Ein Lieutenantsstreich

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Autor: Hans Arnold
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Titel: Ein Lieutenantsstreich
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 660–664
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Lieutenantsstreich.

Humoreske von Hans Arnold.

Ja, den hättet Ihr ’mal als blutjungen Lieutenant sehen sollen,“ sagte der Major und goß sich ein frisches Glas ein. „Was das für eim bildhübscher Bengel war, der Solten! Und so voll Tollheit und Uebermut – der ,Frechling‘ hieß er schon als Fähnrich – aber trotz seines vorwitzigen Schnabels konnte ihm niemand lange böse sein – ein famoser Bengel! Ich erlebte einmal eine Geschichte mit ihm – einfach unglaublich und nur dann möglich, wenn man eben so liebenswürdig unverschämt und so unverschämt liebenswürdig war wie Solten.

Er war damals noch ein ganz junger Dachs, ich sein Premier, und wenn er im Monat einmal statt fünfzig Dummheiten nur neunundvierzig gemacht hatte, so konnte er sich bei mir dafür bedanken – ich bin immer ein sehr vernünftiger Mensch gewesen.

Aber um auf meine Geschichte zu kommen – ich entsinne mich des Abends noch, als wenn es gestern gewesen wäre! Wir hatten einen unbeliebten Regimentskommandeur ,weggegessen‘ und waren so recht, was man quietschfidel nennt. Wir warfen uns in Civil, Solten und ich – es war ein kalter windiger Märztag gewesen – und fühlten uns zu allem aufgelegt, nur nicht dazu, den Abend zu beschließen wie alle andern Abende.

,Ich muß heut’ noch eine Dummheit machen,‘ sagte Solten wohl zehnmal, während wir Arm in Arm die Friedrichstraße herunter schlenderten, ‚ich habe gerade ein rasendes Talent dazu, und solche Augenblicke muß man nicht vorbei lassen!‘

‚Da thut man ein Unrecht an sich selbst,‘ ergänzte ich ernsthaft, und wir bummelten so weiter, in der schönen Hoffnung, daß der Zufall sich ein paar lustigen Gesellen schon günstig erweisen und ihnen irgend ein Abenteuer in den Weg werfen würde. So kamen wir nach dem Bahnhof Friedrichstraße, ließen uns Fahrkarten für die Stadtbahn geben – warum, weiß ich selber nicht mehr zu sagen – und gingen durch die Wartesäle und auf den Bahnsteig hinaus. Ich, ganz zerstreut und ohne auf irgend etwas oder irgend jemand zu achten, döse so vor mich hin. Da auf einmal packt mich Solten am Arm. ‚Stehen bleibeu!‘ sagt er.

,Ja, was hast Du denn?‘ frage ich ganz verwundert.

Da winkt er mit den Augen nach dem Damencoupé hin, an dessen beiden Fenstern zwei weibliche Wesen einander gegenübersaßen, eine Alte und eine Junge; die Junge recht niedlich, das war nicht in Abrede zu stellen ,Na ja!‘ sage ich, ‚ich sehe, aber nun komm’ doch weiter!‘

Allein er kam nicht, kein Gedanke! Er zwang mich, immer zehn Schritte mit ihm zu gehen und dann wieder Kehrt zu machen, immer vor dem betreffenden Coupé auf und ab und immer nach dem Grundsatz jenes Lieutenantstoastes auf die Damen: Augen links, Augen rechts – es leben die Vertreterinnen des schönen Geschlechts! –, je nachdem wir von der einen oder von der andern Seite herkamen. Nachdem die Sache etwa fünf Minuten gedauert hatte, wurde sie mir sträflich langweilig, ich verlor die Geduld.

,Nein,‘ sagte ich, ‚nun ist’s genug. Ich bin nicht mit Dir hierher gegangen, damit wir wie die Eisbären im Käfig immer vor dem Damencoupé hin und her taumeln – das ist ja toll!‘

‚Zugestanden!‘ meinte er und lachte, ,es ist toll – aber ist sie nicht bildhübsch?‘

Ich sah mir die beiden daraufhin genauer an. ,Die Junge – ja!‘ gab ich zu, ,aber die dazu gehörige Alte sieht aus, als wenn sie auf Urlaub aus dem Pfefferkuchenhäuschen wäre! Der Zahn ist gut! Dafür, daß er der einzige in seiner Art ist, könnte er viel größer sein! Sieh nur – sie gestikuliert ordentlich damit!‘

Er lachte wieder und antwortete nichts, sondern ging nur immer ganz unverdrossen seine Patrouille vor dem Damencoupé ab. Ich kannte das schon an ihm; wenn er ein hübsches Gesicht sah, da war nichts mehr mit ihm anzufangen.

‚Du,‘ begann ich wieder, ,geh’ jetzt weg! Die Alte fletscht schon ihren Zahn – wetten, daß sie Dich nächstens stellt?‘

,Wetten, daß mir das höchst egal ist?‘ antwortete er. ,Warum fährt sie mit einer so hübschen Nichte oder Tochter oder was weiß ich auf der Eisenbahn!‘

,Hoffentlich Nichte!‘ sagte ich, ,denn sollte die Schöne ihre Tochter sein, so warne ich Dich als Freund. Denk’ Dir die Alte als Schwiegermutter! Das Blut erstarrt mir in den Adern bei der Vorstellung.‘

In diesem Augenblick, während wir noch beide lachen, stand die alte Dame auf, beugte sich zum Fenster heraus und winkte Solten mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zu sich heran – mit einem Zeigefinger, so lang und dünn wie ein Feuerhaken. Unheimlich anzusehen! Ich, feige, wie es dem Mann geziemt, zog mich ein paar Schritte in den Hintergrund zurück, aber nicht außer Hörweite. Ich dachte: springt sie ihn an, muß ich doch zu erreichen sein! Vorläufig sprach sie ihn aber nur an, mit einer Stimme, so sanft wie die einer ungeschmierten knarrenden Thür. ‚Mein Herr, ich bitte Sie, nicht immerfort in dieses Coupé zu sehen, es belästigt uns in hohem Grade.‘

‚Da hast Du’s!‘ dachte ich schadenfroh. Solten aber sah sie ganz kaltblütig an und sagte mit größter Ruhe. ,Ich bedaure, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können – ich revidiere den Zug.‘

Nun, diese Unverschämtheit hätte ja eben durch ihre maßlose Unverschämtheit glücken können, aber er konnte sein Gesicht nicht so vollständig beherrschen; es zuckte ihm ein ganz klein wenig um den Schnurrbart, als ob er in der nächsten Minute hinauslachen müßte – und dies Zucken sah die alte Tante da drin in ihrem Raubtierkäfig. ,So?‘ gab sie giftig zurück, ‚Sie revidieren den Zug? Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf?‘

,Na, nun ist’s aus!‘ sagte ich vor mich hin, denn nach meiner unmaßgeblichen Ansicht blieb ihm nichts übrig als tief zu erröten und zu verschwinden. Aber der heillose Bengel macht sein feierlichstes Gesicht, nimmt den Hut ganz tief ab und sagt, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, mit einer tadellosen Verbeugung und mit großem Nachdruck: ,Ich bin der verstorbene Bahnhofsinspektor!‘ Und ehe die Alte und die Junge Zeit finden, sich über diese erstaunliche Mitteilung und die ganze Tragweite des schlechten Witzes klar zu werden, macht mein Solten kurz Kehrt, nimmt mich unter den Arm, und wir gehen nun wirklich weiter und lachen so, daß sich die einsteigenden Passagiere alle noch Zeit nehmen, sich ganz verwundert nach uns umzusehen, obwohl es schon zum zweitenmal geläutet hatte.

‚Sag’ ’mal,‘ begann ich nach einer Weile, während deren wir uns einigermaßen satt gelacht hatten, ‚eine bescheidene Frage – schämst Du Dich eigentlich gar nicht?‘

‚Keine Spur!‘ entgegnete er so recht glückselig, und dann auf einmal: ‚Vahlberg, damit darf die Sache nicht zu Ende sein! Die Alte wird weiter geärgert. Es war zu niedlich, wie sie Wut schnaubte!‘

,Laß sie doch!‘ bat ich, denn ich fühlte ein menschliches Erbarmen. ‚Sie sah so schon aus wie eine Bombe im ersten Stadium des Platzens.‘

,Nein!‘ antwortete er ganz eigensinnig. ‚Rache muß sein! Ja, wenn sie mir’s noch liebevoll gesagt hätte, aber so! Komm, Vahlberg!‘ Und eh’ ich mich’s versah, zerrte mich der Unband nach einem Coupé - erster Klasse natürlich, darunter thaten wir’s damals nicht – und wir stiegen ein.

‚Bis zum Schlesischen Bahnhof kann sie verschnaufen,‘ sagte Solten und zündete sich eine Cigarette an, ,aber da erscheine ich ich ihr noch einmal und sage ihr ’was extra Niederträchtiges; bis dahin fällt mir’s schon noch ein.‘

‚Sie hatte doch ganz recht,‘ bemerkte ich als Stimme der ruhigen Vernunft.

,Na, wenn Du soviel für sie übrig hast‘ meinte Solten und legte sich in eine Ecke, ,da will ich nicht so sein – da darfst Du ihr dann einen Kuß geben! Nun sei aber auch zufrieden!‘

Und wir fahren und fahren und fahren – endlich sage ich: ‚Hör’ ’mal, Solten, nach meiner Berechnung müßten wir schon lange am Schlesischen Bahnhof sein.‘

,Nach meiner auch,‘ antwortet er und versucht, zum Fenster hinaus zu sehen; es war aber pechfinster draußen.

In diesem Augenblick geht die Thür des Coupés halb auf und der Schaffner verlangt die Fahrkarten. Wie wir ihm nun ganz kindlich und vertrauend unsere Stadtbahnkarten entgegenhalten, wird der Mann des Gesetzes ziemlich grob. ,Ja, was gehen mich diese Karten an? Ihre richtigen Fahrscheine will ich haben!‘

Mir dämmert ein entsetzlicher Gedanke.

[662] ,Wir wollen am Schlesischen Bahnhof aussteigen,‘ bringe ich ganz schüchtern vor.

Da grinst der Schaffner. ,Ja, das thut mir sehr leid, das müssen Sie schon morgen besorgen,‘ meint er. ‚Das hier ist der Eilzug, der hält zum erstenmal in K. heut’ nacht um zwei Uhr.‘

Na, das war ja eine allerliebste Geschichte! Nicht genug, daß wir die Karten bis K., wo wir auf Gottes Welt nicht das mindeste zu suchen hatten, nachlösen mußten, nicht genug, daß wir in unseren dünnen Civilanzügen die kalte Nacht hindurch spazierenfahren mußten - nein, obendrein hatten wir in K. nach Angabe des Schaffners vier Stunden Aufenthalt und konnten diese dazu anwenden, fern von Madrid über unser und anderer Leute Schicksal nachzudenken. Wirklich eine liebliche Aussicht! Wer sich einigermaßen in unsere Lage hineinzudenken vermag, der wird begreifen, daß ich, der so ganz unschuldig in diese Patsche gekommen war, vor Aerger zischte wie glühendes Eisen, auf das man Wasser spritzt. Kaum war der Schaffner wieder im nächtlichen Dunkel verschwunden, so hagelte es auf meinen armen Freund mit ‚Siehst Du’s‘ und ‚Das kommt davon!‘

Solten ließ denn auch ziemlich kleinlaut den Kopf hängen, ein recht ungewohnter Zustand bei ihm. ,Ich kann doch nichts dafür, daß der Zug nicht hält,‘ meinte er ganz gedrückt.

,Ach was!‘ sagte ich, schon wieder halb versöhnt, denn so eine richtige Wut tobt sich am schnellsten aus, wenn das Gegenüber sich drein ergiebt, ,ach was, als verstorbener Bahnhofsinspektor mußt Du doch wenigstens um die Züge Bescheid wissen!‘ Na, mit dieser Erinnerung war der Friede wieder hergestellt und wir fuhren, wenn auch nicht mehr sehr übermütig, doch still gefaßt, unserem unbekannten Schicksal entgegen und – froren. Solten that zwar von seinem Standpunkt als Anstifter aus, als wenn es Julihitze gewesen wäre, ich aber klapperte so recht hörbar und vorwurfsvoll, damit ihm doch das Gewissen noch etwas schlagen sollte.

Endlich, endlich hielt das keuchende Ungeheuer von Zug. Wir stiegen aus und waren beide so eingenommen von unserer Weltumsegelung wider Willen, daß wir den eigeutlichen Grund und Zweck der blödsinnigen Fahrt - die Alte und die Junge - ganz vergessen hatten und sie, die schwer genug gerächt waren, ruhig weiter in die Welt sausen ließen. Da standen wir in dem kleinen Nest nachts zwei Uhr auf dem leeren Marktplatz in der Nähe des Bahnhofs und sahen uns an. Die ganze Stadt schlief natürlich; alles war so totenstill, wie es nur in einem solch kleinen Orte sein kann, wo ,der Schöppleinschlürfer Reih’!‘ schon um acht Uhr nach Hause geht und um Zehn die Lichter ausbläst. Wenn wir beide besondere Neigung verspürt hätten, die Daumen umeinander zu drehen, so stand diesem Zeitvertreib für die nächsten vier Stunden nichts im Wege, ja es schien das einzige, was wir mit einiger Aussicht auf Erfolg betreiben konnten.

‚Ob es einen Gasthof in K. giebt?‘ Mit diesen bedeutungsvollen Worten brach ich nach einer Weile das bange Schweigen.

,Hoffen wir!‘ sagte Solten lakonisch.

,Aber wo?‘ fragte ich ebenso.

Er zuckte die Achseln. ,Das mag der Himmel wissen!‘

Der Himmel, wenn er es wußte, verriet es aber nicht; er äußerte sich uns in anderer, wenig angenehmer Weise, indem er seine Schleusen öffnete und ohne vorherige Anfrage, ob es uns passe, einen eiskalten Platzregen auf unsere Häupter niederbrausen ließ.

,Hör’ ’mal!‘ sagte ich, ,wenn das jetzt noch lange so fortgießt, gehe ich ins Asyl für Obdachlose – thu’ Du, zu was Du Lust hast!‘

Da kam es plötzlich trapp – trapp – trapp mit dem eigentümlich dröhnenden Ton, den Menschenschritte in völlig leeren Straßen haben, auf uns zu. Das einzige Wesen, das zu dieser Stunde in K. Daseinsberechtigung zu haben schien, zeigte sich – der Nachtwächter. Er betrachtete uns mit gerechtem Erstaunen und entschiedenem Mißtrauen und schien die größte Lust zu haben, sich bei uns zu erkundigen, ob wir etwa irgendwo einbrechen wollten. Ich überlegte eben, ob ich nicht mit lieblicher Gebärde mich ihm nähern und ihn nach dem ersten und einzigen Gasthof des Ortes fragen sollte, da kam mir der unverwüstliche Solten zuvor. Er zeigte mit seinem gewinnendsten Lächeln an dem Hause hinauf, vor dem wir eben standen. ‚Sagen Sie ’mal, hochverehrter Freund, wer wohnt denn da oben?‘ fragte er.

‚Da oben?‘ wiederholte der Angeredete und sah uns wieder prüfend vom Scheitel bis zur Sohle an, ,da wohnt der Hauptmann Odenstern.‘

,Was? Der?‘ Solten fuhr auf mich los. ,Nun sind wir gerettet, Vahlberg – den kenne ich, das ist ein guter Freund von mir! Den besuchen wir!‘ Und schon hatte er den Wächter dazu vermocht, daß der ihm die Hausthür aufschloß.

Ich schrie fast vor Angst. ‚Solten, Solten, Du bist wohl nicht recht gescheit!‘ rief ich, während er trotz der Dunkelheit die Treppe schon in großen Sätzen hinaufrannte. ,Du kannst doch den Mann unmöglich nachts um zwei Uhr besuchen!‘

Solten lachte seelenvergnügt. ,Gestern mittag um Zwölf wäre es freilich für ihn und für mich bequemer gewesen, aber das kann ich nicht ändern. Und wenn zwei so furchtbar nette Kerls wie wir zu Besuch kommen, da freut man sich auch nachts um Zwei. Ich besuche ihn!‘

Nun wurde es mir aber zu bunt. Ich setzte mich als gebrochener Mann auf den Treppenabsatz. ‚Nein‘ sagte ich, ,alles hat seine Grenze! Mach’ Du Deine Dummheiten fortan allein – ich gehe nicht mit! Der Mann wirft uns ja die Treppe hinunter, und das wäre noch duldsam von ihm!‘

,Fällt ihm gar nicht ein!‘ tröstete Solten und blieb stehen, um sich nach mir umzusehen. ,Er freut sich diebisch, paß auf! Wo werd’ ich mir denn die Gelegenheit entgehen lassen, einem Mitmenschen auf so billige Weise eine Freude zu machen! So bin ich nicht. Komm Du nur mit!

,Es giebt so viele Odensterns in der Armee,n‘ klagte ich, ,wenn es nun der gar nicht ist, den Du kennst!‘

,Ach was,‘ sagte Solten verächtlich, ,das ist ja Unsinn! Er muß es einfach sein, er wird gar nicht gefragt. Ich falle ihm direkt um den Hals. ,Freund meiner Kindheit!‘ Was will er da machen? Es flammte ein Streichholz auf und bim, bim scholl der scharfe, kecke Ton der Klingel durch das schlafende Haus.

,Er klingelt wirklich!‘ sagte ich dumpf vor mich hin, ‚Schicksal, nimm Deinen Lauf!‘

Es dauerte natürlich eine ganze Weile, bis jemand kam; mir wurde ganz elend in der Wartepause, während Solten von Zeit zu Zeit ein neues Streichholz anzündete und mir mit einem so sorglos vergnügten Gesicht zunickte, als wenn wir im Ballsaal wären.

Endlich schlürfte etwas den Flur entlang, ein Bursche mit gesträubten Haaren und verschlafenen Augen, in einer grauen Kommißjacke, ein Licht in der Hand, öffnete die Thür einen kleinen Spalt weit – ich hörte ein unverständliches Gemurmel aus dem Flur. Solten zog seine Visitenkarten heraus. ,Gehen Sie ’mal zum Herrn Hauptmann und sagen Sie ihm, der Herr Lieutenant von Solten wünsche, ihm seine Aufwartung zu machen!‘ begann er mit einer unbefangenen Selbstverständlichkeit, die man erlebt haben muß, um sie zu glauben.

Der Bursche starrte den Sprecher verständnis- und wortlos an.

‚Der Herr Hauptmann schlafen!‘ bemerkte er dann.

,Ach bewahre!‘ sagte Solten gemütlich, ,das kann ich mir gar nicht denken! Und wenn er schläft, dann bitte, klopfen Sie ’mal so recht herzlich und innig, als wenn Sie ihn zum Dienst weckten – das kennen Sie ja, mein Sohn! Und nun – marsch!‘ In diesem letzten Worte lag der unverkennbare, soldatisch befehlende Ton, der auf den Burschen seines Eindrucks nicht verfehlte; er machte ohne ein weiteres Wort Kehrt und verschwand im Hausflur.

‚Solten Solten,‘ stöhnte ich, ‚Deine Frechheit wird uns noch zu Grunde richten!‘

,Im Gegenteil,‘ erwiderte mein Freund sehr ruhig. ‚Paß auf, die Sache verläuft glänzend! Und für jeden Fall sitzen wir im Trocknen, denn lebendig gehe ich aus diesem Hause nicht vor morgen früh hinaus – da kannst Du Gift drauf nehmen!‘

,Weiter fehlt mir nichts!‘ knirschte ich. In diesem Augenblick erschien der Bursche wieder. Der Herr Hauptmann lassen sehr bitten, näher zu treten,‘ sagte er, und Solten warf mir einen triumphierenden Blick zu. ,Komm Du nur mit!‘ flüsterte er, und ich, steif gesessen, verlegen und wütend, wie ich war, kroch hinter ihm her und hörte noch, wie der Bursche ganz entsetzt vor sich hin murmelte: ,Noch einer!‘ und sich mit dem Licht über die Treppe bückte, ob der Segen nun wirklich ein Ende habe.

,Herr Hauptmann lassen für ein paar Minuten um Entschuldigung bitten; sie wollen nur noch Toilette machen,‘ sagte der Bursche und öffnete uns die Thür zu einer behaglichen Wohnstube. Nun, das ließen wir uns begreiflicherweise nicht zweimal sagen; in der nächsten Sekunde saßen wir uns gegenüber in ein paar bequemen Sesseln – der Bursche hatte eine Lampe gebracht – und die Sache ließ sich soweit ganz behaglich an. Nach einer Weile kamen [663] Schritte über den Flur, die Thür ging auf. Ein frisch und heiter aussehender Mann von etwa fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahren trat ins Zimmer, und hinter ihm – aber da schnellten wir doch nicht schlecht von unseren Sitzen in die Höhe – hinter ihm eine allerliebste junge Frau im zierlichsten Morgenkleide, beide lachend und vergnügt die späten Gäste anguckend.

Das so meuchlings besuchte Ehepaar benahm sich tadellos – einfach tadellos. Beide zeigten sich sofort als Leute von Genie, die einen tollen Streich zu würdigen wissen, und zugleich als Leute von bester Erziehung – zwei Vorzüge, die sich selten genug bei einander finden. Man hieß uns mit der größten Liebenswürdigkeit willkommen, gerade als wenn wir seit vierzehn Tagen dringend auf eben diese Stunde eingeladen gewesen wären, keines fragte auch nur mit einem Wort, was denn dieser Ueberfall bei Hochkirch eigentlich zu bedeuten hätte. Wir waren sofort im besten Plaudern drin und begannen uns riesig gemütlich zu fühlen.

Nach einer Weile erhob sich die junge Frau. ,Nun sollen aber die Herren doch ein Glas Wein haben!‘ sagte sie und griff nach dem Schlüsselkörbchen. Aber da wurde ich energisch. ,Nein,‘ sagte ich, ‚das geht nicht – das leid’ ich nicht! Daß wir hier noch mit Trank und Speise erquickt werden, die ganze Haushaltung auf den Kopf stellen und nicht einmal eine Erklärung darüber geben, was uns eigentlich hierher geführt hat und wie die Sache kam – das kann ich nicht verantworten!‘

Und nun erzählten wir denn mit lauter schlechten Witzen, immer einer den andern überbietend, unser Abenteuer und die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘, kurz wir leisteten das Menschenmögliche in farbenprächtigen Beschreibungen der bildhübschen Nichte und der schrecklichen Tante mit dem einen Vorderzahn.

Während wir noch so erzählten und schwatzten, bemerkte ich, daß unsere Wirte sich immer verstohlen zuplinkten und lächelten, und als Solten, der sich vorzüglich aufs Nachahmen verstand, die Scene, wie die Alte ihn anschnurrte, so recht packend vorführte, da lachte die junge Frau hell auf. ,Ja, so macht sie’s, so kann ich mir sie lebhaft vorstellen! O, sie ist’s, es ist unsere Tante Aurelie mil Ilse – da giebt’s gar keinen Zweifel mehr!‘

‚Tante?‘ stammelten wir verlegen, mit erbleichten Gesichtern; wir hätten nun natürlich am liebsten alles zurückgenommen, was wir in den letzlen vierzehn Tagen gesagt hatten und in den nächsten sagen würden – aber es war zu spät! ‚Tante!‘ wiederholte ich tonlos.

,Ja, Tante!‘ fiel der Hauptmann herzhaft lachend ein, Tante und Cousine von uns sind jene beiden, die Ihr angeödet habt, und bei uns ist die beste Auskunft über sie zu holen, denn sie sind hier ganz in der Nähe auf ihrem Gut zu Hause.‘

Solten hatte sich inzwischen schon wieder gefaßt ,Nun,‘ sagte er, ,das ist ja ein Wink des Himmels! Mir blutete ohnehin seit gestern abend schon das Herz, daß ich von der reizenden jungen Dame nichts mehr hören und erfahren sollte – von der Tante ganz zu schweigen – da kann ich wenigslens eine leise Hoffnung haben, sie ’mal wieder zu sehen!‘

Unsere Wirte hatten inzwischen ein paar Worte miteinander geflüstert, und die junge Frau wurde immer eifriger und nickte. ,Hört ’mal, Ihr Herren,‘ begann der Hauptmann, ,meiner Frau kommt ein gescheiter Gedanke!‘

,Wie nicht anders zu erwarlen war!‘ schaltete ich galant ein, während Solten nur gespannt auf den Sprecher sah.

‚Also – wir sind morgen oder besser heute abend zu einem Tanzfest bei der besagten Tante eingeladen –‘

,Und händeringend gebeten, noch ein paar flotte Tänzer mitzubringen?‘ rief Solten atemlos.

,Nun, das nicht gerade, aber wenn wir sie mitbrächten,‘ meinte die junge Frau, ,so wolllen wir schon sehen, wie sich die Sache weiter macht!‘

,Morgen ist Sonntag, da ließe es sich ja auch mit dem Urlaub machen,‘ schob der Hauptmann überredend ein.

Ich schüttelte den Kopf. ‚Solten,‘ sagte ich feierlich, ,das ist undenkbar. Nach Deinem bodenlosen Betragen von gestern abend willst Du der ehrwürdigen Anverwandten dieses gastlichen Hauses noch in ihr Tanzfest hineinplumpsen – das würde denn doch der Geschichte die Krone aufsetzen!‘

‚Sie läßt Sie am Ende gar nicht herein!‘ meinte der Hauptmann lachend.

‚Das sei meine Sorge!‘ erwiderte Solten unbekümmert, ‚die Damen erkennen mich entschieden nicht wieder –‘

,Auch meine Cousine Ilse nicht?‘ fragte unsere junge Wirtin schelmisch.

‚Das wäre allerdings tief schmerzlich, aber in diesem Falle ganz praktisch,‘ meinte Solten lachend; ‚im übrigen verlasse ich mich auf meine angeborene Liebenswürdigkeit und Unverschämtheit –‘

‚Die hast Du, das weiß Gott!‘ seufzte ich.

,Ich bin schon mit anderen Leuten fertig geworden wie mit einer alten Tante,‘ schloß Solten mit einem höchst fidelen Gesicht. ,Also, wenn wir mitkommen dürfen – sollen – können – ich wag’s!‘

,Und jetzt gehen wir in den Gasthof und lassen die Herrschaften endlich zur Ruhe kommen,‘ ergänzte ich und erhob mich.

,Ja – ins Gasthaus ‚Odenstern‘!‘ sagte der Hauptmann. ‚Macht doch keine Geschichten, Kinder! Unsere Gaststube ist, wie ich meine vorzügliche Hausfrau kenne, in zehn Minuten fertig – und wir fahren morgen abend alle zusammen zu unserer Tante!‘

Nun wurde unter Lachen und Fidelität das Nähere beschlossen, der Bursche mit dem Frühzug nach Berlin geschickt, um uns unsere Uniformen zu holen, und der Feldzugsplan für den anbrechenden Tag gemacht. Solten war in den paar Stunden des Beisammenseins schon wieder zum Schoßkind bei unserer Wirtin geworden, und als wir uns endlich in die behagliche Gaststube begaben, hatten wir das Gefühl, als seien wir mit Odensterns nicht drei Stunden, sondern drei Jahre bekannt. Wie das so absonderlichen Situationen eigen ist, daß sie die Leute rasch einander nahe bringen – wenn die Leute eben danach sind!

Nach der durchwachten Nacht schliefen wir allseitig bis tief in den Tag hinein. Zu Mittag kam der Bursche mit unseren Uniformen an, und gegen Abend saßen wir als sehr vergnügtes vierblätteriges Kleeblatt in der Eisenbahn und fuhren unserem Abenteuer entgegen. Solten, der Hauptattentäter, wieder so unbefangen und ausgelassen wie möglich – wir alle fest entschlossen, uns in jedem Fall herrlich zu amüsieren – mit der Tante oder über die Tante, wie es eben kommen mochte. Unterwegs erzählte man uns noch, daß die Tante ein altes Fräulein, die bei ihr lebende Nichte eine Waise sei – ein nicht nur bildhübsches – das wußten wir ja! – sondern auch sehr liebes und gutes Mädchen, die gut tanze, gut reite, gut plaudere, kurz alle Vorzüge und noch ein paar mehr in sich vereinige.

An der Station erwartete uns ein elegantes Gefährt, denn Odenstern hatte von K. aus telegraphiert. ‚Bringe noch zwei Tänzer mit!‘ Wir fuhren in schlankem Trabe durch den Abend dahin und hielten vor dem Gutshause, ehe wir es gedacht hatten. Die Gesellschaft war schon vollzählig versammelt, als wir eintraten. Die gefürchtete Tante, die als Wirtin Cercle hielt, nahm sich in einem lawendelfarbigen Gewande ganz menschlich aus, die Nichte im Ballslaat noch viel bezaubernder als gestern im Reisehütchen. Wir beide, Solten und ich, wechselten nur ein leises, aber bedeutungsvolles ‚Donnerweller!‘ bei dem Anblick – und dann kam der große Augenblick der Vorstellung.

Solten, in der vollen Pracht seiner Uniform, mit einem so feierlichen Gesicht wie ein spanischer Grande, der Tante die Hand küssend – das war ein Anblick, bei dem man kaum ernsthaft bleiben konnte. Die Tante, die erst in allgemeiner Menschenliebe und Gastfreundlichkeit ihn holdselig angelächelt hatte, stutzte, als sie ihn genauer ansah, wetzte den Zahn, warf einen wilden Blick um sich und schien sich zu besinnen. In dem Augenblick war Solten aber auch schon zurückgetreten, um die Nichte Ilse zu begrüßen. Diese besann sich nun ganz entschieden auf ihn; sie bekam einen roten Kopf erster Güte, wollte sehr würdig und abweisend aussehen, konnte es aber nicht übers Herz bringe, und ich sah mit Staunen und Grauen, wie Solten sie gleich en gros engagierte – und wie sie – o Weiber, Weiber! – immer nickte und nickte und in ihre Tanzkarte kritzelte. Ich dachte bei mir: ‚Die beiden werden schon miteinander fertig werden!‘, war auch nach zwei Minuten zu der Ueberzeugung gekommen, daß Fräulein Ilse sich eher würde von vier wilden Pferden zerreißen lassen, ehe sie den ‚verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ verraten hätte.

Ich übernahm demnach mit gewohnter Herzensgüte die Rolle der zweiten Violine, machte mich an die Alte heran, die mir gegenüber nichts ahnte, und war bestrebt, ihr den Beweis zu liefern, daß ihre ungebetenen Gäste ganz nette Leute wären.

In den Pausen belustigte ich mich mit Odensterns über die fortschreitende Vertraulichkeit zwischen Solten und der hübschen [664] Nichte und über die schlangenglatte Gewandtheit, mit der er es verstand, sich um die Tante herumzudrücken, die ihn ersichtlich stellen und fangen wollte – es war die reine Treibjagd. Was der Bengel alles an- und aufstellte, um nicht Hals geben zu müssen, war einfach unglaublich. Endlich, kurz vor Tisch, fanden wir vier Spießgesellen uns in einem der Nebenzimmer wieder bei einander. Solten stürzte ein Glas Bier hinunter.

‚Ich bin ganz zu Ende!‘ rief er und warf sich neben unserer jungen Wirtin in einen Stuhl, die Thür im Rücken. ,Heut’ abend kann ich mir lebhaft vorstellen, wie einem Hasen zu Mut ist, hinter dem ein alter wütender Jagdhund her ist – Verzeihung, gnädige Frau, für die Bildersprache!‘

,Bitte!‘ sagte Frau von Odenstern lachend. ‚Aber wie steht es denn mit dem Schatz, den der ‚alte. wütende Jagdhund‘ verteidigen will?‘

Solten machte nur eine leichte abwehrende Bewegung mit der Hand – er sah ganz ernsthaft aus und schwieg. ‚Aha!‘ dachte ich bei mir, ,den Mann hat’s!‘

Während wir so im schönsten Frieden bei einander saßen und nichts Böses ahnten, raschelte es hinter uns – die Tante stand da! Wir alle fuhren zusammen wie die Kinder, die beim Aepfelstehlen ertappt werden. Solten sprang von seinem Stuhle in die Höhe. ‚Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten, mein gnädiges Fräulein?‘ und wollte rasch an ihr vorbei zur Thür hinaus. Aber diesmal war die Tante entschlossen – sie hielt ihr Opfer einfach am Rockärmel fest. ‚Einen Augenblick, Herr von Solten,‘ sagte sie mit der uns nur zu wohl erinnerlichen Flötenstimme, ,ich möchte Sie nur etwas fragen – habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?‘ Und dabei krallte sie sich mit ihren scharfen Augen ordentlich in sein Gesicht ein – es war schauerlich!

Solten machte eine nachdenkliche Miene, dann schüttelte er langsam den Kopf. ‚Unmöglich, mein gnädiges Fräulein,‘ sagte er mit vollster Sicherheit, ‚ich würde eine solche Begegnung doch nie vergessen haben.‘ Und dazu ein Blick auf die Tante, als wenn sie eine Venus von sechzehn Jahren wäre.

Aber die Tante blieb ungerührt. ,Mir ist doch so!‘ fuhr sie fort, ‚besinnen Sie sich einmal! Auf dem Bahnhof in Berlin!‘

Solten sah sie so recht unschuldig und ehrlich an – es hatte etwas Rührendes für den unbefangenen Zuschauer. ‚Aus dem Bahnhof?‘ fragte er voll aufrichtigen Staunens.

,Ja, auf dem Bahnhof!‘ wiederholte die Tante, die nur um so ärgerlicher wurde, je unzweifelhafter sie bei der längeren Unterhaltung seine Identität feststellen konnte, ,auf dem Bahnhof – und Sie haben sich sehr ungezogen benommen!‘

,Ich?‘ sagte Solten kläglich und mit einer Unschuldsmiene. ,Aber das ist ja scheußlich von mir! Das hätte ich mir wirklich gar nicht zugetraut! Ich bin sonst immer sehr artig, mein gnädigstes Fräulein – fragen Sie nur ’mal meinen Freund Vahlberg hier!‘ Er sah dabei so unbefangen und vergnügt aus, daß die Tante wirklich anfing, zu zweifeln – aber sie wagte noch einen letzten Sturm. ‚Denken Sie einmal an gestern abend!‘ sagte sie drohend.

,Gestern abend, und auf dem Bahnhof?‘ fragte Solten wieder zurück. ‚Aber das ist ja unmöglich! Ich bin ja schon seit übermorgen bei meinem Freunde Odenstern zu Besuch!‘

Wie diese erneute Unverschämtheit, die er mit der größten Eleganz herausschmetterte, abgelaufen wäre, das kann man nicht wissen; aber der Zufall, der entschieden bei dem dreisten Schlingel zu Paten gestanden und ihn in seine besondere Obhut genommen hatte, half ihm auch hier wieder aus der Patsche. In eben dem Augenblick, in dem die Tante noch verdutzt dastand, wurde die Thür aufgerissen, der Diener erschien und rief mit Donnerstimme: ,Ich bitte zum Souper!‘ Und in der allgemeinen Verwirrung gelang es Solten, zu entkommen und sich seiner Tischnachbarin, selbstredend der reizenden Nichte, zu versichern.

Wir, das heißt Odensterns und ich, saßen ganz in der Nähe des jungen Paars, und Fräulein Ilse wurde von uns allen gemeinschaftlich in die Schandthaten ihres Tischherrn eingeweiht. Man wird sich denken können, wie vergnügt unsere Ecke dabei war. Soltens Laune sprudelte an dem Abend wie Champagner, und ich dachte heimlich bei mir: ,Wenn sich das reizende Mädel nicht in ihn verliebt, so soll mich’s wirklich wundern!‘ Es ließ sich aber nicht so an, als sollte ich besondere Ursache zum Wundern bekommen! So schien denn nun alles über Erwarten glatt und gut abzulaufen. Allein man soll den Tag nicht vor dem Abend und den Abend nicht vor dem Morgen loben. Wir tranken uns gegenseitig fleißig zu, der Sekt floß reichlich, und unser guter Hauptmann Odenstern wurde so lustig und lebhaft, daß er – weiß der Teufel warum! – alle Vorsicht vergessend, sein Glas erhob und in eine plötzlich eingetretene Gesprächspause hinein mit vernehmlicher Stimme ausrief: ‚Prosit, Solten – der verstorbene Bahnhofsinspektor soll leben!‘

Diesem überraschenden, dem größten Teil der Gesellschaft völlig unverständlichen Trinkspruch folgte naturgemäß kein allgemeines Hoch- und Hurrageschrei, sondern ein allgemeines verblüfftes Stillschweigen. Und die Tante, die uns nah genug saß, um alles zu hören, fuhr wie von der Tarantel gestochen von ihrem Ehrensitz in die Höhe. ,Also doch!‘ rief sie und schien furchtbar werden zu wollen. Aber Solten, den Stuhl zurückgeschoben, daß er umkrachte, mit dem Sektglase in der Hand über die Stube chassiert und vor der Tante auf ein Knie. ,Mein gnädigstes Fräulein, liebenswürdigste Wirtin – nun ja, ich bin’s gewesen! Ich gestehe es reumütig ein. Aber nun seien Sie mir auch wieder gut! Sehen Sie mich doch einmal freundlich an – ich bin ja doch im Grunde ein riesig netter Kerl!‘

Und die Tante, die wohl den Drachen mehr äußerlich haben mochte, warf einen Blick in das bildhübsche lustige bittende Gesicht da vor ihr und gab dem Schlingel einen kleinen Klaps mit ihrem Fächer. ,Na, dann wollen wir’s gut sein lassen!‘ sagte sie und lachte.

Da stand Solten auch schon wieder auf den Füßen. ‚Das wußt’ ich ja!‘ sagte er vergnügt, küßte ihr die Hand und kam zu uns zurück, so triumphierend, als wenn er eine Schlacht gewonnen hätte. Nach dieser Katastrophe wurde es nun erst recht animiert in der Tafelrunde. Alles wollte die Geschichte vom ,verstorbenen Bahnhofsinspektor‘ hören, alles amüsierte und freute sich darüber, und Solten war wieder einmal der Held des Tages – oder des Abends. Und dann stand er auf und schlug ans Glas. Er brachte einen Trinkspruch auf die Tante aus, in dem er sie in den feurigsten Worten pries – in Versen, bei denen sich ungefähr Herzensdrang auf Leberwurst reimte, was aber dem poetischen Wert weiter keinen Eintrag that – und seine Rede hatte ihre Wirkung! Die Tante drohte ihm noch, um den Schein verletzter Würde zu retten mit dem Finger, aber der Schlingel hatte sie doch erobert, wie er es mit allen Leuten fertig kriegte, und sie tanzte sogar nach Tische eine Extratour mit ihm. Das war denn doch der größte Triumph, den er je gefeiert hatte.

Daß die Abenteuer jener vierundzwanzig Stunden mit diesem Ball nicht zu Ende waren, daß wir beide, Solten und ich, unsern liebenswürdigen Wirten, den Odensterns, von Berlin aus einen Blumenkorb schickten, der sich sehen lassen konnte, daß wir ferner nach kurzer Zeit unsern Dankbesuch bei der Tante abstatteten und den Beweis lieferten, daß wir uns auch bei Tageslicht ganz gut präsentierten – das versteht sich eigentlich von selbst, und ich brauchte es demgemäß gar nicht erst zu erzählen. Aber daß die Sache noch ein Nachspiel fand, in dem Solten nicht nur die Tante, sondern, was ihm wohl noch lieber war, auch die Nichte bezauberte, daß er erst mit mir und dann ohne mich alle paar Tage zu den Damen hinausfuhr und durch beständiges Betteln um Urlaub seinen Vorgesetzten an den Rand der Verzweiflung brachte, daß er schließlich als strahlender Bräutigam der reizenden Ilse von einer dieser Urlaubsfahrten zurückkam und nun erst recht alle drei Tage verreisen wollte – das muß ich doch noch berichten. Und wenn meine Geschichte vollständig sein soll, darf ich nicht verschweigen, daß der Tollkopf von damals ein famoser Ehemann geworden ist, der sich aber die alte Schneidigkeit und die alte Liebenswürdigkeit bewahrt hat. Er thut jetzt, als wenn er immer so verständig gewesen wäre, und hat sogar die Stirn, seinen heranwachsenden Jungen bei ihren dummen Streichen kopfschüttelnd zu sagen: ,Ich begreife gar nicht, wie Ihr so ausgelassen sein könnt, ich war als junger Mensch viel verständiger!‘ Und die Jungen sehen ihn dann pfiffig an und glauben’s nicht, denn sie sind gerade solche Schlingel, wie ihr Herr Papa gewesen ist.

Das ist die Geschichte von Soltens tollem Streich,“ schloß der Major und goß sich ein frisches Glas ein.

„Aber eine Unverschämtheit sondergleichen war es doch!“ sagte einer der Zuhörer, „und wenn Ihr nicht ein Paar so schmucker Lieutenants gewesen wäret –“

„Wir waren es eben!“ schmunzelte der Major, „das ist ja die Sache!“