Ein excommunicirter Protestant

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Autor: Stephan Born
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Titel: Ein excommunicirter Protestant
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 358–360
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[358]
Ein excommunicirter Protestant

Herrn Ernst Keil, Herausgeber der "Gartenlaube“.

Mein verehrter Freund!

Sie gehören glücklicherweise nicht zu Denen, welche sich mit vornehmem Achselzucken abwenden, wenn irgendwo die Frage der religiösen Befreiung des Volkes von der Herrschaft der kirchlichen Autorität zur Sprache kommt. Aber es gab eine Zeit, und Sie erinnern sich derselben sehr wohl, wo es unter gebildeten Deutschen genügte, von den religiösen Bedürfnissen des Volkes und der Nothwendigkeit ihrer Befriedigung im Geiste unserer Zeit zu reden, um mit einem mitleidigen Lächeln abgewiesen zu werden. Von allen "überwiesenen Standpunkten“ war der religiöse Standpunkt bei unserer "Nation von Denkern“ bekanntlich der überwundenste. Es war so bequem, sich und Anderen in philosophischem Rothwälsch etwas weis zu machen, um nur den Schein der unbefleckten Wissenschaftlichkeit für sich zu wahren; man dünkte sich dabei hoch erhaben über der traditionellen Volksreligion, man ging natürlich nicht in die Kirche wie der ungebildete Haufe – aber wie Hans und Kunz schickte man seine Frau und Kinder in die Kirche, und die Letzteren auch in den Religionsunterricht des Ortspfarrers, welcher Richtung er auch angehören mochte, und die gute Frau Mama hörte den lieben Kleinen den Katechismus und die Bibelverse ab, die der orthodoxe Herr Pastor ihnen aufgegeben.

So stand es, o mein lieber Freund, so steht es noch in [359] zahlreichen Familien der deutschen gebildete Welt, und ich könnte Ihnen manchen Gelehrten nennen, der in erklärtester Feindschaft zur strenggläubigen Kirche steht und dieser Letzteren dennoch die religiöse Erziehung seiner Kinder überläßt. „Es wird ihnen nichts schaden!“ hören wir ihn darauf antworten. „Es hat mir auch nichts geschadet!“ – Und wir hatten bis jetzt geglaubt, der Unterricht, auch der religiöse, sei nicht nur da, um nichts zu schaden sondern um etwas zu nützen.

Indessen, die Ueberzeugung wird täglich allgemeiner, daß die Gleichgültigkeit der gebildeten freisinnigen Stände für religiöse Dinge die Quelle von tausend Uebeln in unseren gesellschaftlichen und politische Zuständen ist, ja daß eine Nation sittlich verkommen muß, deren begabteste und geistig belebteste Kreise sich von einem Hauptfactor alles Volkslebens, dem religiösen, grundsätzlich fernhalte, um das unentweihte Kindesgemüth der großen Masse der alleinigen Leitung eines Clerus zu überlasse, der eine fremde Welt, eine verschollene Zeit mitten unter uns repräsentirt.

Sie fragen mich nach dem Inhalt der religiösen Bewegung in der französischen Schweiz. An den obigen einleitenden Zeilen habe ich ihn andeuten wollen: Buisson möchte die gebildete Stände für das religiöse Leben wieder gewinnen, indem er ihnen mit beredten Worten und in hinreißendem Tone alle Nachtheile aufdeckt, die ihre Enthaltung der Sache des Fortschritts, der eigene Familie, dem ganzen Volke verursacht, indem er eine religiöse Formel aufstellt, die einfach und doch weit genug ist, um von jedem redlichen Menschen, welches auch seine speciellen Ueberzeugungen seien, angenommen zu werden.

Buisson? – Gestern noch ein unbekannter junger Gelehrter in einem bescheidenen Schweizercanton – heute erwähnen alle Zeitungen der alten und der neuen Welt seinen Namen. So bedarf es in unserer bewegten, schnell lebenden Zeit doch nur des Vorsatzes, etwas Gutes zu wollen und es vernünftig durchführen zu wollen, um Gehör zu finden.

Ferdinand Buisson ist am 20. Dezember 1841 in Paris geboren. Sein Vater war unter der Republik von 1848 Friedensrichter, wurde dann in ähnlicher Eigenschaft von einem Departement in’s andere versetzt und starb als Gerichtsbeamter in St. Etienne, als sein siebzehnjähriger Sohn aus dem dortigen Lyceum sich zum Besuch der Pariser Normalschule vorbereitet hatte. Um seine Studie an der Uuiversität fortsetzen zu können, sah er sich genöthigt, eine Hauslehrerstelle in einer vornehmen protestantischen Familie in Paris anzunehmen. Nach strengen calvinistischen Grundsätzen erzogen und in ausschließlich orthodoxen Kreise sich bewegend, konnte seine reich angelegte Natur erst von den Fesseln des Autoritätsglaubens sich befreien und eine selbständige Richtung einschlagen, als er seine Studie vorzugsweise auf den Ursprung der Reformation richtete und die Entwickelung der protestantischen Kirche bis in ihre Quellen zurück verfolgte. Als im Jahre 1864 Coquerel, einer der bedeutendsten protestantischen Prediger in Paris, durch die orthodoxe Mehrheit von der Kanzel verdrängt wurde, die er so lange Jahre geziert hatte, ergriff Buisson offen Partei für die freisinnige Richtung in der Kirche und schrieb eine Broschüre: „L’orthodoxie et l’Evangile“, welche im protestantischen Frankreich ungemeines Aufsehen erregte und in mehr als zehntausend Exemplaren verbreitet wurde. Ein Jahr darauf, als es sich um die Neuwahlen in der Pariser protestantischen Kirche handelte, trat er eben so entschieden mit einer zweiten Schrift gegen den orthodoxen Glaubenszwang auf, was den Vorstand der Gemeinde, welcher Buisson bis dahin angehört hatte, veranlaßte, den jungen Schriftsteller förmlich zu excommuniziren.

Damit war die Richtung für die fernere Laufbahn Buisson’s gegeben. Er zog sich in die Schweiz zurück, verfolgte auf den Bibliotheken von Genf, Zürich und Basel seine Studien über den Ursprung der Reformation und erhielt 1866 den Lehrstuhl der Philosophie an der neu gegründeten Akademie zu Neuchâtel, wo wir uns als Collegen zusammenfanden.

Nachdem er fast zwei Jahre in stiller Zurückgezogenheit seinen Studien und Pflichten als Lehrer mit außeordentlichem Fleiß gelebt, trat er unerwartet mit einem Vortrage „Die biblische Geschichte in der Volksschule“ in die Oeffentlichkeit und erregte einen Sturm von Erwiderungen aus dem orthodoxen Lager.[1]

Wenn ich hier das Wort „Sturm“ gebrauche, so dürfe Sie dabei nicht an deuntsche Zustände denken. Es ist hier weder ein Pastor Götze noch ein Knak gegen Buissons aufgetreten, von einem Anrufen der weltlichen Gewalt gegen den vermessene Neuerer und Friedesstörer war natürlich in unserer gesegneten, kleinen Republik nicht die Rede, ja, ich erwähne nicht ohne Stolz, die Ideen der Freiheit sind schon so tief in unsere Sitten eingedrungen, daß die fast ausschließlich strenggläubige Gemeindeverwaltung, nachdem ihr die volle Zustimmung des geistlichen Collegiums zugekommen, die Benutzung einer Kirche zu Vorträgen über das freie Christenthum ohne jede Schwierigkeit bewilligte.

Mit Buisson’s Angriff gegen die sogenannte biblische Geschichte war der Kampf eröffnet, welcher auf beiden Seiten mit Wärme und Feuer, aber ohne jede Gehässigkeit und mit Fernhaltung jeglicher pesönlichen Färbung geführt wurde. Die rationalistische Schule wurde neben Buisson von Felix Pecant aus Nimes, Leblois aus Straßburg und Reville aus Rotterdam auf das Glänzendste vertreten. Die Orthodoxie fand einen gelehrten, stets schlagfertigen Kämpen in Professor Friedrich Godet in Neuchâtel, dem ehemaligen Erzieher des preußischen Kronprinzen, und Felix Bovet, einem unstreitig gemüthvollenn Vertreter des schweizerischen Pietismns; der zahlreichen Pfarrer nicht zu erwähnen, welche von der Kanzel herab an dem Kampfe teilnahmen und ihre Predigten drucken ließen.

Und welches wäre nun die Glaubensformel, zu deren Annahme das freie Christenthum jeden redliche Menschen einladet?

„Es giebt nur einen nothwendigen Glauben“ sagte Buisson, „und das ist gerade derjenige, der nicht von einem Artikel des Katechismus abhängt: es ist der Glaube an das Gute, der Glaube an alle unsichtbaren Wirklichkeiten, die sich nicht in den Büchern, aber auf dem Grunde der Menscheseele findet, der Glaube an das Recht und die Pflicht, an die Heiligkeit und die Liebe, Alles Dinge, durch welche Gott im Menschen offenbart wird. Aber wehe in der That, wehe Dem, der in seinem Gewissen sich diesen Glauben erschüttern läßt, den Glauben an die Pflicht, die Triebfeder, die wirkende Kraft des ganzen Menschenlebens! Der freilich hat keinen Grund mehr zu leben, der nicht an das sittliche Leben glaubt.“

Erschrecken Sie nicht, dieser Satz scheint bei näherem Eingehen auf den Plan unseres neu erstandenen Freiheitsapostels durchaus nicht als eine in die blaue Luft hinausgesendete blos theoretische Seifenblase. Denn es liegt nicht etwa in der Tendenz Buisson’s, eine neue Religion zu gründen. An voller Uebeeinstimmung mit einer in Deutschland längst sehr stark und geistvoll vertretenen, meistens an Schleiermacher anknüpfenden Richtung, wollen auch diese schweizeischen Kämpfer gegen die Orthodoxie die alte christliche Kirche nur reformirt, d. h. von den sinisteren Zuthaten befreit wissen, durch welche die Theologie sie seit Jahrhunderten entstellt und um ihre ursprüngliche Kraft und Reinheit gebracht habe. Deshalb soll auch weder der Name Christen, noch der Name Protestanten aufgegeben werden.

Nach Buisson ist eben die Kirche nicht eine Verbindung von Menschen, welche genau dasselbe denken, dieselben Wahrheiten aufstellen, dasselbe Bekenntniß unterzeichnen und sich verpflichten, nie etwas an den festgesetzten Glaubensartikeln zu ändern. Die Kirche ist ihm vielmehr eine Gemeinschaft mit Aufgaben der That, eine Verbindung von Menschen, die gemeinsam an der sittlichen Vervollkommnung ihrer selbst und der ganzen Gesellschaft arbeiten. Ihre Basis ist sittlich und nicht theologisch, ihr Zweck ist praktisch und nicht doctrinal. –

„Möget ihr glauben,“ ruft Buisson in dieser Beziehung seinen Freuden zu, „Jesu einen ausnahmsweisen Ursprung und ein ausnahmsweises Lebensende zuschreiben zu müssen, oder möget ihr in ihm nur einen Menschen sehen, welcher die Sprache seines Landes geredet, die Ideen und Sitten seine Zeit in sich aufgenommen und für alle folgenden Zeiten das große Gesetz der religiösen Entwicklung, d. h. das Sittengesetz begründet – wenn ihr nur seine Gebote zu den euren macht, so seid ihr Christen. Er selbst hat dies gesagt, und wir stellen sein Wort höher als das, was alle Doctoren und Concilien decretiren mögen. Was ihm genügte, genügt uns; wir maßen uns nicht an, christlicher [360] sein zu wollen als Jesus Christus, wir verlangen nicht nach der Ehre, irgend einem dogmatischen Christenthum anzugehören; aber wir behaupten, die echten Jünger des Christenthums Jesu Christi zu sein. Und ohne etwas mehr zu fordern, als er forderte, öffnen wir unsere Kirche so weit, als Jesus sein Herz öffnete, umarmen wir Alle, die er umarmte.“

Hier haben Sie in wenigen Sätzen den Grund und Boden, auf welchem diese „Kirche der Zukunft“ sich erheben soll: es soll eine Kirche ohne Dogmen, ohne bindendes Glaubensbekenntniß, ohne Priester und dennoch eine christliche, eine protestantische Kirche sein – christlich, weil Jesus ihr geistiges Oberhaupt sei, „der in seinem liebenden und reinen Herzen eine Formel gefunden, in der Alles ausgedrückt ist, was vor und nach ihm alle großen Philosophen, alle religiösen Denker, alle großen Wohlthäter der Menschheit gesagt haben mögen.“ Eine protestantische Kirche sei sie aber, weil ihre Mitglieder nicht das Evangelium fliehen, sondern nur das, was der orthodoxen Kirche beliebte, zu dem Evangelium hinzuzufügen. Vor drei Jahrhunderten, als die protestantische Kirche gegründet wurde, glaubte die gelehrte und ungelehrte Welt wohl noch an übernatürliche Erscheinungen. Mit der Entwicklung der geistigen Cultur aber schwindet der Glaube an das Wunder. Ist damit gesagt, daß die Liebe zum Guten, zum Wahren, zum Göttlichen, die Liebe zur Menschheit, „zu Jesu, jenem Typus des idealen Menschen“, nicht mehr in den Gemüthern leben könne, aus denen die Wissenschaft die Legenden und Wunder verdrängt hat? – „Kann man,“ fragt Buisson, „aus dem Evangelium nicht seinen vorzüglichsten Führer machen, sich bemühen, gemäß den von ihm ertheilten Lehren zu leben, und dabei glauben, daß diese Sammlung werthvoller Bücher ein Menschenwerk, daß es von frommen Menschen, aber immerhin von Menschen geschrieben ist, die in mehr als einem wissenschaftlichen Punkte die Irrthümer und Vorurtheile ihrer Zeit theilen konnten? Dies hat die orthodoxe Kirche nicht zugeben wollen. Alles oder nichts, hat sie gesagt. Unterwerfet euch und glaubet genau Alles, was die Mehrheit glaubt; wenn nicht, so tretet aus der Kirche aus.“ Sie sehen, diese Anschauungen sagen einem deutschen Publicum nichts Neues. Neu und bedeutsam an ihnen ist aber dennoch die frische apostelartige Begeisterung, mit welcher sie hier verkündet werden, der Drang zu sofortiger praktischer Gestaltung, den ihnen ein freier Boden verleiht, so wie der klare, warme und hinreißend schöne Ausdruck, den sie in den Reden und Schriften des jugendlichen Philosophen von Neuchâtel gefunden haben.

Wird es möglich sein, auf solche Anschauungen eine religiöse Gemeinschaft zu gründen?

Lassen Sie mich auf diese Frage mit einem Worte Buisson’s antworten: „Wir glauben nicht mehr an das Wort eines Priesters, an dieses Bekenntniß, an jenes Mirakel, an jene Theologie. Aber glaubt ihr denn, daß diese Dinge das Volk in die Kirche ziehen? Glaubt ihr, das Volk halte an der Dreieinigkeit, an der Prädestination, am blutigen Sühnopfer, oder an der Unfehlbarkeit der Bibel fest? … Was das Volk in der Kirche sucht, ist das große, sittliche Ideal, das zugleich der große Antrieb im Leben ist, jene Gesammtheit von Lehren, Beispielen, von herzinnigen, kräftigenden Anregungen, die sich eben für das Volk in einem Namen, dem Namen Jesu, zusammenfassen. Das ist es, was die Menschen gut, die Bürger frei, die Völker groß macht; das nur ist es, was der Kirche ihre allgemeine menschheitliche Rolle verliehen hat, und das können auch wir wie irgend ein Anderer als ein kostbares Gut bewahren. Man müßte an der Menschheit verzweifeln, wenn man es für unmöglich hielte, ihren religiösen Bedürfnissen volle und gerechte Genugthung zu gewähren, ohne es zum Nachtheil seiner intellectuellen und wissenschaftlichen Bedürfnisse zu thun.“

Freilich kenne ich viele unter meinen Freunden, die es Luther nicht verzeihen können, daß er nicht im neunzehnten Jahrhundert geboren war und im Geiste von Feuerbach’s „Wesen des Christenthums“ gepredigt hat. Diese meine Freunde vergessen eben, daß bei allen mächtigen Welterschütterungen nur derjenige seine Zeitgenossen zu einer großen That hingerissen hat, der die Gesammtideen seines Jahrhunderts am kräftigsten in sich repräsentirte. Es ist freilich bequemer, sich in ein philosophisches Wolkenkuckucksheim zurückzuziehen, als mit der Welt, in der wir nun einmal sind, vorwärts zu schreiten, ihren Bedürfnissen zu leben, zu handeln, und nicht blos hie und da einmal dreinzuschlagen oder gar Alles mit einem schlechten Witz abzuthun.

„Man zerstört nur das, was man zu ersetzen vermag.“ Dies Wort ist in religiösen Dingen ebenso wahr wie in politischen. Und deshalb sagt Buisson: „So lange ihr nicht begreifen werdet, daß die religiöse Frage die erste aller politischen Fragen ist, werdet ihr immer nur Scharmützel und Vorpostengefechte geliefert haben. Die große Schlacht wird im religiösen Bewußtsein, in der Familie geschlagen. Die große Eroberung, die ihr zu machen habt, ist die der Frauen und Kinder.“

Wir müssen Diejenigen, welche die weitere Ausführung dieser Grundansichten Buisson’s kennen lernen wollen, nochmals auf seine oben genannten beiden Schriften verweisen. Nach der praktischen Seite hin ist eine außerordentliche Bewegung durch Buisson’s entschiedene Forderung hervorgerufen worden, daß der Unterricht in der biblischen Geschichte vom Lehrplan der Volksschule entfernt werden soll. Weit entfernt davon, im Geiste unserer alten rationalistischen Schule dies oder jenes Wunder auf natürliche Weise zu erklären oder ihm eine symbolische Deutung zu geben, wobei der Bibel doch immer noch eine ausnahmsweise Behandlung vor allen anderen Denkmälern des Alterthums zu Theil wird, fordert Buisson, daß der Unterricht der jüdischen Geschichte an seiner Stelle in den Unterrichtsplan der allgemeinen Geschichte eingereiht werde und daß außerdem in den Schulen nur eine „Geschichte der Religion“ gelehrt werde, wie Letzteres meines Wissens an der Züricher Cantonsschule schon seit einigen Jahren der Fall ist. Der unendliche Aufwand von Verstandeskräften, welchen die moderne wissenschaftliche Orthodoxie zur Vertheidigung des Wunderglaubens hat aufbieten müssen, ist doch damit noch viel weniger zum Ziele gekommen, als der grübelnde und arbeitsvolle Scharfsinn der mittelalterlichen Theologen. Das ungeheure künstliche Gebäude, welches der Autoritätsglaube zu seinem Schutze aufgebaut, bekommt vielmehr täglich so viel Risse und Löcher, daß es kein Wunder ist, wenn ein großer Theil seiner Bewohner es verläßt, um nicht unter den Trümmern verschüttet zu werden.

An diese Flüchtlinge der orthodoxen Kirche, die heimathlos umherirren, die sich selbst von jeder religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen haben oder die gewaltsam vertrieben worden aus den bestehenden Kirchen, an sie wendet sich die heutige religiöse Bewegung. Sie haben einen großen Kampf aufzunehmen, eine ernste Pflicht zu erfüllen; mögen sie sich derselben nicht entziehen. Nicht eine neue Religion sollen sie gründen helfen, dies wäre ein sinnloses Bemühen. Was nicht in der Vergangenheit Wurzeln hat, das hat auch keine Zukunft. Sie sollen Christen bleiben im Sinne des großen Nazareners, der nirgend gesagt hat, daß diejenigen verdammt seien, welche nicht an seinen göttlichen Ursprung glauben, daß es kein religiöses Leben ohne Wunderglauben geben könne; sie dürfen sich Protestanten nennen, weil sie von dem Grundsatz ausgehen, daß keine menschliche Autorität, sie heiße Papst, Concil, Synode, das Recht habe, sich zwischen den Einzelnen und seine Ueberzeugungen zu stellen.

Praktisch gestaltet sich jedoch diese Bewegung verschieden, je nach dem Boden, auf dem sie angeregt wird. Eben weil die freien Protestanten den historischen Zusammenhang mit der christlichen Kirche nicht aufgeben wollen und dürfen, muß ihre Organisation je nach den örtlich und historisch entwickelten Verhältnissen sich gestalten. Während z. B. in der deutschen Schweiz, in Holland, und theilweise in Frankreich und Deutschland dieser Fortschritt sich innerhalb der Kirche vollzieht, indem die Gemeinde einfach einen Pfarrer wählt, der im Geiste der Neuzeit wirkt, wird an anderen Orten diese Bewegung sich außerhalb der officiellen Kirche Bahn brechen und in anderer Weise zum Ziele gelangen müssen.

Buisson’s Wirksamkeit ist im großen Publicum der Laien, auch die Frauen nicht ausgenommen, bisher eine sehr erfolgreiche und durchgreifende gewesen. Nach allen Hauptorten der französischen Schweiz, auch nach Bern ist er gerufen worden, und überall, wo er als Redner aufgetreten, hat die Reinheit seiner Gesinnungen, die Kraft seiner Gedanken tausend Hörer ergriffen, hat sein Wort gezündet. Eine frische Saat ist ausgestreut, sie keimt, sie drängt empor zum Lichte. Ein fröhliches Erntefest allen denen, die vorwärts schauen und die am guten Werke schaffen!

Mit diesem Gruße drückt Ihnen herzlich die Hand Ihr getreuer

Stephan Born.
  1. Eine deutsche Ausgabe dieses Vortrags ist so eben in der Schweighauserischen Verlagsbuchhandlung in Basel erschienen. Eben daselbst Buissons’s zweiter Vortrag „Das freie Chrisienthum und die Kirche der Zukunft“. Wir möchten die Leser der „Gartenlaube“ speciell auf diese beiden durch Inhalt und Form gleich ausgezeichneten Schriften aufmerksam machen.