Ein Liebling der Jugend

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: H. S–n.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Liebling der Jugend
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 307–308
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[307] Ein Liebling der Jugend. Die Zeit ist wieder einmal da, in welcher der summende Frühlingsbote, der Maikäfer, die Lüfte durchsaust. Er ist ein bevorzugter Liebling der Jugend, die ihn gern auf den Finger setzt und dann zum Auffliegen auffordert, indem sie singt:

„Maikäfer, flieg’,
Dein Vater ist im Krieg,
Deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg’!“

Was haben diese Worte wohl für eine Bedeutung? Eine Antwort hierauf ist nicht leicht zu geben, denn die Kinderreime enthalten überhaupt nicht selten noch ziemlich unaufgeklärte mythische Elemente; aber es läßt sich in diesem Fall eine Erklärung versuchen. Wie der Storch, so wurde auch der Käfer als der Seelenbringer der Kinder angesehen, und zwar besonders der Marienkäfer (Coccinella). Ehedem der Göttin Frouwa, Fro’s Schwester, der Göttin der heiteren Lust, geheiligt, ward das Thierchen, da Frouwa vielfach mit der Göttin Frigga zusammenfällt, Frigjehönna genannt und kam später in den Dienst der Jungfrau Maria, woher es nun seine zahlreichen Namen hat. In Sachsen heißt es bei Dresden Herrgottsschäfchen, bei Leipzig Gotteskühchen, um Halberstadt Marihöne (Marienhuhn) oder Muttergotteslämmchen, in Westfalen Hiärguatshainken (Herrgottshühnchen) oder Sunnenkieken (Sonnenkühchen), in Schwaben Frauenkühli etc. Nach dem Glauben des Volks wohnte der Käfer bei der Göttin Frigga droben im lichten Gewässer oder im Kinderbrunnen. Man darf ihn nicht tödten, sondern muß ihn, wie den Maikäfer, auf den Zeigefinger setzen, unter einem Reimspruch bis an dessen Spitze hinauflaufen und fliegen lassen: dann holt er gutes Wetter oder ein kleines Kind. Auch der Storch holte die Kinder ursprünglich aus dem Wolkensee, von welchem die irdischen Seen und Brunnen nur Abbilder sind, in denen sich die Wolken spiegeln. Dem Marienkäferchen rufen die Kinder in Franken zu:

„Herrgottsvogella, flieg auf,
Flieg mir in den Himmel ’nauf,
Bring a goldis Schüssela ’runter,
Und a goldis Wickelkindla drunter.“

In Pommerellen aber singen sie:

„Herrgottspferdchen (-Kuhchen) fliege,
Vater ist im Kriege,
Mutter ist in Engelland,
Engelland ist abgebrannt,
Herrgottspferdchen (-Kuhchen) fliege.“

Und im Oldenburg’schen heißt es:

„Sünneküken flieg,
Din Vader is in Krieg,
Din Moder is in Pommerland,
Pommerland is affebrant,
Sünneküken flieg.“

Diese Reimsprüche aus Pommerellen und dem Oldenburg’schen unterscheiden sich, wie ersichtlich, durch fast nichts von dem Spruche, welcher beim Auffliegen des Maikäfers gesungen wird, Marien- und Maikäfer fließen also in einander, und letzterer ist demnach auch wohl, wie jener, Seelenbringer gewesen. Und zwar holten sie die Seelen, wie gesagt, aus Brunnen, Quellen, Teichen, den Ein- und Ausgängen der Unterwelt, aus welcher „Frau Holle“ die Kinderseelen schickt. Frau Holle ist Frigga, die Gemahlin Wuotan’s; im Mai, also in dem Monat, in welchem die verjüngte Natur Früchte ansetzt, vermählt sie sich alljährlich mit ihm auf’s Neue. Der Maikäfer erscheint in demselben Monat und hat von ihm seinen Namen; in ihm gräbt er sich in die Erde und legt Eier. Sollten da nicht unsere Vorfahren, zu deren charakteristischen Eigenschaften ein hervorstechend ausgeprägtes Naturgefühl gehörte, den Maikäfer mit Wuotan und Frigga, Frau Holle, in Beziehung gebracht, ihn zu einem denselben geweihten Wesen gemacht haben? Dann werden auch die angeführten Verse verständlich. Wuotan, der Vater, ist im Kriege und zwar gegen die bösen Nachtgeister, noch heute als „wilder Jäger“ im Kampfe mit den nahenden Winterriesen, wenn er seine herbstlichen Umgänge hält. Dann aber steht das Firmament infolge dieses Krieges in Flammen, also das Reich, in welchem der Seelenbringer, des Käfers Mutter, wohnt. Dieses Seelenreich wird gewöhnlich „Pommerland“ genannt; wie aus dem aus Pommerellen mitgetheilten Reimspruche ersichtlich ist, aber auch [308] „Engelland“. Und das ist jedenfalls die ursprüngliche Bezeichnung. Am lichtvollen Himmel, hinter den Wolken, am Wolkenbrunnen, aber auch bei den Quellen und Brunnen im Innern der Erde (Walhalla und Helheim, Ober- und Unterwelt) dachte man sich dieses Reich der Engel, und zwar als einen prachtvollen Garten, in welchem als bedeutungsvollster der Baum mit den goldenen Aepfeln stand. Er erinnert an das biblische Paradies auf Erden mit dem Baume der Erkenntniß, dessen Frucht im Lateinischen pomum heißt und nach welcher das Engelland später Pommelland, Pömmelland, endlich Pommerland genannt wurde. Damit wäre der von unseren Kindern gesungene Reimspruch vielleicht erklärt. H. S–n.