer Allianz mit liberalen Protestanten niemals zurück.

Zu diesem Zwecke rief er im Jahre 1823 die katholische Association wieder in’s Leben, die anfangs nur zehn Mitglieder zählte, später aber so anwuchs, daß sie von der Regierung schon im Jahre 1825 aufgelöst wurde. Er fügte sich der Verordnung, aber mit dem wachsenden Drucke wurde auch seine Rede zum Volke kühner.

„Mit der tiefsten Demuth,“ sprach er bei dieser Gelegenheit, „haben wir vor einem Jahre vom englischen Senat die Wiederherstellung unserer Gesetze erfleht; er hat unsere Bitte zurückgewiesen; heute verlangen wir die vollständige Emancipation unbedingt und ohne Rückhalt. Wir flehen nicht mehr – wir fordern. Man sagt uns, daß dies nicht das Mittel sei zur Erlangung unserer Zwecke, ich aber sage Euch, daß es ein gutes und daß es das einzige Mittel ist. In den Tagen des Glückes hat England unsere gerechtesten, bescheidensten Bitten mit Verachtung zurückgewiesen, und nur in den Tagen der Gefahr hat es sich herabgelassen, uns anzuhören. So faßt Muth; denn es leidet!“

Sofort begründete er einen neuen Verein, der bereits im Jahre 1826 bei der Wahl zum Parlamente seinen eigenen Candidaten durchsetzte, und im Jahre 1828 siegte O’Connel selbst in der Urwahl gegen den Magnaten Lord Fitzgerald. Aber diese Wahl wurde cassirt und der Verein aufgelöst. O’Connel nun gründete sofort einen neuen Verein und wurde mit noch größerem Triumphe wiedergewählt. Inzwischen hatte man sich in London überzeugt, daß ein fernerer Widerstand fruchtlos wäre, und eine Emancipationsbill für die Katholiken durchgesetzt, durch welche O’Connel’s Eintritt in das Parlament möglich wurde. Natürlich begnügte er sich nicht mit dem kargen Maß der gewährten Gerechtigkeit – er forderte mehr. Und als die Regierung sich weigerte, auf dem Wege der Reform weiter zu schreiten, schleuderte er ihr die Drohung entgegen: Entweder Gerechtigkeit oder Lösung der Union! Im Jahre 1840 rief er auch die Nation auf, die Repealassociation zu gründen, vor der er sein politisches Programm in folgenden vier Hauptpunkten zusammenfaßte: 1) die kirchlichen Staatsrevenuen in England und Schottland werden nicht für die Minderheit des englischen und schottischen Volkes, aber die kirchlichen Staatsrevenuen Irlands werden für eine kleine Minderheit des irischen Volkes verwendet. 2) In Irland kommt nur ein Zwanzigstel der männlichen Bevölkerung zur Ausübung der parlamentarischen Freiheit, in England ein Fünftel. 3) England hat über fünfhundert Mitglieder im Parlamente, Irland nur Hundertfünf, während die Bevölkerung Irlands mehr als zwei Drittel der englischen Bevölkerung beträgt. 4) Die englischen Gemeinden hat man seit Langem reformirt, und selbst die Minister, die Irland gewogen sind, wagen nicht, auch Irland ein reformirtes Gemeindegesetz zu geben.

Das englische Parlament sollte vor Allem diesen Uebelständen abhelfen, oder, drohte O’Connel, er würde das irische Volk zum Abfall von England bewegen. Um dieser Drohung auch Nachdruck zu verschaffen, griff er zu einem bis dahin unbekannten Agitationsmittel, zu den monstre-meetings.

Diese Massenversammlungen wurden im Freien abgehalten, zumeist auf einem Hügel, von dem man historisch denkwürdige Orte übersehen konnte, Orte, die im Volke durch die Erinnerung an frühere Kämpfe der keltischen Urväter mit den anglosächsischen Eindringlingen in besonderem Ansehen standen, Orte, welche durch Sage und Geschichte geheiligt waren. Diese Art der localen Staffage war ein Meistergriff des berühmten Volkstribunen, der also unter freiem Himmel und doch in der Walhalla des irischen Ruhms und des irischen Leids zum Volke sprach. Auch wurde durch andere äußere Mittel für die Anregung der leicht entzündlichen Phantasie des irischen Paddy gesorgt; Fahnen und hölzerne Piken wurden hervorgeholt als Symbole der Kriegsstandarten und wirklicher Waffen. Man erzählt auch, daß einmal ein Sarg gebracht wurde, in dem der verhaßte Zehnte lag, den man unter dem Fluchen der angesammelten Menge begrub.

Heute wiederholen Parnell und Genossen dasselbe Spiel, und wir wollen nicht entscheiden, ob die Epigonen des Meisters würdig sind. Strenge Ordnung und friedliches Verhalten charakterisirten die Meetings, welche O’Connel leitete; denn er verstand die Kunst, „nahe an den Abgründen des Hochverraths und des Aufruhrs vorüberzugehen, ohne schwindlig zu werden“, denn „niemals,“ wie er von sich sagen durfte, „fand ein General in seiner Armee den Gehorsam, welchen das irische Volk den Wünschen eines einfachen Privatmannes leistete“.

Am 8. October 1843 sollte ein Monstre-Meeting zu Clontaiff abgehalten werden, zu dem man eine Million Menschen erwartete. Da erließ die Regierung am Tage zuvor eine Proclamation, durch welche die Volksversammlung untersagt wurde, und schickte Truppen an Ort und Stelle. O’Connel protestirte gegen diesen gesetzwidrigen Schritt, vermied aber jeden Conflict mit der bewaffneten Macht. Seine Eilboten sprengten nach allen Richtungen hin, und die Haufen und Banderien, die schon gegen Clontaiff zogen, kehrten auf seine Anordnung ruhig um. Die Regierung aber glaubte nunmehr schärfere Maßregeln ergreifen zu müssen, und erhob gegen O’Connel Anklage wegen Aufreizung zum Aufruhr. Am 12. Februar 1844 wurde der Volkstribun in Irland von den Geschworenen für schuldig befunden und ging nunmehr nach London, um von dem Parlamente die Cassation dieses „gesetzwidrigen“ Urtheils zu erwirken. Zuvor aber richtete er an seine Parteigenossen die Mahnung: „Wenn Ihr Eure Freunde achtet und Euren Feinden eine bittere Täuschung bereiten wollt, so bleibt ruhig und enthaltet Euch jeder Gewaltthat.“ Am 29. Mai 1844 [113] verlas der Richter unter Thränen das Urtheil: O’Connel wurde zu ein Jahr Gefängniß und zweitausend Pfund Sterling Buße verurtheilt und genöthigt, Bürgschaft zu stellen, daß er sieben Jahre Frieden halten wolle. – Wie mit einer souveränen Macht, verhandelte England mit dem einfachen Tribun. Inzwischen wurde in Folge seiner bereits oben erwähnten Einsprache beim Parlamente am 4. September das Urtheil von dem Oberhause aufgehoben, und eine zahllose Menge – man erzählt von einer halben Million – holte O’Connel in einem Triumphwagen von dem Richmond-Gefängnisse ab. Das war ein sonniger Tag in der düsteren Geschichte der Iren, ein glorreicher Tag des moralischen Sieges.

O’Connel starb im Jahre 1847 auf einer Reise nach Italien in dem Bewußtsein, seinen; Volk ein Retter gewesen zu sein; denn er hat für dasselbe nicht allein gewisse Freiheiten errungen, sondern ihm auch den Weg zu religiöser und bürgerlich politischer Gleichberechtigung mit dem englischen Volke gezeigt. Wohl durfte er von sich sagen: „Wir waren die Ersten in der Schule der modernen Politik, welche lehrten, daß die höchsten politischen Vortheile nur durch moralische Mittel, durch friedlichen, aber unablässigen Widerstand gegen Unterdrückung erreicht werden müssen und daß ein einziger Tropfen Menschenbluts die edelste Sache entehre und verderbe; das Blut ist nicht, wie man gesagt, der Kitt für den Altar der Freiheit, es ist nur das zerstörende und auflösende Element in dem dem freien Geiste errichteten Tempel; denn dieser kann nicht lange aufrecht stehen, wenn Blut zu seinem Aufbau nothwendig war.“

Konnten wir im Vorstehenden den Mitteln, welche O’Connel sich zur Realisierung seiner Idee bediente, nur zustimmen und die Klugheit bewundern, welche sie ihm dictirte, so müssen wir doch auch seinen Gegnern, der damaligen englischen Regierung, die vollste Anerkennung zollen. Auch sie hielt sich streng an die verfassungsmäßige Grenze ihrer Gewalten, und wahrlich durch ihre echt liberale Haltung hat sie ungemein viel zur friedlichen Lösung der Frage beigetragen. Denken wir uns diesen Mann mit seinen immer neu gestifteten Vereinen, denken wir uns diese Monstremeetings auf dem alten Continent Europas! Aus einander jagen würde man diese Volkshaufen, und so ein Volkstribun, wäre er nicht in einem Burgverließe vermodert? Darum liegt für uns eine tiefe Lehre in der ersten Entwickelungsphase der irischen Frage. Die freiheitliche Verfassung ist das theuerste Gut der Völker; denn sie schützt nicht allein vor neuem Unrecht, sondern giebt uns auch Mittel an die Hand, das, was unsere Vater verbrochen, auf friedlichem Wege wieder gut zu machen. Nur durch sie ist es möglich geworden, das Unrecht, welches englische Könige und die englische Republik dem irischen Volke zugefügt, auf politischem und religiösem Gebiete durch das englische Parlament zu sühnen.

Wie kommt es aber, daß trotz dieser Reformen heute der Kampf auf’s Neue tobt, daß die Leidenschaften bereits zu verwerflichen Mitteln greifen; und die Nachfolger O’Connel’s mit roher Gewalt England bedrohen? Nun, die irische Frage spielt noch auf einem dritten bisher noch nicht von uns berührten Felde – sie ist noch eine sociale Frage.

O’Connel sollte es noch erleben, daß sich plötzlich die kaum vernarbten Wunden Irlands öffneten und es nun klar zu Tage trat, daß das Uebel viel tiefer liege und zu seiner Aufhebung viel radicalerer Mittel bedürfe. In den Jahren 1846 und 1847 wurde die grüne Insel von einer furchtbaren Hungersnoth heimgesucht, der Tausende von Iren erlagen und während welcher Tausende ihr Vaterland verließen, um in Amerika, England und Frankreich Arbeit und Brod zu finden. Die religiösen und politischen Angelegenheiten traten immer mehr in den Hintergrund, während die sociale Frage die Gemüther zu beschäftigen anfing. In ihrer furchtbaren Noth schrieben die Iren die Schuld alles Unheils den Engländern zu und brachten gegen ihre Herrscher eine lange furchtbare Anklageacte vor.

So lange Irland unter eigenen nationalen Herrschern stand, waren seine Grundbesitzverhältnisse von den englischen verschieden. Das Land war nicht Eigenthum einzelner Personen, sondern Gemeindeland, Eigenthum der Gemeinde, welche es an Einzelne gegen eine Abgabe überließ. Schon der oben erwähnte Heinrich der Zweite nahm nach seinen ersten Erfolgen den Iren große Länderstrecken und verschenkte sie an englische Barone. Hierdurch aber wurden die Rechtsverhältnisse in der Art verändert, daß, während früher die Iren an ihre Häuptlinge einen Tribut entrichteten und dabei auf Grund und Boden Anspruch erheben durften, sie nunmehr nach englischem Rechte von ihren neuen Herren auf dem Grund und Boden nur geduldet wurden und jeden Augenblick von demselben fortgetrieben werden konnten. Diese famosen Confiscationen wurden unter Heinrich denn Achten, Elisabeth, Jacob den Ersten, Cromwell und Anderen wiederholt, und schließlich gehörte alles irische Volk, mochte es früher freies Eigenthum besessen haben oder nicht, zum neuen Lehen. Die englischen Lords, denen das Land geschenkt wurde, blieben größtentheils in London und schickten auf die neuen Besitzungen ihren Agenten, dessen Aufgabe es war, seinem Herrn möglichst viel Geld in die englische Metropole zu senden. Da nun englische Arbeiter in Irland nicht aufzutreiben waren, so sah man sich genöthigt, das Land an die vertriebenen Iren pachtweise abzugeben. Man fand aber auch bald, daß der Ertrag des Gutes desto größer wurde, je mehr Pächter auf demselben saßen, und so wurde Grund und Boden parcellirt und immer zahlreicheren irischen Pächtern zur Bebauung übergeben.

Diese baueten nun auf die von ihnen übernommenen Landstreifen [114] ihre kleinen Häuser und entrichteten den immer höher und höher steigenden Pachtzins, ohne einen Contract abgeschlossen zu haben, einzig und allein auf die Gnade des Agenten angewiesen. Sie wurden daher Tenants-at-will (Pächter aus Gnade) genannt. So lange sie nun politisch geknechtet und England gegenüber machtlos waren, mußten sie sich diese Gnade gefallen lassen, mußten froh sein, durch diese Gnade in ihrem schönen Vaterlande ein elendes Leben fristen zu können. Aber tief im Herzen des Volkes glühte der Haß gegen den fremden Landlord, genährt von der geschichtlichen Ueberlieferung, daß dieses gepachtete Land einst Eigenthum des Vorfahren des Tenants gewesen und ihm von dem Eroberer geraubt wurde. Auch bildete sich im Lause der Zeit ein eigenthümlicher Rechtsbegriff über die gegenseitigen Verpflichtungen des Landlords und des Tenant.

Die Agenten vertheilten mit der zunehmenden Parcellirung der Fluren ein ödes unbebautes Land an die Bauern. Dieses wurde von ihnen urbar gemacht; auf ihm errichteten sie aus eigenen Mitteln die nöthigen wirthschaftlichen Gebäude. Dadurch aber erwarben sie sich in der Meinung des irischen Volkes ein gewisses Recht auf das Land, das Recht des Pächters, das Tenant-right, welches, da es in der Provinz Ulster zuerst aufgestellt und behauptet wurde, das Ulster-right genannt wird. Nach diesem Rechte durfte der Landlord nicht ohne Weiteres den Pächter, wenn er seinen Zins nicht bezahlen konnte, aus dem Hof vertreiben, sondern er mußte ihm gestatten, daß ihn ein anderer Pächter ablöse, der ihm für die Meliorationen des Bodens und für die errichteten Bauten eine Entschädigungssumme zahlte. Und dieses Recht, welches in keinem damaligen Gesetzbuche stand, vertheidigten die Tenants mit Waffen in der Hand, und es wurde um dasselbe Blut auf Blut vergossen, bis es in gewissen Landestheilen wirklich anerkannt wurde.

Daß unter diesen wirthschaftlichen Verhältnissen der Ackerbau in Irland zurückgehen mußte, liegt wohl klar auf der Hand. Dazu baute der Ire, da in dem feuchten Klima Weizen und Roggen nicht immer gut gediehen, vorzüglich Kartoffeln, bei deren Mißwachs das Land regelmäßig von einer Hungersnoth bedroht wurde. Wohl eignete sich der Boden Irlands zur Anlage von Weiden und zur Cultur der Futtergewächse, aber diese Art Bodenwirthschaft konnte nicht auf den kleinen Parcellen, sondern nur auf großen Farmen mit Erfolg betrieben werden. Das erkannten die Landlords, und vornehmlich seit den Hungerjahren 1846 und 1847 gingen sie mit der praktischen Rücksichtslosigkeit eines englischen Kaufmanns an das „Bauernlegen“. Ueber die Erfolge dieser neuesten Expropriationspolitik erzählt uns ein Augenzeuge: [1]

„In den östlichen Counties Meath, Kildare etc. ist der typische irische Bauer gar nicht mehr anzutreffen. Er wurde nach dem Süden und Westen bis zum Ocean hin zurückgedrängt, und die Stelle, die er früher bearbeitete und bewohnte, wird jetzt vom Dampfpfluge befahren, oder ist in eine sich auf mehrere englische Meilen erstreckende Graswirthschaft umgewandelt. Da finden die vielen ‚Unions’ des sportlustigen Hochadels noch Jagdgründe, während deren in England immer weniger und weniger werden. Jeder fußbreite Streifen dieses Bodens ist ein Zeuge besonderen Menschenelends und besonderer menschlicher Grausamkeit; denn von hier wurden jene Tenants gewaltsam ausgetrieben, die nicht der Hungertyphus und die Cholera hinweggerafft haben. Von da stammen die meisten irischen Emigranten, die in Amerika, in Australien, in England eine neue Heimath fanden. Das ,Consolidirungswerk‘ wurde von hier aus westlich und südlich fortgesetzt, und wie weit es gelungen ist, das konnte ich während eines mehrmonatlichen Aufenthaltes in Irland an einem bestimmten Merkmale erkennen. Wo ich auf Fußwanderungen durch die Grafschaften verlassene steinerne Häuschen mitten in Feldern stehen sah, auf denen keine menschliche Seele zu erblicken war, da hatte vor Jahren der Zinseintreiber das unmenschliche Werk gethan, Leute, deren Väter und Urgroßväter sich hier zu Hause fühlten, unter Assistenz der Polizei und selbst gegen den Widerstand ganzer Dörfer, gewaltsam auszutreiben. Zuerst wurde das Dach abgehoben, wenn eben die Thür verrammelt war; dann wurden bei fortdauerndem Widerstände Steine in den offenen Wohnraum geworfen, und man erzählt, daß sogar in denselben hineingeschossen wurde, wahrscheinlich aber auch aus dem Häuschen hinaus, denn eine Waffe findet man in der ärmsten Hütte in Irland. Je weiter westlich ich kam, desto häufiger fand ich diese melancholischen entdachten Häuser, ein Zeichen dessen, daß hier die Ejections (Austreibungen) später stattfanden, sodaß die Spuren der Gewaltthat noch sichtbar waren, und in der Grafschaft Mayo fand ich einmal eine ganze Reihe verlassener menschlicher Wohnungen, alle ohne Dach, alle aus Stein, die Mauern ganz kahl, nicht einmal von etwas wohlthätigem Moos überzogen, das die Stätte des Elends verkleidet und dem Auge entrückt hätte. Keine Todtenstadt, kein von Wasser oder Feuer zerstörter Ort macht einen fürchterlicheren Eindruck als diese weithin sich erstreckende Reihe von Ruinen, deren jede ein agrarisches Verbrechen, bald vorn Agenten des Landlords, bald vom Tenant begangen, gesehen hat. Die von einem solchen Häuschen vertriebene Familie ist vielleicht auf einer Landstraße verhungert, oder sie ist auf dem Wege nach Amerika zu Grunde gegangen, und der Agent, der die Vertreibung anordnete, oder der Bailiff, der sie durchführte, wurden vielleicht, noch ehe sie den Ort verlassen konnten, durch einen von irgend welcher Seite kommenden Schuß niedergestreckt. Darum gelten aber auch diese Häuschen bei den Bauern für verflucht, und wehe Dem, der wieder auf eines derselben das Dach aufsetzen und es bewohnen wollte! Sie alle müssen stehen bleiben, so wie sie verlassen wurden, bis einmal der Wind sie niederbläst. Ringsumher ist aber an Stelle der vielen kleinen Bauernwirthschaften eine große englische Farm entstanden, auf der überhaupt nichts angebaut wird, sondern die ansehnlichen Heerden als Weideplatz dient.“

Das war das tiefliegende Uebel, welches beseitigt werden mußte, wenn in Irland ein wahrer Friede jemals herrschen sollte. Und als auch die nach O’Connel’s Tode so furchtbar gewordene fenische Verschwörung trotz der in Canada und England versuchten Putsche schließlich der eisernen Organisation der englischen Macht unterlag, als die politischen und religiösen Gegensätze zwischen den Iren und Anglosachsen durch Toleranz und Freiheit beseitigt waren, da verschmolz die irische Frage mit den Interessen der Tenants, die bei Weitem die Mehrzahl des Volkes bildeten, und sie wurde zu der gegenwärtig sich drohend erhebenden Landfrage in Irland. Weittragende Weltereignisse jüngster Tage haben ihr die schneidige Schärfe verliehen, mit der sie heute das feste Band englischer Rechte zu zerschneiden droht. Es ist bekannt, daß seit wenigen Jahren Amerika zu einer unerschöpflichen Kornkammer der alten Welt geworden, daß dank der Anwendung der Maschinen in der überseeischen Landwirthschaft, dank der Fruchtbarkeit des jungfräulichen Bodens der Westamerikanischen Staaten und dank den wunderbar hoch entwickelten Transportverhältnissen der merkantilen Flotten die neue Republik unsere Märkte mit Brodfrüchten überschüttet und trotzig selbst dem kornreichen Rußland eine gefährliche Concurrenz macht. Bekannt ist es auch, daß das plötzliche Auftreten des amerikanischen rothen Winterweizens auf dem Weltmärkte in den Jahren geschah, in welchen vor Kurzem Europa fast allgemein unter einem schweren Mißwachs litt und in denen Großbritannien und Frankreich von der transatlantischen Republik förmlich genährt wurden. Bei dieser Umwälzung des Getreidehandels, welche die Gegenwart beherrscht und welcher die Zukunft angehört, hat die englische Landwirthschaft am meisten gelitten. Es liegt eine tiefe Berechtigung in dem Bestreben der Landlords, den unrentablen Anbau der Brodfrüchte zu beschränken und in der Viehproduction ihr Heil zu suchen.

Wie unvorbereitet trat aber Irland in den ihm aufgedrungenen wirthschaftlichen Wettkampf ein! Von den 680,000 irischen Pächtern sind 230,000, das heißt über eine Million Individuen am Rande des Bankerotts – nein, im Bankerotte selbst! Sie können kaum in guten Jahren ihre Ausgaben bestreiten und sind in schlechten Erntejahren auf das Almosen ihrer amerikanischen Brüder angewiesen. Denken wir uns ferner, daß 526,628 dieser Pächter als Tenants-at-will nach einjähriger Kündigung aus ihrem Hof vertrieben werden können, daß also 2,600,000 Menschen sich in einer Art Sclaverei befinden, daß 227,370 solcher Familien in elenden einräumigen Hütten ohne Fenster und ohne Rauchfang ihr Leben fristen, und wir werden von der verzweifelt trostlosen Läge dieser Leute uns einen Begriff machen können. Nur der Wohlthätigkeit der civilisirten Welt und den Regierungs-Unterstützungen ist es zu verdanken, daß in den letzten Jahren der Hungertyphus Irland verschonte.

Da ist es wohl erklärlich, warum die Zahl der kleinen Pächter, die auf ein bis fünf Acker Boden sitzen, von 310,000 im Jahre 1841 auf 66,359 im Jahre 1878 gesunken war. Der unparteiische [115] Volkswirth, der den unaufhaltsamen Lauf der modernen Cultur beobachtet, muß ihnen kalt erklären: Eure Stunde hat geschlagen; mit eurem armseligen Kartoffelbau paßt ihr nicht mehr in den Rahmen der neuen Wirthschaft, die mit dem Dampfpflug ackert; wie die kleinen selbständigen Handweber seid auch ihr dem Untergange geweiht. Gebt eure elende Pachten auf und werdet Lohnarbeiter auf großen Farmen – dadurch wird eure Lage gebessert.

Aber kein Volk der Erde wird sich je freiwillig solchem Rollenwechsel unterwerfen. In dem verhaßten Pachtzins findet der Ire den Grund seines Unglücks; wäre die Scholle, auf der er sitzt, sein Eigenthum, könnte er sich dann nicht mit seiner Familie eines angemessenen Wohlstandes erfreuen? Und das Land gehörte seinen Vorfahren; es wurde ihnen nicht abgekauft, sondern gewaltsam entrissen. Darum schlägt er eine andere Lösung der Landfrage vor; er erhebt Anspruch auf sein Land, sein gutes Eigenthum und bietet dem Landlord, dem „Landdiebe“, und seinen elenden Agenten anstatt des Pachtzinses eine „Unze Blei“ an.

Das war die lange Kette der Ereignisse und Anschauungen, aus denen als letztes Glied eine Art Organisation, Verschwörung oder geheimer Regierung erwuchs, die irische Landliga, welche heute die Situation beherrscht und die im Grunde die Forderung stellt: das irische Land soll den Iren zurückgegeben werden. Das Parlament soll das nöthige Geld bewilligen und mit ihm den englischen Lord bezahlen, den Pächter dagegen als Eigenthümer einsetzen. Das ist das Endziel ihrer Bestrebungen, und um sie zu erreichen, bedroht sie England mit Einäscherung Londons, mit rücksichtsloser Verfolgung der Landbesitzer, ihrer Agenten und aller Derjenigen, die diesen Verhaßten irgend einen Dienst erweisen; sie droht mit neuem bewaffnetem Aufstand. Es wäre voreilig, wenn nur über diese gährenden Zustände, welche unseren Lesern aus den Zeitungen bekannt sind, ein entschiedenes Urtheil fällen wollten. Noch ist es möglich, daß Irland sich mäßigt und England – es scheint ja so – den Weg ernster Reformen betritt; dann würde auch die irisch-agrarische Frage auf friedlichem Wege gelöst werden. Irische Pächter, wir wünschen euch von Herzen diese friedliche Lösung, aber in diesem Kampfe rufen wir euch die Worte eures großen O’Connel’s zu: „Wenn ihr eure Freunde achtet und euren Feinden eine bittere Täuschung bereiten wollt, so bleibt ruhig und enthaltet euch jeder Gewaltthat!“

Valerius.




  1. Vergl. „Jahrbücher für Gesetzgebung“. Heft 3 und 4. 1880.