Einmal zur rechten Zeit

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Autor: Luise Westkirch
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Titel: Einmal zur rechten Zeit
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, 17, S. 272–275, 288–291
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[272]

Einmal zur rechten Zeit.

Erzählung von Luise Westkirch.

Ein flacher Sandweg, der Wind fährt ungebrochen drüber hin. Eintönig rauschen die Wellen der Ostsee gegen den Strand, der platt und öde und kahl hier in die Flut fällt. Aber ringsum von hohen Ufern schauen in grünem Kranz üppige Buchenwälder in das blaue Becken der Kieler Föhrde. Mit gerader Linie einschneidend streckt ein Wasserarm sich tief hinein in das wellige Land, dem seine üppigen „Knicke“ – die hohen mit Haselnußstauden bepflanzten Erdwälle, die jede einzelne Koppel umranden – das eigenartige Gepräge einer australischen Buschlandschaft verleihen. Der Kanal, der alte Eiderkanal ist’s mit seiner hochgelegenen Sohle und seinem engen Bett. Aber nur wenig weiter den Strand hinab erhebt sich, fast vollendet, ein Cyklopenwerk, hoch in die Lüfte, bohrt sich tief ein in den Schoß der Erde, ein Gigantenbau, ein Wunder der Welt, die Schleuse des neuen Nordostseekanals. Nicht menschliche Hände scheinen ihre ungeheueren Sandsteinquader getürmt zu haben, nicht Menschenkraft scheint hier dem Element Gesetze vorschreiben zu wollen. Noch liegt ihr ungeheueres Becken trocken. Der Blick kann schwindelnd die Höhe der Wassertürme, die Tiefe der Sohle ermessen, auf der ein Schienengewirr sich hinzieht wie ein Netz, ausgeworfen, um die Naturkraft einzufangen. Dort schlagen noch drei Trockenbagger keuchend ihre Reihen Eisenzähne in das widerstrebende Erdreich, nagen es heraus und speien die ausgebaggerten Massen zum Takt der rasselnden Ketten in die bereitstehenden Wagen, die eine kleine fauchende Lokomotive, ungeduldig zur Abfahrt, den immer neu mit Erde gefüllten Riesenrachen unterschiebt.

Aber die Uhr in dem Türmchen der langen Holzbaracke hoch auf dem Ufer hebt zum Schlage aus. Mittag! – Von den Treppen, den Gerüsten die in dreifachem Gürtel den Schleusenraum durchziehen, klettern die Arbeiter, ein Ameisengewimmel. Mittag! In der Kantine steht das Essen fertig für die, die seiner begehren. Einige führen auch eigene Küche, kochen wunderliche Nationalgerichte auf noch unverwendeten Granitquadern, über die der Wind die rote Flamme weht wie einen glutgewobenen Schleier. Ein buntscheckiges Gewirr von Menschen und Trachten! –

Dort braten drei Italiener ihre Maccaroni, die farbigen Zipfelmützen auf dem Kopf, auf der braunen Brust, die das wollene Hemd freiläßt, das Amulett, das die Mutter bei der Firmelung ihnen umgehängt hat – lang’ ist’s her! in einem Felsen-und Räubernest irgendwo in den Bergen. Dort handelt der Kroat in haarlos gewordenem Schafpelz mit einem beweglichen Polacken in schmutzglänzender Schnürenjacke um eine Versteinerung, die jener beim Baggern gefunden hat. Langsam, mit wuchtigem Schritt wandelt der blonde Schwede durch das Gewirr zur Kantine. Er ist an gute Kost gewöhnt, an bessere als der Wasserpolack aus Schlesien, der seine Pellkartoffeln mit Branntwein anfeuchtet und seinen Lohn spart, um im Winter in der Heimat drei Monate lang ein Herrenleben zu führen. Und dem Schweden schließt der Holsteiner sich an, die Militärmütze schief über dem offenen, frohen Gesicht, stampft er dahin. Er gehört zu den Wenigen hier, die keine Vergangenheit haben, aber wohl eine Zukunft. Der nachgeborene Sohn eines Hofes ist’s. Erdarbeit war seine Bestimmung von der Wiege an. Der Staat bezahlt mehr als der Bauer, mehr als der Gutsherr, also arbeitet er für den Staat. Er läßt sich nichts abgehen, denn er braucht gute Nahrung, seine Muskeln sind sein Vermögen. Gleichwohl hat er ein wenig zurückgelegt. Ein paar hundert Mark wird sein ältester Bruder ihm als Abfindung herauszahlen: eine Muhme, deren Liebling der blauäugige Bursch von Kindesbeinen an gewesen ist, verwahrt für ihn im Bettstroh ein Sparkassenbüchlein. Rafft er all diese Habe zusammen, mag es ihm wohl gelingen eine Hufe Erde zu kaufen, ein Fleckchen Gartenland nahe bei einer großen Stadt, deren Markt er mit Gemüse und Obst, Geflügel, Eiern, Butter beschicken kann. Von solchem Unternehmen träumt er über seiner Arbeit. Eine Frau freilich gehört dazu, eine Frau mit verständigem Sinn und starken Armen, die den Handschlag nicht zählt und wägt, deren Arbeitskraft mit der sinkenden Sonne noch nicht niedersinkt.

Solche Frauen giebt’s in Schleswig und Holstein, diesseit und jenseit des Kanals. Ei ja, gewiß, gerad’solch eine Frau wie er sie braucht, kräftig, gesund und hübsch und lustig dazu!

Er lächelt, während er die Leiter hinaufklettert aus dem tiefen Schlund der Schleuse. Und dann hält er die Hand vor die Augen und steht verdutzt. Wer wandelt denn dort drüben den Sandweg entlang, zwischen den sparsam verstreuten Häusern? O, er kennt das Flattern dieses gestreiften Rockes mit dem breiten Sammetsaum, das Wiegen der Gestalt in dem knappen schwarzen Sammetmieder! Jedes windzerzauste Härchen kennt er, das unter dem weißen Vierländerinnenhäubchen um das rosige Gesicht weht. Die drallen Arme halten nachlässig ein leeres Servierbrett. Sie hat dem Ingenieur Morungen, der drüben in dem roten Hause wohnt, das Mittagsbrot gebracht, die Doris aus dem Schleusenkrug. Nun schlendert sie nach Holtenau zurück.

Der Anblick macht Wilm Lorensen das Herz warm. Sein Gesicht leuchtet. Er will hin zu ihr. Da plötzlich erblaßt er und seine Stirne kraust sich. Klettert da nicht schon der Peretti, der Italiener, den Damm hinauf? Daß er doch wie ein Faß in die Tiefe rollte! Was braucht der ausländische Wicht deutschen Mädchen die Köpfe zu verdrehen? Niemand weiß, wo er herkommt, was er etwa daheim auf dem Kerbholz hat! Aber mit seinen unvernünftig großen, pechschwarzen Zigeuneraugen funkelt er die Weiber an, bis sie die Besinnung verlieren, und obgleich er eine Sprache radebrecht, über die jeder Schulmeister die Hände ringen müßte. Sie lauschen wie behext dem Kauderwelsch, wenn er ihnen erzählt von den nackten Felsen seiner Heimat, die, umkreist von Adlern und Geiern, rot und weiß in die Wolken ragen, von Olivenhainen und Myrtenhecken, von goldstrotzenden Kapellen über blauen Seen, in denen Mädchen mit Spitzenmantillen und Fächern beten, vor denen Mädchen und Burschen am Marienfeste tanzen, in Holzschuhen, aber von anderer Form als die nordischen Holzschuhe mit ihren wärmenden Strohwischen, in Schuhen mit hohen, bunten Absätzen und an den Spitzen offen, so daß zierlich die nackten Zehen hervorleuchten.

Und mit einem Fluch ließ Lorensen sein Mittagsessen im Stich und beeilte sich, dem Italiener zuvorzukommen. Dabei sah er, daß noch ein Dritter, im Uferschilf stehend, dem Mädchen sehnsüchtig nachschaute, doch ohne sich zu rühren. Das war Peter Svensen, sein Landsmann aus Kappeln, ein schwerfälliger Bursche. Ei was – den wollte er schon ausstechen! … Doch diesen Peretti? Jetzt war er wirklich schon auf der Straße und jetzt bei dem Mädchen! Als Lorensen keuchend das Paar erreichte, war das Gespräch zwischen beiden im besten Gange.

„Mahlzeit, Fräul’n Doris. Is es woll erlaubt, daß ich ein büschen mit Sie da lang gehe? Ich – ich wollt’ auch ’mal nach Holtenau – .“

„Eh, Kamerad,“ knurrte der Italiener, „hat sich Signora schon Kavalier. Mach’ dich dünn! Pascholl –“

„Das werd’ ich thun, wenn Doris mich das selbsten sagt.“

Die Maid wirbelte zwischen den vollen Lippen eine Ringelblume und blickte schelmisch von einem ihrer Verehrer zum andern.

„Je, Herrens, so viel ich davon weiß, is der Weg für alle Menschens.“

„Das is er, bestätigte Lorensen grimmig. „Bloß, es is schade, daß er das is.“

Carambo“, sagte der Italiener, „deutsches Bär! – Peretti nix streiten vor der Signora. O, ich wollt, Sie könnt’ kommen in mein Land – Sie würd’ nix verlang’ zurück.

„Ankucken möcht’ ich mich das gans gern ’mal, Herr Perdü,“ versicherte Doris. „Ich mein’ man, es würd mich da ein büschen zu warm sein.“

„Sonnenschein! Sonnenschein! – Und abends tanzen, tanzen! die Mädchen mit Kastagnetten und Korallen – Korallen so dick! am Hals, an den Händen, in den Ohren! Korallen, überall Korallen!

„Korallens mag ich leiden,“ gestand Doris. „Auf ’n Kieler Umschlag war Ein, der hat ’n gansen Kasten voll.“

[274] „Haus un Hof is besser als Korallens,“ erklärte Lorensen.

Peretti lachte. „Haus! Hof! Gut für Land mit acht Monat Winter, mit berghoch Schnee. Bei uns Haus der ganz Himmel. Hof ein Gebüsch von Kamelias all in Blüten, ein Wald von Oliven –“

„Hören Sie auf,“ sagte der Holsteiner. „Eine einzige richtige Ostseebuche is mich lieber als zehn so ’n krümperige Olivenstümpe.“ Er hatte Oliven nie mit Augen geschaut, sein gekränkter Nationalstolz machte ihn hellsehend.

Aber Doris war nachdenklich geworden. „Das sagen Sie nich, Lorensen. Wenn der Oelbaum so hoch aus die Sündflut hervorstechen that, daß die Taube da ein Blatt von abpicken konnt, dann muß ihm doch ein gansen ansehnlichen Baum sein.“

„Ich begreife man bloß nich“, stichelte Lorensen, „warum die Italieners in so’n wunderschönes Land gar nich in bleiben.“

„Ein Sach’ aber hab’ die Deutsche so gut wie wir,“ fuhr Peretti fort, „die Frauen. Nein, besser! Frauen mit Haare wie reife Aehren, Frauen wie Mondschein, wie die klaren Bäche in Deutschland! Die italienische Frauen sind zu wild, zu hart, und hart zu hart giebt schlechte Musik – Aber die deutsche Frau, ah! sanft und klug und besonnen. Ich verehr’ die deutsche Frauen. – –“

Lorensen fing wütend an, den Dessauer Marsch zu pfeifen.

„Lorensen! Kamerad“, sagte der Italiener zu dem Pfeifenden, „wenn ich dich langweil’, du weißt, wir brauchen dir nix – die Signora und ich – eh? nich wahr?“

Doris machte eine Bewegung. „Lorensen will doch zu mein Kaptän. Wie können wir ihn das woll wehren? – Un kuck ’mal! Da sind wir ja all’. Gar nich lang is mich der Weg vorgekommen. Adjüs auch, Herr Perdü.“ Sie sah den Italiener lächelnd an. „Un weil Sie so bannig schön snaken können – da!“ Sie nahm die Ringelblume aus dem Mund und reichte sie ihm. „Aus gutem Herzen! Ich hab’ nix Besseres. Myrten un Chamäleons wachsen ja nich in unsern Boden.“

Vor den Dreien lag der Schleusenkrug auf hoher Warft, eng zusammengekauert über dem Wasserarm. Das neue Kanalbett schnitt ihm einen Teil seines Grund und Bodens weg, nur ein schmales Dreieck blieb, Platz für das Haus mit seinen blank glänzenden Fenstern und drei eng zusammenstehende Buchen, unter denen Tische und Bänke sich zusammendrängten wie eine Schafherde beim Gewitter. Ein ehemaliger Schiffskapitän hielt hier Ausschank und machte gute Geschäfte.

Während der Italiener unter einer Flut von Beteuerungen in seiner Muttersprache die Blume mit Küssen bedeckte, traten Doris und Lorensen in den schmalen Hausgang. Dem Burschen saß der Zorn würgend in der Kehle und zitterte in seinen geballten Fäusten. Er stampfte über die sandbestreuten Fliesen hin, stumm, ohne aufzusehen immer weiter, der Thür zu, die auf der Rückseite des Gebäudes wieder ins Freie führte.

„Je, Lorensen“, erkundigte sich Doris, „willst denn nich zu mein Kaptän?“

Er biß die Zähne zusammen „Ich will fort.“

„Fort?“

„Ja, von dir, du slechte Dirn’.“

Doris stieß das Tablett auf einen Tisch und ging dem Vorauschreitenden nach.

„Worüm bist mit eins so falsch, Lorensen? Weil ich den Musje Perdü hab’ snaken lassen?“

„Wenn du den swarzen Tater leiden magst, denn brauchst du das man bloß zu sagen. Es giebt noch Deerns genug im Lande. Da is kein Mangel an.“

Sie standen in dem engbrüstigen Gärtchen unter den drei Buchen. Doris betrachtete ihn kopfschüttelnd.

„Lorensen, du bist wirklich zu dumm!“

„Aber blind bin ich nich, entgegnete er. „Hast du den ungewaschenen Kerl nich angeklappert mit deine Augens den ganzen Weg lang un dich ’was vorklönen lassen von Korallens un ein Haus mit den freien Himmel als Dach! Un am Ende hast ihm gar die Blume geschenkt, dem Hanswurst! Du!- du! –“

„Un warum hab’ ich all’das gethan?“ verteidigte sich Doris, vor Lorensen hintretend. „Warum mußt’ ich all’ das thun? – Doch man bloß, weil du gegen ihn wie so ’n rechten Bullrian un Dreschflegel losgezogen bist. Wenn die Jalousie dir packt, Lorensen, denn is das gerad’ wie wenn ein kalkuttschen Hahn auf ’nen roten Tuch losgeht, denn hörst un siehst nix.“

„Da brauchst du dich nich um zu kümmern, ob ich so ’n Kunden grob oder fein traktier’.“

Doris hob die Augen anklagend ob solcher Einfalt zum Himmel.

„So? Das soll mich denn woll auch egal sein, ob sie dir mit ’n Messerstich in ’n Rücken hinter ’n Knick auflesen? Die Italieners sind ’ne slimme Sorte, sagt mein Kaptän. Un ein slimmen Hund wirft man ein extra großen Brocken hin.“

„Ja snaken kannst gut,“ erwiderte Lorensen grimmig. „Den Svensen, den armen Narren, hast auch den Kopf verdreht.

Doris mußte lächeln. „Gott bewahr’ mich! Bist auf Svensen auch jalou?“

„Alle Mannsleut führst am Narrenband,“ beschuldigte er heftig weiter.

„Ja, freundlich bin ich mit sie alle,“ gestand Doris zu. „Adjüs also! –“

„Aber“ – ihre Augen, blau und feucht wie die Wellen draußen, blitzten ihn schelmisch an – „aber – lieb hab’ ich man Ein.“ –

Er wollte gekränkt vorüberschreiten, aber sein Empfinden überwältigte ihn. Es war immer der gleiche Kreislauf, erst eifersüchtige Wut, dann weiche Schwermut.

„Doris, ein einfachen Menschen bin ich man, un – Korallens kann ich dich kein kaufen, aber ich hatt’ mich das so schön gedacht, wenn du un ich – un ich un du – Ich mein’, nachdem sie mit ’n Kanal zu Gange sind, so in ein, zwei Jahren – nee, ich hatt’ mich das wunderschön gedacht.“

„Ich auch, Lorensen – Un um Korallens, weißt, da geb ich nix um.“

„Wirklich nich?“ Er packte ihre Schultern, er sah ihr fest in die Augen. Die Gewalt der Neigung, die in ihm rang und kämpfte, machte seine Lippen zittern. „Un süh – snaken kann ich auch nich. Ich kann nich, Deern! un wenn mich’s inwendig alles um und um reißt. Wie so ’n richtigen Klotz liegt mich die Zung’ in ’n Munde.

„Um ’s Snaken geb’ ich auch nix, Lorensen. Das is wie Musje Perdü sein Haus von Luft mit ’n Himmel als Dach drauf. Für ’n fixe holsteinsche Deern is das ’n zu windigen Aufenthalt.“

„Du glaubst ihn also nich?“ jauchzte er. „Du magst ihm nich leiden?“

„Den gelbswarzen Lügenbüdel? – Der is ja wie so ’n richtigen Giftschwamm!“

„Deern! Deern!“

Lorensen riß sie in seine Arme, preßte sie leidenschaftlich an sich.

„Bist nu zufrieden?“ fragte sie.

„Ja, gansen zufrieden.“

„Denn segel’ man fix ab, du große, dumme Jung’ du“

„Doris! Doris! soll ich denn nich ’n Augenblick – man ein kleinen Augenblick –“

„Nee, nee, ich hab’ zu thun. Un denn, was sollt’ woll der Perdü denken, wenn er uns was aufpaßt?“

„Doris – wenn du es doch ehrlich mit mich meinst –“

„Denn brauch’ ich das noch lang’ nich an die große Glocke zu hängen, damit daß all die slechten Kerls dich aufsässig werden. Mach, daß du aus ’n Haus kommst!“

Er zögerte noch.

„Wenn du abers magst, kannst nach Schummern ’mal hintern neuen Leuchtturm gucken.“

„Hintern Leuchtturm?“

„Kann sein, der Kaptän schickt mir nach Friedrichsort.“

„So spät am Abend?“

„Kann sein, ich mach’ den Weg gans gern. Es is man einmal schön un still hinterm Leuchtturm.“

„Ich komm’, Doris! Ich komm’ gewiß!“

Der Weg zu den Baracken schien völlig menschenleer, als Lorensen aus der Krugthür trat. Aber hinter Stein- und Kohlengerümpel am Kanal verborgen lauerte Peretti, sah seinen Rivalen mit hochgehobenem Kopf, mit blitzenden Augen, über den Sand schreiten. Und er ballte die Fäuste und knirschte einen Fluch. –

[275] Ein Uhr! Der Klang der Glocke rief zur Arbeit. Aus der Kantine, von den Betten der Baracken, von luftigeren Lagerstätten auf Bretterstapeln und auf verwildertem Gras stürmten die Kanalarbeiter zum Werk. Stöhnend keuchten die Lokomotiven drunten auf der Sohle und hoch oben am Schleusenrand, schleppten die ausgebaggerten Erdmassen weit hinaus ins Land, schleppten von der Landungsbrücke heran die mächtigen Blöcke, die aus fernen Steinbrüchen stammten oder von hart arbeitenden Männern gefischt waren auf dem Grund des Meers, das sie in Winterstürmen von Felsenküsten riß und südwärts wälzte in gewaltigen Armen. Menschenkunst hatte die vielgestaltigen in starre Würfelform gebracht, um aus dem Raub des Meeres selbst die Zwingburg aufzutürmen gegen die begehrlich züngelnden, um sich greifenden Wellen. Da wo ein sinnreich gefügtes Rad künftig die Wasser zwingen sollte, selbstthätig die gewaltigen Schleusenthore zu regieren, wurden eben die letzten Sandsteinquader eingemauert. Die Einsetzung jeder einzelnen war ein kleines Drama, ein Triumph des menschlichen Geistes über die lastende Wucht der Materie. Sorglich auf Stroh gebettet, kam der Riesenblock auf der Sohle langsam herangerückt. Mit angespannten Muskeln hoben und drehten vier Männer ihn keuchend in die Drahtseile, hängten sich an das Ende des Flaschenzugs, von dem gehoben der Koloß langsam, langsam emporschwebte über ihren Häuptern bis zum ersten Gerüst. Droben dieselbe Arbeit, erschwert durch die Enge des Stützpunkts, der drei geländerlosen Bretter haushoch in freier Luft. Und wieder der Eingriff des Flaschenzugs. Empor fuhr der Baustein zum zweitem zum dritten Stockwerk, hinauf in Turmeshöhe, wo der Meister mit seinen Gesellen ihn einreihte in die glatte Stirn der Schleusenwand, daß er auch nicht um Haaresbreite aus dem Lot fiel, daß die wohlcementierte Fuge auch nicht dem fast körperlosen Tropfen das Durchsickern gestattete. Harte Arbeit war dies Steinaufwinden, besonders mit leerem Magen, Lorensen empfand’s. Oefter als sonst seine Art war, griff er zur Schluckflasche.

„Ich mein’, die da später ’mal mit Schiffens durchfahren werden sich nich vermuten sein, was für’n Schinderei so ein einzigster Stein ein Menschen doch macht. Oha! Warm is’s!- Sluck haben, Svensen?“

Mit einer Karre voll Bauschutt kam Svensen auf dem schmalen Gerüstweg daher, den Kopf mit dem braunen Haarschopf über der Stirn traumverloren gesenkt. Er antwortete nicht.

„He, Svensen!“

„Ja, die Sonn’ scheint ein büschen warm. Macht nix.“

„Ob du Schluck willst, frägt Lorensen,“ sagte ein langer, sehniger Mann, den sie den Hamburger nannten. Seinen Eigennamen hatte der Kanal ihm abgestreift wie vielen anderen.

„Wie denn?“

Der Hamburger wies auf die Flasche.

„Snaps? – nee, ich nich! heut’ nich.“

Er schob vorüber, keuchend, schwerfällig, versonnen. Ab und zu hielt er einen Augenblick an, atmete laut und sah in die Tiefe, die wie der Schlund einer ungeheueren Cisterne ihm entgegengähnte. Dann löste er die rechte Hand von dem Griff der Schiebkarre, bewegte sie abwägend in der Luft und murmelte Unhörbares.

„Svensen! – Dunderkiel noch ein! Wird das nu bald?“ schrie ein Aufseher vom andern Ufer herüber, wo der Schuttwagen bespannt auf die letzte Schiebkarre wartete.

„Der wird auch alle Tage dösiger,“ brummte der Hamburger, dem Kameraden nachsehend.

Ein rothaariger Junge mit offenem Hemd, der wie ein Affe an einer der Leitern herumturnte, schrie „Ich weiß, warum! Svensen ist verliebt.“

Darüber brüllten die Arbeiter vor Lachen. Einer wehrte, noch sich schüttelnd vor Vergnügen, „Grashopper! Laß du alte Leute zufrieden.“

„Nee,“ verteidigte sich der Junge, „der Danziger, der mit in sein Bett släft, sagt, Svensen bürstet alle Sonnabend sein Hut, un denn hat er ein Ratgeber für Liebende unter sein Kopfkissen liegen.“

Neuer Jubel brach los. Der Hamburger schlug sich die Seiten vor Lachen „Bist ’n Baas, Jung! Bist ’n Baas!“

Und „He? was?“ sagte ein Berliner verlorenes Kind und puffte seinen Nachbar in die Rippen, „den Svensen, den koofen wir uns bei’t Vespern. Er muß uns det Mächen nennen. Denn jehn wir für ihn auf die Freite.“

Aber Lorensen, der an die starre Gestalt im Kanalschilf dachte, war nicht behaglich bei dieser Aussicht. Er spuckte rasch in die Hände und ergriff das Tau des Flaschenzuges.

„O – ha –! Up!“

In diesem Augenblick fuhr das Rad einer Schiebkarre dem Arbeiter so ungeschickt gegen die Kniekehle, daß er taumelte und um ein Haar rückwärts in den Abgrund gestürzt wäre.

„Schafskopp!“ schalt er, sich mühsam haltend. „Kannst nich dein Augens aufknöpfen?“

Da schaute er herumfahrend in Perettis Bronzegesicht und verstummte in peinlichem Schreck. Doris’ Reden gingen ihm durch den Kopf. War der Stoß – Absicht gewesen?

Der Hamburger und der Berliner überhäuften den Italiener mit Vorwürfen. Er sah sie gar nicht an. Fest richteten seine brennenden Augen sich auf Lorensen.

„Warum läuft das Kerl mir in Weg? Eh? – Er soll Platz machen! Platz! Platz!“

„Dessentwegen bringt man doch keinen Menschen um“, verwiesen die Arbeiter.

Carambo!“ beteuerte Peretti. „Hab’ ich Menschen umgebracht? Ich muß schieben meine Zahl Karren, cospetto! Mensch, Klotz, Stein – was is – auf Weg! – Oder geh zu Teufel!“- Nachdem er diese Worte mit wild rollenden Augen hervorgesprudelt hatte, wandte er den ihn mit gehobenen Fäusten bedrohenden deutschen Arbeitern den Rücken und steuerte seine Schiebkarre weiter über den schmalen Brettersteg hoch in den Lüften.

Aber eilig, daß die leere Karre auf den schwanken Brettern rumpelte und hüpfte, schnaufend und prustend platzte vom andern Ende der Schleuse Svensen in die Gruppe.

„Man bloß – ich wollt dir festhalten, Lorensen, damit daß du nich abstürztest. Abers nu is das woll nich mehr nötig?“

Wie er dastand, mit der über die Stirn hängenden Haarflocke, in den gutherzigen verträumten Augen Verblüffung und etwas wie Bedauern, daß der, den er zu retten kam, schon ohne ihn wieder sicher auf den Füßen stand, löste sich die schwüle Spannung des Zornes in all diesen Männern in herzhaftem Lachen.

„Da hätt’st dir ein büschen besser ’ran halten müssen,“ meinte Lorensen.

Und der rothaarige Bengel auf der Leiter schrie: „Lorensen is doch kein Uhl’, daß er in der Luft hängen bleibt, bis du ranpaddeln wirst“. .

„Es is wahr, ich komm’ ein büschen spät,“ gab Svensen zerknirscht zu.

„Das thust du immer, Svensen.“

„Ja, das thu ich oft.“

„Immer Svensen!“

„Es is wahr. Ich weiß nich, wie es zugeht. Aber ich hoff’ doch, daß ich einmal in mein’ Leben noch zur rechten Zeit komm’. Ja, das hoff’ ich.“

„Denn mußt aber viel forscher zupacken, Svensen.“

„Ja, das soll woll sein.“

„Besonders bei die Deerns.

„Thu’ ich, Hamburger. Ja, das thu ich!“

„Ohne langes Besinnen“

„Nee, ich besinn’ mich nu wirklich auch nich ’n büschen mehr!“ Er sah ordentlich unternehmend aus. Seine Augen blickten ganz wach. Eilig lief er mit seiner Karre weiter.

„Bei’t Vespern muß er uns beichten“, entschied der Berliner. „Kinders, das giebt ’nen Hauptjux!“

Aber zur Vesperzeit war Svensen nirgends auf dem Bau zu finden. Sobald die Uhr zum Schlage aushob, hatte er sich aus dem Kanalbett geschlichen, hastig kreuzte er das sandige Plateau und ließ sich über den alten Kanal setzen. Bei der Ueberfahrt wusch er sich sorglich Hände und Gesicht, knüpfte sein Halstuch neu und fragte den erstaunten Fährjungen. „Sitzt das nu woll so ’n büschen akkurat und reputierlich?“

Den Hut schlug er am Bootsrand rein von Kalk und Staub, und so schritt er den Sandweg hinaus nach Holtenau, unterwegs sich immer wiederholend „Ich besinn’ mich nu nich mehr – nee! immer forsch zupacken! forsch zupacken! Das muß Ein! Ja, das is so.“

[288] Atemlos langte Svensen unter den drei Buchen am Schleusenkrug an. Sein Herz klopfte wie ein Hammer; ihm war ganz wunderlich zu Mute.

Doris kam, schlug mit der Schürze die Blätter und den Staub der Landstraße vom Tisch und erkundigte sich:

„Was soll’s heut’ sein, Herr Svensen?“

Er sah sie an, ein feuchter Schimmer trat in das tiefe Blau seiner Augen, das Herz wurde ihm unheimlich groß in der Brust.

„Doris –“

„Was denn, Herr Svensen?“

„Doris –!“ Er bracht’s nicht über die Lippen. „Ein Glas Bier tränk’ ich woll.“

„Jawoll, Herr Svensen. Ein gansen frischen Faß hat mein Kaptän angestochen.“

Svensen trank. Vielleicht saß der Mut im Glas, in dem braunen Saft, der solch übermütigen Schaum entwickelte.

„Doris –!“

„Was ’s gefällig, Herr Svensen?“

„Geh nich weg. Wenn mich das smecken soll, denn muß ich dein Gesicht sehen.“

„Abers, Herr Svensen –“

„Ich möcht’ dir nämlich was fragen.“

„Es is man, ich hab’ kein’ Zeit; ich soll nach Friedrichsort.“

„So – so – das is abers schade. Ja, das is schade.“

„Was wollten Sie denn fragen, Herr Svensen?“

„Ich – bring’ mir noch ’n Glas Bier!“

Als Doris das zweite Glas Bier vor Svensen hingestellt hatte, faßte er sich endlich ein Herz und fragte leise: „Was denkst du von mich, Doris?“

„Von Sie, Herr Svensen?“ gab sie zurück.

„Ja, ja.“

„Nu, hier sagen sie alle, daß Sie ein rechtschaffenen Menschen sind.“

„Das bün ich, Doris! Das bün ich wirklich! – Süh, es is mich ja nich an mein Wieg’ gesungen, daß ich noch ’mal bei’n Kanal schuften sollt’! Nee! – Ich bin ein Fischerssohn aus Kappeln. Mein Vater hat ein Ewer gehabt un ein seine Jacht, da is er mit nach Fischens gesegelt. Einmal is er nich wiedergekommen un sein Schiff auch nich. Un da bin ich geboren. Abers meiner Mutter saß das im Gemüt un sie mocht mir nich. Das is slimm, Doris, wenn ein kein Mutter hat, die ihm leiden mag un gut zu ihm is. Sie sagen, ich bin ein kleinen, stillen, traurigen Jung’ gewesen. Das is so. So was hängt nach. Vater sein Bruder nahm mich nachmals hin un ich mußt’ Schmied lernen. Ich kann das auch gans gut. Ich hätt’ Schmied auf ein adliges Gut werden sollen. Da hätt’ ich gewiß nix auszustehn gehabt. Abers – denn konnt’ ich das doch nich.“

„Sie konnten nich, Herr Svensen?“

„Das is swer zu sagen. Süh, Doris, dort in Sonnschein blüht allens, Blumen un Kraut, nich wohr? – Un denn da dicht bei an, wo der Schatten von das Haus hinfällt, sühst, da blüht gor nix. Die Menschens brauchen auch Sonnenschein. Ich hatt’ kein Vertrauen. Un wo hätt’ ich dem auch her haben sollen? Un wer kein Vertrauen hat, der greift nich fix zu, un wenn ein nich fix zugreift, denn kommt da nix nach, ja –“

Er hatte den Kopf auf den Ellbogen gestützt, in schwermütige Gedanken verloren. Doris wandte sich zum Gehen. Da hielt er sie durch eine Bewegung zurück.

„Doris, weißt noch, wie ich dir zuerst getroffen hab’?“

„Ja, Herr Svensen, Sie kamen aus das Schiff un wollten nach’n Ingenieur Morungen, abers so’n dämeligen Jung’ gab Sie verkehrten Bescheid.“

„Ich stieg aus das Schiff mit zwei swere Koffers, ja. Abers dämlig war der Jung’ nich ’n büschen. Er wollt’ mir man bloß foppen wie alle Menschens. Da kamst du un wehrtest ihn das un nahmst mich die Kistens ab un brachtst ’n Stuhl un sahst mich ehrlich un freundlich an. Un da – sühst! Da hatt’ ich mein Sonnschein.“

„Herr Svensen, das war doch so wenig –“

„Nee, nee, wenig nich! Du hast nie über mir gelacht. Du weißt nich, was das is für ein Menschen, über den alle lachen, alle! Alle immerlos! – Doris“ – er faßte ihre Hand – „ich hab’ nich Vater, nich Mutter, kein Geswisters, kein Haus. Abers wenn ich dich anseh’, denn is mich zu Mut, als hätt’ ich all das wieder. Un wenn du mir heiraten wolltst, denn kriegt’ ich’s wirklich mit ein Slag zurück. Denn könnt’ ich mir auch ’n Smiede suchen. – Wahrhaftig! Hungern solltest nich bei mir. Nur das Vertrauen hat gefehlt. Süh, Doris, ich – – Un wenn du nu – denn so hätt’ ich Vertrauen –“

„Lieber Herr Svensen –“

Er fuhr fort, er war im Zuge. „Es hat mich viel Müh’ gekostet, dich das zu sagen – ja.“ Er trocknete sich die Stirn. „Aber es ließ mich kein Ruh’, nich bei Tag un nich nachts. Es mußt’ ’raus. So lieb wie dich hab’ ich noch nix auf der Welt gehabt! Lach’ nich! Lach’ nich über mich!“ –

Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender. „Lach’ bloß nich!“

„Wie könnt’ ich denn lachen? – Es is doch sehr ehrenvoll, was Sie mir bieten –“

„Abers – du willst nich?“ – Seine Augen starrten mit Todesangst auf in ihr rosiges Schelmengesicht.

„Ich würd’ stolz sein, Ihre Frau zu werden, Herr Svensen, wirklich wahr! un jedes Mädchen würd’ das, jedes, Herr Svensen!“ –

„Abers du willst nich?“ wiederholte er, rot im Gesicht vor Beschämung und Schmerz.

„Es is man bloß – Sie kommen zu spät, Herr Svensen.“

„Zu spät?!“

Wie vor einem Gespenst fuhr er zurück vor diesem Wort.

„Ich hatt’ mein Herz all lang weggeschenkt, ehe ich Ihnen zu sehen kriegt’, Herr Svensen –“

„Zu spät –!“

[290] „Nehmen Sie’s bloß nich für ungut.“ – „Nee, Herr Svensen, wie konnt’ ich denn auch denken –! Es is mich aufrichtig leid, Herr Svensen, wirklich! –“

Er stand auf seinen Füßen, er setzte den Hut auf, zupfte hastig an der Weste, an dem sorglich geknüpften Tuch. Unwillkürlich rückte er seinen äußeren Menschen zurecht, weil der innere ihm von dem Sturz aus himmelhoher Hoffnung gänzlich zerrüttet war.

„Ja – ja denn so – nu ja! Ich – es war woll recht ausverschämt? – Guten Abend auch!“

Doris lief ihm nach, legte die Hand auf seine Schulter. Fast zärtlich war die Bewegung. Sein Schmerz ging ihr wirklich nahe.

„Lieber, lieber Herr Svensen! Tragen Sie mich das nich nach! – Sie werden gewiß Ihr Glück anderswo finden nu – wenn ich Sie dazu behilflich sein kann, denn Ihr Andenken werd’ ich zeitlebens in Ehren halten –“

Er wehrte mit Hand und Blick. „Laß man! – Laß mir man!“

Die Stimme war ihm heiser und unsicher. Er riß sich los, er trottete zur Schleuse zurück, zur Arbeit, die längst ohne ihn begonnen hatte. Seine Ordnungsstrafen beliefen sich schon so hoch, daß er einigemal das Mittagessen würde überschlagen müssen, um zahlen zu können. Ihm war’s egal. Er hatte ein Gefühl, als brauchte er überhaupt nie mehr zu essen. Gedankenabwesend schob er seine Karre. Um sechs stieg er nicht hinauf zur Baracke. Im tiefsten Grund der Schleuse verkroch er sich. Hinter einem mächtigen Granitblock hockte er sich nieder auf einen Haufen Gerümpel und grübelte.

Die Arbeiter entfernten sich einer nach dem andern. Ihre Schritte verhallten, es ward ganz still auf dem Schleusengrund. Nur in der Ferne schrapten und prusteten die Bagger. Die Sonne, die sich zum Untergang neigte, zog ihre Strahlen aus der Tiefe des Abgrunds zurück. Hoch über dem einsam Grübelnden am Rand der Böschung nur zitterte noch unaufhaltsam aufwärts steigend ihr Schein. Svensen stand auf. Die Brust ward ihm eng in der dämmerigen Klamm. Den Küstensohn packte die Sehnsucht nach dem wehenden Seewind, dem weiten Himmel. Schwerfällig stampfte er die Leitern hinauf und über das Sandplateau zum Strand.

Da lag sie vor ihm, die weite, tiefblaue Kieler Föhrde, ein kleines Meer für sich, umkränzt von Buchenwäldern, von Villen, von blühenden Ortschaften. Das freundliche Heikendorf drüben! Laboe, versteckt in seinen Gebüschen und Bäumen! Weiße Segel glitten über die glitzernden, ultramarinblauen Wellen, flinke Vergnügungsdampfer von Küste zu Küste. Frachtkähne krochen wie schwerfällige Käfer über die glitzernde Fläche hin bis zu dem Leuchtturme, der, einsam vor der Citadelle von Friedrichsort mitten in den Wassern stehend, die Wacht vor dem Hafen hält wie eine kolossale Säule dem Schiffsverkehr ein Doppelthor darbietend, durch das derselbe hinausflutet ins offene Meer, herein in den Schutz des Hafens.

Weiter nach Kiel zu leuchteten hier und da der weiße Rumpf, die gelben Schornsteine eines mächtigen Panzers auf. Und über all dies Wogen und Treiben, über die weißen Segel und die dunklen Segel, die Kronen der stämmigen Buchen, über die tanzenden Wellen und die hellen Landhäuser am Ufer goß die sinkende Sonne ihren rotgelben Glast und Schimmer, daß wie bei einer Festillumination Licht aus allen Gegenständen hervorzubrechen schien, eine Ausstrahlung gleichsam der inneren, unbändigen Lebensfreude und Lebenslust.

Nicht gut ist’s für den Leidvollen, an solchem Abend auf solch’ gesegnete Ufer zu blicken. Jeder Lichtstrahl, der das Bild farbiger, lachender gestaltete, bohrte sich als stechender Schmerz in Svensens gramumdüsterte Seele.

„Dumm ist die Sonne“, dachte er dumpf. „Da glänzt sie nun auf meine Uhrkette, ich glaube gar, in meine Augens – un was hab’ ich doch mit ihr zu schaffen? Wär’ ich tot un triebe da auf das Wasser, sie würde mir rot anmalen, gerade so wie das Stück Holz, das drüben swimmt.“

Dabei überkam ihn mit jähem Erschrecken, mit unheimlich gewaltiger Lockung die Vorstellung, daß es schön sein müßte, empfindungslos zu treiben wie das Stück Holz dort, die Wärme der Sonne nicht mehr zu fühlen und nicht den zusammenziehenden Schmerz in der Brust. Wie oft sollte er sie noch auf- und untergehen sehen – auf und unter, immer dasselbe Spiel. Ein langweiliges Spiel, wenn weder Auf- noch Untergang etwas anderes bringt als eine pompöse Schaustellung von Licht! Und immer dasselbe, Tag für Tag, bis er ein alter Mann war, der vor seinem Spittel fröstelnd ihren letzten Strahlen entgegenkroch, das gewöhnlichere eines alleinstehenden Arbeiters – erträglich nur, wenn für seine Kümmerlichkeit froh genossene Jugend im voraus entschädigt hat.

„Wenn ich jetzt gerad’aus ging’,“ dachte er, „immerzu gerad’ aus, über den blauen Tang weg, hin nach den schönen roten Sonnenstreif auf das Wasser, da wo nu der große Dampfer fährt – denn wär’ ich morgen gansen in Ruh’, braucht’ meine Karre nich länger zu schieben, nich von Aufseher Posanski mir anschreien zu lassen, braucht’ kein Strafgroschens mehr zu zahlen, weil ich zu spät komm’.“

Und mechanisch ging er weiter und weiter, bis das Wasser seine Füße netzte. „Weinen würd’ da niemand um,“ überlegte er. „Bloß daß es Gottes Wille vielleicht nich is, denn sonst hätt’ er letzten Montag wohl mir von das Gerüst abstürzen lassen un nich den Schlesier. Kann sein abers auch, er hat da nix gegen, un es is nu dem richtigen Augenblick, bloß ich verpaß ihn wieder mit mein dummes Besinnen.

Er fand aber doch, daß Besinnen in solchem Fall rätlicher sei, wandte sich dem Lande zu und klomm das hohe Ufer hinauf. Dort warf er sich in das üppige Buschwerk, das den Rand der Böschung überwucherte, und versuchte Ordnung in seine schwerfälligen Gedankenreihen zu bringen. Aber matt von Arbeit und Fasten, versank er in eine Art von Lethargie. Er sah die Sonnenreflexe auf dem Wasser langsam erbleichen, in Dämmerung und Duft die waldige Küste drüben verschwimmen. Er fühlte den Tau herabsinken auf sein unbedecktes Haupt und seine heiße Stirn kühlen. Müd’ lag er, reglos, mit einem stumpfen Wohlbehagen die Schönheit der Welt in sich eintrinkend, aus der er bald wegscheiden würde! Sie war für Menschen, die zur rechten Zeit kamen, wie die Sonne es that, und die Flut, Abend und Morgen, Sommer und Winter. Seinesgleichen verdarben nur ihr Gleichmaß! Kein Wunder, daß ein Mädchen, das schön und froh war wie ein Sommertag, ihn nicht mochte! Ja, er würde gehen! Inzwischen lag er, still schauend, eingebettet in das blühende Kraut, fast so wunschlos, gedankenlos befriedigt wie die Pflanzen um ihn her. Eingeschlafen war der brennende Schmerz in seinem Herzen. Der Friede der Natur hatte ihn eingelullt und die Nähe des Todes. Soll der dem Leben fluchen der von ihm Abschied nimmt? Abschied nehmende segnen! Aber es eilte ihm nicht, zu gehen. Er dachte an seine Jugend, an seine Mutter, er dachte an Doris.

Wer war ihm bei ihr zuvorgekommen? Der Italiener, der wie ihr Schatten ihr folgte? Der? Ja, sicher, der war’s! Der Gedanke verursachte ihm Pein. Er hielt Peretti nicht für einen guten Menschen. Aber was thun, wenn Doris ihn liebte? Liebe fällt wie der Tau, wahllos auf die Rose und auf die Nessel.

Die Zeit verstrich. Der Vollmond, der auf der Sonne Scheiden wartend, am Himmelsrand gehangen hatte, begann sich mit Silberlicht zu sättigen. Eine breite Silberbrücke zog er über die unruhig hüpfenden Wellen eine Straße des Lichts, auf der ein Müder eingehen konnte zur Ruh’. Die Boote hatten den Hafen gesucht, die Schiffe warfen die Anker aus, die Möwen schliefen. Ruhe auf dem Meer, Ruhe auf den Land. Friedlich schimmerten die Lichter von Holtenau herüber, die Lichter aus den Arbeiterbaracken. Wie eine Burgruine ragte der noch unfertige Kanalleuchtturm am Strande auf, die dem Mond zugekehrte Seite gebadet in flimmerndem Glast. Unheimlich schwarze Schatten gähnten wie Abgründe auf zwischen feinen Stützpfeilern, im Innern seiner Mauern. Und nirgends ein Mensch! Und nirgends ein lebendiges Wesen! – Doch! – Das Herz des Einsamen that einen jähen Schlag. Mit einem Ruck riß es ihn empor aus der Kräuterwildnis. Er kannte den wiegenden Gang, er kannte das Haar, flimmernd an Mondlicht unter dem weißen Häubchen. Ja, sie war den Weg von Friedrichsort herabgekommen, sie, sein Glück und seine Qual! Auf den Leuchtturm schritt sie zu – aber nicht allein. Jemand war bei ihr. Der Italiener? – Nein! – Die unverdorbenen Augen des Enkels einer langen Reihe von Schiffern sahen scharf wie die eines Seeadlers, unbeirrt durch Mondflimmer und Entfernung. Sie erkannten den Mann an des Mädchens Seite, den Landsmann und Kameraden Lorensen. Und in seinem Schmerz dünkte es den Verschmähten schon fast Glück, daß es der Italiener nicht war.

Wie fest sie sich aneinander schmiegten, wie heiß sie sich [291] küßten im Schutz der mondbeglänzten Mauer! Das silberhelle Lachen des Mädchens klang durch das Zirpen der Grillen im Gras zu Svensen herauf und machte die alten Wunden wieder bluten. Unruhe packte ihn. Was schaute er auf die Glücklichen hinab? Für ihn war’s Zeit, zur Ruh’ zu gehen.

Da stockte jäh sein Fuß. Sein Herz, das schon still zu werden begann im herüberwehenden Friede des Grabes, schlug plötzlich wie ein Hammer. Er sah etwas außer dem in sich versunkenen Paar, etwas, das jene nicht sehen konnten, der schwarze Schatten auf der Rückseite der Turmmauer war lebendig! Er bewegte sich. Formlos rührte er sich, aber etwas funkelte, glitzerte in ihm.

Dem einsamen Mann lief es eiskalt über den Rücken. Hatte der Nachttau ihn erkältet, der seit Stunden auf ihn niedersank? – Aufgeregt begann er vorwärts zu schreiten, vorwärts! nicht zum Meer, landeinwärts mit weiten Schritten, geräuschlos, behutsam, auf daß die Glücklichen ihn nicht gewahrten und nicht das Unbekannte, das auf der andern Seite lauerte, behutsam und doch in Hast. Vorwärts, vorwärts im Wettlauf mit der lautlos rinnenden Zeit, getrieben von einer entsetzlichen Angst, der Geißel seines Lebens, der Sorge, nicht zu spät zu kommen – o, nur dies eine Mal nicht! –

Atemlos erreichte er das Gemäuer. Er mußte sich daran halten, sich erholen vom raschen Lauf. An den Pfeiler gedrückt, horchte er, spähte er vor sich, hinter sich mit angehaltenem Atem. Nur das Gekose der Liebenden, fern von Holtenau das Schlagen einer Uhr – der weiße Strand, das glitzernde Meer.

Aber jetzt rieselten Sandkörner, jetzt kroch’s heran, wand sich schlangengleich durch das Dunkel. –

„Halt du! –“

Ein Zischen wie von einer Natter, kaum hörbar, aber eine Wut ohne Grenzen sprach daraus … Ein jähes Aufbäumen, ein geschmeidiges Gleiten … „Weg! – Weg!“

Umsonst. Svensens Faust hielt eisern, was sie packte. Sie zwang den Schatten, stand zu halten, sie zerrte, sie schleifte ihn hinaus in das grelle Licht, das die Schatten hassen. Und in diesem Licht sah Svensen ein braunes Antlitz, zwei schwarze Augen, glühend in Haß wie eines Teufels Augen, das Amulett sah er blitzen auf der nackten Brust des Italieners Peretti! Und in der freien rechten Hand des Mannes blitzte noch etwas anderes in stechendem Glanz wie ein besonders heller Mondscheinreflex – – Er hascht danach – da fährt es ihm schon zischend in die Brust, ein Blitz, kein milder Mondenstrahl.

Seine Kniee biegen sich jäh in bleierner Schwere. Seine Finger lockern widerwillig ihren Griff. – „Wahr’ dich, Lorensen!“ – Hat er die Worte noch hervorgebracht? – War’s nur ein Schrei?

Durch den Schleier, der vor seine Augen niedersinkt, sieht er den Schatten durch das Mondlicht jagen in weiten Sätzen dem Strand zu, den Weg nach Friedrichsort, fort! – fort!

Die Mordthat sitzt ihm auf den Fersen und hetzt den Verlorenen über das Land.

Und dann sieht er in ein geliebtes Gesicht, das sich über ihn neigt – in Staunen, in banger Sorge, goldenes Haar flimmert vor seinen Augen. Vor seinen Ohren aber braust’s wie sturmgepeitschte Brandung. Schwach nur und wie aus weiter Ferne vernimmt der zu Boden Gesunkene Lorensens Stimme durch das Tosen – der fragt, der forscht. Einen einzigen Namen erhascht er. „Peretti?“ und er nickt. Er kann nicht sprechen, er ist zu müd’. Die Ruhe kommt, die tiefe Ruh’.

Da weckt ihn noch einmal der gelle Aufschrei des Mädchens, das das Blut entdeckt hat, welches in unaufhaltsamem Strom unter seinem linken Arm hervorquillt.

Lorensen hat sich über ihn gebeugt, versucht ihn aufzurichten, zerrt und reißt an ihm in seiner Angst.

„Svensen! Gott bewahr’ mich! – Hat er dir gestochen? Lauf’ fix nach ’n Doktor, Doris! – Komm, Kamerad, das kann doch nich slimm sein.“

„Nee,“ sagt Svensen, dem auf einmal wieder ganz klar und licht im Kopf wird, und hält Doris am Kleiderrock fest, „slimm is das gor nich. Abers gieb’ dich man kein’ Müh’. Auf Messers verstehn sich die Italieners. Das sitzt.“

Und er faßt die Hände, die sich ausstrecken, um ihm zu helfen, die des Mannes, die des Mädchens, und drückt beide fest ineinander.

„Gott segne dich, mien Deern! Das is gut so – gans gut, wie es is –“

Lorensen preßt die Fäuste vor seine naß gewordenen Augen. Er hat einen Blick auf die Wunde geworfen, er versucht keine Hilfe mehr. Schluchzen schüttelt das Mädchen.

Svensen aber richtet den Oberkörper auf. Seine Augen schauen hell und groß in das Licht des Mondes.

„Einmal in mein’ Leben bin ich doch zur rechten Zeit gekommen,“ sagt er laut und feierlich. „Nu is’ gut. Gott im Himmel, ich dank’ dir!“

Und wieder braust die sturmgepeitschte Brandung in seinem Ohr. Der Mond wird zur Sonne, zum wild durch den Himmel rollenden Feuerrad. Jäh erlischt sein Glanz. Auch die Brandung schweigt. Dunkel, Stille. Svensens Hand streckt sich zitternd aus – nach welchem Ziel? – Sie sinkt herab.

Stumm liegt das Meer, stumm liegt das Land. Erschüttert beugen zwei Menschen sich über einen Toten, einen Mühseligen, der die glücklichen Tage, die ihnen noch winken, erkauft hat mit seinem Leben.

Er aber liegt stolz befriedigt auf dem blutgetränkten Sand, ein Sieger, wenngleich ohne Denkmal und Lorbeerkranz. Denn sterbend hat er sein Schicksal überwunden, die Schwäche, an der sein Leben krankte. Auf den lächelnden Lippen schwebt fort und fort das Wort des Triumphs: „Einmal zur rechten Zeit!“