Ehrenrettung des Schmerzes

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Textdaten
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Autor: Ewald Hecker
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Titel: Ehrenrettung des Schmerzes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 408–410
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[408]
Ehrenrettung des Schmerzes.


Der Schmerz als Freund. – Der Schmerz als Wächter der Gesundheit. – Der Schmerz bei Kindern. In Knie- und Hüftgelenken. – Gesichtsschmerzen. – Die Nerven als Vermittler der Schmerzempfindung. – Wahrnehmungsfähigkeit des Gehirns.


Von Ewald Hecker.


Es ist eine nicht selten zu beobachtende Thatsache, daß der Mensch in angeborener Kurzsichtigkeit seine besten Freunde nicht kennt oder gar als Feinde ansieht, und schon oft hat gerade der Naturforscher seine warnende Stimme erheben müssen, um der Ausrottung so mancher Geschöpfe Einhalt zu thun, die der Mensch in blindem Hasse zu vernichten trachtet, obwohl er ihnen zu größtem Danke verpflichtet wäre. Ich erinnere nur an den Maulwurf, die Kröte, den Igel etc.

Auch in Folgendem soll von solch einem Freunde die Rede sein, der unzählig oft verkannt und geschmäht wird und doch unsern Dank verdiente: ich will eine Ehrenrettung des Schmerzes übernehmen und den Nachweis versuchen, daß wir in der That in ihm einen Freund erkennen müssen, der nur in liebevollster Absicht uns verwundet, um uns zu warnen, uns zu helfen. Nicht genug, daß er den zum vollen Bewußtsein unseres Glückes so nothwendigen Gegensatz bildet und uns die Güter, die wir besitzen, erst dadurch in ihrem wahren Werthe zeigt, daß er sie uns eine Zeit lang entbehren ließ; – sein Hauptstreben geht dahin, uns das höchste Gut, die Gesundheit, zu erhalten. Der Schmerz ist der Wächter unserer Gesundheit.

Es ist nicht auszudenken, in wie viel tausend Schädlichkeiten wir uns täglich, stündlich begeben würden, in wie viele Gefahren wir unseren Körper brächten, wenn nicht der Schmerz als ein ernster Warner und Mahner uns zur Seite stünde. Wie oft hätten wir unsere Hand schon an dem heißen Ofen verbrannt, wenn nicht der Schmerz mahnte, sie schnell zurückzuziehen; wie oft würden wir die Glieder erfrieren, wenn nicht der Schmerz uns die Kälte zum Bewußtsein brächte und zu Vorsichtsmaßregeln veranlaßte. Ja, wir würden sogar verhungern, wenn nicht das Schmerzgefühl des Hungers uns antriebe, Nahrung zu suchen. Soll ich noch weitere Beispiele anführen? Tausendfach drängen sie sich auf, und daß ich dabei nicht übertreibe, lehrt die traurige Erfahrung solcher Fälle, wo durch Nervenlähmung einem Theil des Körpers die Schmerzempfindung geraubt ist. Nicht selten ist es vorgekommen, daß solche unglückliche Kranke sich arglos mit dem Rücken an den glühenden Ofen stellten und bei lebendigem Leibe anfingen zu verkohlen, ohne es auch nur im Geringsten zu verspüren. Erst der brenzliche Geruch machte sie auf das geschehene Unglück aufmerksam, in Folge dessen sie ein Opfer des Todes wurden.

Gar oft ist der Schmerz auch für den Arzt ein wichtiges, nicht selten das einzige Mittel zur richtigen Beurtheilung einer Krankheit und zur Erkenntniß der Behandlung, die er dabei anwenden muß. Der Sitz des Schmerzes, die Art seines Auftretens, seine Heftigkeit und Dauer geben bedeutungsvolle Winke über die Art und den zuweilen verborgenen Sitz der Verletzung, und von der richtigen Beurtheilung dieser Verhältnisse hängt ja nicht selten das Leben des Kranken oder wenigstens seine Genesung ab. Bei Kindern sind wir in vielen Fällen allein auf die Aeußerungen ihres Schmerzes angewiesen, und nur diese geben uns den leitenden Faden an die Hand, mit deren Hülfe wir uns in dem Labyrinth der vorliegenden Krankheitsmöglichkeiten zurechtfinden können. Dasselbe gilt auch für bewußtlose Kranke. Die Art und Weise ihres Gebahrens, die Art, wie sie ihre Glieder bewegen, um unwillkürlich die am wenigsten schmerzverursachende Lage einzunehmen, hilft uns den Ort der Verletzung auffinden. Wenn Kinder in der Periode des Zahnens sich oft mit den Fingerchen in den Mund fassen, so macht die besorgte Mutter leicht den beruhigenden Schluß, daß der beginnende Zahndurchbruch dem Kleinen Schmerzen bereite; wenn dagegen das Kind mit lautem, durchdringendem Schrei oft aus dem Schlafe auffährt und häufig unter Seufzen und mit stierem Blick mit dem Händchen nach dem Kopfe greift, so stellt sich die schreckliche Furcht vor einer drohenden Gehirnentzündung mit leider allzu sicherer Berechtigung ein.

Nicht immer freilich sind die Schmerzen ein Maßstab für die Schwere des Leidens. Eine große Zahl nicht minder gefährlicher Krankheiten kündigt sich nicht durch Schmerzen an, und der Wurm, der an der Gesundheit und am Leben frißt, nagt im Verborgenen. Zuweilen könnten wir sogar durch den Ort der Schmerzempfindung über den eigentlichen Sitz des Leidens getäuscht werden, wenn nicht andere Symptome und die Erfahrung uns bei der Diagnose leiteten. Besonders eine Krankheit, die gerade unter Kindern so viel Verderben und Unheil anrichtet, giebt bei ihrem ersten Entstehen oft Veranlassung zu unrichtiger Auffassung. Ich meine das sogenannte freiwillige Hinken, ein Leiden, das auf einer schweren, entzündlichen Erkrankung des Hüftgelenks beruht und meist mit Zerstörung und Verkrüppelung desselben, gar oft auch mit dem Tode endet. Die Kinder fangen an, über einen ganz leichten Schmerz im Kniegelenk zu klagen, der meist von der Umgebung deshalb wenig beachtet wird, weil er sich im Laufe des Tages immer wieder verliert. Die Schmerzen steigern sich jedoch und sind namentlich des Morgens, wenn das Kind aufstehen will, so heftig, daß es an dem Gebrauch des Beines verhindert ist und beim Gehen hinkt. Aeußerlich ist am Knie nicht das Geringste wahrzunehmen; doch man glaubt, das Kind sei vielleicht gefallen, und macht kalte Umschläge – die natürlich nicht helfen können – denn unterdessen geht nicht im Knie-, sondern im Hüftgelenk der schleichende Entzündungsproceß vor sich, der solche verderblichen Folgen nach sich zieht.

In diesen Fällen ist es die Aufgabe des Arztes, durch die objective Untersuchung, das heißt durch vorsichtiges Betasten und Drücken die wirklich schmerzhaften Stellen genau ausfindig zu machen. Nur so läßt sich sehr oft ein bis dahin unbestimmt empfundener Schmerz genau feststellen. Die Beschränkung des Schmerzes auf ganz bestimmte Stellen, die wir auf diese Weise vorsichtig prüfen, giebt zum Beispiel bei Knochenbrüchen ein sehr werthvolles Hülfsmittel zur Unterscheidung von anderweitigen Verletzungen, die den Knochen selbst nicht betroffen haben. Umgekehrt zeigt eine bestimmte Verbreitungsweise des Schmerzes, wenn er den peripheren Ausbreitungen eines einzelnen Nerven folgt, oft genau die Stelle an, an welcher wir eine Verletzung dieses Nerven zu vermuthen haben. –

Nicht selten kommt zum Beispiel der Fall vor, daß wir den Ort der Reizung des Nervenstammes gerade in der Strecke seines Verlaufs erschließen können, wo derselbe durch einen Knochencanal hindurchgeht, sei es nun, daß der Knochen an dem Orte entzündlich geschwollen ist oder daß eine Neubildung (eine nicht entzündliche Geschwulst oder Verdickung) gerade da auf den Nerven drückt. Schon Mancher, der aus diesem Grunde an den wüthendsten Gesicht- und Zahnschmerzen litt, die, aller Behandlung trotzend, ihn an den Rand der Verzweiflung brachten, hat dadurch Heilung oder Linderung gefunden, daß der einsichtige Arzt mit sicherer Hand den Knochencanal, in dem der Nerv innerhalb des Unterkiefers verläuft, öffnete, den Nerv durchschnitt und so die Quelle des Schmerzes aufhob. Dasselbe Leiden des furchtbaren Gesichtsschmerzes (Tic douloureux) hat aber in nicht seltenen Fällen eine ganz andere Entstehungsursache, die sich aus der Art des Auftretens erschließen läßt. Sucht nämlich dieser Schmerz in ganz bestimmten Zwischenräumen jedes zu ein und derselben Tageszeit den Kranken heim, so deutet dieses typische Auftreten oft auf eine Vergiftung mit sogenannter malaria (oder Sumpfmiasma) hin. Dieser Seuchestoff erzeugt für gewöhnlich das sogenannte kalte oder Wechselfieber; es kommt aber vor, daß dieses Fieber, wie die Aerzte sagen, sich maskirt und in der Gestalt von Neuralgien oder Nervenschmerzen auftritt. Bestätigt sich diese Vermuthung in einem vorliegenden Falle, so kann der unglückliche Kranke, nachdem alle nur erdenklichen Mittel bis dahin vergeblich angewendet wurden, oft schnell und sicher durch eine Gabe Chinin von seinem schrecklichen Leiden befreit werden. –

Es ist aus diesen Beispielen ersichtlich, welche Bedeutung der Schmerz für die Beurtheilung eines Leidens und seine richtige Behandlung hat. Ebenso leuchtet es aber auch ein, daß wir nur dann im Stande sind, aus dem Ort und der Aeußerungsweise des Schmerzes die richtigen Schlüsse zu ziehen, wenn wir uns mit der Natur desselben und seiner Entstehungsweise vertraut gemacht haben.

[409] Ich darf wohl voraussetzen, daß die Thatsache allgemein bekannt ist, daß wir als Vermittler der Schmerzempfindung die Nerven anzusehen haben. – Die Empfindungsnerven, welche von der äußeren und inneren Oberfläche unseres Körpers ausgehend in den hinteren Strängen des Rückenmarks sich sammelnd nach dem Gehirn verlaufen, haben den Zweck und die Aufgabe, uns von den Berührungen des Körpers mit der Außenwelt und von seinem jeweiligen Befinden zu unterrichten. Bringen uns die höheren Sinnesorgane unsere Umgebung in Bezug auf ihre sichtbare Erscheinung, ihre Schallerzeugung, ihren Geschmack und ihren Geruch zum Bewußtsein, so fällt die große Zahl der übrigen Eindrücke, Tastgefühl, Temperatur und Druckempfindung, sowie die Allgemeingefühle: Müdigkeit, Hunger, Durst, Ekel, Uebelkeit etc. in das Bereich der sogenannten Tast- und sensiblen Nerven. – Alle diese aufgezählten Empfindungen gehen, wenn der Reiz, der sie veranlaßte, ein abnorm hohes Maß erreicht, in Schmerz über. Doch ist die Grenze, wo eine einfache Empfindung zur schmerzhaften wird, eine sehr wechselnde und nach den Umständen und persönlicher Empfänglichkeit völlig verschiedene.

Von der gänzlichen Schmerz- und Gefühllosigkeit, die wir bei vollständiger Durchtrennung eines Nerven oder eines Theiles des Rückenmarks finden, bis zu der so abnorm gesteigerten Reizbarkeit der Hysterischen, denen jede leise Berührung den unerträglichsten Schmerz verursacht, giebt es unzählige Gradabstufungen. Eine Verletzung, die den Einen ganz gleichgültig läßt, da sie kaum von ihm bemerkt wird, preßt dem Andern laute Schmerzensäußerungen aus, und wir müssen uns wohl hüten, den persönlichen Muth und die Selbstüberwindung nach dem Verhalten, das der Einzelne bestimmten Schmerzenseindrücken gegenüber einhält, zu beurtheilen. Werden wir etwa den Heldenmuth des unglücklichen Gelähmten preisen, der, weil er es nicht fühlt, sich ohne Schmerzensäußerungen den Rücken verbrennen läßt? Ebensowenig dürfen wir ohne Weiteres den an Erschöpfung und Ueberreizung des Nervensystems Leidenden verurtheilen, wenn er bei verhältnißmäßig leichten Eingriffen über heftige Schmerzen klagt. Durch tapferes Ueberwinden dieser Schmerzen, die dem kräftigen robusten Manne unbegreiflich sind, kann Jener bewunderungswürdiger erscheinen, als der von Natur weniger Empfindliche, der eine schwere Operation an sich vollziehen läßt, ohne zu schreien.

Es giebt eine große Reihe von Zuständen, die den Schmerz minder empfindlich machen und ihm so zu sagen seine Schärfe rauben, indem sie auf das Gehirn, auf unser Vorstellungsleben einen bestimmten Einfluß ausüben, und wüßten wir es nicht anderweitig, so könnten wir allein daraus den Schluß ziehen, daß das Gehirn die Stätte ist, wo der Schmerz empfunden wird. Durchschneiden wir einen Nerven und setzen ihn so außer Zusammenhang mit dem Gehirn, so können wir sein äußerstes, abgetrenntes Ende, so viel wir wollen, reizen und maltraitiren – es wird keine Spur von Schmerzempfindung dadurch hervorgerufen. Berühren wir dagegen den mit dem Gehirn noch in Zusammenhang stehenden Nervenstumpf, so treten augenblicklich die lebhaftesten Schmerzen auf. Nicht der Nerv selbst ist also die Stätte der Schmerzempfindung; er ist nur der Vermittler, der Leiter, der die empfangene Reizung auf die Gehirnzellen, mit denen er in Zusammenhang steht, überträgt. An welcher Stelle des Gehirns die Wahrnehmung des Schmerzes stattfindet, hat sich bis jetzt durch Untersuchungen noch nicht feststellen lassen; jedenfalls aber übt die gesammte Thätigkeit des Gehirns, sein Allgemeinzustand einen großen Einfluß auf die Schmerzempfindlichkeit aus.

Es ist eine durch exacte Untersuchungen festgestellte Thatsache, daß wir nicht im Stande sind, zu gleicher Zeit zwei verschiedene Empfindungen wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsfähigkeit, die unserem Gehirne innewohnt, kann sich jedes Mal nur nach einem Punkte hinwenden, so wie wir etwa mit unseren Augen nur gerade aus und nicht in derselben Zeit auch hinter uns und zur Seite sehen können. Vorzüglich dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt gerichtet ist, entgeht uns völlig das, was außerdem noch um uns geschieht.

Wenn unsere Aufmerksamkeit mit einer gewissen Spannung auf einen Gegenstand oder auf eine Vorstellung gerichtet ist, so kann erst dann eine andere Empfindung, eine andere Vorstellung uns zum Bewußtsein kommen, wenn jene erste gewissermaßen unterdrückt oder verblaßt ist. Hat dieselbe eine solche Zähigkeit und Kraft, daß sie sich nicht leicht verdrängen läßt, so verhindert sie damit die Aufnahme anderer Empfindungen. Und aus diesem Grunde kann oft eine selbst gewaltsame Reizung unserer Nerven, die unter anderen Umständen eine lebhafte Schmerzempfindung hervorgerufen hätte, uns völlig unbemerkt bleiben.

Der Soldat, der im gespannten Eifer des Gefechts auf den Feind eindringt und seine volle Aufmerksamkeit darauf richtet, wie er denselben am geschicktesten angreifen könne, empfindet sehr oft von einer Kugel, die von einer anderen Seite her ihn verwundet, keine Spur. Indem sich die ganze Kraft seines Bewußtseins auf den vor ihm stehenden Gegner concentrirt, vermag selbst eine so heftige Verletzung nicht in dasselbe einzudringen. Erst dann, wenn er den Feind erlegt oder sich sonst von ihm abgewandt hat, kommt plötzlich jener Schmerz zum Bewußtsein und er kann oft gar nicht angeben, wann er die Verletzung erhalten hat. In ähnlicher Weise kann ein Schmerz, den wir empfinden, dadurch unterbrochen werden, daß plötzlich eine andere Empfindung oder Vorstellung, die eine größere Kraft auf unsere Aufmerksamkeit auszuüben und diese in höherem Grade zu fesseln vermag, in unser Bewußtsein eintritt.

Ich erinnere nur an die hierhergehörige und gewiß Allen bekannte Thatsache, daß wir oft absichtlich einen uns besonders unangenehmen Schmerz durch einen größeren zu übertäuben suchen. Wir machen davon namentlich bei den durch ihr unausgesetztes Nagen an den Nerven so peinlichen Zahnschmerzen Gebrauch, und eine große Reihe der allgemein dagegen üblichen Mittel hat eben den Zweck, die Aufmerksamkeit durch einen an einer anderen Körperstelle erregten heftigeren Schmerz von den Zahnschmerzen abzulenken. Wir reiben uns Senfspiritus auf die Backe, tröpfeln uns scharfe, beißende Tropfen in’s Ohr, ja wir beißen uns sogar in den Finger oder kneifen uns kräftig in die Haut – und das Alles thun wir, um einen Schmerz durch den anderen zu vertreiben.

Auch andere plötzliche Wahrnehmungen wirken in gleicher Weise. Eine plötzliche Nachricht, die uns in hohem Grade, sei’s freudig, sei’s traurig, überrascht, bringt nicht selten einen heftigen Schmerz zum Schweigen. Ueberhaupt Alles, wie schon gesagt, was unsere Aufmerksamkeit lebhaft in Anspruch nimmt, z. B. eine angenehme Unterhaltung, läßt uns oft einen (nicht allzuheftigen) Schmerz vergessen. Auch hierfür geben uns die gar so allgemein bekannten Zahnschmerzen ein reiches Beobachtungsmaterial. Die Schmerzen werden ferner sehr leicht in den Hintergrund gedrängt, wenn andere peinliche Erwartungszustände unseren Geist in Beschlag nehmen. Der Entschluß, daß wir uns den Zahn wollen ausziehen lassen, der Gang zum Zahnarzt, während dessen wir mit großer Lebhaftigkeit uns die unangenehme Empfindung dieser Operation vorstellen, hat schon in tausend Fällen als bestes Schmerzlinderungsmittel gewirkt. Während wir pochenden Herzens den Klingelzug vor der Thür des gefürchteten Mannes ergreifen wollen, ist der Schmerz plötzlich verschwunden und wir kehren ruhig wieder nach Hause zurück – freilich nicht selten, um von Neuem von dem alten Leiden überfallen zu werden. So wie die Furcht und schreckhafte Erwartung wirkt aber auch der umgekehrte Zustand des vollen Vertrauens und der glaubensmuthigen Hoffnung. Schon manche Schmerzen sind durch Handauflegen, Zauberformeln, Riechen an unschädlichen homöopathischen Heilmitteln und dergleichen Hocuspocus beseitigt worden, wenn der Gequälte eben nur volles Vertrauen zu diesen Mitteln hatte oder mit einiger Spannung und Neugier ihre Wirksamkeit prüfen wollte.

Wie die lebhafte Erregung sittlicher Gefühle, des Ehrgeizes und der Ruhmsucht abstumpfend auf die Schmerzempfindlichkeit wirken kann, das lehrt unter Anderem das Beispiel jenes Mucius Scaevola, der, erfüllt von echtem Römerstolze, kalten Blutes seinen Arm über ein Kohlenfeuer ausstreckte und, ohne eine Miene zu verziehen, denselben verbrennen ließ. Die christlichen Märtyrer, die von religiöser Schwärmerei erfüllt sich quälen und martern ließen, waren offenbar in derselben Lage. Die Freudigkeit, mit der sie die grausamsten Folterqualen überstanden, die Wollust des Schmerzes, so zu sagen, die sie empfanden, beweist, daß durch jene idealen Vorstellungen ihr Gemüth stärker erregt wurde, als durch die auf ihre Empfindungsnerven ausgeübten Reize. Es kommt in diesen Fällen noch eine andere mächtige Triebfeder hinzu, die durch ihre starke Spannung allen anderen Wahrnehmungen den Eintritt in das Bewußtsein versperrt: nämlich die Nachahmungssucht.

[410] Die Geschichte ist unendlich reich an solchen – man kann sagen traurigen – Beispielen, wo Menschen, von diesem unwiderstehlichen Nachahmungstriebe erfaßt, sich selbst die größten Schmerzen zufügten und in denselben schwelgten. Ich erinnere hier nur an jene schreckliche Epidemie der Flagellanten.

Die umgekehrte Erscheinung, daß die auf eine empfindliche Stelle gerichtete Aufmerksamkeit den Schmerz erheblich steigert, ist uns ebenfalls geläufig. So erhöht die Furcht vor einer Operation durch die fortwährend auf diesen einen Punkt gespannte Erwartung ganz ungemein die Empfindlichkeit. Ein Beispiel hierzu aus meiner Studienzeit steht mir noch in lebhafter Erinnerung. An einem kräftigen robusten Mann, der nebenbei Soldat war, sollte in der chirurgischen Klinik eine verhältnißmäßig leichte und wenig schmerzhafte Operation vollzogen werden. In Rücksicht darauf wurde von der sonst üblichen Chloroformirung abgesehen, obwohl das unglückliche Opfer große Furcht und Zaghaftigkeit verrieth. Als das Messer angesetzt wurde und der Operateur den ersten Schnitt that, erhob unser Held ein furchtbares Zetergeschrei und benahm sich so ungebehrdig, daß die Operation einen Augenblick unterbrochen werden mußte. Natürlich empfing er die lebhaftesten Vorwürfe und die Anrede: „Pfui, schämen Sie sich, wie können Sie nur bei einer so wenig schmerzhaften Operation sich so gefährlich anstellen!“ entlockte ihm die höchst naive, aber sehr bezeichnende Antwort: „Ich glaubte, es würde weher thun.“ – Nachdem er sich nun aber überzeugt, daß die Operation wirklich nicht so unerträglich sei, ließ er sich die Fortsetzung derselben ganz ruhig und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, gefallen.

Sehen wir in diesem Beispiel einen vorhandenen Schmerz durch die lebhafte, wenn auch falsche Vorstellung von seiner größeren inneren Kraft wirklich gesteigert, so ist die ebenfalls erwiesene Thatsache, daß man durch scharf auf einen bestimmten Punkt gerichtete Aufmerksamkeit einen Schmerz an demselben erzeugen kann, noch viel auffallender. Besonders bei gewissen krankhaften Zuständen des Nervensystems erreicht diese Fähigkeit einen ungewöhnlich hohen Grad, und so sind vorzüglich die unglücklichen Hypochonder wahre Virtuosen in derartiger Erregung schmerzhafter Empfindungen. Man thut diesen Leuten bitteres Unrecht, wenn man ihnen sagt, sie bildeten sich den Schmerz blos ein. Nein, sie empfinden ihn wirklich, sie bilden sich denselben, so zu sagen, an. Sobald sie von irgend einem krankhaften Zustande hören oder lesen, sofort richtet sich ihre Aufmerksamkeit mit ängstlicher Spannung auf das Organ, von dessen leidendem Zustande die Rede war, und es dauert auch gar nicht lange, da empfinden sie an der bestimmten Stelle den Schmerz wirklich und wahrhaftig, an den sie so lebhaft gedacht. Es giebt deshalb für diese Leute nichts Verderblicheres als das Lesen und Herumstöbern in populär-medicinischen Büchern, zu denen sie sich aber gerade mit einem unwiderstehlichen Triebe hingezogen fühlen. Daß jedoch auch nicht hypochondrische Personen dieser Gewalt der Vorstellungen auf ihre Empfindungsnerven unterliegen, das beweist unter Anderem das Beispiel des berühmten Arztes Peter Frank. Dieser behandelte einen von Tollwuth oder Wasserscheu ergriffenen Patienten und untersuchte noch kurz vor dem Tode des unglücklichen Kranken, der schon ganz mit kaltem, klebrigem Schweiß bedeckt war, dessen Puls. Unmittelbar danach verspürte er in der Spitze der beiden Finger, mit denen er den Kranken berührt hatte, ein unheimliches und ihn beängstigendes Brennen und Beißen. So oft er auch dasselbe zu betäuben suchte durch Waschen mit Essig und Seifenwasser, die unwillkürlichen Vorstellungen, mit der Furcht vor der schrecklichen Krankheit gepaart, riefen jene lästige Empfindung immer wieder hervor und erst nach fünf Wochen verschwand dieselbe, nachdem seine Einbildungskraft sich beruhigt und er sich so lange Zeit umsonst die völlige Grundlosigkeit seiner Vorstellungen vordemonstrirt hatte.

Wir haben hier also die Thatsache vor uns, daß die Empfindungsnerven, statt, wie wir an ihnen gewöhnt sind, einen empfangenen Reiz von der Oberfläche nach dem Mittelpunkt, das heißt nach Rückenmark und Gehirn zu leiten, scheinbar in entgegengesetzter Richtung einen im Gehirn entstandenen Reiz nach der Peripherie übertragen. So auffallend diese Thatsache auf den ersten Blick erscheint, so ist sie uns doch aus dem alltäglichen Leben nicht fremd. Wir wissen, daß ein Stoß an einer bestimmten Stelle des Ellenbogens nicht allein hier, sondern auch an den gar nicht betroffenen Ausbreitungen der gequetschten Ellenbogennerven im vierten und fünften Finger empfunden wird.

Wir haben ferner in dem oben angeführten Beispiel vom freiwilligen Hinken dieselbe Erscheinung. Auch hier wurde eine auf den Stamm des Hüftnerven ausgeübte entzündliche Reizung nicht an dem Ort der Affection selbst, sondern an der Oberfläche des Nerven (im Kniegelenk) empfunden. Ein anderes, noch viel auffallenderes Beispiel liefert uns die chirurgische Praxis. Der Verwundete, dem der zerschmetterte Fuß schon längst abgenommen ist, empfindet bei Reizung des an der Wundfläche zu Tage liegenden Nervenstumpfes einen heftigen Schmerz in den Zehen, die er gar nicht mehr besitzt. – Alle diese Thatsachen sind Beispiele zu dem allgemein gültigen Gesetz von der sogenannten Excentricität der Empfindung, welches dahin lautet, daß jede Neigung eines Nerven, sei’s im Verlauf seines Stammes, sei’s an seiner Wurzel, in Rückenmark und Gehirn, durch einen Trugschluß von uns unwillkürlich an seine periphere Ausbreitung verlegt wird, gewissermaßen deshalb, weil wir im normalen Verhältnisse nur von hier aus Empfindungserregungen zu empfangen gewohnt sind. Bei schweren Rückenmarksleiden, welche die Nerven während ihres Verlaufs im Rückenmark zerstören, werden heftige Schmerzen in der Extremität empfunden, und die übergroße Schmerzreizbarkeit, die wir in den obigen Beispielen kennen lernten, hängt auch mit krankhaften Zuständen des Gehirns und Rückenmarks zusammen, namentlich trägt eine unvollkommene, schlechte Ernährung überwiegend häufig die Schuld an diesen Erscheinungen. Darum sehen wir blutarme Menschen, bleichsüchtige Damen vor Allem an dieser Ueberempfindlichkeit leiden. – Es befindet sich bei diesen das gesammte Nervensystem in einem Zustande der Ueberreizung. Sowie jede leise Berührung der Tastnerven Schmerz verursacht, so wird auch jedes etwas grelle Licht, nicht selten eine besondere Farbe wie das Roth, jeder etwas schrille Ton, jedes laute Geräusch für die Unglücklichen eine Quelle unangenehmer Empfindungen. Und in ganz derselben Weise wirken auch lebhafte plötzliche Vorstellungen und Gemüthserregungen sehr leicht erschütternd auf sie ein. Da auch die Bewegungsnerven an dieser Ueberreizung Theil nehmen, treten nicht selten die verschiedenartigsten Krämpfe auf, die besonders häufig den Charakter der Lach- und Weinkrämpfe annehmen. Alle diese Erscheinungen weisen, wie gesagt, auf eine unzureichende Ernährung der Nervencentren, auf eine mangelhafte Blutbereitung hin, und darum wird bei der Behandlung sogenannter nervöser Damen ein vernünftiges diätetisches Verhalten das beste Mittel sein, um vorhandene Schmerzen zu heben oder zu lindern.

Es wäre ein thörichtes Beginnen, wenn der Arzt in solchen Fällen sein Hauptaugenmerk darauf richten wollte, die Schmerzen durch Betäubungsmittel zu tödten, und dabei die zunächst liegende Aufgabe vergäße, die Ursache des Schmerzes zu heben. Freilich ist das Letztere nicht immer möglich; nicht selten übt der Schmerz eine so vernichtende Gewalt auf den Organismus aus, daß alle anderen Heilbestrebungen daran scheitern. In diesen Ausnahmefällen ist das Bedürfniß, Ruhe zu schaffen, das dringendste. Der Schmerz hat aber hier seine Schuldigkeit gethan; er hat als ein Lärmsignal die drohende Gefahr verkündet, und erst als man seinen Ruf überhörte, wurde sein Mahnen heftiger und dringender. Wir können seine segensreiche Aufgabe auch hier nicht verkennen, und das war ja der Punkt, auf den ich besonders hinweisen wollte.