Ein aufgelöstes Räthsel

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Autor: Emil Pirazzi
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Titel: Ein aufgelöstes Räthsel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 710–712, 720–723, 734–737, 747–749
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[710]
Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
Die Auflösung des Räthsels. – Carolinens Flucht. – Große Theilnahme für das angebliche Opfer eines Verbrechens. – Beobachtungen beim ersten Auftreten. – Erste Erziehung. – Unterricht im Deutschen. – Bewunderungswerthe Schlauheit des Mädchens.


I.

In Nr. 2–4 des laufenden Jahrgangs dieser Blätter[1] ist unter der Ueberschrift „Ein unaufgelöstes Räthsel“ die wunderbare Pseudogeschichte eines weiblichen Caspar Hauser mitgetheilt, der, oder vielmehr die seit Mitte November 1853 in unsrer guten Stadt Offenbach Gastrecht, Pflege und Erziehung genoß, und deren angebliche seltsame Schicksale weit und breit das größte, das ungetheilteste Interesse erregten. Jene Mittheilung folgt, erst objectiv, dann kritisch, genau und eingehend einer im December 1855 von dem seitherigen Lehrer dieses Mädchens, Herrn Friedr. Eck, darüber veröffentlichten ausführlichen Darstellung („die langjährige unterirdische Haft zweier Kinder“ etc. Frankfurt a. M., Verlag von F. B. Auffarth) und schließt mit der Bemerkung, daß, nachdem inzwischen schon Jahre in unfruchtbaren Nachforschungen hingegangen, die Hoffnung, daß dies dunkle Räthsel noch eine Lösung finde, schwach zu werden beginne.

Dies Räthsel hat aber seine Lösung, wenn schon in gänzlich unvorhergesehener Weise, kürzlich dennoch gefunden. Die nachfolgende Darstellung dieses psychologisch höchst merkwürdigen Falles knüpft in ihrem Verlaufe durchaus an den obenerwähnten Aufsatz Ihres früheren Berichterstatters an, muß den Inhalt desselben allerdings aber auch bei Ihren Lesern als bekannt voraussetzen und sehr Vieles ungesagt lassen, was dort bereits von Carolinen berichtet wurde.

Wir beginnen beim Ende. Nachdem „Caroline“ (wie wir sie hier vorerst noch immer nennen werden) außer in den Elementarfächern durch Herrn Eck auch von einem hiesigen evangelischen Geistlichen seit Mitte August v. J. Unterricht in der Religion empfangen hatte, sollte sie binnen Kurzem durch die Taufe in die Christenheit, und gleichzeitig durch die Confirmation in die protestantische Kirche aufgenommen werden, als sie plötzlich am Vormittag des 26. Juli ebenso räthselhaft wieder aus dem Hause ihres Lehrers und aus unsrer Stadt verschwand, als sie seiner Zeit in hiesiger Gegend aufgetaucht war.

Dieses Verschwinden verfehlte nicht, die ungetheilteste Aufmerksamkeit der Oeffentlichkeit neuerdings auf das Mädchen hinzulenken, denn man fühlte wohl, daß damit die ganze räthselhafte und unerhörte Geschichte leicht an den Vorabend ihrer endlichen Lösung getreten sein könnte. Und so erweckte denn ihr Verschwinden vielfach neue Sympathien für sie selbst, neue Erbitterung gegen ihre Feinde und Verfolger, neue Vergleiche mit dem kläglichen Ende Kaspar Hausers.

So blieb es 14 Tage lang, wo sich endlich am Morgen des 9. August für uns dies neue, spannende Räthsel zusammt dem alten in ebenso unerwarteter als verstimmender Weise lösen sollte.

Um diese Zeit traf nämlich bei hiesiger Polizei ein Bericht des königl. bair. Landgerichts Neustadt an der Aisch ein, worin gesagt war: daß „die berüchtigte Vagantin Kunigunde Lechner aus Linden“ neuerdings vagabundirend im Bairischen aufgegriffen worden, nachdem sie bald nach ihrer Entlassung aus einer jenseitigen Strafanstalt im October 1853 spurlos aus ihrer Heimath verschwunden gewesen. Sie gebe an, in der Zwischenzeit sich in Offenbach aufgehalten und sich dort der ungarischen Sprache bedient zu haben, deren sie allerdings „mächtig sei.“ Man bitte um nähere Auskunft u. s. w. – Verschiedene weitere Angaben des Berichts ließen keinen Zweifel an der Identität der „Caroline B.“ mit der „Kunigunde Lechner“ zu. Wie ein Blitz durchflog die Nachricht von dem schalen Ausgang, den die hochromantische Geschichte unsrer „großen Unbekannten“ (wie sie hier scherzweise meist genannt wurde) genommen hatte, die ganze Stadt, welche fast fünf Jahre hindurch der Schauplatz ihres unglaublichen, beispiellosen Betruges gewesen war; es bildeten sich Gruppen auf den Straßen, Begegnende riefen sich von Weitem zu: „Nun, weißt du schon –?“ … und abermals war Caroline-Kunigunde die Heldin des Tages, der ausschließliche Mittelpunkt aller Gespräche im Hause, auf der Gasse und in der Kneipe geworden. Die allgemeine Aufregung war einerseits gemischt mit wohlfeiler Schadenfreude, andrerseits mit gerechter Entrüstung, hie und da vielleicht auch mit einer kleinen Dosis Beschämung, daß uns nun jede „Spottgeburt aus Dreck und Feuer“ mit Mephisto höhnisch sollte zurufen dürfen: „Ein Mägdelein nasführte dich!“

Die Angelegenheit dieses Individuums, das sich eben aus einer ungarischen Magnatentochter zur simplen Kunigunde Lechner demaskirt, hatte einst die gesammte öffentliche Meinung und die ganze deutsche, ja sogar einen Theil der außerdeutschen Presse alarmirt, alle Gerichte in Athem und Bewegung gesetzt, und die Leipziger Illustrirte Zeitung hatte das Bild eines Mädchens gebracht, dessen wunderbare Schicksale in den entferntesten Winkeln Deutschlands bis tief nach Oesterreich hinein (wohin die Spur der an ihr begangenen dunklen That zu weisen schien) das ungetheilteste Interesse erregten. Diese Theilnahme, welche man außerhalb fast noch mehr als bei uns an diesem angeblichen Opfer eines unnatürlichen Verbrechens aus den höheren Kreisen der Gesellschaft nahm, gab sich in den mannichfachsten Zeichen und oft auf das Rührendste kund. Personen aller Stände, Adelige der Geburt und Adelige der Gesinnung nach, Gelehrte, Menschenfreunde, sowohl Männer als Frauen, kamen selbst nach Offenbach, das Mädchen aus dem Fabelreich zu sehen, zu sprechen und mit Geld, Kleidungsstücken und sonstigen Andenken zu beschenken, oder setzten sich schriftlich mit ihrem Lehrer Eck in Verbindung. Von Frankfurt waren einmal anonym 200 fl. hiesiger Bürgermeisterei mit der Bitte übersandt worden, selbe für Carolinens weitere Ausbildung und Erziehung zu verwenden. An einigen deutschen Höfen interessirte man sich lebhaft für die seltsame Erscheinung Carolinens, und ließ es an gelegentlichen Erkundigungen nach ihr nicht fehlen. Ebenso verdient die Theilnahme deutscher Gerichte, vor Allem aber die Thätigkeit der österreichischen Behörden, den Urhebern des angeblichen Verbrechens auf die Fersen zu kommen und den verworrenen [711] criminalistischen Knoten selbst zu einer befriedigenden Lösung zu bringen, unsere ganze Anerkennung.

Nach dem Mitgetheilten wird man den Eindruck ermessen können, den die Botschaft von Neustadt nah und weit hervorrief! Sie fiel zuerst, wie ein in’s Wasser geworfener Stein, plätschernd und aufspritzend in das stehende Gewässer der städtischen Unterhaltung, zog ihre Kreise immer weiter und weiter, und hatte im Handumdrehen abermals die deutsche Presse durchlaufen.

Aber es gibt eben Fälle, und der vorliegende gehört zu diesen, wo mehr Scharfsinn dazu gehört zu glauben als zu zweifeln, weil der Glaube in solchen Fällen oft auf scharfsinnig combinirten Motiven ruht (vergl. die Eck’sche Schrift), der Zweifel aber nicht selten auf oberflächlich absprechenden Urtheilen; und dies ist, ganz beiläufig bemerkt, auch der Grund, aus dem uns die Irrthümer großer oder geistreicher Menschen zuweilen interessanter erscheinen, als die aus dem nüchternen, alltäglichen „gesunden Menschenverstand“ entspringenden Wahrheiten. Gleich im Anfang durchblickt scheint die Vielgewandte nur der damalige hiesige Polizeicommissär zu haben, der in seinem ersten Berichte an die Oberbehörde von ihr sagt: sie sei sicher eine Betrügerin und verstehe offenbar ganz gut deutsch, denn sie wechsle die Farbe, wenn man in ihrer Gegenwart Uebles von ihr rede – eine Thatsache, die Ihrem Referenten freilich erst jetzt zu Ohren kam, wo man jenen nunmehr zu Ehren gekommenen Bericht nachträglich wieder aus bestäubten Actenbündeln hervorsuchte.

Ist es immerhin ein etwas beschämendes Bekenntniß für uns Alle, jahrelang von einer Betrügerin genarrt worden zu sein, so ist diese Thatsache doch sicher am Niederschlagendsten für Herrn Eck, den wackern Lehrer und väterlichen Freund unsrer Abenteurerin, der sich mit unermüdlichem, rastlosem Eifer und uneigennützigster Hingebung seit der Zeit, da sie zu ihrer Heranbildung seinen Händen war übergeben worden, unablässig bestrebte, Carolinen zu ihrem gekränkten Rechte zu verhelfen und ihr, als theilweisen Ersatz für eine verlorne Jugend, mindestens eine erträgliche Gegenwart und Zukunft zu bereiten. Freilich sind die Rathsherrn auch hier klüger vom Rathhaus zurückgekommen, als sie hinaufgegangen; Herrn Eck’s That aber bleibt für alle Fälle gleich anerkennenswerth.

Hatte sich mit der Botschaft vom 9. August das große Räthsel ihres Lebens und ihrer Vergangenheit zum weitaus wichtigsten Theile gelöst, so eröffnete uns diese unerwartete Wendung der Dinge doch gleichzeitig auch wieder eine ganze Reihe neuer Räthselfragen, deren Lösung wir damals mit leichterklärlicher Spannung entgegensahen. Von diesen später.

Schreiten wir jetzt zunächst zur Geschichte von Carolinens Offenbacher Aufenthalte.




II.

Obgleich der frühere hiesige Polizeicommissär der unbekannten Person von vorn herein mißtraute, so hatte der Stadtrath aus Humanitätsrücksichten dennoch am 19. April 1854 einstimmig beschlossen, für ihre fernere Unterhaltung und Ausbildung so lange Sorge tragen zu wollen, bis sie im Stande sein werde, sich selbstständig zu ernähren.

Der Stadtrath gründete diesen seinen Entschluß auf eine mehrmonatliche sehr genaue Beobachtung der Fremden. Dieselbe ergab, daß sie in geistiger, nicht aber in sittlicher Hinsicht gänzlich verwahrlost erschien, und dabei von einer ungewöhnlich großen, fast an Menschenscheu grenzenden Schüchternheit, von so zurückhaltendem, decentem und timidem Benehmen, wie es sonst bei Damen von der Landstraße nicht eben üblich ist. Ihre Reinlichkeit, und daß sie sich, außer in etwas Stricken, in allen handlichen und häuslichen Verrichtungen unerfahren stellte, ist bereits früher in d. Bl. erwähnt. Wenn sich einmal ein schüchternes Wort ihren Lippen entrang, so geschah dies in Lauten, die einer uns Allen fremden Sprache angehörten, welche später für die ungarische erkannt wurde. Sie liebte Stille und Einsamkeit, das viele und laute Sprechen schien ihr Unbehaglichkeit und Schmerzen im Kopfe zu verursachen, eine Eigenthümlichkeit, die sie noch bis ganz zuletzt beibehielt. Entweder sie hatte wirklich oder sie affectirte schwache Nerven; freilich muß auch die beständige Anspannung derselben im Dienste ihrer Rolle viel Angreifendes für sie gehabt haben. Ueber Kopfweh und Augenschwäche klagte sie oft; außerdem aber ist sie während der ganzen Zeit ihres Hierseins nie eigentlich krank gewesen. Bei jedem ungewöhnlichen, auch noch so unbedeutenden Geräusch erschrak sie heftig, einige Mal in dem Grade, daß sie beinahe in Zuckungen verfiel. Dabei war sie meist sehr betrübt; ein schweres Leid schien an ihrem Herzen zu zehren, doch statt der Worte hatte sie nur einen nie versiechenden Strom heißer Zähren. Da ihre Züge nichts weniger als schön und einnehmend, ihre Kleidung zudem bei ihrer Ankunft sehr unvortheilhaft (meist zu weit) war, so konnte ihre übrige Erscheinung nicht gerade dazu beitragen, das ungewöhnliche Interesse noch zu erhöhen, welches man im Sonstigen für sie trug. Doch hatte sie eine ziemlich weiße und feine Haut, und ihre Hände waren nicht eben plump zu nennen. Als wir sie in jenen Tagen, wo sie ihren Aufenthalt noch im hiesigen Bezirksgerichte hatte, dort besuchten, schieden wir von ihr mit der aufrichtigen Ueberzeugung, in ihr ein äußerst unglückliches und bemitleidenswerthes Geschöpf vor uns zu haben, das unsere volle Theilnahme verdiene.

Der hiesige Stadtrath glaubte nach alledem sich der Hülflosen annehmen und den erwähnten Beschluß fassen zu müssen. Nachdem diesen die obere Staatsbehörde genehmigt, erfolgte am 27. Novbr. 1854 ihre Uebersiedelung aus der Familie des Gefängnißaufsehers nach einem anderen Hause, wo sie bei einer Wittwe und deren unverheiratheter Tochter, welche ein Putzgeschäft trieb, Aufnahme fand. Zugleich wurde ihr ein Lehrer und Erzieher in der Person des Herrn Friedr. Eck von der Volksschule dahier ertheilt, welcher bis zu diesem Tage Caroline, obgleich sie schon ein Jahr lang die Unsere war, noch nie gesehen hatte und damals nicht ahnen mochte, welche Bedeutung sie für ihn noch gewinnen sollte.

Indem der Stadtrath Carolinen solchermaßen gegen entsprechende Vergütung in Kost und Wohnung gab, war es dabei sein Wille, daß dieselbe nicht als dienendes, sondern gewissermaßen als selbstständiges Glied des Hauses in der Familie Aufnahme finde, dabei aber allen häuslichen Arbeiten sich unterziehen solle, um in dieser Sphäre angemessene Ausbildung zu erlangen. Ihre Kost empfing sie am Familientische. Nächst ihrer geistigen Ausbildung war Herrn Eck auch gleichsam die moralische Vormundschaft über sie anheimgegeben

Von da ab wird Carolinens hiesige Geschichte gleichsam eine doppelte und wir werden sie von zwei Seiten zu betrachten haben: als Schülerin und in ihrem Leben im Haus und in der Familie – zwei Seiten, die sich keineswegs decken, sondern in vielfachem Widerspruche miteinander stehen. Denn während Herr Eck nach seinen eigenen glaubwürdigen Versicherungen bis ganz in die letzte Zeit ihres Hierseins keine Ursache hatte, über Carolinens Aufführung irgend erhebliche Klage zu führen, wissen die hiesigen Familien, in denen sie nach einander Aufnahme fand, deren eine Fülle gegen sie vorzubringen. Und gewissermaßen sind beide Anschauungen im Recht, wie die Folge lehren wird. Um es gleich hier kurz zu sagen: als Schülerin und Herrn Eck gegenüber war sie musterhaft; im Hause dagegen ließ ihr Betragen Vieles zu wünschen übrig.

Man hat Eck wohl hier und da den Vorwurf gemacht, daß er der Betrügerin von vorn herein zu viel Vertrauen, allzu große Leichtgläubigkeit bewiesen habe. Aber da wolle man doch nur bedenken, daß sie ihm von den Behörden übergeben wurde, ihr Unterricht zu ertheilen, nicht mit ihr richterliche Untersuchungen anzustellen, und daß sie ihm gegenüber auf der Schülerbank, nicht auf der Anklagebank saß!

Seinen Unterricht begann Herr Eck am 28. November 1854. Es ist höchst interessant, jetzt von ihm schildern zu hören, mit welch eigenthümlichen Gefühlen er sich ihr zum Beginn der ersten Unterrichtsstunde gegenübersetzte – mit dem Gefühle nämlich: daß sie so wenig ein Wort deutsch verstehe, als er eines ungarisch! Denn ihr ganzer Wortvorrath in unsrer Sprache schien sich damals immer noch wirklich fast nur auf das eine, überdies seltsam und undeutsch genug gebildete „Deutsch-Mama“ zu beschränken, womit sie ihre erste hiesige Pflegemutter, die Frau des Gefängniß-Aufsehers, im Gegensatz zu ihrer wirklichen „Mama“, nach der sie von Anfang an wimmerte, bis zum letzten Tag ihres Hierseins bezeichnete. Wie immer, traf sie, ob instinctiv oder reflectirend, auch hier das Richtige. Denn das erste Wort, was ein Ausländer in deutscher Sprache lernt, ist das Wort „deutsch“ selbst; ja selbst, wer gar nichts von der deutschen Sprache versteht, kennt doch meist die zwei [712] inhaltschweren Worte: „Nix deutsch!“ So bildete sich auch Caroline aus dem mitgebrachten, undeutschen „Mama“ und dem hier bald gelernten „deutsch“ ihr erstes uns verständliches Wort „Deutsch-Mama!“

Aber welch bewunderungswürdige Energie, Consequenz, Willenskraft, Selbstbeherrschung und Verstellungskunst gehörte dazu, ein ganzes Jahr hindurch in den verschiedensten, zum Theil peinlichsten Situationen stumm zu bleiben! Denn ein Jahr war gerade seit ihrer Hierherkunft verflossen, als ihr Unterricht begann.

Herrn Eck’s erste und nächste Aufgabe konnte nicht zweifelhaft sein: Caroline mußte vor allen Dingen deutsch lernen; und um dies zu ermöglichen, mußte zwischen Lehrer und Schülerin vor Allem ein Medium der Verständigung geschaffen werden. Eck betrat nach dem bekannten pädagogischen Grundsatz von Pestalozzi: „Aller Unterricht ist auf Anschauung zu begründen,“ im vollsten und strengsten Sinne des Wortes den Weg der Anschauung mit ihr. Und nun ist es von fast komischer Wirkung, sich von ihm beschreiben zu lassen, welch Mühe und welchen Aufwand von Mitteln der wackere Mann in der ersten Unterrichtsstunde darauf verwendete, ihr nur z. B. klar zu machen, daß das Ding vor ihr mit vier Beinen und einer Platte darauf „Tisch“ heiße – und nicht blos „Tisch“ heiße, sondern auch ein Tisch sei! Bedenkt man, daß sie das Alles so gut wie ihr Lehrer selber wußte, so kann man sich eines unwillkürlichen Lachens nicht erwehren, und begreift nur nicht, daß es Carolinen beim Unterricht nicht oft ebenso erging!

Wer mochte aber auch nur an die Möglichkeit einer Verstellung denken, wo, wie hier, ein seiner Erscheinung nach nicht eben intelligentes Mädchen es über sich vermochte, zwölf Monate hindurch in ihrer Muttersprache das unverbrüchlichste Schweigen zu beobachten, sich nie, aber auch nie ein deutsches Wort entschlüpfen zu lassen, während ihre reichlich fließenden Thränen zu bekunden schienen, wie entsetzlich es für sie sei, sich nicht mittheilen zu können, schweigen zu müssen! Wer mochte an eine Verstellung denken, als nun langsam und allmählich die deutsche Sprache in ihr aufzudämmern schien, und sie in derselben, anfangs nur sehr mühsam und mit sichtlicher Zungenbeschwerde, zu lallen begann! Dazu kam noch, daß dieselbe, nachdem sie im Sprechen einige Fortschritte gemacht hatte, wie ein Kind flectirte, conjugirte und construirte, wofür schon die Eck’sche Broschüre einige interessante Belege bringt. Und auch hierin ist sie sich stets treu geblieben und hat sprachlich ihrer fingirten Entwickelung nie vorgegriffen. Das Weglassen der kleinen Partikeln: daß, um, zu, da etc. („Ich will nicht, gute Menschen für mich Geld geben“); die syntaktisch fehlerhafte Stellung des Prädicats zum Object und die Setzung des Infinitivs für die betreffende Person („Ich nicht denken können, so viele Menschen geben auf der Welt“); das öftere Wiederholen eines Substantivs, statt ein Pronomen dafür eintreten zu lassen; die Weglassung des Augments „ge“ im Particip der Vergangenheit („ich habe dacht“ [gedacht]), – dies Alles bekundete eine theils so kindlich-naive, theils so durchaus undeutsche Behandlung der Sprache, und dazu waren ihre sprachlichen Irrthümer philologisch, psychologisch und philosophisch so tief im Wesen der Sache begründet, daß ein Betrug hierbei kaum zu denken, geschweige denn auszuführen möglich schien.

[720]
Carolinen’s Schulunterricht und ihre fein berechnete Lernweise. – Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. – Zweifel an die Wahrhaftigkeit der Bibel. – Ihr Betragen im Hause. – Das Schloß ihrer Eltern in Siebenbürgen. – Ein ungarischer Priester.

Hatte Caroline in der Aussprache einiger Wörter und in der Kenntniß ihrer Bedeutung Fortschritte gemacht, so gab sie ihre Freude darüber in der Familie, worin sie Aufnahme gefunden, auf die kindlichste Weise zu erkennen. So kam sie öfter aus dem Unterricht sehr vergnügt nach Hause und berichtete dort: „Ich wissen jetzt, wie dies heißt, und wie das heißt.“ Als man ihr gelegentlich bemerkte, daß sie sagen müsse: „Ich weiß,“ protestirte sie feierlichst: „O nein! Schnee weiß ist, Mehl weiß ist (dies waren Sätze, die sie im Unterricht gelernt hatte), aber ich nicht weiß: ich wissen!“

Allerdings waren ihre Fortschritte, obschon keineswegs mißtrauenerregend, doch so rasch und befriedigend, daß sie sich bereits im Frühjahr 1855 mit ihr näher bekannten Personen innerhalb des Kreises ihrer Anschauung leidlich verständigen und ein Jahr darauf ziemlich fließend ausdrücken konnte. Ueberschritt man jedoch diesen scheinbar noch immer sehr engzezogenen Kreis in der [721] Unterhaltung mit ihr, so schien das intellectuelle Fluidum des gegenseitigen Verständnisses plötzlich wie unterbrochen und sie selbst gleichsam auf einen geistigen Isolirstuhl versetzt – sie hörte wohl noch, aber sie verstand nichts mehr! Viel befangener, schüchterner und zurückhaltender schien sie auch in der Unterhaltung mit ihr weniger bekannten Personen – gerade als schäme sie sich bei diesen mehr der für sie unvermeidlichen Sprachschnitzer.

Sehr bald nach den ersten Sprachstunden begann Herr Eck auch mit ihr den Schreib- und Leseunterricht; auch hier waren Carolinens Fortschritte erfreulich, und seit Herbst 1855 las sie bereits Gedrucktes und Geschriebenes fließend und in ziemlich richtiger Betonung. Schon im April desselben Jahres schrieb sie einfache Sätze, die ihr Eck dictirte, passabel richtig nach, obgleich sie es bis zu einer gänzlich fehlerfreien Orthographie nie brachte. Manche uns vorliegende Proben ihrer Hand aus den verschiedensten Perioden ihres Hierseins zeigen eine sich in deutschen wie in lateinischen Charakteren immer fester entwickelnde Schrift jenes derben, großen Schlages, wie sie gewöhnlich zehn- bis zwölfjährigen Schulkindern eigen ist.

Doch bietet das allmähliche und verhältnißmäßig rasche Erlernen von Lesen und Schreiben bei ihr bei weitem nicht jenes Interesse, als ihr angebliches Erlernen des Deutschsprechens. Freilich täuschte sie auch in Bezug auf jene Fertigkeiten, denn etwas schreiben und lesen konnte sie jedenfalls schon von ihrer Schulzeit her, wogegen sie im Deutschreden, als in ihrer Muttersprache, selbstverständlich doch so gut bewandert war, als Jeder von uns auch, überdies die Gefahr, sich zu verrathen, hier viel näher lag als dort, und zu dieser Täuschung eine weit eminentere Verstellungskunst gehörte, als zu jener. Die Art und Weise aber, wie sie diese Kunst verstand und übte, ist ohne Uebertreibung – bewunderungswerth!

Caroline legte einen bedeutenden Lerneifer an den Tag, und ein entschiedener Bildungstrieb machte sich nach dieser Seite hin bei ihr geltend. Sie wußte bald Herrn Eck zu bestimmen, ihre Unterrichtsstunden zu vermehren. Im März 1855 begann Herr Eck auch mit dem Rechenunterricht. Was Caroline seiner Zeit von den Buchstaben, das behauptete sie jetzt auch von den Ziffern: daß sie nämlich früher gar nicht gewußt habe, daß es dergleichen gäbe. Doch konnte sie in ungarischer Sprache von 1 bis 29 ziemlich richtig zählen, und auch im Rechnen machte sie rasche Fortschritte. Sie brachte es darin bis zum richtigen Schreiben und Aussprechen siebenstelliger Zahlen, und wußte zuletzt einfache Aufgaben der Regel de tri sowohl schriftlich, als auch im Kopfe zwar etwas langsam, aber doch stets mit Bewußtsein der Gründe zu lösen.

Im Frühjahr 1855 veranlaßte sie ihr umsichtiger Lehrer, die nicht geringe Anzahl von Wörtern, deren sie in der ungarischen Sprache mächtig war, aufzuschreiben und die deutsche Benennung für jedes ungarische Wort möglichst beizusetzen. Diese Aufzeichnungen ergaben ein Resultat, welches nur dazu beitragen konnte, ihre Glaubwürdigkeit zu approbiren. Denn jene Zusammenstellung enthielt auch nicht ein einziges Wort, das einen Gegenstand bezeichnete, welcher außerhalb des sehr engen Kreises ihrer sinnlichen Anschauung in jener Waldwohnung lag, worin sie vorgab, den größten Theil ihrer Jugend verbracht zu haben: unseres Bedünkens einer der feinstgesponnenen Fäden ihres meisterhaften Betrugs! – Wenn Herr Eck in diesem Verzeichniß auch nur ein Wort gefunden, welches nicht innerhalb jener sehr beschränkten Begriffssphäre gelegen gewesen, er hätte ihren Betrug vielleicht sofort entschleiert; wogegen die Unantastbarkeit jenes Verzeichnisses nicht wenig dazu beitrug, das Siegel der Wahrhaftigkeit erst recht auf ihre Lebensbeschreibung zu drücken, mit deren Erzählung sie ungefähr um dieselbe Zeit begann.

Nachdem nämlich Caroline in ungefähr 120 Stunden und beinahe dreivierteljährigem Unterricht sich einigermaßen in deutscher Sprache verständlich zu machen gelernt hatte, veranlaßte sie ihr Lehrer, ihm die Hauptmomente ihrer Vergangenheit mitzutheilen. (Auf diese die Neugier schon im Voraus zu spannen, hatte sie durch frühere gelegentliche Aeußerungen, wie: „Ich nicht sagen können, was ich denke; ich viel wissen und nicht sagen können!“ trefflich verstanden.) Dies geschah jedoch keineswegs in geordneter, zusammenhängender Erzählung; vielmehr gab sie ihre Geschichte in vielen einzelnen Bruchstücken, die Herr Eck zum großen Theile erst aus ihr herausfragen mußte, sammelte und aus allen diesen Theilen und Theilchen erst nach Monaten ihre Geschichte mosaikartig zusammenfügte. Die wichtigeren und kritischsten Partien derselben wurden überdies durch vielfach wiederholten Fragen festgestellt.

Die auf diesem Wege erhaltene Geschichte war der Art, daß sich Herr Eck veranlaßt, ja gleichsam verpflichtet fühlte, sie in Gestalt der genugsam bekannten Broschüre in die Oeffentlichkeit zu geben. Diese Schrift erregte die ungetheilteste Aufmerksamkeit in den weitesten Kreisen und die drei P: Presse, Publicum und Polizei waren auf’s Eifrigste dahinter her. (Im Jahre 1856 erschien zu Amsterdam sogar eine wortgetreue holländische Uebersetzung der Schrift, und selbst amerikanische Zeitungen referirten die Sache.)

Der Grundton, auf den Carolinens ganzer Seelenzustand gestimmt, auf den all’ der tiefe Kummer, welcher an ihrem Herzen zu zehren schien, sich in unsern Augen zurückführen ließ: es war die beständige Sehnsucht nach ihrer früh verlorenen Mutter! Mit dieser Sehnsucht wußte sie sehr fein berechnet ein allgemeines menschliches Interesse für ihr Schicksal in vielen Gemüthern wach zu rufen. Auch nach „Magyar“ (Ungarn) schien sie zuweilen ein Heimweh zu überkommen, selbst nach Bertha. Lieder von der Heimath stimmten sie wehmüthig und in sich gekehrt. In solcher Stimmung äußerte sie einmal: „Mein Leben ist ganz zerknickt; ich habe Niemand, was mich fesseln sollte! Ach, wenn ich Abends gegen Himmel sehe – ich freue mich oft auf den Abend, daß ich mich recht satt weinen kann – das ist mein einziger Trost!“

Ihr Lehrer hatte nicht verfehlt, vor Herausgabe der Bekenntnisse dieser schönen Seele Carolinen nochmals nachdrücklichst auf die große Verantwortlichkeit hinzuweisen, die er damit vor der Oeffentlichkeit übernehme, und ihr geschildert, wie schrecklich es für ihn sein müsse, auch nur eine Unwahrheit unter seinem Namen zu publiciren. Mit Entschiedenheit entgegnete sie ihm: „Ich sagen, was ich wissen! Ich nicht sagen können, was ich nicht wissen!“ Zudem schien sie auch die Hoffnung, vermöge der Eck’schen Veröffentlichungen ihre Mutter wiederfinden zu können, mit sichtlicher Freude zu erfüllen. Ja, es war ordentlich, als ob die chimärische Mutter sich so sehr in ihrer Einbildungskraft festgesetzt habe, daß sie zuletzt gleichsam zur fixen Idee in ihr wurde, an die sie schließlich selbst glaubte.

Wer mochte wohl auch an eine bloße Erfindung glauben bei einem Geschöpf, dessen Anschauungs- und Erkenntnißvermögen von einer noch so durchaus kindischen Naivetät zeugte! Einer ihrer vollendetsten Züge war aber der, nicht nur das Nothwendige, sondern auch noch das Ueberflüssige zu unserer Bethörung zu thun. So z. B., als sie einst bei einem Leichenbegängniß eine große Anzahl von Menschen sah – wem wäre es da wohl aufgefallen, wenn sie sich darob nicht verwundert hätte! Und dennoch verwunderte sie sich baß, daß es „so viele Menschen gäbe auf der Welt!“ Auf verschiedene an sie gerichtete, an sich höchst geringfügige Fragen in Betreff dieser und jener Einzelheiten ihrer Geschichte beharrte sie auf einem entschiedenen „Das weiß ich nicht mehr!“ wo es ihr ein Leichtes sein mußte, ebenfalls eine Erfindung zum Besten zu geben, was wiederum nur dazu beitragen konnte, die Glaubwürdigkeit für ihre übrigen positiven Aussagen um ein Wesentliches zu erhöhen.

Da Caroline vorgab, auch von Religion, Gott, Christus etc. nicht das Mindeste zu wissen, so war es Herrn Eck’s nächste Aufgabe, sobald er sich ihr nur einigermaßen im Deutschen glaubte verständlich machen zu können, mit dem Religionsunterrichte ebenfalls bei ihr zu beginnen. Da sie hierbei fast noch größere Aufmerksamkeit entwickelte, als in den übrigen Fächern, so konnte sie bereits von Ende Januar 1856 an den Religionsunterricht besuchen, welchen Eck als Lehrer der Volksschule zu Offenbach den Mädchen seiner Classe ertheilte. Auch an Mittheilung von Schriften sittlich-religiösen Inhaltes ließ es Herr Eck bei ihr nicht fehlen, als das Verständniß dafür bei ihr immer mehr zu erwachen schien. Sie hat viel und mit Eifer solche Schriften gelesen; eine Lectüre, welche schädlich auf sie einzuwirken vermochte, hat man nie bei ihr gefunden. Unter allen die liebste ist ihr stets geblieben die Geschichte Josephs und seiner Brüder aus dem alten Testamente; diese hat sie unzählige Mal gelesen und wieder gelesen, oft selbst Abends im Bette. Den Grund für diese tiefgehende Vorliebe suchte man natürlich zunächst darin, daß die Schicksale Josephs mit ihren eigenen einige Aehnlichkeit hätten.

„Warum,“ frug sie Herrn Eck, als ihr dieser die Geschichte von Joseph zum ersten Male erzählt hatte, „hat Joseph so lange wartet, bis seine Brüder kommen sin, und hat nicht gleich Getreide [722] sein Papa schickt? Ich hätte meine Mama nicht so lang warten lassen; ich hätte meine Mama gleich Getreide schickt. – Wo nur meine Mama is?“ setzte sie darauf seufzend hinzu.

Doch nahm sie durchaus nicht Alles so ohne Weiteres als baare Münze hin, was geschrieben stand. Sie frug ihren Lehrer viel die Kreuz und Quere, und machte oft Einwürfe so verfänglicher Art (wie ja auch Kinder oft Fragen thun, die Erwachsene in Verlegenheit setzen), daß deren Beantwortung ihre Schwierigkeit hatte. Besonders in Bezug auf die biblischen Wunder und Gleichnisse bekundete sie schon zeitig einen gewissen skeptischen, grübelnden Rationalismus, der gleich dem Kern der Sache entschieden zu Leibe ging und keine Ausflüchte dulden wollte. So sagte sie einst zu Eck, nachdem ihr dieser die Frage, ob die Schlange im Paradiese denn sprechen gekonnt habe, verneint hatte, indem sie mit der Hand schnell über das aufgeschlagene Buch strich, voll Entschiedenheit: „Dann ist auch die ganze Geschichte nicht wahr!“ – Es waren Aeußerungen derselben Intelligenz, die man bei Kindern sonst als Symptome frühreifer Kritik mit dem Namen „Naseweisheit“ belegt.

Doch wenden wir uns jetzt einmal zu Carolinens Stellung im Hause und in der Familie, so erscheint sie uns dort von einer ganz andern und minder erfreulichen Seite, als im Unterricht. Sie entfaltete im Hause durchaus nicht jenen Lern- und Arbeitstrieb, jene Anstelligkeit, wie Herrn Eck gegenüber, gab dagegen häufig genug wegen großer Eigenwilligkeit, Launenhaftigkeit und Unliebenswürdigkeit Anlaß zu gegründeten Klagen. Doch maß Herr Eck die bei Carolinen zu Tage tretenden Fehler um so mehr einer „unrichtigen Behandlung“ zu, als ihr Betragen ihm gegenüber, der sich liebevoll wie ein Vater ihrer annahm, fast durchweg tadellos war. Ihm gegenüber war sie aber auch stets bemüht, sich im besten Lichte zu zeigen, und das bis fast ganz zuletzt. Er glaubte sie unschuldig wie ein Kind, gleichsam direct aus den Händen der Natur überkommen zu haben; ihm war sie wie ein „rohes Ei,“ das Niemand anzugreifen verstand, ohne es zu verletzen, und an dessen zartes Seelenleben sich der Rost und Schmutz dieser Welt nur zu leicht ansetzte.

Aber auch auf kleinen Unwahrheiten ließ sich Caroline bald – doch niemals von Herrn Eck – betreten, wußte sich dagegen bei diesem jedesmal so glänzend herauszuschwatzen, daß sich ihm schließlich alle jene angeblichen Unwahrheiten immer in leere Mißverständnisse (diese ohnehin ja so leicht möglich bei einem eingeschüchterten Geschöpf, das die Sprache seiner Umgebung nicht gründlich versteht und spricht!) und in die natürlichen Folgen „falscher Behandlung“ Carolinens auflösten. Aber selbst die, welche sie hin und wieder belog, bezweifelten deshalb keineswegs den Kern ihrer abenteuerlichen Geschichte: der kolossale Bau derselben stand doch zu fest in sich geschlossen, um durch etwelche kleine Lügen sich erschüttern zu lassen. Und einzelne Ungläubige, die vielleicht auch ihre vornehme Abkunft in Frage stellten, bezweifelten doch keineswegs, daß sie bei ihrer Hierherkunft kein Wort Deutsch gekonnt habe.

Acht Monate lang war Caroline in der Familie der Wittwe geblieben, als wegen beabsichtigter Aufgabe des Putzgeschäfts ihrer Tochter Caroline am 1. August 1855 in der Familie des Kaufmanns K. Aufnahme fand, und die freundlichste dazu. In dieser Familie, wo sich die für ihre Entwicklung nothwendigen Bedingnisse alle zu vereinigen schienen, ist sie bis zum Mai 1857 verblieben. Aber auch hier entfaltete sie nicht mehr häusliche Tugenden, obwohl ihr die Familie viele Wohlthaten erzeigte und z. B. von ihrem Kostgelde 160 Gulden für sie zur Sparcasse einschreiben ließ, wo sie jetzt noch stehen.

Ihre Uebersiedelung in die K.’sche Familie ging im August vor sich; im December desselben Jahres erschien die Broschüre. In Bezug auf diese bleibt uns noch eine wunderbare Thatsache hier zu erwähnen: daß sich Caroline zwar manchmal in ihrem hiesigen Leben auf Unwahrheiten, nie aber auch nur auf dem leisesten Widerspruch bezüglich der doch rein erfundenen Geschichte ihrer Vergangenheit betreffen ließ! Und dies, sowie ihre Verstellung im Punkte der Sprache ist es, was wir als die beiden Gipfel ihrer Kunst bezeichnen müssen.

Bekanntlich hatte sie das Schloß ihrer Väter, besonders aber die unterirdische Wohnung im Walde bis in die eingehendsten, minutiösesten Details herab zu schildern gewußt, in allen Einzelheiten des Ameublements und der ganzen Einrichtung, sogar mit Angabe vieler Größen und Maße, wie das Alles Herr Eck dann in seiner Schrift mit Walter Scott’scher Breite und Anschaulichkeit wiedergegeben hat. Nun durfte sie aber Herr Eck noch nach Jahren, ganz unvorbereitet, um diese oder jene Specialität der Waldwohnung etc. befragen, so hatte sie sofort die genaueste, präciseste und mit ihren früheren Aussagen stets auf’s Schärfste klappende Antwort zur Hand.

Inzwischen begann die Broschüre zu wirken. Die österreichische Regierung ließ es an nichts fehlen, dem Verbrechen, das innerhalb ihrer Grenzen begangen schien, auf die Spur zu kommen. Ein Hauptmann-Auditor der österreichischen Besatzung zu Mainz ist oftmals in dieser Sache, höherem Auftrage zufolge, hier gewesen und hat aus eigener Anschauung ausführlich darüber nach Wien berichtet,[2] und ein k. k. Rath der obersten Polizeibehörde dortselbst, Referent in Carolinens Angelegenheit, hat im Juli und November 1856 unsere Stadt dieserhalb ebenfalls besucht. Nachdem er Carolinen drei Mal mehrere Stunden lang verhört hatte, gelangte er zu dem Resultate: daß er zwar von ihr nichts erfahren, was nicht schon in der Broschüre über sie gesagt sei – das dort Gesagte aber mit ihren eigenen Aussagen völlig übereinstimmend gefunden habe; auch spreche sie das Ungarische in einer Weise aus, wie es nur bei eingebornen Ungarn vorkomme. Also selbst gewiegten Inquirenten gegenüber wußte sich Caroline völlig im Sattel zu behaupten. Wer hätte da noch zweifeln mögen?!

Aber noch mehr! Im Sommer 1856 gelangte an Herrn Eck, nachdem ihm schon früher gegründete Aussicht eröffnet worden, dem Verbrechen auf die Fersen zu kommen, plötzlich aus zuverlässiger Quelle die Mittheilung: daß das Schloß, worin Carolinens Wiege stand, gefunden sei! Die davon in der Broschüre gegebene Beschreibung stimmte bis auf wenige Kleinigkeiten. Das konnten indeß Veränderungen sein, die das Schloß inzwischen erfahren hatte, oder Caroline irrte in der Erinnerung. Sie bestand jedoch fest auf ihren früheren Angaben, und das war wieder sehr klug. Weiter hörte man jedoch nichts mehr von der Sache, aus dem sehr leicht erklärlichen Grunde, weil ein Schloß, das gar nicht existirte, auch nicht gefunden werden konnte.

Allein immer noch mehr Thatsachen häuften sich, Carolinens Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Jenes Schloß meinte man nicht in Ungarn selbst, sondern im Großfürstenthum Siebenbürgen gefunden. Einige Wochen nach dem Eintreffen dieser Kunde kam ein ehemaliger ungarischer Geistlicher, in allen Dialekten des Landes wohl erfahren, hierher, um Carolinen zu sehen und zu sprechen. Diesem gelang es, sich besser mit ihr zu verständigen, als allen früheren Personen, welche ungarisch mit ihr zu reden versuchten. Nach der Unterredung bezeichnete er Herrn Eck dieselbe Gegend Siebenbürgens, worin sich angeblich das Schloß gefunden haben sollte (wovon er jedoch nichts wußte!), auch als diejenige, worin die von Carolinen gesprochene, eigenthümlich gemischte magyarische Mundart heimisch sei. So schien sich Alles zu vereinigen, Caroline in ihren Aussagen zu unterstützen.

In der früher in diesen Blättern erschienenen Mittheilung über die Unbekannte ist gesagt, daß man vor Allem hätte den Versuch machen sollen, sie unter Begleitung den Weg durch Feld und Wald und Dorf wieder auffinden zu lassen, auf dem sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha nach Weiskirchen gelangt war, von wo sie andern Tages nach Offenbach abgeliefert worden.

[734]
Der Ort der Aussetzung. – Besuche bei Carolinen. – Ihr Betragen und ihre Aeußerungen. – Ihre Flucht aus dem K.’schen Hause. – Der Artikel in der Gartenlaube und dessen Folgen. – Caroline kommt in das Eck’sche Haus. – Die Lüge und die Katastrophe. – Die Flucht.

Dieser Versuch, den Wald und das Dorf ausfindig zu machen, wo sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha hingelangt war, ist auch, und zwar bereits im März 1856, mit Carolinen unter Anführung des Herrn Eck und in Begleitung seiner Tochter und eines Gensd’armerie-Brigadiers gemacht worden. Auch er trug nur dazu bei, Carolinens Wahrhaftigkeit auf’s Neue und Vollständigste zu beglaubigen; in Bezug auf die Wiedererlangung des ihr auf ihrer früheren Irrfahrt angeblich entwendeten Medaillons mit dem Bildniß ihrer Mutter (eigentlich Hauptzweck der ganzen Inspectionsreise) ergab sich indeß trotz der eifrigsten Nachforschungen kein Resultat. Aber es gelang, die Mehrzahl der Orte festzustellen, durch die sie damals gekommen war, und wo man sich zum Theil der seltsamen, kein Deutsch verstehenden Person noch erinnerte. Als jener Ort, bei dem Caroline „ein groß Wasser“ auf einer Brücke passirt hatte, ergab sich unzweifelhaft Aschaffenburg am Main; von da war ihr Zug in’s Hessische hinübergegangen, jenseits Aschaffenburg aber verlor sich alle Spur. Auch fand sich nach Carolinens Beschreibung sogar der Ort wieder, worin sie in einem einzelnstehenden Hause übernachtet haben und bestohlen worden sein wollte: es war in dem bairischen Dorfe Stockstadt a. M. Jenes Haus war damals auch wirklich, wie sich ergab, von Weibspersonen nicht des besten Rufes, und ziemlich mit Carolinens Beschreibung stimmend, bewohnt gewesen, diese aber leider jetzt theils gestorben, theils fortgezogen.

Neugierde und Interesse trieb viele Personen nach Offenbach, die Caroline zu sehen begehrten. Diese fanden sich jedoch von ihrer äußern Erscheinung meist sehr enttäuscht und abgestoßen, weil sie sich vielleicht von dem Mädchen mit der romantischen Geschichte auch in dieser Hinsicht etwas Besonderes erwartet hatten. Indeß trugen ihre Züge weder den Stempel adliger Geburt noch solcher Gesinnung, sie waren scharf und grob geschnitten, der Mund groß, die Figur untersetzt und von schlechter Haltung, obwohl sie das Köpfchen gelegentlich recht hoch zu tragen wußte. Ihre gebogene Nase, wie sie bei uns allerdings selten vorkommt, schien uns ein sprechendes Zeichen ihrer ungarischen Abkunft, und ihr zeitweilig hervortretender starrer Eigensinn war von Kennern ganz speciell für „echt ungarisch“ erklärt, während wir darin noch obendrein die, so zu sagen, unbewußte Empörung des edlen Blutes in ihr gegen den Druck der sie umgebenden, ihrer unwürdigen Verhältnisse zu sehen liebten.

Sie mochte es durchaus nicht leiden, sich von Fremden besucht zu sehen, vielleicht weil sie fürchtete, von einem derselben einmal erkannt zu werden, und that dann auch alles Mögliche, die Besucher bald wieder zu verscheuchen. Ihre Erscheinung war dann so uninteressant und unliebenswürdig wie möglich. Sie stand da, die Augen niedergeschlagen, mit einer wahren Armensünder- und Idiotenmiene, spielte mit den Händen verlegen an den Säumen ihrer Schürze, weinte vielleicht stille in sich hinein (über Thränen hatte sie überhaupt jeder Zeit mit voller Freiheit zu verfügen), gab auf die eindringlichsten Fragen im besten Fall eine leise, flüsternde Antwort, kurz, erschien von einer fast blödsinnigen Blödigkeit, Menschenscheu und Stupidität, mit keinem Zuge die ihr innewohnende Intelligenz verrathend.

Indeß traten ihre häuslichen Untugenden immer schärfer hervor. Eigensinn, der sich oft bis zum Starrsinn steigerte; übertriebene Empfindlichkeit, Launenhaftigkeit, Unempfänglichkeit für empfangene Wohlthaten, Unanstelligkeit, ein gewisser verschrobener Dünkel, endlich, wir dürfen es nicht verschweigen, eine immer entschiedener hervortretende Neigung zur Heuchelei und zur Lüge. Ebensowenig aber darf verschwiegen werden, daß sie im Punkte des Eigenthums durchaus ehrlich war, nie auch nur das Geringste veruntreute, sowie, daß sie stets einen züchtigen Wandel führte.

Ihr Lehrer war zwar keineswegs blind für gewisse ausgesprochene Unarten und Untugenden seiner Schülerin, allein in seinem natürlichen und nur zu erklärlichen Wohlwollen gegen sie immer geneigt, sie aus der Natur der Verhältnisse und, wie gesagt, theilweise unrichtiger Behandlung herzuleiten, folglich zu entschuldigen. Auch hatte sie eine treffliche Art, allen gegen sie bei Herrn Eck sich vorbereitenden Klagen bei ihm damit zuvorzukommen, daß sie eine betrübte Miene aufsteckte, auf sein dringendes Befragen nach der Ursache derselben dann meist in Thränen und zuletzt gewöhnlich in die Worte ausbrach: „Die Menschen seien so schlecht, verleumdeten sie, weil sie sie nicht verständen, legten ihr Dinge zur Last, an die ihr Herz nicht denke“ – u. s. w., und zuletzt hatte Herr Eck alle Mühe, sie zu beruhigen. Vor allen Dingen glaubte er nicht an ihre angebliche Neigung zur Unwahrheit! Von ihm selbst hatte die Kluge sich wohlweislich nie auf einer solchen betreten lassen, und was ihm von anderer Seite darüber geklagt wurde, stellte sich ihm später immer als Mißverständniß heraus. Man klagte ferner über ihr finsteres, mürrisches Wesen, über ihre Unliebenswürdigkeit! Aber war, wenn sie in Sehnsucht ihrer verlorenen Mutter gedachte (und dies that sie ja so oft) eine heitere Stimmung möglich?

Zur schärferen Charakterisirung ihres Herrn Eck gegenüber so meisterhaft befolgten Umgarnungssystems mögen hier wenige interessante Auszüge aus dem über sie geführten Tagebuche des Ersteren folgen.

2. April 1856. Heute erklärte ich im Schulreligionsunterricht die Pflichten der Kinder gegen ihre Eltern. Caroline sagte mir nach der Stunde: „O, wenn ich bei meinen Eltern wäre, wie gerne würde ich ihnen so danken, wie Sie heute in der Schule gesagt haben!“

23. April. Eine Dienstmagd sagte Carolinen dieser Tage, daß [735] sie nur recht freundlich gegen die Leute sein müsse, wenn es ihr auch nicht so um’s Herz sei. Caroline sagte mir dies und daß sie darauf erwidert: dies wäre ja geheuchelt und „heucheln könne sie nicht,“ sie wolle lieber „den ganzen Tag ein Gesicht machen.“ (Provinzialismus für: ein unfreundliches Gesicht machen.)

26. Mai. Caroline gab mir heute wieder zu, daß sie sich jetzt immer glücklicher fühle, nur erfahre sie so viel Unangenehmes im Leben. So wisse sie auch jetzt, daß die Menschen lügen könnten! „Daß die Menschen so lügen können und auch betrügen,“ setzte sie mit ganzem Unwillen hinzu, „das thut mich so empören!“

10. Decbr. Daß ich gestern Carolinen des Mangels an Vertrauen zu mir beschuldigte, hat sie, wie sie mir heute gestand, in eine außerordentliche Betrübniß versetzt. Darüber äußerte sie mir heute, noch immer tief betrübt: „Ich mußte Sie verstehen, als glaubten Sie, ich hätte mein Wohlwollen und Vertrauen zu Ihnen erheuchelt. Ich heuchle nicht, die scheinheiligen Menschen sind mir selbst zuwider, und weil Sie glauben, ich wäre auch so, wie die scheinheiligen Menschen, deshalb bin und war ich so unglücklich, daß ich gestern Abend bis ein Uhr weinen mußte. Ich habe geglaubt, mein Herz ging in lauter Stückchen; noch nie war ich so unglücklich!“

An gelegentlichen schönen, sinnigen Phrasen hat es ihr überhaupt nie gefehlt. So sagte sie Herrn Eck oft, ihr „stolzes“ Herz könne es nicht ertragen, sich von andern Leuten erhalten zu wissen; sie sei gesund, wolle und könne arbeiten und ihr Brod selbst verdienen. Zuweilen war ihre Sprache auch blumenreich und sententiös; so schrieb sie einmal an ihre Frankfurter Beschützerin u. A.: „Gleig (gleich) dem Garten sehe ich recht des Menschen Leben. Wie der Gärtner die Blumen pflegt das sie an Wachstum und schönheit zunemen So müßen auch die Kindlein gepflegt werden, das auch sie an Körper und Geist zunemen. Auch ich bin gepflegt worden an Körper aber nicht an Geist und Gemüht das ist still und ruhig geblieben. Darum ist mein Gemüht so empfindlich das ich manches zu dulten habe. Gute Frau Sie werden manchen fehler finden aber ich hoffe Ihre Liebe zu mir wird es mir zu gut halten.“

Ganz aus diesem Gesichtspunkte beurtheilte sie eben Herr Eck, und seine Besorgnisse um ihre zarte Behandlung mehrten sich, als sie ihm gelegentlich Andeutungen fallen ließ, die er auf Flucht- oder Selbstmordgedanken beziehen konnte. So wußte sie ihm eines Tages eine Art letztwilliger Verfügung in die Hände zu spielen. Mit solchen Taktiken und mit ihren Thränen hatte sie viel Macht über ihn. In Bezug auf die Schwächen ihrer Umgebung hatte sie überhaupt einen außerordentlich scharfen Blick, dem nichts so leicht entging. Wie sehr sie es aber verstand, mit schönen Gefühlen zu kokettiren, beweist u. A. auch folgender Fall:

Eines Sonntags erschien sie äußerst betrübt nach dem Gottesdienst. Als man sie darum befragte, erklärte sie dies damit, daß der Pfarrer heut gepredigt habe, nach dem Tode würden die Guten belohnt, die Bösen bestraft; und nun werde sie ihre Mama, die nicht gut an ihr gehandelt, doch schwerlich im Himmel wiedersehen!! Und darüber betrübte sie sich herzinniglich!!!

Am 2. Januar sprach Caroline gegen ihren Lehrer die Bitte aus, ihn ferner „Papa“, seine Frau „Mama“, seine beiden Kinder „Bruder“ und „Schwester“ – sie Alle „Du“ nennen zu dürfen, was ihr auch gern zugestanden wurde. Sie äußerte darauf, daß sie jetzt in Hinsicht ihrer wirklichen Eltern keinen Wunsch mehr habe. „Ich habe ja meinen Papa und meine Mama gefunden. Meine Freude ist jetzt so groß, daß sie mich mehr drückt, wie ein Leid; lassen Sie mich jetzt nicht sprechen!“

Indeß, die Wahrheit des Spruches: „Der Frosch hüpft wieder in den Pfuhl, und säß’ er auch auf goldnem Stuhl!“ sollte sich auch an ihr erfüllen. Nachdem sie Herrn Eck schon öfter ihre Absicht kundgegeben, im K.’schen Hause nicht länger bleiben zu wollen, von ihm aber immer wieder zum Bleiben gedrängt worden war – verließ sie es eigenmächtig in der Frühe des 5. Mai 1857.

Und wohin wandte sie sich? In’s Gefängniß zu ihrer Deutsch-Mama zurück, mit der sie auch in der Zwischenzeit stets lebhaften Verkehr unterhalten, und der sie stets eine besondere Anhänglichkeit bewahrt hatte. Da ihre Rückkehr in’s K.’sche Haus nicht mehr wohl zu bewerkstelligen war, so ließ man sie bei ihrer Deutsch-Mama bis zum 21. October, wo sie dann bei der Familie eines Damenschneiders neuerdings in Kost gegeben wurde.

Die selbstständige Entfernung aus dem K.’schen Hause schadete ihr ungemein in den Augen aller Wohldenkenden. Doch mochte sie Herr Eck um deswillen nicht schon gleich aufgeben. Er veranlaßte sie auch zu der Bereiterklärung, die K.’s um Verzeihung zu bitten, worauf diese jedoch gern verzichteten.

Noch ein Mal sollte sie die Oeffentlichkeit bewegen – das letzte Mal!

Seit Mitte August 1857 war der Religionsunterricht des Mädchens aus Eck’s Händen in die eines würdigen protestantischen Geistlichen übergegangen, der sie nunmehr für ihre bevorstehende Aufnahme in die Christenheit – durch die Taufe – und in die evangelische Kirche – durch die Confirmation – vorbereiten sollte. Für diese Kirche hatte sie von Anfang an eine entschiedene Vorliebe bekundet, sich dagegen über gewisse Ceremonien und Bräuche der römisch katholischen Kirche (Ablaß, Knieen, Bekreuzigen, Anrufung der Heiligen etc.) so entschieden verächtlich und wegwerfend geäußert, daß dies einigermaßen auffiel, und um so mehr, als ihr bisher weder durch ihren Lehrer, noch durch ihre Umgebung derartige confessionelle Sympathien und Antipathien irgend eingeflößt worden waren.

Im Januar 1858 erschien aus uns unbekannter Feder der Artikel über Caroline in der „Gartenlaube“, und dieser Artikel hätte fast noch dem Schicksale unserer Heldin eine ganz andere Wendung gegeben. Ein wackerer und humaner Mann in einer großen Stadt Böhmens hatte sich nämlich dadurch für Carolinens Schicksale so sehr theilnehmend anregen lassen, daß er sich sofort mit ihrem Lehrer in Correspondenz setzte und den ernsten Willen kundgab, für ihre Zukunft etwas Entschiedenes zu thun. Die Eröffnung dieser Correspondenz geschah im März 1858 und Anfangs Juni trat er bestimmt mit folgenden Vorschlägen auf: Als verheiratheter, aber noch nicht mit Kindern gesegneter Mann in den besten Jahren und zugleich im Besitz eines sicheren und unabhängigen Vermögens erklärte er sich, im Einverständniß mit seiner Frau, bereit, Caroline wie „eine liebe und gute Schwester“ bei sich aufzunehmen, ihr in seinem Hause eine neue Heimath zu begründen, wo sie des Lebens Freud’ und Leid mit ihnen theilen solle; und für den Fall seines oder seiner Frau Ableben würde ihr eine feste, lebenslängliche Rente von 100 fl. C.-Mze. hypothekarisch sicher gestellt werden, wenn man sich nicht vielleicht im Laufe der Zeit veranlaßt sähe, noch mehr für sie zu thun.

Dies waren in Kurzem die Anerbietungen, welche der Ehrenmann in Bezug auf Caroline machte und die gewiß der höchsten Anerkennung werth sind. Aus jeder Zeile seiner Briefe spricht das edelste Wohlwollen, der uneigennützigste Edelmuth, das reinste Mitleid und zugleich eine Bildung, die das Beste für Carolinens Zukunft aus dem Umgange mit einem solchen Manne hoffen ließ. Von ihr verlangte er nur, daß Herz und Gemüth noch unverdorben und ihre Gestalt und Züge, wenn auch nicht eben schön und regelmäßig, doch auch nicht mißfällig, und insbesondere der Gesichtsausdruck nicht ohne geistiges Leben sei. Inwiefern Caroline diesen Anforderungen entsprach oder nicht, bleibe dem Leser nach dem Bisherigen selbst zu entscheiden anheimgestellt. Herr Eck, der sich natürlich verpflichtet fühlte, die sich seinem Schützling bietende Aussicht in eine freundliche Zukunft möglichst realisiren zu helfen, der aber doch, bei aller Vorliebe für dieselbe, sich gewisse Bedenken nicht verhehlen mochte, Herr Eck war so gewissenhaft, jenem Menschenfreunde im „beiderseitigen“ Interesse vorzuschlagen: Carolinen erst auf einige Zeit zur Probe in sein Haus zu nehmen, bevor er sich endgültig über sie entscheide; ein Vorschlag, der auch andererseits volle Zustimmung fand. Wie sehr sich der treffliche Mann dabei auf den rein menschlichen Standpunkt erhob, beweise unter Anderem die Thatsache, daß er bei seinen Bedingungen die religiöse, resp. confessionelle Seite auch mit keiner Sylbe berührte!

Als Herr Eck Carolinen die erste Mittheilung von dem ihr bevorstehenden Glücke machte, rollten, wie gewöhnlich, reichliche Thränen über ihre Wangen, Seine Frage, ob sie auf das gütige Anerbieten eingehe, bejahte sie entschieden. Weiter äußerte sie ihre Meinung dahin: „Ich zweifle nicht, daß ich die Leute liebgewinne; das sind ja so gute Menschen, daß ich sie jetzt schon liebe. Und wenn man weiß, daß man so liebevoll aufgenommen wird, wie diese Leute schreiben, so muß man ja, man kann nicht anders, diese Liebe mit Liebe erwidern. Darauf, wie man behandelt wird, kommt Alles an!“ Auf Herrn Eck’s Veranlassung schrieb sie auch sogleich ohne alle Beihülfe in diesem Sinne an das ihr so geneigte Ehepaar nach Böhmen. Ihre Reise dorthin sollte stattfinden, sobald sie durch ihre bevorstehende Confirmation (bei welcher Gelegenheit sie zugleich zum ersten Male das Abendmahl empfangen sollte) in [736] die evangelische Kirche aufgenommen sein würde, nachdem sie zuvor durch die Taufe in die christliche Gemeinschaft im weitesten Sinne Aufnahme gefunden. Ihre Fortschritte in Erkenntniß und Aufnahme der evangelischen Lehre waren so erfreuliche, und ihr Geistlicher war auch hier so sehr mit ihr zufrieden, daß ihre Confirmation bereits für den Schluß des ersten Jahres ihres genossenen Confirmationsunterrichts – also für Mitte August 1858 – in Aussicht gestellt werden konnte. Allein es sollte ganz anders kommen.

Es kam nämlich zwischen Carolinen und ihren dermaligen Kosthaltern zu so ernstlichen Mißhelligkeiten, daß ein längeres Verbleiben bei ihnen für beide Theile unthunlich erschien. Besonders war es der nähere und vertraute Umgang mit mehreren Personen außer dem Hause (jedoch kein Umgang unerlaubter Art mit Personen anderen Geschlechts), von dem man eben nicht den besten Einfluß auf sie erwarten durfte und den Caroline, trotz des Verbotes sowohl des Hausherrn als ihres Lehrers, dennoch fortunterhielt, welcher störend auf ihr gutes Einvernehmen mit Ersterem und dessen Frau hinwirkte. Daß dieser ihr einst im Unmuthe äußerte: „sie könne unmöglich von hoher Abkunft sein, sie sei eine Abenteurerin“, hat sie ihm, wie natürlich, sehr übel aufgenommen und nie vergessen können.

Nachdem es aber eines Tages zu ernstlichen Conflicten zwischen ihr und ihren dermaligen Kosthaltern gekommen war, fand sich Herr Eck veranlaßt, auch diesem unhaltbaren Zustande ein Ende zu machen und Caroline bis auf Weiteres, mit Erlaubniß der städtischen Behörde, in sein eigenes Haus aufzunehmen, und zwar auch hauptsächlich in der Absicht, sich einmal aus eigner Erfahrung und Anschauung davon zu überzeugen, ob denn die Aufführung Carolinens wirklich der Art sei, daß sie zu fortwährenden Klagen gegründeten Anlaß gäbe – ein Schritt, zu dem er sich auch ganz besonders jenem Herrn in Böhmen gegenüber moralisch verpflichtet fühlte, der Carolinen adoptiren wollte. Am 12. Juli 1858 nahm Eck seine Schülerin zu sich in die eigene Familie, und damit beginnt der letzte Act in dem Drama ihres hiesigen Lebens. Es war der Anfang vom Ende.

Eck fand nur zu sehr, daß manche der über Carolinen geführten Klagen allerdings begründet war, wenn schon er sich immer noch geneigt zeigte, manchen ihrer Fehler aus den eigenthümlichen und vielfach traurigen Schicksalen ihres Lebens herzuleiten und demgemäß zu entschuldigen. Auch war sie ihm gegenüber noch ganz besonders auf der Hut, wohl wissend, daß mit ihm ihr letzter Rückhalt stand und fiel, und hatte sich auch bis dahin, was besonders zu berücksichtigen ist, von ihm noch nie auf einer Unwahrheit ertappen lassen.

Inzwischen hatte der Gemeinderath Carolinen zu Ende Juni 1858 das Heimathsrecht der Stadt Offenbach, wie schon Anfangs in Aussicht gestellt, zuerkannt, und es nahte nunmehr die Zeit ihrer Taufe und Confirmation heran. In ersterer wünschte, sie den Namen ihres „Papa“ Eck zu empfangen, da dies jedoch aus verschiedenen Gründen unthunlich erschien, so wurde beschlossen, vor den Namen „Eck“ noch einfach das „B“ zu setzen, womit ihr mehrerwähntes Halstuch gezeichnet war („Caroline B“), und sie auf den Namen „Caroline Beck“ zu taufen. Diese Namensannahme wurde dem Ministerium, in dem man sich ebenfalls für den Findling lebhaft interessirte, zur Gutheißung vorgelegt, der man denn auch täglich entgegensah. Inzwischen hatte sie ihre Frankfurter Gönnerin in einem rührenden, echt kindlichen Briefe eingeladen, ihr bei der Taufe Pathin zu stehen; der uns, wie alle übrigen, im Original vorliegende Brief ist kalligraphisch sehr schön, aber in etwas großen, schulmäßigen Zügen geschrieben.

Die Dame hatte auch bereitwilligst die Pathenstelle angenommen, und sie mit einem schönen Confirmationskleide und sechs feinen Hemden beschenkt.

Da Herr Eck sich indeß nicht verhehlen konnte, daß Carolinens Betragen doch nicht der Art sei, sie schon jetzt mit gutem Gewissen in ihre neue Heimath nach Böhmen entlassen zu können, so beschloß er, sie noch bis zum nächsten Frühjahr unter seiner speciellen Aufsicht und Zucht im eignen Hause zu behalten, und wollte eben in diesem Sinne dorthin schreiben, als bei ihm (Mitte Juli) ein Brief von da eintraf, worin ihm Carolinens zukünftiger Adoptator anzeigte, daß ein plötzlicher Todesfall in seiner Verwandtschaft es ihm leider für’s Erste unmöglich mache, sein Vorhaben bezüglich ihrer auszuführen, indem jetzt seine Hülfe nach anderer Seite hin nothwendig werde. Aufgeschoben sei indeß nicht aufgehoben, und er sei bereit, Caroline, wenn sie ferner noch den Wunsch hege, zu ihm nach Böhmen zu kommen, und ihre Existenz für die Zukunft in Offenbach nicht genügend gesichert sei, schon allenfalls im nächsten Jahre zu sich nehmen; inzwischen bleibe es Caroline unbenommen, sich jederzeit mit billigen Anliegen und Wünschen selbst an ihn zu wenden, in welchem Falle er immer geneigt sein würde, ihr mit der wärmsten Theilnahme die Freundeshand zu bieten.

Dieser Aufschub kam Herrn Eck ganz erwünscht. Caroline selbst nahm ihn mit jener stumpfen Ruhe und anscheinenden Gleichmüthigkeit auf, die ihr eigen war, und schien weder sehr betrübt, noch sehr erfreut darüber. Ob und wie die Uebersiedlung nach Böhmen überhaupt in ihre Pläne paßte oder nicht, was in Bezug hierauf im Grunde ihrer Seele eigentlich vorging, – wer wollte es sagen?!…

Wenige Tage darauf erfolgte die unerwartete Katastrophe.

Es war am Sonntag den 25. Juli, daß Herr Eck seine Schülerin auf einer eclatanten Lüge betraf, für seine Ueberzeugung das erste Mal. Sie leugnete ihm auf’s Bestimmteste die Unterredung mit einer Person ab, von der er selbst aus der Ferne ungesehen Zeuge gewesen war, und sie leugnete hartnäckig.

Man kann sich leicht denken, was bei dieser Entdeckung Alles in Eck’s Seele vorging! Mit dieser Einen Lüge schien der ganze kühne Aufbau seiner Hoffnungen und seiner Ueberzeugungen in Betreff Carolinens plötzlich wie ein leichtes Kartenhaus in Trümmer zu sinken – ein Bau, an dem er fast vier Jahre hindurch mit liebevoller, uneigennütziger Hingebung gearbeitet, für dessen feste Begründung er öffentlich mit seinem Namen in die Schranken getreten war!

Diese jähe Enttäuschung lieh Herrn Eck Worte der äußersten sittlichen Entrüstung gegenüber der falschen Betrügerin. Auf einer so frechen Lüge ertappt, äußerte er ihr, vermöge er jetzt auch keinen Augenblick an ihre sonstige Wahrhaftigkeit zu glauben. Ihre ganze Geschichte, Alles, was er in seiner Schrift veröffentlicht, müsse er jetzt für Lüge erkennen. Sie sei nun entlarvt, ihre Rolle zu Ende gespielt. Er werde ihr ferner keinen Unterricht mehr ertheilen, auch seine Hand ganz von ihr abziehen.

Caroline stand zerknirscht und niedergeschmettert. Sie versuchte keine Entschuldigung und ging später auf ihr Zimmer. Nach einiger Zeit kam sie zurück, setzte sich auf das Sopha, legte den Kopf auf die Seitenlehne, verbarg ihr Gesicht und schien zu weinen. Auf ihrem Zimmer hatte sie nachstehende Worte mit Bleistift niedergeschrieben und das Blatt, anscheinend auch von Thränen befeuchtet, offenbar in großer Aufregung geschrieben, wie die Schriftzüge verrathen, ihrem Lehrer übergeben; es ist die letzte schriftliche Aeußerung, welche wir von ihr besitzen:

 „Lieber Papa
„thue wie ich nach mein vergehen vertiend habe ich habe keine hoffnung bei der Mama ihre Liebe und verthraun (Vertrauen) zu gewinnen habt auch weiter kein mitleit mit mir verßtoßt mich es mach (mag) aus mir wärn (werden) was da will denn eine Bitte wache (wage) ich nicht zu thun“ (Ohne Datum und Unterschrift.)

Herr Eck, bei dem sich inzwischen die erste Aufwallung gelegt, war doch nicht der Mann dazu, seinen ihm so sehr an’s Herz gewachsenen Pflegling um der ersten Lüge willen gleich fallen zu lassen. Er sah ihre äußerste Zerknirschung, er las jene Zeilen, in denen sie sich ihm gleichsam auf Gnade und Ungnade überlieferte; zu alle dem kam auch noch seine schon früher mitgetheilte Besorgniß, sie möchte sich ein Leid anthun und ihr Leben vielleicht durch Selbstmord enden. Er hielt es also für Pflicht, noch einmal am Abend desselben Tages Worte der Beruhigung und ernsten Ermahnung an Caroline zu richten und ihr zu sagen, daß noch Alles gut werden könne, wenn sie ernstlich Besserung gelobe. Anscheinend etwas beruhigter wurde sie darauf von ihm zur Ruhe entlassen.

In später Nachtstunde noch hörte sie Herr Eck die Treppen herabkommen und versuchen, die Hausthüre zu öffnen; sie schien unwillig, daß sie dieselbe fest verschlossen fand.

Am nächsten Morgen (26. Juli 1858) erschien sie wie gewöhnlich beim Frühstück der Familie; man bemerkte nichts Ungewöhnliches an ihr, sie war still und in sich gekehrt, wie sie das oft war. Sie strickte. Gegen halb zehn Uhr legte sie den Strickstrumpf bei Seite und verließ das Zimmer, um nicht mehr zurückzukehren. Als ihr Ausbleiben nach einiger Zeit auffiel und man im Hause nach ihr suchte, war sie nirgends aufzufinden. Sie war und blieb verschwunden.

[747]
Ihre Flucht. – Einige Fragen. – Carolinens Jugendjahre. – Der Besuch im Zuchthaus. – Ihre Bekenntnisse. – Woher sie ihre Betrugsgeschichte genommen. – Schluß.

Das räthselhafte Verschwinden Carolinens gab natürlich zu den verschiedensten Vermuthungen Anlaß. War sie selbstständig, aus eignem Antrieb entwichen, oder war sie entführt worden? War sie entflohen, ihrem Leben ein Ende zu machen, oder, den Schauplatz ihrer seitherigen Thaten verlassend, auf neue Abenteuer auszuziehen?

Wenn sie, wie Viele anzunehmen gereizt waren, in Folge einer Entführung verschwunden war, so konnte dies, allen Umständen nach, keinenfalls eine gewaltsame gewesen sein; vielmehr schien es dann eine Entführung mit ihrer eigenen Zustimmung zu sein, eine Entführung, zu der sie möglicher Weise überredet worden, um sie in irgend einen Hinterhalt zu locken und dort, wie Kaspar Hauser, vielleicht zu tödten. Denn zu anderm Zweck schien eine Entführung nicht anzunehmen, muthmaßlich also stand diese mit ihrer Geschichte in directem Zusammenhang.

Mit ihr verschwunden waren von beweglichen Gegenständen, außer der Kleidung, die sie am Leibe trug, nur noch jene sechs neuen Hemden, mehrere Halstücher und ein grauwollener Shawl – sämmtliche Gegenstände ihr gehörig.

Das Haus, worin Herr Eck wohnte, lag am äußersten südwestlichen Ende der Stadt, an der nach Darmstadt führenden Chaussee, von wo sich weite Wiesen nach den städtischen Promenaden und Waldungen hinziehen. Jene Promenade führt von der Darmstädter auch zur Frankfurter Chaussee hinüber. Diesen Weg scheint sie eingeschlagen zu haben, denn ein hiesiger Mann begegnete ihr selbigen Morgens unfern der Stadt auf dem Wege nach Frankfurt. Sie trug nichts in der Hand (muß also wohl jene Kleidungsstücke schon vorher fortgeschafft haben) und schien sehr eilig.

Auf seine Frage „wohin?“ antwortete sie, sie habe für ihren Papa etwas zu besorgen.

Daß ihre Entweichung keine ganz selbstständige gewesen, darauf schien ihre Unterredung vom vorigen Tage mit einer jener Personen hinzudeuten, mit denen ihr der Umgang schon früher untersagt worden war – eine Unterredung, die sie gegen Herrn Eck so entschieden in Abrede gestellt hatte.

Obgleich die Sache selbst hier großes Aufsehen erregte und auch den Weg in einige öffentliche Blätter nahm, so vermied man doch absichtlich, öffentliche Schritte in dieser Angelegenheit zu thun, und suchte mehr im Stillen, unter möglichster Vermeidung allen Eclats, der Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Aber es wollte sich keine solche zeigen, bis endlich nach Verlauf von vierzehn Tagen, am 9. August, die bereits Eingangs erwähnte Botschaft des Neustädter Landgerichts hier eintraf und plötzlich Licht in das Dunkel brachte – freilich auch nebenbei neue Räthsel mit sich im Gefolge führte.

Nach jener officiellen Mittheilung war nicht daran zu zweifeln, daß „Caroline Kunigunde Lechner“ Offenbach freiwillig verlassen hatte, um sich ihren heimathlichen Behörden wieder zu überliefern, Sie hatte vermuthlich von Frankfurt aus die bairische Eisenbahn bis Aschaffenburg benutzt – (wie sie das Fahrgeld bestritt, ist uns nicht bekannt geworden; vielleicht hat sie, da sie kein Geld von hier mitnahm, einige von ihren Kleidungsstücken verkauft, möglicherweise auch den Ring, den ihr einst ihre Frankfurter Beschützerin geschenkt, und übrigens fehlte es ihr ja nie an Mitteln zu ihren Zwecken) – um rascher in’s Bairische hinüberzukommen, denn schon am Tage nach ihrer Flucht wurde sie zu Hessenthal im Spessart, etwa 1½ Stunden östlich von Aschaffenburg, festgenommen. Sie befand sich dort auf der directen Landstraße nach ihrer mittelfränkischen Heimath; diese Straße führt nämlich über Würzburg nach Nürnberg: zwischen beiden liegt Neustadt, in dessen Frohnfeste die Arrestantin jetzt zur Untersuchungshaft eingethan wurde. Die aus Offenbach mitgenommenen Halstücher und sechs Hemden führte sie bei sich.

Kaum waren diese Nachrichten in’s Publicum gedrungen, als man sich der Ansicht zuzuneigen begann, die von einigen Seiten her aufgestellt wurde: daß „Caroline“ wohl deshalb die Flucht ergriffen habe, um nicht durch ihre bevorstehende Taufe und Confirmation eine neue und schwere Sünde auf sich zu laden, indem sie mit beiden heiligen Handlungen, wenn sie dieselben zum zweiten Mal über sich ergehen lasse, ein frevelhaftes Spiel treibe. Denn daß sie Taufe und wohl auch Confirmation schon früher empfangen, unterlag jetzt wohl keinem Zweifel mehr. War sie aber gar ursprunglich katholischer Confession, so konnte es mehr noch der Uebertritt zur evangelischen Kirche gewesen sein, der sie von hinnen trieb.

Dagegen machte Herr Eck (und ebenfalls nicht ohne Grund) eine andere Ansicht geltend. Nicht sowohl die Furcht vor einer neuen Gewissensschuld, sagt er, hat die Gewissenlose in die Flucht getrieben – bereitete sie sich doch seit Monaten schon mit ziemlicher Ostentation auf Taufe und Confirmation vor, und sprach auch in dem mitgetheilten Briefe an die Frankfurter Dame in Bezug darauf als von „ihrem Glücke“ –, sondern wohl hauptsächlich die Ueberzeugung, daß mein Glaube an ihre Wahrhaftigkeit einen so gewaltigen Stoß erlitten, daß ich ihr gesagt: „Jetzt bist Du entlarvt!“ daß somit ihr festester Rückhalt und Schutz in mir so tief erschüttert worden, und sie sich fortan der schärfsten, mißtrauischsten Ueberwachung von mir zu gewärtigen hatte.

Die nach dieser Lösung noch immer ungelöst gebliebenen, ja zum Theil sich erst neu ergebenden weiteren Räthsel und Fragen aber sind hauptsächlich diese:

1) Was bestimmte „Caroline B.“ in Wirklichkeit, gerade jetzt ihre Maske fallen zu lassen und sich zur „Kunigunde Lechner“ unsaubern Andenkens zu entpuppen, um eine ganz leidliche Situation und eine sich ihr durch Adoption möglicherweise noch bietende erfreuliche Zukunft wieder mit der Vagabundenlaufbahn zu vertauschen, in deren Hintergrund ihr von Neuem die Zwangsanstalt winkte?

2) Wenn sie von Profession eine „Vagabundin“ ist, wie erklärt sich’s da, daß sie während ihres ganzen hiesigen Aufenthaltes sich nachweislich keiner einzigen unsittlichen und auch keiner unehrenhaften Handlung im Punkte des Eigenthums schuldig machte?

3) Woher nahm sie den Stoff zu ihrem wunderbaren Märchen, den sie in einer Weise bearbeitete, der jedem Dichter Ehre machen würde? Hat sie ihn aus Romanen geschöpft und „frei bearbeitet,“ oder ist Alles die originale Erfindung ihres eigenen Genie’s gewesen? Oder aber ist am Ende doch ein Titelchen Wahrheit an der Geschichte, und diese vielleicht von einer andern Person („Adolf!“), die sie auf ihren Irrfahrten, kennen lernte, zum Theil so erlebt worden? Was hat sie überhaupt in dieser Hinsicht erlebt oder erfahren? Hat sie ein Schloß, wie das beschriebene, und eine Waldwohnung, wie die geschilderte, wirklich einmal irgendwo gesehen, eine Zeit lang darin gelebt, oder sonst in Beziehungen dazu gestanden?

4) Woher hat sie ihr Ungarisch?

5) In welcher Beziehung steht sie zu dem berüchtigten Hause bei Stockstadt?

6) Warum war die Kluge darin so sehr unklug, daß sie, wenn doch einmal eine Maske, keine liebenswürdigere vornahm, daß sie sich nicht eifriger bestrebte, durch zuvorkommendes, freundliches Wesen sich alle Herzen zu erobern, was ihr, der so in Verstellung Geübten, doch um so weniger schwer fallen konnte, als ihr im Anfang alle Herzen theilnehmend entgegenschlugen, und was ihr nicht abzusehende Vortheile bringen mußte?!

Als die Seitens der diesseitigen Behörden wiederholt und dringend von dem Neustädter Landgerichte nachgesuchten Mittheilungen über die Antecedentien der Demoiselle „Caroline B.“, geborenen Kunigunde Lechner, der Himmel weiß warum, ausblieben und immer ausblieben, beschlossen zwei hiesige, mit ihrer Offenbacher Geschichte und ihr selbst völlig vertraute Männer sich persönlich nach Neustadt und zu „Carolinen“ auf den Weg zu machen, um an Ort und Stelle aus dem klaren Borne eigner Wahrnehmung und Anschauung zu schöpfen. Es waren zugleich Männer, die das lebhafteste moralische Interesse an ihr nehmen, und zu denen auch Caroline das vollste Vertrauen haben mußte: der Geistliche, welcher sie demnächst confirmiren sollte, und jener Candidat und Lehrer, der als Schwiegersohn der K.’schen Eheleute so lange Zeit in tagtägliche [748] Berührung mit unserer Delinquentin gekommen war — sie Beide benutzten Mitte September l. J. eine Woche ihrer Herbstferien zu einem Ausflug in die fränkischen Gaue, dessen Hauptziel der Ort sein sollte, wo sie Carolinen finden würden. Galt es doch auch, was Einige noch immer bezweifelten, ihre Identität mit der Kunigunde Lechner festzustellen. Diese Identität bestand allerdings, und zwar fanden die Herren Carolinen, nachdem sie sich vorher deshalb mit dem königl. bairischen Landgericht zu Neustadt persönlich benommen hatten, in der Zwangs-Arbeitsanstalt zu Kloster Ebrach. Dieses ehemals so reiche und große Cisterzienser-Kloster liegt äußerst romantisch in einem Thale des Steigerwaldes, etwa fünf Stunden westlich von Bamberg, und beherbergt an siebenhundert Verbrecher! Unter ihnen auch jetzt neuerdings wieder unsere bekannte „Unbekannte“, die Heldin unserer Geschichte.

Folgende Mittheilungen über ihre Vergangenheit und Gegenwart verdanken wir den umsichtigen Nachforschungen und Ermittlungen, welche beide Herren in dortiger Gegend, und zwar besonders beim Gerichte zu Neustadt, in Ebrach und am Orte ihrer Geburt über sie anstellten.

Dieser Ort ist Linden, woselbst unsere ungarische Magnatentochter am 23. Mai 1831 das Licht der Welt erblickte. (Ihr Alter betrug demnach bei ihrer Hierherkunft 22½ Jahre, was ziemlich mit den hierüber aufgestellten Annahmen [22—24 Jahre] stimmt, dermalen 27½ Jahre.) Linden ist ein sehr kleines und armes Dorf, die Gemeinde eine Filiale der evangelischen Pfarrei Gerhardshofen, Landgerichtsbezirks Neustadt a. Aisch und etwa 2½ Stunden von da entlegen. Die ganze dortige Gegend, zum ehemaligen Fürstenthum Ansbach und Baireuth gehörig, bildet nämlich eine protestantische Enclave des katholischen Baiern. Auch Kunigunde ist protestantisch getauft und confirmirt worden. Sie ist das uneheliche Kind der Anna Barbara Lechner aus Linden, welche sich einige Jahre darauf mit dem Steinhauer Nahr von da verheirathete. Dieser Mann, welchen die Herren, als sie nach Linden kamen, nicht sprechen konnten, da es hieß, er liege auf den Tod krank darnieder, erfreute sich daheim und in der Umgegend nie des besten Rufes. Als „die Gundel“, wie man sie dort allgemein nannte, sechs Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Stiefvater verheirathete sich wieder, und so bekam das Mädchen auch noch eine Stiefmutter. Bei diesen Stiefeltern, mit denen sie durch keinerlei Bande des Blutes verknüpft war, hatte es die Kleine schlecht genug. Die Leute waren überdies sehr arm, und Nahr schickte die Gundel und zwei jüngere Geschwister schon von klein auf betteln. Mit einem Rechen, den sie anscheinend zum Verkauf anboten, zogen sie im Lande herum; unter dieser Maske aber betrieben sie den geschäftsmäßigen Bettel. Wenn sie nichts mit heimbrachten, bekamen sie noch, wie das so in den Lehrjahren der freien Kunst des Bettelns üblich ist, Schläge dazu. Dies veranlaßte Kunigunde, bei der unter solchen Umständen von einer Erziehung nicht die Rede sein konnte, das Weite zu suchen. Als sie durch die Polizei wieder heimgebracht wurde, verweigerte der Stiefvater (ihr rechter Vater war schon früher nach Amerika ausgewandert) ihre Aufnahme. Sie ging deshalb, wie man dort zu Lande sagt, bei den Ortsbewohnern „in die Zeche“, d. h. da die dortige Gemeindecasse nicht im Stande ist, für uneheliche Waisen (und eine Waise war ja Kunigunde gewissermaßen) Pflegegeld zu bezahlen, so müssen die Bewohner solche Kinder der Reihe nach aufnehmen und ernähren. Die Behandlung, welche der ungebetene Gast hierbei genoß, wird sicher auch nicht die beste gewesen sein, und wirklich entzog sich Kunigunde durch neue Entweichungen in größere Ferne diesem Zustand noch öfter, wurde aber immer wieder heimgebracht.

Weil sie die Schule in dem benachbarten Orte Birnbaum (denn in Linden selbst ist keine) so wenig und so lückenhaft besucht, wurde sie erst im 15. Lebensjahre, nämlich auf Pfingsten 1846 zu Gerhardshofen confirmirt. Sie bekam bei dieser Gelegenheit im Confirmandenregister bezüglich ihrer Befähigung (!), ihres Fleißes und ihrer Kenntnisse die schlechteste Nummer!! Etwas Lesen, Schreiben und einige Bibelsprüche hat sie sich aber doch jedenfalls angeeignet. Es währte nicht lange, so entfernte sie sich auf’s Neue von ihrer Heimath. Um nicht wieder dahin zurückkehren zu müssen, verheimlichte sie, im südlichen Baiern aufgegriffen, drei Vierteljahre lang Name und Herkunft, und blieb während dieser Zeit fortwährend in Untersuchungshaft. Auf Grund dieses Schweigens erhielt sie dann, als sie sich endlich doch zu erkennen gab, ihre erste eigentliche Strafe, indem man sie auf ein Vierteljahr als Novize nach Kloster Ebrach schickte.

Nicht lange nach überstandener Strafe ging sie weiter, als je zuvor – nämlich nach Ungarn. Dies war im Jahre 1848. Nach mehrjähriger Abwesenheit daselbst (sie hat also gerade die Zeit während der Revolutionskriege in Ungarn verlebt, und verdankt sicher ihren dortigen Erlebnissen manche Erfahrungen, die sie später für ihre Geschichte verwerthete) wurde sie abermals wieder in ihre Heimath zurückgebracht. Zum zweiten Mal wurde sie Bewohnerin von Kloster Ebrach. Als sie ihre Strafzeit überstanden, brachte sie das große Meisterstück ihres Lebens, das sie sich vermuthlich im Stillleben ihrer Zelle ausgedacht, zur Ausführung. Sie hatte beschlossen, um erfolgreicher als bisher aufzutreten, die Rolle eines verstoßenen oder geraubten und ausgesetzten Kindes von vornehmer Herkunft zu spielen, und überschritt zu diesem Behufe abermals die bairische Landesgrenze. Wo und wie sie diese Rolle spielte, ist dem Leser bereits zur Genüge bekannt geworden.

Wegen wiederholten Vagabondirens ist Kunigunde zu neuer achtmonatlicher Haft verurtheilt. Bei diesem Urtheil ist also ihr kolossaler Betrug gar nicht mit in Frage gekommen, entweder weil er, den eigenthümlichen Umständen gemäß, nach dortigen Gesetzen gar nicht strafbar ist, oder man ließ ihn absichtlich fallen, um der freiwillig und wie es schien, reumüthig Geständigen kein allzuhohes Strafmaß zuerkennen zu müssen, was man formell um so eher konnte, als kein Kläger gegen sie auftrat. Und, „wo kein Kläger, da kein Richter.“ Sie war nur verurtheilt, weil sie sich neuerdings ohne Papiere auf offener Landstraße einherziehend hatte betreten lassen.

Der Herr Landrichter zu Neustadt, welcher uns als ein äußerst humaner Mann geschildert wird, hat den Offenbacher Herren erklärt, ihr jetziges Auftreten und Benehmen unterscheide sich in jeder Hinsicht auf's Vortheilhafteste von ihrem früheren, und die ihr in Offenbach zu Theil gewordene Erziehung gebe sich in ihrem ganzen Wesen auf’s Unzweideutigste kund. Er bezeugt ihr überdies, daß in dem dicken Actenstoß, den er über sie besitze, von Unehrlichkeit und unzüchtigem Wandel, wie sich dies auch von ihrem hiesigen Leben sagen läßt, nichts enthalten, und sie bisher lediglich wegen Landstreicherei in Strafe gekommen sei. Ueber ihre Vergangenheit und ihre jetzigen Aussagen hat er ein ausführliches Schriftstück entworfen, das für die hiesige Behörde bestimmt ist, und von dem wir nur nicht zu begreifen vermögen, warum es nicht längst schon hierher abgesandt wurde. Wären aber nicht jene Herren persönlich nach Neustadt gereist, so wüßten wir wahrscheinlich bis heutigen Tages noch nichts officiell, wer und was „Caroline“ eigentlich war und ist, und – das ist zum Mindesten nicht sehr höflich von jener Stelle gewesen, die man von hier aus deshalb wiederholt um Auskunft anging!

In ihren zu Protokoll genommenen Aussagen erklärte Kunigunde auf das Entschiedenste als Grund ihrer Entweichung von Offenbach: daß ihr die Sünde, sich noch ein Mal taufen und confirmiren zu lassen, zu schwer erschienen sei, als daß sie dieselbe auf sich zu laden vermocht habe. Ferner erklärte sie zu Protokoll, daß ihre Rolle im Anfange leichter gewesen, als gegen das Ende – während Verfasser dieses, wie sich der Leser erinnern wird, gerade das Gegentheil vermuthete, und wohl alle Leser mit ihm. Denn „ce n’est que le prémier pas qui coûte“, und es deuchte uns leichter zu reden, denn zu schweigen, und leichter natürlich zu reden, als verstellt. Anders Carolinen. Wie leicht ihr das Schweigen fiel, hatte sie damals schon bewiesen, als sie drei Vierteljahre lang ihren Namen verschwieg; und die sprachliche Verstellung selbst scheint für sie mindere Gefahr der Entdeckung mit sich geführt zu haben, als ihre Stellung, nachdem sie anscheinend so viel Deutsch erlernt hatte, sich mit größerer und endlich mit völliger Freiheit darin auszudrücken. Denn jetzt erst, sagt sie, sei sie stündlich Gefahr gelaufen, sich zu verrathen, jetzt, wo sie reden konnte und nun auch überall reden, erzählen, sich mittheilen sollte, wo Jedermann ihre Geschichte im Zusammenhang wieder und immer wieder von ihr hören wollte, und sie doppelt auf der Hut sein mußte, sich nie zu widersprechen, was früher, wo sie nur sehr wenig und sehr abgebrochen, unzusammenhängend sprach, bei weitem nicht so sehr zu fürchten gewesen. Auch habe sie durchaus nicht so viel zu erzählen gewußt, als sie nun absolut erzählen sollte. Darum und nur darum habe sie sich auch zwingen müssen, so unliebenswürdig zu sein, sich von den Menschen abzusondern, zurückhaltend, wortkarg, einsylbig zu werden, oder eigentlich nur zu scheinen. Sie sei in beständiger Furcht gewesen, sich zu verrathen, und diese Furcht habe sie manche Nacht nicht [749] schlafen lassen. Ihrem Drange nach Mittheilung doch einigermaßen zu genügen, habe sie sich in vertrauteren Umgang nur mit ungebildeten Personen niedern Standes, mit Dienstboten u. s. w. eingelassen, von denen sie sich nicht so scharf beobachtet wußte, und bei denen sie sich daher unbefangener geben konnte.

Mit Gefühlen besonderen Dankes erinnerte sie sich auch der im K.’schen Hause genossenen Wohlthaten. Es sei ihr oft hart angekommen, so unfreundlich gegen Frau K. zu sein und ihr soviel Anlaß zu Aerger zu geben; aber sie habe so thun müssen, um nicht durch die Gefühle von Dankbarkeit, Liebe und Freundschaft warm zu werden, und in einer schwachen Stunde Alles zu verrathen. So panzerte sie denn ihre Brust mit dreifachem Eis und Erz, und wenn ihre Gefühle wirklich dann und wann zum Durchbruch kamen, so geschah es in Gestalt jener Thränen, für deren Erklärung sie dann wieder, um sich nicht zu Bekenntnissen drängen zu lassen, zu neuen Lügen greifen mußte. So umstrickte sie sich immer mehr mit ihrem Lügengewebe und fiel zuletzt in ihre eigenen Netze. Die für ihre Rolle beste Politik: nur wenig zu sprechen, um sich nicht zu versprechen und auf alle Fragen meist erst nach öfterer Wiederholung derselben zu antworten, um inzwischen Zeit zu gewinnen, sich die Antwort reiflich zu überlegen – dieses Verfahren, im Anfang ihres Hierseins auf ihrer Unkenntniß der Sprache nur zu erklärlich, mußte ihr später, als dieser Grund wegfiel, natürlich für baare Unliebenswürdigkeit, Maulfaulheit und Verstocktheit gedeutet werden. Die K.’sche Familie hatte es so oft beklagt, daß sich Caroline nicht familiärer an sie anschließe, allen Bemühungen zum Trotz nicht herzlicher, zutraulicher werde – jetzt ist das Alles erklärt und das Räthsel ihrer Unliebenswürdigkeit dazu.

Zu verwundern bleibt, daß Kunigunde bei ihren Protokollaussagen ihres wackern Lehrers Eck mit keiner Sylbe gedacht! War es vielleicht eine unbesiegliche dumpfe Gewissensscheu, die sie hinderte, auch seiner dankend und freundlich zu gedenken, seiner, der unter Allen am meisten für sie gethan, der am schmählichsten von ihr betrogen, am tiefsten von ihr gekränkt wurde? Fast will es uns so bedünken, denn daß sie ihm Zuneigung geheuchelt, was sie im Grunde gegen Niemand gethan, wo sie keine empfand, vermögen wir nicht anzunehmen. Wie sehr tief sie sich früher als ihm verschuldet bekannte, beweist am schlagendsten eine Scene, von der wir nicht glauben können, daß sie nur gespielt war. Eines Tages nämlich, als sie sich mit ihm allein beim Unterricht befand und er ihr in seiner tiefeindringlichen Weise zu Gemüth und Gewissen sprach, sank sie plötzlich laut weinend vor ihm in die Kniee und rief mit einer Gebehrde höchster Verehrung gegen ihn: „Sie sind mein Retter!“ …

Herr Eck schildert noch jetzt den Eindruck dieser Scene als hochergreifend und unvergeßlich, und wenn sie wirklich etwas dem nur entfernt Aehnliches in diesem Moment empfand, so müssen wir um so fester an die Möglichkeit ihrer Rettung glauben.

Den Stoff zu ihrer Betrugsgeschichte gab sie an, größtentheils „aus Schriften,“ nicht aber aus dem wirklichen Leben geschöpft und dann, mit eigenen Zuthaten versehen, durch Combination weiter ausgeführt und in freier Weise bearbeitet zu haben. Die Geschichte von Kaspar Hauser, die ja ganz in dortiger Gegend, besonders aber in Nürnberg und Ansbach spielte, kann Kunigunden nicht unbekannt und auf ihren Entschluß nicht ohne Einfluß geblieben sein. Sollte sie aber nicht vielleicht auch einmal die Erzählung „Heinrich von Eichenfels,“ vom Verfasser der Ostereier gelesen haben, die auf allen Jahrmärkten um ein Geringes dem Volke feilgeboten wird? Manches in ihrer „Geschichte“ scheint auf eine „freie Benutzung“ dieser Erzählung hinzudeuten. Der Vater Heinrich’s, der Graf von Eichenfels, zieht in’s Feld und wird verwundet; Heinrich wird von einer Zigeunerin als kleines Kind aus dem Schloß geraubt und in eine verborgene Gebirgshöhle zu Räubern gebracht; diese liefern dem unterirdischen Haushalt Brod, Fleisch und Gemüse. Die alte Zigeunerin (eine Art Bertha!) gibt dem kleinen Heinrich gut zu essen, sein geistiges Leben bleibt aber ohne alle Nahrung und besonders sagt sie ihm nie ein Wort von Gott. Ein Miniaturbild seiner Mutter (das Medaillon) hat die Alte zugleich mit dem Kinde gestohlen. Bei seiner Entweichung aus der Höhle nimmt Heinrich dies Bild mit. Sein Erstaunen beim ersten Anblick der Sonne! Er kommt zu einem Einsiedler, mit dem er später auf einem Wagen durch Feld und Wald fährt, seine Eltern zu suchen u. s. w. Man wird zugeben müssen, daß diese Erzählung ganz beachtenswerthe Parallelen mit der Carolinens bietet. Leider jedoch haben wir gar nichts Näheres erfahren können, aus welchen „Schriften“ sie schöpfte.

Die wesentlichsten Punkte dieses über Kunigunde Lechner vom Landgericht zu Neustadt aufgenommenen Actenstücks fanden die Offenbacher Herren aus ihrem eigenen Munde bestätigt, als sie dieselbe in Kloster Ebrach besuchten. Sie war oder schien Anfangs durch das Erscheinen zweier ihr noch kürzlich so nahestehender Personen sehr niedergeschmettert, und ihr ganzes Wesen bekundete die Zerknirschung aufrichtiger Scham und Reue. Die Thränen flossen ihr wieder reichlich, und sie erschien so angegriffen, daß man sie sich niedersetzen hieß.

Ueberhaupt kam sie in einem geistig wie körperlich sehr herabgestimmten Zustand in Neustadt an, was sie besonders damit erklärt haben soll, daß es eine furchtbare Anstrengung gewesen sei, sich immer so zusammenzunehmen, daß man sich mit keinem Worte verrathe. Sie habe deshalb auch gar viele Nächte schlaflos zugebracht. Im Anfang konnte sie vor Thränen und Erschütterung nicht reden, allmählich aber schien sie ihre Kraft zusammenzunehmen, und begann, auf die in milder Weise an sie gerichteten Fragen zu antworten. Ihr jetzt Buße und Moral zu predigen, war dies natürlich nicht der Ort noch die Stunde. Im Uebrigen aber enthielten ihre Aussagen und Mittheilungen nichts Wesentliches, was nicht schon in dem ihre sämmtlichen Geständnisse und Bekenntnisse umfassenden gerichtlichen Protokolle enthalten gewesen, und im Vorherigen von uns in Kürze wiedergegeben ist.

Es war in der Abendstunde, als dieser Besuch bei der Gefangenen stattfand, und man kann sich denken, wie erschütternd es auch für die beiden Männer gewesen sein muß, diese ihnen so sehr am Herzen liegende „verlorene Tochter“, diese „Caroline“, im linnenen Zuchthauskleide vor sich zu sehen.

Die Geschichte Carolinens endet hiermit, wir werden uns aber erlauben, noch einmal später auf sie zurückzukommen, und zugleich über das fernere Schicksal des Mädchens einige Fragen aufzuwerfen.





  1. Exemplare des ersten Quartals, so wie des ganzen Jahrgangs können noch durch jede Buchhandlung und alle Postämter nachbezogen werden.
    Die Verlagshandlung.
  2. Außer den ausführlichen Protokollen wurden auch Carolinens Schreibhefte, das Verzeichniß ihres ungarischen Wortvorraths und ihre Photograpbie nach Wien geschickt; ebenso das lithographische Portrait eines jugendlich-schönen Mannes mit Schnurr- und Kinnbart, und in umgeworfenem Mantel, vor dem sie oft in stille Betrachtung versenkt stand, und von dem sie behauptete: so habe ihr Papa auf dem Bilde in der Waldwohnung ausgesehen, – es war das bekannte Portrait des Sängers Pischek, das vermuthlich in den Archiven der obersten Polizeibehörde zu Wien noch heute ruht.