Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient/Nr. 2

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Autor: Claire von Glümer
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Titel: Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient/Nr. 2
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aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 185–187
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[185]
Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
II.

„Bald folgten wir der Mutter nach Wien,“ fährt die Gestorbene in ihren Aufzeichnungen fort, „wo auch mein Vater eine kleine untergeordnete Stellung am Burgtheater erhielt und ich mit meinen beiden Schwestern dem Balletmeister Horschalt übergeben wurde.

„Das Wiener Kinderballet war damals weltberühmt und in Wahrheit auch das Reizendste, Feenhafteste, was man sehen konnte. Horschalt war ein Genie in seinem Fach, ein Mensch voller Phantasie, der mit seiner Kinderwelt wahrhaft Zauberisches leistete. So lange ich mit meinen Schwestern bei diesem Ballet war, blieben die Productionen noch in gewissen Grenzen und überschritten auch die Kräfte der kleinen Künstler nicht, – wenigstens was die Aufgaben selbst betraf – denn sonst war das Balletleben wohl dazu gemacht, die Kräfte der armen Kinder aufzureiben. Ich erinnere mich, daß wir wochenlang, während ein neues Ballet einstudirt wurde, um acht Uhr Morgens zur Probe mußten und drei Uhr Nachmittags erst wieder nach Hause kamen. Aber auch jetzt nur zu einer kurzen Ruhe, denn um sieben Uhr Abends begann die Probe auf’s Neue und dauerte oft so lange, daß wir erst gegen ein Uhr Nachts erschöpft und ermattet, oft auch mit Spuren von Mißhandlungen in unsere Betten krochen, denn Horschalt schlug unbarmherzig zu, um „die Bande“ der kleinen Tänzer in Ordnung zu halten.

„Ich war eins der anstelligsten unter diesen Kindern und avancirte sehr bald zum ersten Liebhaber, den ich mit viel Grazie und Gewandtheit zu geben pflegte. Den ersten rauschenden Applaus des überfüllten Theaters an der Wien erhielt ich in dem Ballet das Waldmädchen, dasselbe Sujet, das Weber unter dem Namen Sylvana componirt hat. Ich hatte darin eine große Erzählung pantomimisch vorzutragen. Die Handlung spielte in Rußland, ich war als Kosake gekleidet und mußte der Fürstin – die von meiner Schwester Betty gegeben wurde – die Meldung machen: der Fürst Gemahl habe ein wildes Mädchen im Walde gefunden, dasselbe wäre nur durch List, mittelst eines Schlaftrunks zu überwältigen gewesen und solle nun, noch immer schlafend, in’s Schloß gebracht werden. Den Fürsten gab der später berühmt gewordene Berliner Tänzer Stullmüller, und das Waldmädchen ein reizendes Kind von sieben bis acht Jahren, Angioletta Mayer, die als erwachsenes Mädchen nach München gekommen ist.

„Es folgten nach und nach eine Reihe von Ballets, die reizend erfunden waren und vollendet dargestellt wurden, aber immer in den Schranken des Kinderballets blieben. Eins der beliebtesten hieß die Wäschermädchen und erregte große Heiterkeit durch den Contrast, daß alle diese schneeweiß gekleideten Mädchen Schornsteinfeger zu Liebhabern hatten. Ich war der Anführer dieser schwarzen Schaar und der Liebhaber des ersten Wäschermädchens. Ihr Vater, ein alter, strenger Mann, widerstrebte unserer Liebe, aber endlich wird er dadurch erweicht, daß ich mich in den brennenden Schornstein seines Hauses stürze, das Feuer lösche und dadurch sein Hab und Gut errette. Auf den Proben war ich ängstlich, in den brennenden Schlot zu springen, und mehrmals mißlang der Versuch. Aber endlich verlor der Balletmeister die Geduld, faßte mich beim Kragen und warf mich kopfüber in den Schornstein hinunter. Glücklicherweise fing mich der Theaterdiener auf, der die Flamme heraufblies, so daß ich ohne ernste Beschädigung davonkam. Nur mein Haar, das ich damals noch nach Knabenart trug, war verbrannt, so daß es ganz kurz abgeschnitten werden mußte. Natürlich machte ich nun auf den nächsten Proben keine Umstände mehr, sondern sprang muthig in den brennenden Schlund.

„Ich wurde sehr bald der Liebling unseres Zuchtmeisters, der mich unter den ihm untergebenen Kindern als das gewandteste und intelligenteste erkannte. Besonders leistete ich für ein Kind von zehn bis elf Jahren Bemerkenswerthes in der Mimik. Aber so gewandt, geschmeidig und geschickt ich war, eben so wild und unbändig war ich auch. Meine tollen Streiche haben mir zu jener Zeit viel Prügel eingetragen, und ich war so ganz jungenhaft in meinen Neigungen und Manieren, daß man es aufgeben mußte, mich in Mädchenkleider zu stecken. War mir doch kein Baum zu hoch, kein Graben zu breit! – und so hingen gar oft die leichten Stoffe und langen Gewänder nach kurzer Zeit zum größten Theile in unkenntlichen Fetzen an Hecken oder Bäumen.

„Aus dieser Zeit ist mir besonders eine Scene in lebendiger Erinnerung geblieben. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Gärtner und pflegte den schönen Garten, der damals mit unserer Wohnung verbunden war, mit großer Sorgfalt. Er war immer trostlos, wenn ihm die Beete zertreten oder Blumen und Früchte abgepflückt wurden, was freilich – und zwar hauptsächlich von mir – oft genug geschah. Im Garten stand ein prächtiger Birnbaum mit halbreifen Früchten beladen, und diese lockten mich so unwiderstehlich, daß ich mir eines Tages in der Dämmerstunde alle Scrupel aus dem Sinne schlug und in die höchsten Zweige hinaufkletterte, weil ich da oben die goldigsten Birnen schimmern sah, die ich mir denn auch vortrefflich schmecken ließ. Mein Vater, der gegen Abend immer noch einen Gang durch den Garten machte, entdeckte mich da oben in meiner luftigen grünen Höhe, wo ich mich voll Uebermuth hin und her schaukelte, wie eine Pirole, die gegen Abend die höchsten Wipfel sucht, um ihr Abendlied zu pfeifen. Ich glaube, ich habe da oben auch getrillert, sonst hätte mich mein Vater wohl kaum entdecken können; aber er hatte mich gesehen, und nun sollte ich herunter steigen, um meine gerechte Strafe zu empfangen. Mir kam es jedoch ganz unglaublich vor, daß mein Vergnügen mit Schlägen endigen sollte; ich erklärte rund heraus, daß ich meinen erhabenen Sitz, wo ich mich so sicher fühlte und wo ich dem warmen, schönen Augustabend so selig in die glänzenden Augen gesehen hatte, nicht verlassen würde, wenn man mir nicht das Versprechen vollständiger Verzeihung gäbe.

„Auf diese Capitulation wollte mein Vater nicht eingehen, ich wollte nicht davon ablassen. Meine Mutter war inzwischen als Succurs erschienen, Geschwister und Domestiken waren auch gekommen, um den Ausgang mit anzusehen – ich blieb unerschütterlich. Endlich zogen sich Alle zurück, in der Hoffnung wahrscheinlich, daß ich beim Einbruch der Dunkelheit freiwillig heruntersteigen und mich der Strafe unterwerfen würde – aber sie irrten sich!, es wurde Nacht, ein leichter Wind bewegte die Blätter meines Baumes; der Mond ging auf und ergoß eine magische Helle über den ganzen Garten. Schon damals traten scharfe Contraste in meinem Wesen hervor. So wild und unbändig ich gewöhnlich war, so bewegte eine stille klare Mondnacht meine junge Seele doch schon damals bis in ihre tiefsten Tiefen. Bange und frohe Ahnungen stiegen in mir empor, ich wiegte mich in märchenhaften Träumen da oben in meinem Wipfel und hatte die Welt unter mir vergessen. Aber plötzlich mahnte mich die nahe Thurmuhr, die eben Mitternacht schlug, an die Geisterstunde, und nun überfiel mich eine kindische Angst. Ich erwartete jeden Augenblick, Elfen und Feen zwischen den Zweigen hervorrauschen zu sehen, um ihre Mondscheintänze zu beginnen. Glücklicherweise machte die Stimme meines Vaters dieser Furcht vor Geisterspuk ein Ende. Er kam von ernstlicher Sorge getrieben, redete mir freundlich zu, herab zu kommen, und versprach auch, mir jede Strafe zu erlassen. Wenige Augenblicke später war ich, behend wie ein Kätzchen, auf ebenem Boden angelangt und entschlüpfte durch schnelle Flucht den Händen meines Vaters, der doch wohl Lust haben mochte, mich – wie er zu sagen pflegte – an meinem blonden Schädel zu zausen.“

Die Kränklichkeit Friedrich Schröder’s nahm um diese Zeit in bedenklichster Weise zu. Im Sommer 1818 ging er nach Karlsbad – und kam nicht zurück. Am 18. Juli starb er fern von den Seinen; der Künstler und Protestant wurde in irgend einem abgelegenen Winkel des Karlsbader Friedhofs zur Ruhe gelegt, und seiner Tochter ist es später, trotz der ängstlichsten Forschungen, nicht gelungen, sein Grab wieder aufzufinden. – Schon zu Lebzeiten des Vaters war Wilhelmine mit ihren Schwestern vom Ballet zurückgetreten. Sie begann nun ihren mangelhaften Schulunterricht zu ergänzen und bereitete sich unter Anweisung ihrer genialen Mutter – von deren Leistungen im tragischen Fach sie immer mit Begeisterung sprach – zu größeren dramatischen Aufgaben vor.

Ihres wissenschaftlichen Unterrichts nahm sich ihr Stiefbruder, Wilhelm Smets, der einzige Sohn aus Sophie Schröders erster Ehe, mit großem Eifer an.[1] Er war als Hauslehrer nach Wien [186] gekommen, sah hier nach sechszehnjähriger Trennung die Mutter wieder und schloß sich mit Vorliebe der ältesten Schwester an, deren seltene Begabung er sogleich erkannte. Bis zum Tode ist er ihr ein treuer Freund geblieben – er starb als Kanonikus in Köln und hatte sowohl als Dichter, wie als Gelehrter einen geachteten Namen erworben. Unter seinen Gedichten findet sich eines an die Schwester mit den wehmüthigen Schlußversen:

„O grüßte mich die Stunde noch einmal,
Wo, so wie damals in des Rheines Thal,
Als mit dem Schicksal grollend, fast vermessen,
An Deiner Seite sinnend ich gesessen
Und Dich, die Ruhmbekränzte glücklich hieß –
Dein Herz jedoch nur Wünsche eng gemessen
Und schlichten Lebens stille Tage pries!“

Und noch im Jahre 1839 schrieb er ihr:

„Cöln, den 16. März.

„Meine liebe Schwester Minna! Nachdem ich nun – zur schlimmen Jahreszeit vielfältig von meinen Körperleiden heimgesucht – dennoch glücklich überwintert habe, so wende ich mich mit herzlich brüderlichem Frühlingsgruß auch an Dich, liebe Minna, und danke Dir auf’s Innigste für alle die Erleichterung und Pflege, die ich mir nun während zwei Jahren durch Deine schwesterliche Güte konnte angedeihen lassen; möge der Himmel Dir diese und all Deine große Herzensgüte vergelten, wie Du es verdienst, wie es das, was Dich wahrhaft glücklich machen kann, erheischt. Mit besorgender Theilnahme las ich häufig von Deinem Unwohlsein, bald darauf aber auch wieder von dem begeisterten Zuruf, der Dich bei Deinen stets neuen Kunstschöpfungen empfing; so ringst Du Dich durch das, was Dein innerstes Leben ist, immer wieder los von der hemmenden Fessel trauriger Wirklichkeit!“

1819 debütirte die fünfzehnjährige Wilhelmine im Schauspiel. Mit immer steigendem Beifall gab sie Aricia in der Phädra, Melitta in der Sappho, Louise in Kabale und Liebe, Beatrice in der Braut von Messina, Ophelia im Hamlet. Zugleich trat aber auch ihre musikalische Begabung immer deutlicher hervor; ihre Stimme entwickelte sich stark und schön; sie nahm Unterricht bei Madame Grünbaum und Joseph Mozatti, und es verging nicht mehr als ein Jahr, bis sie dem unwiderstehlichen Drange folgen konnte, der sie trieb, das Drama mit der Oper zu vertauschen.

Sie trat zunächst als Pamina in der Zauberflöte auf – es war am 20. Januar 1821. Die „allgemeine musikalische Zeitung“ sagt darüber in dem verschnörkelten Style jener Zeit:

„Demoiselle Schröder realisirte ein vollständiges Bild der zartesten Weiblichkeit. So lange dieser vom Dichter so schwankend gezeichnete Charakter mit eben so viel Unbestimmtheit auf unserer Bühne gegeben wurde, gelang es vielleicht noch nie einer Mime, der prosaischen Poesie eine rein idealisch-poetische Seite abzugewinnen, wie dieser hoffnungsvollen Schülerin einer auf die höchsten Stufen der Meisterschaft gelangten Mutter, die den nicht alltäglichen Beweis lieferte, wie unglaublich ein so ganz gemeiner Dialog durch Sinn, Natur und Gefühl veredelt werden könne.“

Und diese Sängerin, deren erster Versuch für alle Darstellerinnen der Pamina als Muster hingestellt wird, war ein Kind von 16 Jahren. Ein Lieblingskind des Himmels freilich, ausgestattet mit der herrlichsten Stimme, der anmuthigsten Gestalt, den edelsten, ausdrucksvollsten Zügen, der Kopf von einer Fülle blonder Locken umwallt, das blaue Auge ebenso schön in träumerischer Ruhe, wie im Leuchten der Leidenschaft, und über der ganzen Erscheinung jener unbeschreibliche Duft von Poesie, jene sonnenhafte Wärme, welche die Kunst ihren Auserwählten verleiht. Dazu die Gabe, für jeden Gedanken und jedes Gefühl in Wort und Blick, in Ton und Bewegung den schönsten und gewaltigsten Ausdruck zu finden – – es war natürlich, daß ein Schrei des Entzückens dies wunderbare Wesen begrüßte.

Aber sie ließ sich nicht blenden, nicht irren. Mit ernstem Fleiß, beharrlich und bescheiden verfolgte sie den Weg, den sie so glücklich betreten hatte. Schon im März gab sie die Emmeline in der Schweizer-Familie, einen Monat später die Marie in Gretry’s Blaubart, und als Weber’s Freischütz zum ersten Male in Wien gegeben werden sollte, wurde die Agathe Wilhelminen Schröder anvertraut.

Am 7. März 1822 wurde der Freischütz, der ganz Wien in einen Freudenrausch versetzt hatte, zu Wilhelminens Benefiz zum zweiten Mal gegeben. Das Haus war zum Erdrücken voll, der Enthusiasmus – selbst für das enthusiastische Wien – ein beispielloser. Weber dirigirte seine Oper selbst, aber der Jubel seiner Verehrer hätte die Aufführung fast unmöglich gemacht. Viermal wurde der Meister auf die Bühne gerufen, mit Blumen und Gedichten überschüttet, und zum Schluß fiel ein Lorbeerkranz zu seinen Füßen.

Wilhelmine-Agathe theilte den Triumph des Abends. Das war die blonde, reine, sanfte Jungfrau, die Componist und Dichter geträumt hatten; das einfache schüchterne Kind, das vor Träumen zittert, sich in Ahnungen verliert, aber in Liebe und Glauben Kraft findet, alle Mächte der Hölle zu überwinden. Weber sagte: „Sie ist die erste Agathe der Well und hat Alles übertroffen, was ich in die Rolle hineingelegt zu haben glaubte.“

Als Beweis, wie ganz Kind sie damals noch gewesen, erzählte Wilhelmine oft, daß sie am andern Morgen, als Weber gekommen war, um ihr zu danken, der Länge nach auf dem Fußboden der Kinderstube gelegen hatte, eifrig beschäftigt mit ihren jüngern Geschwistern Soldaten aufzustellen. „Ich wurde abgestäubt, die Haare wurden mir glatt gestrichen, Schürze und Halstuch zurecht gezupft,“ pflegte sie zu sagen; „dann führte man mich zu Weber, der mich mit Lobsprüchen überhäufte und mir versprach, eine neue Oper für mich zu schreiben. Ich weinte vor freudiger Rührung, war aber herzlich froh, als er ging, sodaß ich zu meinem Spielzeug zurückkehren konnte.“

Auch in Dresden, wohin Wilhelmine im Sommer 1822 mit ihrer berühmten Mutter ging, erregte ihre Schönheit wie ihr Talent allgemeine Bewunderung, – aber das, was sie zur größten Sängerin aller Zeiten machen sollte, der unwiderstehliche Zauber, die Gewalt ihres Genius offenbarte sich zum ersten Male, als sie, nach Wien zurückgekehrt, den Fidelio sang.

Die Oper war seit einiger Zeit zurückgelegt, weil es an einer Darstellerin für die Hauptrolle fehlte. Im November 1822 sollte sie zur Namenstagsfeier der Kaiserin zum ersten Male wieder gegeben werden, und der siebzehnjährigen Wilhelmine wurde die schwere Rolle des Fidelio übertragen.

Als es Beethoven erfuhr, soll er sich sehr unzufrieden darüber ausgesprochen haben, daß diese erhabne Gestalt „einem solchen Kinde“ anvertraut wäre. Aber es war einmal bestimmt; Sophie Schröder studirte der Tochter die schwere Partie so gut als möglich ein, und die Proben nahmen ihren Fortgang.

Beethoven hatte sich’s ausbedungen, die Oper selbst zu dirigiren, und in der Generalprobe führte er den Tactstock. Wilhelmine hatte ihn nie zuvor gesehen – ihr wurde bang ums Herz, als sie den Meister, dessen Ohr schon damals allen irdischen Tönen verschlossen war, heftig gesticulirend, mit wirrem Haar, verstörten Mienen und unheimlich leuchtenden Augen dastehen sah. Sollte piano gespielt werden, so kroch er fast unter das Notenpult, beim forte sprang er auf und stieß die seltsamsten Töne aus. Orchester und Sänger geriethen in Verwirrung, und nach Schluß der Probe mußte der Capellmeister Umlauf dem Componisten die peinliche Mittheilung machen, daß es unmöglich wäre, ihm die Leitung seiner Oper zu überlassen.

So saß er denn am Abend der Aufführung im Orchester, hinter dem Capellmeister und hatte sich so tief in seinen Mantel gehüllt, daß nur die glühenden Augen daraus hervor leuchteten. Wilhelmine fürchtete sich vor diesen Augen; es war ihr unaussprechlich bang zu Muth. Aber kaum hatte sie die ersten Worte gesprochen, als sie sich von wunderbarer Kraft durchströmt fühlte. Beethoven, das ganze Publicum verschwand vor ihren Blicken – alles Zusammengetragene, Einstudirte fiel von ihr ab. Sie selbst war Leonore, sie durchlebte, durchlitt Scene auf Scene.

Bis zum Auftritt im Kerker blieb sie von dieser Illusion erfüllt – aber hier erlahmte ihre Kraft. Die Größe ihrer Aufgabe, die sie erst diesen Abend während des Spiels erkannt hatte, stieg riesenhaft vor ihr auf. Sie wußte jetzt, daß ihre Mittel für das, was sie in dem nächsten Momente darstellen sollte, nicht ausreichten. Die steigende Angst drückte sich in ihrer Haltung, ihren Mienen, ihren Bewegungen aus – aber das Alles war der Situation so ganz angemessen, daß es auf das Publicum die erschütterndste Wirkung übte. Ueber der Versammlung lag jene athemlose Stille, die ebenso mächtig auf den darstellenden Künstler wirkt, wie laute Beifallszeichen.

[187] Leonore rafft sich auf; sie wirft sich zwischen den Gatten und den Dolch des Mörders. Der gefürchtete Augenblick ist da – die Instrumente schweigen, aber der Muth der Verzweiflung ist über sie gekommen, hell und rein, mehr schreiend als singend. stößt sie das herzzerreißende: „Tödt’ erst sein Weib!“ hervor. Noch einmal will Pizarro sie zurückschleudern, da reißt sie das Terzerol aus dem Busen und hält es dem Mörder entgegen. Er weicht zurück – sie bleibt unbeweglich mit blitzenden Augen in ihrer drohenden Stellung. Aber jetzt erschallen die Trompeten, die das Ende ihrer Qual, die Ankunft des Retters verkündigen, und nun wich auch die Spannung, die sie so lange aufrecht hielt. Kaum vermochte sie noch mit vorgestrecktem Terzerol den Verbrecher dem Ausgange zuzutreiben, dann entsank ihr die Waffe – sie war todesmatt von der ungeheuern Anstrengung, ihre Kniee wankten, sie lehnte sich zurück, ihre Hände griffen krampfhaft nach dem Haupte und unwillkürlich entrang sich ihrer Brust jener berühmte, unmusikalische Schrei, den spätere Darsteller des Fidelio auf’s Unglücklichste nachgeahmt haben. Bei Wilhelminen war es wirklich ein Aufschrei der von Todesangst befreiten Seele, ein Laut, der Mark und Bein erschütternd in die Herzen der Hörer drang. Erst als Leonore auf Florestans Klage: „Mein Weib, was hast Du um mich geduldet!“ mit dem halb weinend, halb jubelnd hervorgestoßenen: „Nichts, nichts, nichts!“ in die Arme des Gatten fiel, wich der Zauberbann, der jedes Herz gefangen hielt. Ein Beifallssturm, der nicht enden wollte, brach los – die Künstlerin hatte ihren Fidelio gefunden, und so viel und ernstlich sie später noch daran gearbeitet hat, in den Grundzügen ist er derselbe geblieben.

Auch Beethoven hatte seine Leonore in ihr erkannt. Den Ton ihrer Stimme zu hören, war ihm freilich versagt, aber die Seele ihres Gesanges offenbarte sich ihm in jeder Miene des von Geist durchleuchteten Gesichts, in dem glühenden Leben der ganzen Erscheinung. Nach der Vorstellung ging er zu ihr – seine sonst so finstern Augen lächelten ihr zu, er klopfte sie auf die Wangen, dankte ihr für den Fidelio und versprach eine neue Oper für sie zu componiren – ein Versprechen, das leider nicht erfüllt werden sollte. Wilhelmine kam nie wieder mit dem Meister zusammen, aber unter allen Huldigungen, die der berühmten Frau später zu Theil wurden, blieben die Worte der Anerkennung, die ihr Beethoven gesagt hatte, die liebste Erinnerung.



  1. Sophie Schröder, Tochter des Schauspielers Bürger, verheirathete sich 1795 mit dem Schauspieldirector Stollmers zu Reval. Als diese Ehe ein Jahr später getrennt wurde, nahm Stollmers seinen eigentlichen Familiennamen Smets wieder an und kehrte zur juristischen Laufbahn zurück.