Eine deutsche Christnacht in einem Pariser Spital

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Autor: Von einem deutschen Arzte
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Titel: Eine deutsche Christnacht in einem Pariser Spital
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 27–29
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bilder aus dem Pariser Leben.

Von einem deutschen Arzte.
I.0 Eine deutsche Christnacht in einem Pariser Spital.


Paris ist so groß und die Noth ist noch größer, größer als Allah, wie die Türken sagen. Der Himmel scheint noch größer zu sein, wenigstens hat er uns die Hoffnung gegeben, an ihm nicht zu verzweifeln.

Das sagte mir mein Freund Destouches, den ich am 23. Dezember 1852 abzulösen kam. Ermüdet von den vierundzwanzig Stunden seines Spitaldienstes, melancholisch von Natur, ernst aus seiner jungen Erfahrung, hatte dieser junge großherzige Franzose, ein Berrois wie man die Leute aus der Berry nennt, seine Spitalschürze an den Nagel gehängt, wo seine Hoffnungen auf’s Besserwerden hingen und nur das nöthige Gedächtniß behalten, um mich über die Ereignisse des Tages zu unterrichten, und damit seinem peinlichen Posten Lebewohl zu sagen.

„Gott weiß, wie es kommt,“ rief er am Schlusse seines ärztlichen Berichtes aus, „ich habe mich nur damit getröstet, daß Du kommst; da liegen fünf deutsche Weiber, die mir mit ihrem Heimweh das Ohr zerrissen haben; Du wirst sie wenigstens verstehn und ihnen einige Worte des Trostes sagen. Ich bin mit meiner Kunst zu Ende, alle fangen mir an, an der Schulter zu leiden, und das Kindbettfieber scheint im Ernst von ihnen Besitz ergriffen zu haben. Warum predigst Du uns auch nicht jeden Tag eine Stunde über Eure verdammten deutschen Sitten und Gebräuche? sie reden mir seit heut Morgen in Einem fort von Kristnakt! Kristnakt! Kristnakt! Meine deutschen Sprachkenntnisse gehen nur bis zu den zusammengesetzten deutschen Zeitwörtern und da habe ich keine Silbe von diesem Worte gehört, das Einem die Zunge platt abbricht.“

Er drückte mir die Hand und ging. An der Thür drehte er sich noch einmal um und rief: „Du mußt mir ernstlich deutsche Lectionen geben; ich komme nicht mehr fort; diese Weiber mit ihrer Kristnakt haben mir das Herz im Leibe umgedreht und ich stehe da, wie das Kalb Mosis.“

Im Krankensaale herrscht die lautlose Stille einer Nacht, wenn die Vorschriften des Arztes wörtlich befolgt worden sind und zufälligerweise keine menschliche Seele in Angst und Pein athmet oder keucht. Die Uhr des weitläufigen Gebäudes hatte zehn Uhr geschlagen, als ich dem Portier seinen guten Abend erwiederte. Das zufallende Thor hatte die lärmenden Wagen wie abgeschnitten und der Schrei des Zündhölzchen-Verkäufers auf der Gasse war verhallt, als ich über die mattbeleuchteten Stiegen emporstieg.

Die Ordensschwester war am andern Ende des Saales offenbar in ihren sanftesten Schlaf versunken und die Krankenwärterinnen schienen im Bewußtsein ihrer gethanen Pflicht in ihre Nebenzellen verloren zu sein. Ich putzte die mächtige Nachtlampe und warf meinen durchnäßten Ueberrock in einen Winkel. Dann horchte ich auf den Athem meiner Kranken, die in ihren von weißen Vorhängen verhüllten Betten wie lauter lebende Räthsel der menschlichen Weisheit mit sich selbst zu berathen schienen.

Im Saale selbst und in den kleinen Nebenzimmern befanden sich eben etwa einhundert und zwanzig Weiber, die, vor Kurzem entbunden, noch die Folgen duldeten, die ihnen der Engel im Paradiese angekündigt hatte, als er ihnen prophezeite, daß sie mit Schmerzen ihre Kinder gebären würden: er hat ihnen nichts von den Seufzern vorausgesagt, die sie nach der Geburt ausstoßen würden. Die meisten dieser Weiber schienen sich mit ihren Kindern über diesen medizinischen Gedächtnißfehler des Engels zu trösten und die Uebrigen, denen die Schmerzen der Geburt diesen Trost nicht gelassen hatten, mochten nicht mehr Lust genug haben, über sich selbst nachzudenken.

So verging eine halbe Stunde; ich saß im alten Lehnsessel und brütete über einen alten Spruch, der die Weiber hochpreist; die Ordensschwester begann leise zu schnarchen.

„Her! hustete es aus einem weißen Bettvorhange hervor.

„Sie schlafen noch nicht?“ antwortete ich auf französisch und sehr leise.

Die Angeredete antwortete nicht.

„Also Sie haben todtgeboren?“ fuhr ich deutsch fort.

„Ja!“ erwiederte die Frau mit Berliner Accent.

„Sie denken an die Christnacht, die daheim hereinbricht?“

[28] „Ah, der liebe Gott hat mir keinen Stern aufgehen lassen,“ rief die Kranke und verbarg ihr Weinen in den Kissen ihres Bettes.

So leise auch unser Gespräch geführt worden war, so antwortete doch von allen Seiten des Saales ein leises Husten auf unsere vaterländischen Laute.

„Das sind noch vier Landsmänninen,“ sagte ich eben so leise und trat zu dem Bette meiner armen Patientin. „Sie haben Ihr Kind vielleicht gar nicht gesehen? Sind Sie verheirathet? Wie kommen Sie nach Paris?“

„Mein Mann ist in einer Wagenfabrik und arbeitet Tag und Nacht, um unsere paar Schulden zu bezahlen, die wir in den ersten Wochen in Paris gemacht haben; mein erstes Kind ist bei meiner Schwester in der St. Annagasse.“

Ein schwaches Wimmern drang vom andern Ende des Saales zu mir, die Ordensschwester fuhr aus ihrem Lehnsessel empor und rief: „Da bin ich, nur ruhig, Kind!“

Sie trat zu einem Bette und ich eilte ihr entgegen. Da überraschten mich die geräuschlosen Schritte des Krankenwärters, den ich durch den langen Gang erhorchte. Der Mann trat in den Saal, die offene Thür gab keinen Laut von sich. In seiner Rechten hielt er einen Weihnachtsbaum, mit vergoldeten Nüssen und Zuckerwerk behangen, mit flatternden Bändern und flimmernden Kerzchen geziert und in der Linken einen Brief, mit einem rosenrothen Faden sorgfältig umwickelt.

„Was ist das?“ rief ich ihm erstaunt zu. Der Mann, dem man jedes Wort abbetteln mußte, wenn er sehr gut aufgelegt war, hatte offenbar seine finstere Laune umgehängt und starrte mich stumm an. Die Stille des Saales und die engelhafte Erscheinung des blassen Menschen, die traurigen Bilder der verhängten Betten und die heitere Bescheerung des Christbaums mitten in der Stätte der Leiden erschütterten augenscheinlich den menschenfeindlichen Franzosen eben so sehr, als mich selbst. Welche Künste mußten aufgeboten sein, um diesen griesgrämlichen Menschen dahin zu bringen, seine Instructionen auf diese unerhörte Weise zu überschreiten und unser nächtliches Leben mit einem so ungewöhnlichen Glanze zu erhellen!?

„Sie kommen von Gott gesandt!“ rief ich biblisch aus.

„Der Mann, der mir’s draußen übergab, ist auf die Knie vor mir selbst gefallen!“ versetzte er.

„Und, Sie glauben, daß ich Sie nicht morgen früh augenblicklich anzeige?“

„Der Mann sagte, Ihr Freund Dr. Destouches habe ihm gesagt, daß Sie heute die Nachtwache haben.“

„Ah! warten Sie! um Sie und Ihre Familie zu retten, muß ich Alles auf mich nehmen.“ – Die Ordensschwester stand mit weit aufgerissenen Augen vor uns. „Er ist närrisch geworden.“ jammerte sie, „ich sagte es ja immer.“ Der alte François setzte seinen Baum zur Erde und hielt seinen Brief in die Höhe.

Die feenhafte Erscheinung hatte die Schläferinnen geweckt und alle kranken Weiber, denen noch ein Funke Bewußtsein geblieben war, blickten durch die Spalten der weißen Vorhänge. Ein Weib braucht so wenig, um neugierig zu sein.

„Meine Damen! legen Sie sich auf der Stelle, oder der Zauber fliegt zum Fenster hinaus; ich stehe Ihnen dafür; wer was sehen will, gehorcht augenblicklich.“ rief ich und der Saal versank wieder in seine Ruhe. Die Weiber folgen so gern, wenn sie etwas erwarten!

„Oh, mein Gott, mein Gott!“ seufzte die Ordensschwester, „welche Verwirrung!“

François hatte den Brief auf den Tisch gelegt, seinen Christbaum auf die Erde gestellt und ich drückte der Ordensschwester die Hand, um sie zu beruhigen.

„Die Arme da unten ist schlimm?“ frug ich.

„Sie wird die Nacht nicht überleben,“ versetzte sie.

„Wie viel Kindbettfieber haben wir?“

„Ah, nur fünf, darunter eine Deutsche, die da unten.“ Sie zeigte nach dem Ende des Saales, von woher das Wimmern kam.

Ma mère! wir werden die deutschen Betten zusammenstellen und Christnacht feiern. Sie haben das noch nicht gesehen?“

„Mein Gott, nein! Himmel, welche Verwirrung!“

Ma mère! wir retten die übrigen vier Deutschen: ein Christfest kommt vom Himmel, die deutschen Weiber stehen dafür von den Todten auf.“

François stand, eine steinerne Säule, vor dem Bette der Schwerkranken, welche sich im Halbdunkel mit ihrem Fieber abrang. In wenigen Minuten waren die vier deutschen Betten auf einen Teppich nach der andern Seite des Saales gerückt, eine Scheidewand mit einem mächtigen doppelten Tuche gezogen und Deutschland vereinigt, fünf deutsche Weiber und vier kleine Deutsche, die Vorhänge aufgezogen, der Christbaum angezündet und die Ordensfrau, vor dem Muttergottesbilde kniend, betete das französische Vaterunser, das die Weiber deutsch nachbeteten, selbst die Todtkranke zitterte leise mit den Lippen und hauchte „Dein Wille geschehe … so auch auf Erden!“

Die Spitaluhr schlug eilf, der Regen plätscherte gleichmäßig an die hohen Fenster und die vier kleinen Würmer zirpten wie fröstelnde Grillen im warmen Sommergrase; die Frau des Wagenbauers las eben zum zehnten Male den Brief ihres wackern Mannes, François starrte noch immer unbeweglich in das Gesicht seiner sterbenden Lieblingskranken.

„Berlinerin!“ frug ich leise, „hat die Arme da einen Mann?“

Die Weiber schwiegen.

„Wissen Sie, wie es kommt, daß sie so schwer mit dem Tode ringt?“

„Herr Doctor!“ rief eine kleine dicke Würtembergerin, welche in ihrer Bescheidenheit nur eine einzige Nuß angenommen hatte, „geben Sie mir ihr Kind, mein Mann wird’s wohl noch ernähren; wir haben ihrer fünf und da kann das sechste …“

„François!“ rief ich, „wollen Sie mit mir bei der kleinen Waise Pathe stehen? Die Berlinerin kann es ihrem Manne mitbringen und die drei andern Weiber wollen mit uns Gevatterinnen sein.“

Der Krankenwärter hatte weder gehört noch gesehen; er war neben dem Bette der Kranken auf den Stuhl gesunken und hielt das Kind derselben in den Armen.

„Ich glaube, seine Frau ist in demselben Bette gerade so gestorben,“ fiel die Würtembergerin ein. „Rosel, da fällt mir eben ein, daß ja ……“

Die Angeredete Rosel winkte ihr mit der Hand zu schweigen und zeigte auf den großen Vorhang, der unser deutsches hellerleuchtetes Saalstück von dem übrigen trennte. Zwei Männer schauten durch die Spalte desselben, mein Freund Destouches mit einem Fremden in der Tracht der Pariser Arbeiter.

„Ah, Joseph!“ rief die Berlinerin und streckte beide Arme nach dem Manne aus, der an ihr Bett eilte.

„Mein Gott! Welche Verwirrung!“ bat die Ordensschwester „Ich bringe Euch die Weihnachtsgeschenke,“ unterbrach mein Freund; „zum großen Glück habe ich diesen wackern Mann vor dem Spitalthore angetroffen und er war so gut, mir das Zeug zu erklären und helfen, geschwind noch einigen Plunder einzukaufen.“

„François!“ rief ich. – Er war verschwunden. Das Kind der Todttranken regte die kleinen Aermchen und ein schweres Papier fiel auf den Boden, das die Ordensschwester aufhob. Destouches theilte aus.

„Joseph!“ schluchzte die Berlinerin, „Du willst Dein Kind sehen …? ich habe so viel ausgestanden; ich glaube, unsere Noth, die wir vor sechs Wochen noch …“

„Da liegt ein ganz gesunder Bursch, Joseph,“ schaltete ich ein und blickte nach dem Korbe am Bette der Sterbenden.

Joseph fuhr mit der breiten Hand über das geschwärzte Gesicht und schien einen harten Augenblick zu bestehen.

„Ich bin Pathe!“ rief Destouches, „und zahle das Schulgeld.“

„… auch auf Erden,“ lispelte die Kranke in ihrem Fieberdelirium und athmete schwer.

„Amen!“ versetzte Joseph und schritt auf das Bett zu.

Ein voller letzter Athemzug der Sterbenden antwortete. Joseph legte das Kind in die Arme seiner Frau.

„Doctor,“ flüsterte die Ordensfrau. „François ist total närrisch, da hat er dem Kinde fünfhundert Francs in zwei Bankbillets und in Gold vermacht; lesen Sie.“

An die Direktion des ** Hospitals.

„Ich schenke dem Kinde der Kranken No. 17 die Summe von fünfhundert Francs,“ las ich, „und bitte Herrn Doctor Gr., mich zu entschuldigen. – Ich gehe nach Afrika. In dem Bette No. 17 starb mein Weib, meine gute Marie – in demselben Bette stirbt [29] nun auch das Wesen, das ich nach Marie am meisten geliebt. Ich kann nicht mehr, François.

Die Spitaluhr schlug zwölf Uhr. Joseph, Destouches und ich saßen im kleinen Zimmer der Ordensfrau und löschten die Lichter des Christbaumes aus. Vom Krankensaale her athmeten nur die regelmäßigen Züge der Schlafenden.

„Sie können bei mir schlafen, Gevatter,“ sagte Destouches zu Joseph; „ich will uns ein Glas Punsch machen, um unsere Kristnakt vollständig zu feiern; der Doctor kann sich sein Glas morgen aufwärmen lassen. Also das nennt man in Deutschland eine Kristnakt … kurios das … sehr kurios.“

Das Kind der Kranken aber, die in der Nacht starb, von der man nicht wußte, woher sie kam, und wer sie war, hat in der Berlinerin eine brave Mutter und in Joseph einen wackern Vater gefunden. Gestern feierten wir den Geburtstag.