Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Charakteristik der Tonarten

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Der Psychometer Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Charakteristik der Tonarten
Aphorismen (1)


Charakteristik der Tonarten.


Man hat dafür und dagegen gesprochen; das Rechte liegt wie immer mitten innen. Man kann eben so wenig sagen, daß diese oder jene Empfindung, um sie sicher auszudrücken, gerade mit dieser oder jener Tonart in die Musik übersetzt werden müsse (z. B. wenn man theoretisch beföhle, rechter Ingrimm verlange Cis moll und dgl.), als Zelter’n[H 1] beistimmen, wenn er meint, man könne in jeder Tonart jedes ausdrücken. Schon im vorigen Jahrhunderte hat man zu analysiren angefangen; namentlich war es der Dichter C. D. Schubart,[H 2] der in den einzelnen Tonarten einzelne Empfindungs-Charaktere ausgeprägt gefunden haben wollte. So viel Zartes und Poetisches in dieser Charakteristik sich findet, so hat er für’s erste die Hauptmerkmale der Charakterverschiedenheit in der weichen und harten Tonleiter ganz übersehen, sodann stellte er zu viel kleinlich-specialisirende Epitheten[H 3] zusammen, was sehr gut wäre, wenn es damit seine Richtigkeit hätte. So nennt er E moll ein weiß gekleidetes Mädchen mit einer Rosaschleife am Busen; in G moll findet er Mißvergnügen, Unbehaglichkeit, Zerren an einem unglücklichen Plan, mißmuthiges Nagen am Gebiß. Nun vergleiche man die Mozart’sche G moll-Symphonie,[H 4] diese griechisch schwebende Grazie, oder das G moll-Concert von Moscheles[H 5] und sehe zu! – Daß durch Versetzung der ursprünglichen Tonart einer Composition in eine andere eine verschiedene Wirkung erreicht wird, und daß daraus eine Verschiedenheit des Charakters der Tonarten hervorgeht, ist ausgemacht. Man spiele z. B. den „Sehnsuchtswalzer“ in A dur oder den „Jungfernchor“ in H dur![H 6] – die neue Tonart wird etwas Gefühlwidriges haben, weil die Normalstimmung, die jene Stücke erzeugte, sich gleichsam in einem fremden Kreis erhalten soll. Der Proceß, welcher den Tondichter diese oder jene Grundtonart zur Aussprache seiner Empfindungen wählen läßt, ist unerklärbar, wie das Schaffen des Genius selbst, der mit dem Gedanken zugleich die Form, das Gefäß gibt, das jenen sicher einschließt. Der Tondichter trifft daher unmittelbar das Rechte, wie der Maler seine Farben ohne viel nachzudenken. Sollten sich aber wirklich in den verschiedenen Epochen gewisse Stereotyp-Charaktere der Tonarten ausgebildet haben, so müßte man in derselben Tonart gesetzte, als classisch geschätzte Meisterwerke zusammenstellen und die vorherrschende Stimmung unter einander vergleichen; dazu fehlt natürlich hier der Raum. Der Unterschied zwischen Dur und Moll muß vorweg zugegeben werden. Jenes ist das handelnde, männliche Princip, dieses das leidende, weibliche. Einfachere Empfindungen haben einfachere Tonarten; zusammengesetzte bewegen sich lieber in fremden, welche das Ohr seltener gehört. Man könnte daher im ineinanderlaufenden Quintenzirkel[H 7] das Steigen und Fallen am besten sehen. Der sogenannte Tritonus,[H 8] die Mitte der Octave zur Octave, also Fis, scheint der höchste Punct, die Spitze zu sein, die dann in den B-Tonarten wieder zu dem einfachen, ungeschminkten C dur herabsinkt.




Anmerkungen (H)

  1. [WS] Carl Friedrich Zelter (1758–1832), deutscher Musikpädagoge, Komponist und Dirigent.
  2. [WS] Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791), deutscher Dichter, Organist und Komponist. Seine Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, 1777–87 geschrieben, wurden posthum 1806 von Ludwig Schubart herausgegeben. Das Buch endet mit dem Kapitel Charakteristikstück der Töne (S. 377–382) Google.
  3. [WS] Epitheton (griechisch) „das Hinzugefügte“, „das später Eingeführte“.
  4. [WS] Wolfgang Amadeus Mozart, Sinfonie Nr. 40 g-moll KV550, die sogenannte „große g-moll Sinfonie“.
  5. [WS] Ignaz Moscheles (1794-1870), böhmisch-österreichischer Komponist und Pianist; sein Klavierkonzert Nr. 3 g-Moll op. 60 (1820).
  6. [WS] Der Sehnsuchtswalzer Walzer von Franz Schubert (Original Tänze für das Piano-Forte op. 9 Nr. 2, D365 (1818) steht original in As-Dur; der Jungfernchor (eigentlich Chor der Brautjungfern: „Wir winden dir den Jungfernkranz“) aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz in C-Dur.
  7. [WS] Quintenzirkel: Anordnung der Tonarten aufgrund ihrer Quintverwandschaft.
  8. [WS] Tritonus: das dissonanteste Intervall; Oktave: das konsonanteste.
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